Macht und Psyche in Organisationen
 9783666451669, 9783525451663

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Schriften des Sigmund-Freud-Instituts

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl

Reihe 3 Psychoanalytische Sozialpsychologie Herausgegeben von Rolf Haubl und Hans-Joachim Busch Band 3 Rolf Haubl / Bettina Daser (Hg.) Macht und Psyche in Organisationen

Rolf Haubl / Bettina Daser (Hg.)

Macht und Psyche in Organisationen

Mit 2 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-525-45166-3 © 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: l Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Theorien der Macht Johann August Schülein Soziologische und psychoanalytische Theorien der Macht . .

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Gender und Macht Dietmar J. Wetzel Mikrosoziologie der Führung – Macht, Habitus und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Daniela Rastetter Mikropolitisches Handeln von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rolf Haubl Bescheidenheit ist keine Zier. Enttabuisierung weiblicher Aggression in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Bildungsinstitutionen und Macht Sebastian Keil Schulleitungs-Coaching als unverzichtbarer Bestandteil der persönlichen und der schulischen Entwicklung? . . . . . . . 125

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Inhalt

Carola Eunicke-Morell Coaching zwischen Therapie und Training. Fallbericht eines Leitungscoachings im pädagogischen Feld . . . . . . . . . . . 142 Heidi Möller und Claudia Meister-Scheytt Autonomie Macht Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Networking als Machtmittel Felix Reiners Der Starke ist am mächtigsten allein. Theoretische Grundlagen und Fallstudie zum Networking in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Outsourcing als Machtmittel Bettina Daser Zeitbewusstsein und Kontrolle der Zeit im Outsourcingprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Institutionalisierte Gegenmacht Erhard Tietel Betriebsratsvorsitzende als paradoxe Führungskräfte . . . . . . 279 Heike Westenberger-Breuer und Dietlef Breuer Zur Handlungskompetenz des Betriebsrats – ein Beispiel aus der Beratungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

Vorwort

Der vorliegende Sammelband geht auf einen interdisziplinären Expertenworkshop zur Erforschung von Machtbeziehungen in Organisationen zurück, den die Thyssen-Stiftung gefördert hat. Macht wird nicht als Besitz aufgefasst, sondern als ein dynamischer reziproker Prozess von zwei und mehr Organisationsmitgliedern, in dem ein Mitglied dem anderen seinen Willen aufzunötigen versucht. Macht ist demnach nicht etwas, was Organisationsmitglieder unabhängig von konkreten Handlungssituationen haben, sondern etwas, das sie nach Maßgabe der Gegenmacht, auf die sie in Form von Widerständen treffen, in konkreten Handlungssituationen ausüben. Jedes Organisationsmitglied ist in einer Organisation in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden – in erster Linie Arbeitsbeziehungen, in denen die Organisationsmitglieder ihre primären Aufgaben arbeitsteilig erfüllen. In diesem Netzwerk trifft jedes Organisationsmitglied auf andere Organisationsmitglieder, die gleich mächtig, ihm unterlegen oder überlegen sind. Die Matrix aller Organisationsmitglieder, die entsteht, ist nicht statisch, sondern dynamisch, da sich jedes von ihnen ständig mehr oder weniger zielstrebig und erfolgreich mit dem Erwerb von Machtmitteln beschäftigt, von den anderen unbemerkt oder aufmerksam von ihnen beobachtet. Die Macht von Organisationsmitgliedern setzt sich aus formaler und informeller Macht zusammen. Ihre formale Macht ist an ihre Position in der Organisation gebunden, ihre informelle lässt sich dem Organigramm nicht entnehmen. Die informelle Macht eines Organisationsmitglieds kann größer sein als die formale Macht eines anderen. Wer welche Macht faktisch ausübt, zeigt sich meist erst, wenn es zu Machtkämpfen kommt. Deren Ausgang steht nur in seltenen Fällen von vornherein fest. Steht er fest, wird er meist erst gar nicht ausgetragen.

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Vorwort

Der Erwerb von Machtmitteln verändert Organisationsmitglieder, oft schleichend. Manche Organisationsmitglieder haben Angst vor einer solchen Veränderung. Andere üben Macht aus, um sich selbst nicht verändern zu müssen, sondern andere dazu nötigen zu können, sich zu verändern. Wieder andere streben nach Macht, um die Arbeitsbeziehungen in der Organisation effektiver und effizienter zu gestalten. Einige davon streben aber nur nach Macht, weil sie sich nicht oder niemals wieder ohnmächtig fühlen wollen. Wer mächtig oder übermächtig ist, dem misstraut man, seine Macht zu missbrauchen, um den eigenen Vorteil über den gemeinsamen Vorteil zu stellen. Deshalb wird verlangt, die Ausübung von Macht zu kontrollieren. Denn ihre Ausübung kann konstruktive oder destruktive Folgen haben. Wenn Organisationsmitglieder ihre Macht ausüben, um einander Angst zu machen, entsteht eine Organisationskultur, die allen schadet, weil sie eine intrinsische Arbeitsmotivation untergräbt, Kreativität lähmt und Eigenverantwortung verhindert. An deren Stelle tritt eine latente Feindseligkeit aller gegen alle. Kaum weniger destruktiv ist es jedoch, wenn Organisationsmitglieder auf die Ausübung von Macht verzichten, weil sie Macht aus moralischen Gründen ablehnen. Sie abzulehnen, bedeutet aber oft, lediglich ihre Ausübung zu verschleiern und dadurch deren Missbrauch zu begünstigen. So kann es nicht das Ziel der Erforschung von Machtbeziehungen in Organisationen sein, Macht abzuschaffen, sondern die Vielfalt ihrer Formen zu beschreiben, damit sie leichter identifiziert und einer Kritik unterzogen werden können. Die Beiträge des Sammelbandes versuchen, Psychoanalyse, Psychologie, Soziologie und Ökonomie miteinander ins Gespräch zu bringen. Sie sind allesamt fünf Fragestellungen verpflichtet, die sie in unterschiedlicher Akzentuierung aufnehmen: a) Welche sozial- und insbesondere organisationswissenschaftlichen Machttheorien eignen sich für eine Beschreibung, wie Organisationsstrukturen und die psychischen Strukturen von Organisationsmitgliedern ineinander greifen? b) Welche mikropolitischen Strategien werden in Profit-Unternehmen angewandt und auf welche Weise bewältigen Organisationsmitglieder die daraus resultierenden Belastungen? c) Wie verarbeiten Organisationsmitglieder aus Non-Profit-Or-

Vorwort

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ganisationen die zunehmende Restrukturierung ihrer Organisationen nach dem Vorbild von Profit-Organisationen, was zwangsläufig veränderte Machtbeziehungen mit sich bringt? d) Wie tragfähig ist die populäre Vorstellung, dass Frauen einen anderen Machtgebrauch als Männer zeigen und welchen Nutzen haben sie und die Organisationen, in denen sie arbeiten, davon? e) Welche Themen des Machtgebrauchs kommen in der Beratung von Organisationsmitgliedern (Supervision, Coaching) zur Sprache und wie kann eine nüchterne, nicht vorschnell moralisierende oder gar pathologisierende Behandlung solcher Themen erfolgen? Über diese fünf Fragen hinaus teilen alle Beiträge die Überzeugung, dass kein Organisationsmitglied ohne mikropolitische Kompetenz auskommt, um seine primäre Aufgabe in der Organisation zu erfüllen und sich zu behaupten, ohne auf bloßes Humankapital reduziert zu werden – gleich, auf welcher Hierarchiestufe es positioniert ist.

Rolf Haubl und Bettina Daser

■ Theorien der Macht

■ Johann August Schülein

Soziologische und psychoanalytische Theorien der Macht

Auf den ersten Blick wirkt das Thema Macht fast selbstverständlich und leicht zugänglich. Näher betrachtet zeigen sich allerdings Probleme. Macht kommt überall vor, es gibt kaum ein Thema, bei dem sie keine Rolle spielt, aber dafür kann sie höchst unterschiedlich auftreten und das in jeder Situation und in jeder Konfiguration. – Die Versuche, das Phänomen zu behandeln, spiegeln diese Mischung aus Ubiquität und Ungreifbarkeit: Sie treten in ebenso unübersichtlicher Vielfalt auf und präsentieren sich als unübersichtliches Feld von sehr verschiedenen, sich widersprechenden Ansätzen. Umgangssprachlich ist (bzw. hat) fast alles Macht: Liebe, Wissen, Geld, Zahlen, Drogen, Kirchen, … – sogar Ohnmacht. Schon die Terminologie ist daher ein Thema für sich, die Reihe der Definitionen ist nahezu endlos. Dazu kommen kulturspezifische Variationen – die Bedeutung (bzw. das semantische Feld) von Macht, »power«, »pouvoire« ist sehr verschieden. Auch das Umfeld ist voller vieldeutiger, vielschichtiger Begriffe, mit denen der Machtbegriff korrespondiert: Im Deutschen geht es immer auch um das Verhältnis zu Herrschaft, Einfluss, Entscheidung, Autorität, Gewalt – alles Begriffe, die ihrerseits genauso komplex sind. Mit anderen Worten: Je näher man sich mit dem Thema beschäftigt, desto schwieriger wird es. Oder in Bierstedts Worten: »We all know perfectly well, what it is – until someone asks us« (1950, S. 733). – Dies ist kein Privileg des Themas Macht. Im Prinzip zeigt sich hier das strukturelle Dilemma von Theorien, die sich mit autopoietischer Realität beschäftigen müssen: Sie lässt sich nicht auf eine Formel reduzieren und ist nicht abschließend behandelbar, so dass Theorien selbst zum Problem werden. Humane

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Theorien der Macht

Realität hat Eigenschaften, die verhindern, dass eine risikolose Reduktion auf Faktoren und deren algorithmische Verbindung möglich ist (ausführlicher dazu: Schülein 2002). Nicht möglich ist daher auch eine umfassende, alles zugleich auf angemessene Weise erfassende Theorie – sie ist stets selektiv und erbringt ihre Leistungen durch Vereinseitigungen. Theorie hat daher immer das Problem, dass sie mit ihren Bestimmungen, Hervorhebungen und Zuordnungen zugleich andere Optionen schlecht oder gar nicht mehr abbildet. Jede Festlegung muss vereinfachen und ausblenden. Dazu kommt die strukturelle Normativität, deren Sog Theorie zur Intervention und Parteilichkeit werden lässt, weil ihre Ergebnisse immer Teil des Selbststeuerungsprozesses der Realität sind. Daraus resultiert die Fülle der Kontroversen, Missverständnisse, Unterstellungen – in dem Versuch, den Gegenstand zu fassen, spiegeln sich dessen Eigenheiten. Das muss nicht davon abhalten, zu versuchen, pragmatisch zu bestimmen, was man aus den Diskussionen lernen und mitnehmen kann (was allerdings auf die Intentionen und Selektionen des Zugangs verweist). – Ich greife aus den vielen Thematisierungsstrategien und Konzepten einige wenige heraus, die mir besonders relevant erscheinen, ohne dass damit der Anspruch auf Vollständigkeit verbunden ist (ausführlich zu diesem Thema: Röttgers 2002).

■ Soziologische Machttheorien ■ Die Entwicklung des klassischen Diskurses über Macht Es sind einige grundlegende Themen, die das Zusammenleben und damit auch die Theorien über soziale Realität von Anfang an beschäftigen: Was hält die Welt zusammen? Gibt es eine legitime Ordnung? Wie geht man mit Ungleichheit um? Was ist gerecht? Und vor allem: Wer darf oder muss bestimmen, was geschieht und was nicht geschieht? Wer sich mit diesen Fragen beschäftigt, ist im Allgemeinen schon mitten in der Machtthematik, wenn man (wie der »Brockhaus«) Macht mit Fragen der Über-/Unterordnung, der

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Differenz und der Entscheidung verbindet. Entsprechend enthalten Theorien der sozialen Realität immer explizite und/oder implizite Vorstellungen über Macht – naturgemäß eingefärbt durch die Bedingungen und Möglichkeiten, die dem Denken zur Verfügung stehen. Im ersten Aufflammen des modernen Denkens, der griechischen Philosophie, wird das Thema bereits ausführlich diskutiert. Politik muss sein, heißt es bei Aristoteles (384–322), weil im Zusammenleben unvermeidlich Entscheidungsfragen auftreten (vgl. seine »Politik«, besonders I und II, sowie die »Nikomachische Ethik« 1972). Entscheidungen werden selbstverständlich – das ist der Sinn des Staates – von denen getroffen, die dafür zuständig und ermächtigt sind. Dass es Ungleichheit gibt und dass man dem Gesetz gehorchen muss, ist für ihn selbstverständlich. Er sieht aber auch, dass es schwierig ist, eine Balance von notwendigem Gehorsam und erforderlicher individueller Freiheit zu finden und zeigt, dass alle möglichen Organisationsformen des Staates riskant sind und »entarten« können und destruktiv werden. – Für Aristoteles bilden Sein und Sollen eine selbstverständliche Einheit. Erst die frühe Neuzeit trennt schärfer zwischen Empirie und Ideal (was nichts daran ändert, dass auch Forschung im Dienste bestimmter Wünsche steht, sie begründen soll). Daraus ergeben sich neue Sichtweisen. Machiavelli (1469–1527) ist der erste, der – auf dem Hintergrund des politischen Geschehens der oberitalienischen Renaissance – einen gänzlich nüchternen Blick auf das politische Geschehen wirft und in seinem »Principe« (1513/1961) eine Sozialtechnologie des Machtgebrauchs entwirft. Die Schrift beinhaltet Handlungsanweisungen, wie man Macht erwirbt, verteidigt und zum eigenen Nutzen einsetzt. Damit ist Machiavelli der Begründer einer analytischen, zugleich amoralischen Sichtweise mit dem Ziel einer Praxisanleitung. Den nächsten systematischen Schritt unternimmt Hobbes (1588–1679) im »Leviathan« (1651/1970). Auch er geht – wie Machiavelli – empirisch vor und benutzt seine Einsichten in das wirkliche Geschehen dazu, eine systematische Theorie zu entwickeln. Seine Erfahrungen (vor allem mit der langen Kette von Bürgerkriegen, die seine Zeit kennzeichnete) setzte er um in eine zunächst anthropologisch-naturrechtlich begründete Konstruktion

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Theorien der Macht

– Menschen sind Bedürfniswesen, die zur Befriedigung derselben alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen (dürfen) –, die dann in eine deduktiv-funktionalistische Begründung von Herrschaft mündet: Der »Naturzustand« ist ohne Kontrolle eben reiner Naturzustand (Kampf aller gegen alle) und bedarf einer Instanz, die Regeln aufstellt und deren Einhaltung gewährleistet. Bei Hobbes geht es also um die Frage: Wie ist überhaupt Ordnung möglich und die Antwort ist: durch die Zentralisierung von Macht und ein Gewaltmonopol. Nur durch Unterdrückung ist (ein Stück ungestörte) Freiheit möglich. In dem Maße, wie sich das Bürgertum politisch emanzipierte (oder emanzipieren wollte), entstanden weiterreichende Überlegungen, die das Prinzip der politischen Macht nicht in Frage stellten, aber das Risiko des Missbrauchs fokussierten. Die Antwort lautete: Gewaltenteilung und wechselseitige Kontrolle; die prominentesten Vertreter dieser Konzeption waren Locke (1689/1960) und Montesquieu (1748/1994). Mit Machiavelli, Hobbes und Locke hat die Diskussion ein neues Niveau erreicht: Es wird nicht nur wesentlich stärker empirieorientiert gedacht, es wird vor allem auch mit Modellen operiert, die Gründe, Organisation, Eigendynamik und Problemlagen von Macht und Ungleichheit systematisch analysieren (und zu nutzen bzw. zu behandeln suchen). Unverkennbar sind dabei zwei unterschiedliche politische Positionen, wobei jedoch der analytische Gehalt zunimmt. Die »konservative« betrachtet Ungleichheit und Zentralmacht als notwendig, unvermeidlich und sinnvoll. Macht muss einer Elite vorbehalten bleiben, das Volk/ die Masse ist zu vernünftigem Machtgebrauch nicht fähig und gefährdet durch irrationale Tendenzen Staat und Gesellschaft. Dagegen hält die »emanzipative«, dass Ungleichheit ein Produkt von Usurpation ist und zudem die Probleme, die die Konservativen mit ihrer Hilfe lösen wollen, erst erzeugt. Für ihre Vertreter sind Menschen zu zwangsfreier Integration fähig, wenn man ihnen die Chance bietet. – Diese Polarität prägt über weite Strecken auch die folgenden Diskussionen bis in die Anfänge der Sozialwissenschaften hinein. Auch deren Pioniere gruppierten sich noch entlang der zentralen konservativen und emanzipativen Sichtweisen eindeutig. Marx (1818–1883) setzt mit seiner Theorie dabei eine neue Markierung, weil er die Kritik des Bestehenden verbindet

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mit einer historisch-systematischen Analyse, die begründet, warum Ungleichheit und Herrschaft entstanden sind, was sie aufrechterhält und welche Systemdynamik ihnen innewohnt. Die Selbstbezeichnung »wissenschaftlicher Sozialismus« markiert dabei sehr treffend die Doppelstruktur der Theorie als selbstverständliches politisches Engagement und als Anspruch auf objektive Erkenntnis. Seine Kritiker nehmen Ähnliches in Anspruch. Mosca (urspr. ital. 1895/1950) argumentiert im Sinne der konservativen Position: Marx sei schlicht naiv; die Herrschaft einer Elite über die Masse sei Grundvoraussetzung von sozialer Stabilität. Er untersucht die Zirkulation und Rekrutierung der Elite (die Fähigen der Beherrschten werden in die Elite aufgenommen und verstärken sie) und beschreibt Geschichte als Abfolge von Zyklen, wobei er (wie Marx) davon ausgeht, dass jedes Herrschaftssystem sich zu stabilisieren sucht (und dazu seine Mittel einsetzt), aber jede interne Heterogenität und das Auftauchen neuer Ressourcen zum Kristallisationskern von Oppositionseliten werden, die versuchen, die Macht zu erobern. Damit ist erneut ein neues Niveau beziehungsweise ein neuer Typ von Diskurs entstanden. Der öffentliche Diskurs differenziert sich. Die modernen Sozialwissenschaften vertreten größtenteils eine strikte Trennung von politischer Position und Analyse; sie entwickeln differenzierte empirische Methoden und theoretische Konzepte zur Analyse der sozialen Realität. Das hindert natürlich viele Sozialwissenschaftler nicht, in diesem Rahmen weiterhin ihren Präferenzen zu fröhnen, und kann auch nicht verhindern, dass sozialwissenschaftliche Argumentationen Teil von Auseinandersetzungen sind und werden. Aber es ergibt sich eine erhebliche Professionalisierung und Differenzierung der analytischen Beschäftigungen mit dem Thema, mit allen Folgen. – Zu den Folgen gehört, dass sich nicht nur ein politischer Dissens in wissenschaftliche Kontroversen kleidet, sondern auch, dass sich eine neue Front auftut: die Schwierigkeiten einer objektiven Erfassung des Themas. Es beginnt eine Geschichte des Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Schulen, Traditionen, Paradigmen; sie mündet bis heute in ein unübersichtliches Wirrwarr von Definitionen, Kontroversen und Befunden, welches sich einer genauen Darstellung selbst bei genügend Platz und Zeit entzieht, da sich

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auch auf der Metaebene die angesprochenen Probleme der Theorie reproduzieren.

■ Funktionalismus Es bleibt also kaum etwas anderes übrig, als anhand bestimmter Merkmale Unterschiede zu benennen, typische Muster zu skizzieren und dann zu überlegen, worin potenzielle Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten in Bezug auf bestimme Fragestellungen bestehen. – Durkheim, Weber und Simmel stehen für jeweils unterschiedliche Zugänge. Mit Durkheim (z. B. 1895/1961) wird ein »strukturtheoretisches« Modell verbunden, in dem soziale Sachverhalte von individuellen Intentionen und Motiven unabhängig sind. Kollektive Vorstellungen und Normen sind »faits sociaux«, die Zwang auf Individuen ausüben und ihr Verhalten steuern. Es geht also nicht mehr um die Interessen von Personen und Gruppen (auch Eliten sind ihnen unterworfen), sondern um die jeweilige Konfiguration von »faits sociaux«. Im Rahmen dieses »Zwangsprogramms« ist das Thema Macht (noch) im generellen Modell von Über-/Unterordnung aufgehoben. Anders bei Max Weber (1904, 1905/1964). Diesem Aristoteles der deutschen Soziologie verdanken wir eine Fülle von präzisen Definitionen und Systematisierungen. Von ihm stammen auch die meistzitierten Definitionen (in Kap. I, § 16 von »Wirtschaft und Gesellschaft«) von Herrschaft (»Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«) und Macht (»Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel woraus diese Chance besteht«). Aus (Webers) handlungstheoretischer Sicht ist also für Herrschaft entscheidend, dass es eine Anerkennung der Über-/Unterordnung gibt. Dagegen ist Macht dadurch gekennzeichnet, dass sie gegen die Intentionen des Anderen wirkt – mit welchen Mitteln auch immer. Weber hatte damit bereits den Blick auf die realen Formen der Beeinflussung gerichtet. – Im Anschluss an die »klassische« Phase der Soziologie entwickelte sich vor allem in den USA die empiri-

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sche Sozialforschung. Damit gewann die Macht-Diskussion stärker empirisches Profil und verschiebt die Fragestellung in Richtung auf die Untersuchung von Machtpraxis und ihren Grundlagen: Wer übt wie und mit welchen Effekt Macht aus? So auch Lasswell und Kaplan in ihrer grundlegenden Studie von 1950. Sie sehen Macht als Mitwirkung an der Entscheidungsbildung, wobei Entscheidung aus ihrer Sicht eine Verhaltensweise ist, die schwerwiegende Sanktionen mit sich bringen kann (Lasswell u. Kaplan 1950, S. 74f.). Mitentscheiden (und sanktionieren) kann, wer über »basic values« verfügt. Diese Verfügung liegt bei Gruppen und Personen, die damit anderen mit dem Entzug von knappen Ressourcen oder mit Strafen drohen und so Konformität erzwingen können. – Solche und ähnliche Projekte enthielten Präzisierungen und Ausgestaltungen, blieben theoretisch aber wenig innovativ. Eine systematische Weiterentwicklung dieser Ansätze brachte dagegen der so genannte Strukturfunktionalismus. Parsons verstand sich als Erbe von Durkheim und Weber und bemühte sich, Struktur-/Funktionsdenken mit dem Sinn-Konzept zu verbinden. Im Rahmen seiner Theorie wird die Weber’sche Definition funktionalisiert. Für Parsons ist Gesellschaft generell nur möglich, wenn spezifische Ordnungen aufrecht erhalten bleiben. Dazu muss sie – wie jedes Handlungssystem – Zielerreichung garantieren und dafür ein politisches Subsystem etablieren. Gleichzeitig besteht die Notwendigkeit, zwischen den unterschiedlichen Subsystemen Verbindungen und Austausch zu ermöglichen. Beides leistet aus seiner Sicht Macht, gebunden an Positionen und Rollen. Macht ist für ihn »Entscheidungen treffen und durchsetzen zu können, welche […] bindend sind« (Parsons 1972, S. 28). Industriegesellschaften brauchen davon besonders viel, weil und wo traditionelle Autorität nicht mehr reicht beziehungsweise funktioniert: und ein besserer Austausch zwischen den Subsystemen nötig ist (»Der Unterschied zwischen Führung und Autorität macht eine besondere Verallgemeinerung des Mediums Macht erforderlich«; Parsons 1972). Parsons-Kritiker haben häufig auf den affirmativen Charakter seiner Theorie verwiesen. In der Tat dreht sich bei ihm viel, wenn nicht alles um die Frage, wie Gesellschaften überhaupt funktionieren können, wobei nicht immer deutlich erkennbar ist, welches

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Argument logisch und welches empirisch zu verstehen ist, so dass die Differenz zwischen allgemeiner Notwendigkeit und konkreter Gestalt sozialer Verhältnisse verschwimmt. So beispielsweise in seiner Begründung von Ungleichheit: Gesellschaften legen fest, was sie für Leistungen brauchen und stiften damit unterschiedliche Anpassungschancen für die einzelnen Individuen entsprechend ihrem Begabungsprofil. In diesem Argument verschwimmt die Differenz zwischen der generellen Funktionsbedingung und den besonderen Interessen eines etablierten Herrschaftssystems. – In simpleren und ideologisch stärker aufgeladenen Varianten des Funktionalismus läuft dieses Argument dann häufig (anders als bei Parsons) darauf hinaus, jede Ungleichheit als legitim und notwendig zu betrachten. So ist für Davis Ungleichheit ein Mittel, »mit dessen Hilfe Gesellschaften sicherstellen, dass ihre wichtigsten Positionen von Personen mit der besten Qualifikation gewissenhaft ausgefüllt werden« (zit. nach Lenski 1973, S. 34). – Insgesamt bleibt Parsons’ Machtkonzept zweideutig. Dennoch bahnte es den weiteren Weg einer Perspektive, die die Leistungen von Macht ohne Idealisierung beziehungsweise Ontologisierung von Herrschaft behandelte. Einige Autoren haben Parsons’ Anregungen aufgegriffen. So etwa Karl W. Deutsch in seiner »Politischen Kybernetik«. Ohne das aufwendige Gesamtmodell von Parsons mitzuschleppen, widmet er sich einer genaueren Funktionsanalyse, die auch die Nachteile anspricht. Das zeigten seine das Thema umkreisenden Definitionen: Macht bedeutet: »dass man nicht nachgeben muss, sondern […] zwingen kann. Macht bedeutet Priorität von Output gegenüber dem Input, bedeutet die Möglichkeit zu reden, statt zuhören zu müssen. Macht hat […] derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen« (Deutsch 1973). Solchermaßen fungiert Macht im Steuerungsprozess als »Zahlungsmittel«. Allerdings, so Deutsch, müsse man stets unterscheiden zwischen »gross power« – der verfügbaren Macht – und »net power« – der wirklichen Macht –, die sich nach Abzug der Kosten von Macht ergibt. Damit greift er eine Formel auf, die Lewin aufgestellt hatte (Macht ist die Kraft, die B über A hat, geteilt durch den Widerstand, den A leisten kann). Zudem plädiert er dafür, gewissermaßen Funktionsniveaus der Macht zu unterscheiden. Die Unterscheidung

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funktionieren/nicht funktionieren reicht nicht, weil es dazwischen ein Spektrum (von mühelos bis knapp vor dem Zusammenbruch) gibt.

■ Systemtheorie Systematisch weiterentwickelt wurde Parsons’ Ansatz erst von Luhmann, der aus den Vorgaben vor allem den Gedanken der Notwendigkeit des Austauschs hervorhebt und ausarbeitet. In seiner Studie über Macht analysiert er auf dem Hintergrund seiner systemtheoretischen Konzeption ihre Funktion als generalisiertes Medium der Kommunikation. Wo Parsons danach fragte, welche Systemleistungen nötig sind, um ein Handlungssystem in Gang zu halten, geht Luhmann noch einen Schritt weiter beziehungsweise zurück und fragt, wie denn Systeme überhaupt zustande kommen. Das Kernproblem aus seiner Sicht: aus der unendlichen Fülle von Möglichkeiten müssen einige wenige herausgefiltert werden. Reduktion von Komplexität qua Selektion ist also die Grundbedingung von Systembildung. – Damit Selektionen strukturell wirken können, müssen sie transportiert werden. Das leistet Kommunikation, indem sie Alter vor die Alternativen stellt, Egos Mitteilung anzunehmen oder abzulehnen. Entweder breitet sich die Selektion aus oder es wird eine Unterbrechung deutlich, die dann weiter verarbeitet werden kann beziehungsweise muss. Kommunikation ist also für Luhmann mehr als Sprache (die nur dafür sorgt, dass Alter und Ego sich verständigen können). Im Zuge der gesellschaftlichen Evolution entwickeln sich, so Luhmann, spezialisierte Kommunikationsmedien – Geld überträgt ökonomische Selektionen, Liebe Beziehungsselektionen, Wahrheit bestimmt die Auswahl von Interpretationen. Während Geld, Liebe und Wahrheit sozusagen themenspezifische Modi der Übertragung von Selektion sind, liegt für Luhmann die besondere Leistung von Macht darin, dass sie Handlungssteuerungen überträgt. Damit stellt sie »Wirkungsketten sicher, unabhängig vom Willen des Machtunterworfenen« (Luhmann 1975, S. 11), vor allem dann, wenn dieser eine ungünstige Alternative wählen soll. Damit wird Macht zum entscheidenden Mittel des Aufbaus

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und der Entwicklung: »Durch Macht entsteht […] aus der diffusen Impulsivität und den spontanen Zielstrebungen des sozialen Lebens eine ›unnatürliche‹ Verteilung des Wollens und Nichtwollens als Bedingung spezifischer Operationen« (Luhmann 1975, S. 34). Macht führt dazu, dass Situationen nicht der Logik der zufälligen Kräftekonfiguration folgen, sondern verlässlich »Unwahrscheinliches« hervorbringen: dass Menschen sich an Regeln halten, Erwartungen erfüllen und so weiter. Machtbestimmte Situationen können vorausberechnet werden. – Solange Macht personen- und situationsgebunden ist, bleibt sie schwach und schwerfällig. Erst wenn sich eine situations- und personenunabhängige Machtstruktur entwickelt, entsteht die Möglichkeit autonomer Systementwicklung und damit die Steigerung von Leistungsfähigkeit durch Arbeitsteilung, Differenzierung und so weiter. Machtstruktur emanzipiert Systeme damit von den Beschränkungen singulärer Handlungen und von persönlicher Willkür. – Luhmann untersucht auch ausführlich das praktische Funktionieren von Macht und ihre Risiken. Wie andere Autoren auch sieht Luhmann Gewalt als Voraussetzung von Macht, schätzt aber ihr soziales Vermögen als gering ein: Sie kann nichts auf Dauer stellen und lässt keine Differenzierungen zu. Macht setzt daher die Existenz spezifischer (Physis und Sozialsystem verbindender) »symbiotischer Mechanismen« als »nicht überbietbare Handlungsalternative« voraus, kann aber durch sie nicht gewährleistet werden. Die Anwendung von Gewalt lässt Macht – die Fähigkeit zur Beeinflussung ohne Zwang – zusammenbrechen. Dies gilt generell für Sanktionen: Wenn sie angewendet werden müssen, ist Macht am Ende. Daher muss Macht so glaubhaft und auch so handlungsbereit erscheinen, dass ihr Einsatz vermieden werden kann. Gesteuert wird Macht durch den Mediencode, der die Bedingungen, unter denen die Übertragung von Selektion funktioniert, definiert und institutionalisiert. Gesellschaften definieren also, was für sie Macht ist und wie man mit ihr umgeht. Luhmann betont, dass bestimmte »Neben-Codes« möglich und nötig sind (etwa informelle Macht, die die gleiche Leistung unter Sonderbedingungen erfüllen). Dagegen sind der Transformation in rechtliche Spezifizierungen oder konkrete Drohungen Grenzen gesetzt. Durch solche Festlegungen macht Macht sich angreifbar, »herausforder-

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bar« (Luhmann 1975, S. 26): Man kann juristische Bescheide anfechten, Drohungen als »leer« entlarven und so weiter. Ebenso ist Zentralisierung und Personenbindung ein Problem, weil dadurch die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. – Die Verwendung von Macht ist mit weiteren spezifischen Risiken verbunden. »Zu wenig Macht« im Sinne Luhmanns kann heißen, dass das Ausmaß an Entscheidungen nicht mehr behandelbar ist und Macht angesichts der selbst ermöglichten Komplexität versagt, was zur Entstehung von »Blockiermacht« – Macht, die andere Macht sabotiert – oder zur Verlagerung von Macht auf Nicht-Entscheidungen führt. Möglich sind auch enttäuschte Erwartungen, die ausdifferenzierte Macht provoziert: Man erwartet sich zu viel von ihr und wendet sich dann enttäuscht ab. Zudem besteht auch ein »Inflationsrisiko«, wenn Macht nicht maßvoll verwendet wird, also mit ungedeckten Drohungen und nicht verfügbaren Ressourcen arbeitet. In diesen Fällen können Krisen auftreten, denen Macht dann mit Ausnahmeregelungen und Notfallmaßnahmen begegnen muss. Ausführlich wird von Luhmann auch das Thema Macht und Organisation behandelt – Organisation in seinem Verständnis ist ein eigenständiger Typ von Systembildung (definiert durch Mitgliedschaft). Hier finden sich besondere Möglichkeiten der Abkoppelung vom gesellschaftlichen System der Macht und der »Konvertierung« von Medien (also von Wahrheit in Macht). Organisationsmacht ist nicht zuletzt Personalmacht, also die Möglichkeit, nicht nur Regeln zu setzen, sondern knappe Stellen zu verteilen. Damit haben Organisationen auch ein besonderes Problemprofil. So wird in ihnen durch Macht Gegenmacht mitkonstituiert – Delegation erzeugt auch Abhängigkeit. Aber auch das Machtverhältnis zwischen Untergebenen wird durch Machtzuwachs problematisch und erschwert deren Beziehung. Beides führt zu komplizierten Balanceproblemen. Schließlich behandelt Luhmann noch das Thema Interpretation von Macht. Hier ergibt sich vor allem das Problem der Verquickung von Systemtypen – etwa der naive Glaube, Formen der »lokalen Einflussverdichtung«, zum Beispiel direkte Demokratie, oder der Partizipation (die ohnehin im Kern nur Oberflächenkosmetik sind) auf Gesamtebene implementieren zu können. Luhmanns Theorie der Macht ist zweifellos das am stärksten

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ausgearbeitete funktionslogische Konzept, das die Soziologie im Moment bietet. Genauso zweifellos ist es hochabstrakt und in seiner Sichtweise zentriert auf die Frage, wie der soziale Motor läuft. Damit zeigt auch sein Konzept das spezifische Profil funktionalistischen Denkens und die Tendenz, die funktionale Logik als IdealNorm zu behandeln und den Status quo damit zu identifizieren.

■ Phänomenologie und Interaktionismus Der Funktionalismus geht – trotz gewisser Anknüpfungen an mikrosoziologische beziehungsweise mikrosoziologisch beschriebene Ausgangsproblemlagen – im Kern von makrosoziologischen Perspektiven aus, die die Notwendigkeit von Integration und Über-/Unterordnung voraussetzen und vor allem danach fragen, wie beides möglich und was dazu nötig ist. Macht erscheint dabei als notwendig, gefragt wird nach ihrer Möglichkeit und ihrer Umsetzung – und was sie gefährdet. – Ein ganz anderer Pfad soziologischen Denkens wurde von Georg Simmel (1908/1992) gebahnt. Für ihn ist makrosoziale Realität ein Produkt, das sich in der und durch die Fülle alltäglicher konstitutiver Aktivitäten erst herstellt. Menschliche Bedürfnisse führen zwangsläufig zu Situationen, in denen soziale Formen entstehen, die einerseits Bedürfnisse kanalisieren und binden, andererseits sich zu makrosozialen Zusammenhängen aggregieren. In Simmels Denken spielt dabei das Prinzip der »Wechselwirkung« eine zentrale Rolle: Dass alles, was wirksam werden will, dazu auf ein anderes bezogen sein muss, wobei sich beide ändern und verbinden. Soziale Beziehungen sind für ihn nicht nur ein Modus der Verbindung, sondern auch der Vermittlung und Veränderung. Nichts ist einfach, sondern alles wird durch Verbindung Teil eines Zusammenhangs, wird verändert, ohne darin aufzugehen. Damit sind für Simmel auch Ungleichheiten und Macht nicht einfach Gegebenheiten: »Selbst in den drückendsten und grausamsten Unterworfenheitsverhältnissen besteht immer noch ein erhebliches Maß an persönlicher Freiheit […] Der ›unbedingte Zwang‹, den der grausamste Tyrann auf uns ausübt, ist tatsächlich immer ein durchaus bedingter, nämlich dadurch bedingt, dass wir den angedrohten Strafen oder sonstigen

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Konsequenzen entkommen wollen« (Simmel 1992, S. 161). Auch ein starkes soziales Gefälle ist im Kern »eine Wechselwirkung, [ein] Austausch der Einflüsse, der die reine Einseitigkeit der Über- und Unterordnung zu einer soziologischen Form umbiegt« (S. 165). In dieser »Wechselwirkungsform« findet »eine Spontanität beider Elemente und damit eine Eingrenzung beider statt« (S. 167). Daraus ergibt sich ein gleichzeitiger induktiver und deduktiver Aufbau der sozialen Welt: synthetisiert in und von den Aktivitäten der Beteiligten in Einzelinteraktionen, organisiert durch die daraus resultierenden und zurückwirkenden sozialen Formen. Simmel hat damit ein Konzept vorgelegt, das später von Interaktionismus und Phänomenologie näher ausgearbeitet wurde. Gemeinsam ist beiden, dass sie Macht (wie jedes andere Thema) als Produkt eines konstitutiven Prozesses betrachten, der sein Profil ständig ändert und nicht abgeschlossen wird. Ein Beispiel für eine phänomenologische Sichtweise ist der Text »Prozesse der Machtbildung« von Heinrich Popitz (1976). Er diskutiert, wie eine ursprünglich unstrukturierte Situation strukturiert wird, wie sich Ungleichheit und Machtverhältnisse verstärken und verselbständigen. Dabei zeigt sich, dass vor allem die Verfügung über wichtige Ressourcen, die Fähigkeit zu kompetenter Organisation und/ oder die Solidarität in Teilpopulationen Kristallisationskerne von Sozialstruktur und (damit) Ungleichheit sind. Entscheidend ist jedoch die weitere Dynamik: Erst, wenn die Besitzelite ihre Überlegenheit in eine Legitimitätsordnung übersetzen kann, wenn es so gelingt, die Gesamtpopulation in partikulare Gruppen mit unterschiedlichem Näheverhältnis zum Zentrum zu dividieren und ein Umverteilungssystem, das Abhängigkeiten und Loyalitäten schafft, zu etablieren, kann Macht auf Dauer gestellt werden. Es ist die Möglichkeit der Kombination dieser Faktoren, aus der sich das selbsteskalative Potenzial von Macht, die Möglichkeit, sie zu steigern, resultiert. »Macht über andere Menschen lässt sich […] so steuern, dass der Einsatz von Besitzvorteilen die organisatorischen Vorteile erhöht und der Einsatz von organisatorischen Vorteilen die Besitzvorteile vermehrt. Diese Umsetzung wird zunehmend manipulierbar, je mehr das Verhalten der anderen gesteuert werden kann. Es sind schließlich die Machtunterworfenen, die für die Machthaber diese Umsetzung leisten« (Popitz 1976, S. 41).

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Popitz analysiert zwar mikrosoziale Prozesse, aber er nutzt sie für ein allgemeines Modell der Genese von Macht und die Bedingungen ihrer Aufrechterhaltung. Die interaktionistische Perspektive zentriert sich stärker auf das mikrosoziale Geschehen selbst. Dabei sind (in der Fülle der Beiträge) vor allem die Begriffe »Definition der Situation« und »bargaining« wichtig. Für Interaktionisten gibt es keine Wirklichkeit, sie wird erst durch geteilte Definitionen dessen, was der Fall ist, erzeugt. Entsprechend gibt es auch keine Macht an sich, sondern nur Machtverhältnisse, die von allen Beteiligten qua aktiver Definition hergestellt werden. Da die Interessen und Intentionen sich unterscheiden, treffen dabei zwangsläufig verschiedene Definitionen aufeinander. Daraus resultiert ein Prozess des Aushandelns von Wirklichkeit, der einem Freistilringen ähnelt – alles ist erlaubt, was der Gegner zulässt. Damit ist der Interaktionismus sozusagen wieder bei Webers Definition angekommen; sie wird jetzt jedoch wesentlich genauer untersucht und ausdifferenziert. Es geht dabei um Techniken der Überzeugung und Überredung, um Umdefinition und Inszenierungen, um Verhandlungsstrategien und Beziehungsschlachten, um Rangkämpfe und Schikanen. Damit ist bereits der starke interaktionistische Fokus auf Organisationsdynamik angesprochen. Auch Organisationen sind in dieser Sicht eine »negotiated order« (so die Bezeichnung von Strauss); die Pionierarbeit von Goffman (1981) über totale Institutionen und die für sie typischen Degradierungszeremonien, Strategien sekundärer Anpassung sowie die Spezifika des Untergrunds haben eine Fülle von Untersuchungen angeregt, die sich mit der Herstellung und Dynamik »herrschender Normalität« auseinandersetzen. In Kooperation mit spieltheoretischen Ansätzen hat der Interaktionismus auch zu produktiven Neuauflagen der Machiavelli-Themen – von Schellings »Strategy of conflict« (1960) bis zur »Micropolitics«-Forschung – beigetragen. Bosetzky (1988, S. 382) definiert Mikropolitik als »die Bemühungen, die systemeigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele, insbesondere des Aufstiegs im System selbst und in anderen Systemen […] sowie zur Sicherung der eigenen Existenzbedingungen« einzusetzen. Crozier und Friedberg (1979) haben die Arbeitsweise von Organisationen insgesamt unter die-

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sem Blickwinkel betrachtet: »Als menschliches Konstrukt ordnen, regularisieren und schaffen Organisationen Macht. Jede ernstzunehmende Organisationsanalyse muss daher Macht ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen« (Friedberg 1988, S. 40), wobei Macht als Beziehung zwischen zwei oder mehreren Akteuren gesehen wird, die auf asymmetrischen Austausch und Verhandlung mit Hilfe von knappen Mitteln und Wahlmöglichkeiten basiert. Die Masse der Literatur, die dieses Thema in jeder erdenklichen Form und mit allen möglichen und unmöglichen Methoden behandelt, ist nicht mehr übersehbar. Der Interaktionismus präferiert über weite Strecken qualitative Forschungsmethoden. Auch im Lager des quantitativen Paradigmas hat sich eine eigene Tradition von Machtforschung entwickelt. Sie war am Anfang allerdings stark geprägt von den ideologischen Fronten des Kalten Kriegs. Mit strikt wissenschaftlichen (sprich: positivistischen) Methoden sollte gezeigt werden, dass die Unterstellung der Kritiker, auch in den USA gäbe es Machtverhältnisse, falsch sei. Tatsächlich konnten entsprechende Gemeindestudien (z. B. Dahl 1958) keine systematischen Beeinträchtigungen von Chancen, zur Wahl anzutreten und gewählt zu werden, erkennen. Die bekannte Arbeit von Bachrach und Baratz (1977) lockerte diese Dogmatik wieder. Obwohl auch sie die These, es gäbe eine herrschende Machtelite, die alles kontrolliert, ablehnten, plädierten sie für eine »zweistufige« Sichtweise. Hinter den erkennbaren (empirisch messbaren) Entscheidungen spielen sich danach Vorgänge ab, durch die das Entscheidungsfeld verengt beziehungsweise in bestimmte Richtungen gedrängt wird. Hier spielt das Manipulationspotenzial eine Rolle: »Eine Person oder Gruppe besitzt in dem Maße Macht, wie sie, bewusst oder unbewusst, Hindernisse gegen das öffentliche Austragen von Konflikten aufbaut oder verstärkt« (Bachrach u. Baratz 1977, S. 47). Dadurch kommt es zu »Nicht-Entscheidungen«, so dass man eigentlich von »Verhinderungsmacht« sprechen müsste.

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■ Kritik der Macht In den Auseinandersetzungen um das Konzept von Bachrach und Baratz (1977) wurde immer wieder moniert, dass es ihnen an einem substanziellen makrosoziologischen Machtkonzept fehle. Offe (1977) moniert in seinem Kommentar, dass das positivistische Programm per se unlogisch sei, weil man Macht nicht allein an messbarem Geschehen festmachen könne und dass die Autoren nicht weit genug gehen. Erforderlich sei ein »dreistufiger Machtbegriff«, der nicht nur manifestes Handeln (erste Ebene) und »strategisch generierte Ausschließungs- und Unterdrückungsregeln« (zweite Ebene) erfasst, sondern eine »dritte Ebene […], auf der die strukturellen Präjudizien angesiedelt sind, die als solche dadurch bestimmt sind, dass sie eines ausdrücklichen Entscheidungsaktes überhaupt nicht bedürfen«, weil sie »kraft ihrer subjektlosen Geltung die Voraussetzungen dafür schaffen, dass von bestimmten Positionen der Sozialstruktur aus das Instrumentarium des ›nondecision-making‹ betätigt wird« (Offe 1977, S. 21f.). Damit ist die Perspektive der Kritischen Theorie, von kritischen Theorien überhaupt, angesprochen. Seit Marx betonen sie die makrostrukturell bedingten Ursprünge von Macht, sehen sie also als Teil und Ausdruck von Herrschaft. Die Kritische Theorie hat das Herrschaftsverständnis systematisch erweitert und gewissermaßen die Totalität der Verhältnisse zum Thema gemacht. Die »Dialektik der Aufklärung« (1947) beschäftigt sich nicht (mehr) mit besonderen Klassen und Klasseninteressen, sondern mit einer transzendenten Systemaporie: dass gerade der Fortschritt mit seiner Befreiung von Elend und personaler Herrschaft die Grundlagen jeder Humanität bedroht. Besonders Adorno (1950) zeigte sich immer wieder als Meister im Aufspüren dieser Tendenzen in allen möglichen Themen und Details. Ein Autor, der daraus ein systematisches Konzept entwickelte, war Herbert Marcuse. Er beschäftigte sich in »One-Dimensional Man« (1964) ausführlich mit einem Strukturwandel von Herrschaft. Aus seiner Sicht wird der klassische, gewaltbasierte Typ von Herrschaft, hinter dem identifizierbare Akteure und Interessen stehen, mehr und mehr abgelöst durch eine neue Form von Herrschaft. Sie basiert auf der Internalisierung von Herrschaft

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durch eine doppelte Aushöhlung von subjektiver Identität. Einerseits unterminiert die Pazifizierung der Oberfläche der Gesellschaft die Fähigkeit zu kritischem Bewusstsein. Pseudoliberalität und Pseudopluralismus sind in Wahrheit die Tarnung eines Systems, welches die Unmündigkeit durch scheinbare Teilhabe fixiert. Andererseits bietet das System für jedes noch so neurotische Bedürfnis Möglichkeiten der Befriedigung mit dem Effekt, dass die Emanzipation von neurotischen Problemen, sogar die Einsicht in deren Existenz und ihre Interpretation als Ausdruck von Widersprüchen und Konflikten unmöglich wird (Mitscherlich sprach später von »Domestizierung durch Lusterfahrung«). Strukturell ähnlich argumentiert Michel Foucault. Auch er sieht in vielem, was sonst als Fortschritt behandelt wird, in Wahrheit eine Verfeinerung der Herrschaftsmethoden. Seine »Mikrophysik der Macht« (1976) demonstriert dies und zeigt zugleich, wie sehr sich Herrschaft von einer einfachen Dichotomie zwischen Klassen in Richtung auf ein subtiles, alles durchdringendes System der Kontrolle und Beherrschung entwickelt hat. Er diskutiert ausführlich die Art und Weise, wie Sprache und formierte Diskurse manipuliert und Sichtweisen festgeschrieben werden, die Objektivität suggerieren, aber ideologisch verzerrt sind. Die moderne Arbeitswelt erscheint ihm – angesichts der enormen Fortschritte der Überwachungs- und Kontrollmethoden – als Realisierung des Bentham’schen Panoptikums. Und selbst die Denkweisen, die sich der Emanzipation widmen (wie die Psychoanalyse) sind Teil des Systems, weil und wo sie Strategien bieten, mit deren Hilfe noch tiefer in die Identität von Subjekten interveniert werden kann.

■ Syntheseversuche und neue Wege Der Gegensatz von konservativem und kritischem Denken zum Thema Macht war für einige Autoren der Anlass, einen »Dritten Weg« zu versuchen. Lenski (1973) analysiert deren Dissens und kommt zum Schluss, dass beide unrecht haben. Funktionalistische Schichtungstheorien sind einäugig und reden Ungleichheit schön, während Radikale (wie er Kritiker in Anlehnung an amerikanischen Sprachgebrauch nennt) die Lehren der Forschung ignorie-

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ren: Dass Menschen heikle Bereitschaften zu Egoismus und Interessensdurchsetzung haben und auch und gerade Revolutionen sie herauskitzeln. Er schlägt vor, eine makrosoziologische Machttheorie empirisch zu begründen und dabei beide Argumentationen zu verbinden. Ausgangspunkt ist, dass Verteilungssysteme, denen Ungleichheit und Machtgefälle zugrunde liegen, zugleich Systembedürfnis und Interessenseffekt sind. Aber beides funktioniert nicht friktionslos (so wie in den Theorien unterstellt) – weder Systemlogik noch Unterdrückung und Ausbeutung. Gesellschaften muss man sich daher als höchst unvollkommene, heterogene Systeme vorstellen; nur hochgradig zentrierte Gesellschaften realisieren Tendenzen widerspruchsfrei. Ein Grund dafür ist, dass Gesellschaften nicht von einem einzigen Basisprinzip gesteuert werden. Lenski (1973, S. 71) vertritt die These, dass es zwei grundlegende Verteilungsgesetze gäbe: »Menschen (teilen) das Produkt ihrer Arbeit insoweit, als dies zur Sicherung ihres Überlebens und der kontinuierlichen Produktivität jener notwendig ist, deren Handlungen für sie selbst notwendig oder nützlich sind«. Dabei bestimmt Macht, wie der Surplus verteilt wird. Gewalt ist dabei als »letzte Berufungsinstanz« die wirksamste Form von Macht und damit Grundlage jeder Souveränität. Da letztlich immer das Prinzip mit dem höheren Gewaltpotenzial sich durchsetzt, ist sie gut in direkter Konfrontation, für Eroberungen und erforderlich als Grundlage von Herrschaft. Dagegen versagt sie als Mittel zur Erhaltung von Herrschaft und Nutzung einer Machtposition, so dass eine Transformation in Recht, öffentliche Akzeptanz usw. erforderlich ist. Daher gelten in funktionierenden Herrschaftssystemen andere Regeln – auch für die Macht, die durch Institutionalisierung gebändigt und gebahnt wird, sich in den »Besitz bestimmter durchsetzbarer Rechte« (Lenski 1973, S. 88), verbunden mit Positionen und Eigentum, verwandelt. Damit gehen einige strukturelle Veränderungen vor sich. Schon Pareto (1962) hatte darauf hingewiesen, dass nach der Etablierung eines Herrschaftssystems die »Löwen« durch »Füchse« abgelöst werden, wodurch die Macht ein Stück weit dezentralisiert wird. Lenski (1973) ergänzt, dass die neue Herrschaftselite Techniker und Spezialisten rekrutiert und privilegiert, die den Betrieb am Laufen halten. Eliten und ihre Unterstützer profitieren zwar vom

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System, streiten sich jedoch stets um den Verteilungsschlüssel. Dagegen sind Nicht-Eliten gezwungen, nach legalen und illegalen Lücken im System zu suchen, um ihre Interessen zu nutzen. Entsprechend entwickelt sich ein Gegensystem von parasitären Strategien. Beides sind interne Risikoquellen, so dass das System nicht nur von außen, von seinen Opfern, sondern auch von seinen Profiteuren bedroht wird. Ein Systemzusammenbruch führt immer dazu, dass die Rolle der Macht- und Gewaltspezialisten (Armee, Militär) zumindest kurzfristig zentral wird. Ein historischer Sonderfall sind nach Lenski verfassungsmäßige und demokratische Verteilungssysteme, die nicht unbedingt Klassenverhältnisse abschaffen, aber ein höheres Maß an Legitimation und Integration voraussetzen und damit den Machtzugang regulieren, ihn zugleich aber öffnen. Das heißt: Demokratische Gesellschaften eröffnen neue Kampffelder um Macht und Privilegien und wesentlich mehr Personen und Gruppen den Zugang zu diesen Feldern (Lenski 1973, S. 517). Mit diesem Modell sortiert Lenski die Geschichte nach Gesellschaftstypen und diskutiert jeweils deren Machtgefüge. Seine Bilanz der Entwicklung ist mehrdeutig. Keine der »klassischen« Positionen hat so recht, wie sie dies annimmt; die Synthese fällt wesentlich komplizierter aus. So stellt er fest, dass traditionelle Gesellschaften ein wesentlich höheres Maß an Ungleichheit und einseitiger Verfügungsgewalt über Ressourcen kennen, dennoch tragen auch hier die Institutionen des Herrschaftssystems zum »Gemeinwohl« bei (Lenski 1973, S. 581). Dagegen sind moderne Gesellschaften demokratischer, kennen aber mehr Möglichkeiten zur Ausnutzung der Gegebenheiten durch Minderheiten. – Einen neuen Anlauf in diese Richtung hat Michael Mann (1994) in seiner »Geschichte der Macht« unternommen. Auch er betont die Heterogenität von Gesellschaften und damit von Machstrukturen: »Gesellschaften bestehen aus vielfältigen, sich überschneidenden sozialräumlichen Machtgeflechten« (Mann 1994, S. 14). Strukturiert werden diese sich »überlagernden Netze sozialer Interaktionen« (Mann 1994, S. 15f.) durch ontologische Quellen von Macht: »Eine allgemeine Beschreibung von Gesellschaften, ihrer Struktur und ihrer Geschichte lässt sich am besten als Analyse der Wechselbeziehungen dessen vornehmen, was ich als die vier Hauptquellen

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von sozialer Macht bezeichnen möchte, mithin der ideologischen, ökonomischen, militärischen und politischen Gegebenheiten und Zusammenhänge (IEMP)« (Mann 1994, S. 15). IEMP »begegnen […] uns in Gestalt von Organisationen als den institutionellen Mitteln zur Erreichung menschlicher Ziele. Ihr Primat rührt nicht von einer tiefen menschlichen Sehnsucht nach ideologischer, ökonomischer, militärischer oder politischer Bedürfnisbefriedigung her, sondern von den je spezifischen organisationellen Mitteln, über die sie gebieten«. Daher ist es aus seiner Sicht falsch, sie auf Motive zurückzuführen. Macht ist ein Mittel zur Zielerreichung. Sie muss auf der Ebene ihrer Organisation betrachtet werden. Mann unterscheidet sie nach ihrer Größe (extensiv vs. intensiv) und nach dem Grad ihres Durchgriffs beziehungsweise ihrer »Autorität« (autoritativ vs. dezentral). Die vier Machtquellen variieren in diesen Dimensionen. Empirisch ergeben sich daraus jeweils spezifische Kombinationen: »Die Grenzen und Kapazitäten [der sozialen Interaktionsnetze] sind nicht identisch. Manche sind effektiver in der Organisation von intensiver und extensiver, autoritativer und dezentraler sozialer Kooperation als andere […] Die Bedeutung der vier Netze liegt darin, dass sie intensive und extensive Macht miteinander kombinieren […] Die Hauptformen, die ich ausgemacht habe, waren die transzendente oder immanente Organisation (ideologischer Machtgeflechte), die Praxiskreisläufe (als Ausdruck ökonomischer Machtzusammenhänge), die konzentrierten Zwangsorganisationen (militärische Macht) und die zentralistisch-territoriale und geopolitisch-diplomatische Organisation (von politischer Macht)« (Mann 1994, S. 55). – Daraus ergibt sich dann das »buntscheckige« Aussehen der realen Machtverhältnisse. Für Mann ist offenkundig, dass im Verlauf der Geschichte die Machtquellen – IEMP – immer stärker wurden und kräftiger sprudelten. Von einer gradlinigen Evolution möchte er allerdings nicht sprechen, weil das Zusammenspiel und die Entwicklung der organisierten Macht zu vielschichtig ist, unterschiedliche Formen annehmen kann. Er spricht daher von einem Zusammenspiel von Homogenisierung und Heterogenität, von Zentrierung und Dezentrierung als Grundlage von Entwicklungen, die dann »migrieren« und damit auch Funktionswandel erfahren können.

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Ganz neue Aspekte und Töne hat schließlich die feministische Kritik in die Diskussion gebracht (vgl. z. B. Knapp 1992). Die schon seit langem geübte Kritik an der männlichen Prävalenz in allen gesellschaftlichen Bereichen hat seit den 1960er Jahren quantitativ und qualitativ erheblich zugenommen. Mit dem Rückenwind der feministischen Bewegung etablierten sich »Frauenforschung« und »Gender studies«, die sehr genau untersuchten, wie soziale Realität geschlechtsspezifisch aussieht und wie sie funktioniert. Der Befund war und ist auch in Bezug auf das Thema Macht eindeutig: Überall, wo Macht vorhanden ist und ausgeübt wird, sind Frauen in der Minderzahl oder überhaupt nicht präsent. Überall sind die niederen Positionen auf die Geschlechter gleich verteilt oder vorrangig von Frauen besetzt. Je höher man in der Hierarchie aufsteigt, desto geringer ist der Frauenanteil. In den Spitzenpositionen von Wirtschaft und Politik liegen sie schließlich bei circa fünf Prozent, auch wenn empirische Studien inzwischen eine leichte Verschiebung – zumindest in der sozialen Wahrnehmung dieser Disparitäten – feststellen. Aber auch außerhalb formaler Zusammenhänge sind die Unterschiede erheblich, wie sich beispielsweise an Hand von Diskussionsverhalten zeigt (etwa: Wer ergreift das Wort und redet wie lange?). Dieser (eindeutige) Befund war nicht neu und überraschend, aber früher (von Männern) immer mit dem Hinweis auf die andere Natur von Frauen begründet und legitimiert worden. Jetzt wird genauer untersucht, wie besondere Barrieren die Chancen von Frauen beeinträchtigen – und wie sie errichtet werden: qua Sozialisation, qua Ideologie, qua Bildungschancen, qua Abschließungs- und Ausschließungsstrategien. Soweit dabei nicht auch Wissenschaft als Teil des geschlechtsspezifischen Herrschaftssystems abgelehnt wird, ergibt sich aus diesen Interpretationen vor allem eine neue Perspektive gesellschaftskritischer Machttheorien (unter Einbeziehung der Dimension geschlechtsspezifischer Herrschaft).

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■ Gemeinsamkeiten und Differenzen der sozialwissenschaftlichen Diskussion Schon dieser eher kursorische Überblick zeigt die immense Vielfalt und Vielschichtigkeit der Perspektiven, der Berührungspunkte und Kontroversen. Dies beginnt nicht erst bei den Interpretationen, sondern bereits auf der Ebene der Problembestimmung. Macht wird als Möglichkeit der Veränderung, als Herstellung von Ungleichheit, als Folge von Ungleichheit, als Verallgemeinerung von normativem Konsens, als Medium der Übertragung von Selektion, als Mittel zur Zielerreichung, als Herrschaftsverhältnis und vieles andere mehr bestimmt und steht dabei in jeweils unterschiedlichem Verhältnis zu Gewalt, zu Einfluss, zu Autorität, zu Manipulation, zu Überzeugung, zu Legitimität. Diese Tatsache lässt nur den Schluss zu, dass Macht – außer bei gezielter Einengung der Diskussion – so weit greift und so viel einschließt beziehungsweise mitthematisiert, dass eine saubere Trennung und eindeutige Definition nicht möglich ist. Was für die allgemeine Theorie ein Problem ist, hat für spezifische Zwecke aber auch gewisse Vorteile: Es ist möglich, an bestimmte Zwecke anzuknüpfen. Die Diskussion hat eine Fülle von Anregungen hervorgebracht, die als Rahmen für weitere Überlegungen genutzt werden können. − Gesellschaften implizieren Differenzen: reale Ungleichheiten zwischen Individuen, unterschiedliche Möglichkeiten der Nutzung von Ressourcen, strukturell ungleich verteilte Chancen des Zugangs zu und der Verfügung über Ressourcen. Dies ist der Ausgangspunkt und zugleich der Effekt von Macht. In diesem Sinne ist sie eine soziale Universalie, ein Struktureffekt jeder sozialen Realität und muss in jeder relevanten Analyse berücksichtigt werden. Macht ist allerdings thematisch völlig unbestimmt, weil je nach Konstellation Macht alles Mögliche sein kann. Allgemeine Bestimmungen sagen daher noch nichts über die jeweils spezifische Dynamik. − Ein phänomenologisches Modell von (relationaler) Macht könnte so aussehen: A will, was B nicht will. A verfügt über Ressourcen, die für diesen Zweck die Möglichkeit bieten, B gegen dessen Eigenintentionen zu motivieren; die Ressource wird als Argument, als Hinweis oder als Demonstration eingesetzt

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und wirkt so, dass die Verantwortung für die Handlung bei B bleibt; ein einmal so abgelaufener Prozess erhöht die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Folgeabläufe und führt zu Resultaten, die das Machtpotenzial verstärken oder stabilisieren; die so stabilisierte Macht kann für weiterreichende Verknüpfungen und Aggregationen sorgen, die dann als generalisiertes Muster – als feststehendes Machtverhältnis – anderen Themen und Folgesituationen vorlaufen und als Vorsteuerung wirken. Dieser Ablauf kann an jedem Punkt brechen und scheitern, was zum Kippen, zur Verwendung anderer Mittel oder zu alternativen Machtverhältnissen führt; er wird durch das Auftauchen neuer Ressourcen oder Neuverteilungen neu geordnet. − Gewalt ist dabei ein basales Potenzial, eine im Zweifelsfall als letzter Trumpf fungierende Ressource. Sie kann Kontroversen entscheiden, generell Entscheidungen herbeiführen und als Absicherung dienen, aber keine Differenzierung aufbauen und stabilisieren. Sie ist daher die (letzte) Absicherung von Macht, zugleich aber auch deren Verhinderung, weil und wo Macht auf Beziehungen, auf Kontakt und Austausch und damit auch auf Konsens angewiesen ist, alles, was Gewalt gerade nicht erzeugen kann. Das Drohen mit Gewalt ist also die Grenze von Macht, ihre Überschreitung lässt sie zusammenbrechen. − Macht impliziert die Möglichkeit der Beeinflussung von Verhältnissen, Dingen, Personen. Dies ist sowohl allgemein Funktionsbedingung von Gesellschaft als auch das Funktionsprinzip von spezifischen gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnissen mit ihren Besonderheiten (und Dysfunktionen). Die realen Asymmetrien enthalten also beide Programme zugleich. Analytisch muss jedoch zwischen beiden unterschieden werden: Allgemeine Funktionsbedingungen werden in spezifischen Funktionsprinzipien auf bestimmte Weise genutzt. Entsprechend ist es analytisch auch sinnvoll, zwischen dem Funktionieren von Macht und dem Kontext ihrer Verwendung zu unterscheiden. In diesem Kontext wird Macht zum Instrument und zum Ausdruck dieser Verhältnisse. − Aus der Doppeldeutigkeit von Macht ergibt sich ein doppelter Effekt: Macht führt zur Verstärkung und Verfestigung der Bedingungen, aus denen sie hervorgeht und bietet daher

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die Möglichkeit des Ausbaus von Differenzierung. Dieses selbsteskalative Potenzial von Macht gehört zu den grundlegenden gesellschaftlichen Bedingungen, impliziert jedoch (damit untrennbar verbunden) Risiken der Repression, der Verfestigung von Asymmetrien, der Sklerotisierung von Strukturen mit allen Folgen, die damit verbunden sind. Ob Privilegien durch harte Arbeit oder durch Opportunismus erworben worden sind, ob ihr Einsatz legitim oder illegitim ist, ist daher eine empirische Frage. Logisch ist beides möglich und wahrscheinlich. Daher sind »konservative« wie »kritische« Sichtweisen sinnvoll, aber selektiv. Sie bilden einen komplexen, dialektischen Sachverhalt monologisch ab und müssen daher aneinander vorbeireden. − Nicht zuletzt wegen der mehrdeutigen Dynamik von Macht selbst hat so etwas stattgefunden wie eine Evolution von Macht, die allerdings unterschiedlich interpretiert wird. Erkennbar gibt es Veränderungen in Verteilungsmustern und Partizipationschancen, damit auch im Repertoire und im Kompetenzniveau und -bedarf. Aber welche, ist umstritten; genau wie die Fragen, ob Herrschaft abgebaut oder nur umstrukturiert worden ist, ob moderne Gesellschaften mehr Macht hervorbringen und brauchen (und wofür), in welchem Verhältnis Zunahme von Macht, Dezentralisierung und Gegenmacht stehen. Am ehesten besteht Konsens darüber, dass Macht differenzierter und komplizierter geworden ist. Aus funktionalistischer Sicht ist sie dabei anfälliger für Defizite und Risiken, aus kritischer Sicht raffinierter und schwerer kontrollierbar geworden. − Empirisch ist Macht immer ein auf vielfältige Weise von den Bedingungen imprägniertes Geschehen. Die jeweiligen Bedingungen geben also nicht nur vor, was als Macht fungieren kann, sie färben zugleich die Praxis der Macht ein mit kulturspezifischen, geschlechtsspezifischen, situationsspezifischen Zügen. Von daher bedarf die Machttheorie immer einer Kooperation mit einem Konzept der materialen Bedingungen, die sie aktualisiert und die sie ihrerseits bedingt und weiterentwickelt. Gleichzeitig darf Macht nicht als statischer Zustand, sondern muss als dynamischer (autopoietischer) Prozess verstanden werden: Auch Machtverhältnisse haben mikro- wie makrosoziologisch gese-

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hen eine »Biografie«, so dass sie nicht als statischer Faktor in einer Momentaufnahme behandelt werden dürfen. Stattdessen sind sie ein variabler, aktiver, beeinflussbarer Teil eines umfassenderen Prozesses. Macht tritt auf allen Ebenen und in allen Dimensionen sozialen Geschehens auf und nimmt dabei verschiedene Formen an. Sie sind zwar vermittelt und hängen zusammen, aber nicht auf einander reduzierbar. Strukturelle gesellschaftliche Macht und die Möglichkeit zur Definition einer Situation folgen einer unterschiedlichen Logik. Insofern ist der Begriff zugleich allgemein und inhaltsleer, das heißt man muss genauer definieren, worauf man sich bezieht, weil sonst Konfundierungen unvermeidlich sind. Eine Reihe von Kontroversen ergibt sich daraus, dass über unterschiedliche Ebenen und Aspekte geredet, aber der gleiche Begriff verwendet wird. Zumindest eine pragmatische Unterscheidung zwischen »makrosozialer« und »mikrosozialer« Macht ist daher sinnvoll: Makrosoziologische Argumentationen beziehen sich immer auf abstrakte Zusammenhänge, während mikrosoziologische Argumentationen Situationen zum Thema haben. Sie sind entsprechend personen-, handlungs- und interaktionsbezogen. Auf dieser Ebene wird also das personen- und situationsspezifische Repertoire thematisiert, während auf der Makroebene nur die aggregationsfähigen und aggregierten Formen relevant sind. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass im Gesamtprozess die einzelnen Vorgänge und Ebenen Momente eines Gesamtgeschehens sind, das sich zugleich und sukzessiv, separat und aufeinander bezogen abspielt. Indem man eine bestimmte Konfiguration fokussiert, legt man Vordergrund und Hintergrund fest. Dies ist jedoch keine logische Ordnung, sondern ein Thematisierungsprodukt. Es muss daher berücksichtigt werden, dass das, was dadurch zum Hintergrundsgeschehen wird, genauso Moment des Geschehens ist; eines Geschehens, welches durch ständige Bewegung und Vermittlung gekennzeichnet ist und daher auch nicht ontologisch reduziert werden kann. Das ändert nichts daran, dass man für spezifische Analysen Festlegungen treffen muss, also Teile eines Prozesses zum Produkt, Teile einer Relation zur Entität machen muss. Daher

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kann von »Machtmitteln« (und davon, dass jemand sie »hat«) gesprochen werden, zugleich aber auch davon, dass sie keine Essenz sind, sondern Resultat von vorausgehenden Verhandlungen/Festlegungen und davon, dass sie erst durch Umsetzung in Situationen und Beziehungen dazu werden. Festlegung ist jedoch aus theorieimmanenten Gründen nötig und wird nur dann zum Problem, wenn die jeweilige Perspektive verabsolutiert und ihre Gegenstandskonstruktion dadurch verdinglicht wird. Um dies zu verhindern, ist ein dialektisches Vorgehen ein wirksames Gegenmittel. Macht ist ein Thema, das wegen seiner Ubiquität und Mehrdeutigkeit nicht monologisch zu fassen ist und in hohem Maße dazu verführt, Präferenzen in Theorien umzusetzen und Theorien für spezifische Zwecke zu nutzen – fast könnte man Machttheorien als Beispiel für Foucaults Behauptung der Kontaminierung von Wissen durch Macht sehen. Auf der anderen Seite wird erkennbar, in welchem Ausmaß soziologische Theorien strapaziert werden müssen, um diesem Phänomen näher zu kommen. – Bei diesem Bemühen führt sie ihr Weg häufig weg von dem, was in frühen Ansätzen ein zentraler Bezugspunkt war: von den Eigenschaften humaner Subjekte. Seit Hobbes gehörte es lange zum Repertoire (und zum Konstruktionsverfahren) von Machttheorien, mit kombinierten anthropologisch-psychologisch-sozialpsychologischen Prämissen zu arbeiten und darauf die weiteren Überlegungen zu stützen. Mit Beginn der genuin sozialwissenschaftlichen Diskussion wird dieses Verfahren abgelöst, man könnte auch sagen: desavouiert. Bereits die Gründergeneration der Soziologie betonte mehr (Durkheim) oder weniger (Simmel) stark, dass Soziologie zur Gänze ohne externe Anleihen und Reduktionen auskommen müsse und könne, weshalb sie Vorstellungen entwickle, die die Autonomie und den nicht-psychologischen Charakter sozialer Realität betonen. Dies ist soweit notwendig, als Spezialisierung immer voraussetzt, dass die Binnenlogik eines Themas als solche (also nichtreduktionistisch) behandelt wird. Es ist auch unproblematisch, wenn damit nicht die erforderlichen Verbindungen gekappt werden und wenn damit nicht ein Verlust der Fähigkeit verbunden ist, die Stellen, an denen sie erforderlich sind, zu markieren und sie angemes-

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sen zu besetzen. Dies ist jedoch weitgehend der Fall. Die Abgrenzung gegen jede Psychologie hat sich nicht gelockert, sondern verstärkt. Aus der notwendigen Abgrenzung in der Frühphase ist eine konstitutionelle Kontaktsperre geworden, so dass die MainstreamSoziologie heute kaum Interesse an psychologischen Argumenten hat und vor allem auch nicht über die Kompetenzen verfügt, die zu deren Verwendung nötig sind. Das zeigt sich auch am Beispiel des Verhältnisses Soziologie – Psychoanalyse: Während es eine Zeitlang selbstverständlich war, zumindest grob informiert zu sein über Freuds großes Projekt (die Qualität dieser Informationen steht hier nicht zur Debatte), ist dieses Wissen mittlerweile nicht nur verschwunden, sondern gilt – ohne genauere Kenntnis – als überflüssig und sektiererisch. Ganz anders sieht es im Übrigen in einigen Bereichen aus, die praktisch relevantes Wissen brauchen. In den meisten »micropolitics«-Untersuchungen wird sehr viel stärker Bezug genommen auf die konkreten psychischen Mechanismen, die in Machtprozessen eine Rolle spielen. Man könnte dies so verstehen, dass auf der konkreten Ebene ein Verzicht auf Sozialpsychologie so augenfällig zum Scheitern führt, dass es gar nicht anders geht. Auf der Ebene der Theorie kommt es jedoch fast durchweg zu Leerstellen, die (zu) oft mit primitiven Stellvertretern besetzt werden. Das zeigt sich auch an der Machttheorie. Die frühen Versuche, sich auf angeborene Eigenschaften zu stützen, gelten heute – inhaltlich zu Recht – als obsolet. In der Tat waren und sind Nietzsche-Zitate (»Der Wille zur Macht«) zu wenig, um darauf Erklärungen aufzubauen. Sieht man von wenigen Ausnahmen ab (etwa Wrong 1961 oder Giddens 1992), verzichten die meisten Ansätze völlig auf subjekttheoretische Annahmen mit dem Argument, Macht sei eine soziale Variable, die unabhängig von Intentionen und Motiven funktioniert (etwa Luhmann oder Mann), oder begnügen sich mit der Vorstellung eines mehr oder weniger zweckrational handelnden Individuums (etwa Bachrach und Baratz, aber auch die meisten Interaktionisten). Damit bleibt die Dialektik von sozialen und psychischen Prozessen unzugänglich.

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■ Psychoanalytische Ansätze zur Analyse von Macht ■ Entwicklungen der Diskussion Will man die subjekttheoretische Dimension erschließen, bietet sich vor allem die psychoanalytische Theorie an. Allerdings stellt sich zunächst auch hier das gleiche Problem wie bei den soziologischen Theorien: Es gibt nicht die Psychoanalyse, sondern eine Fülle von kontroversen Ansätzen, die mit anderen Begriffen und Konzepten arbeiten, die jeden gemeinsamen Begriff anders definieren, sich gegenseitig bekämpfen. Der Grund ist der gleiche wie in der Soziologie: Auch der Gegenstand der Psychoanalyse ist »autopoietisch«, besteht im Zusammenspiel hochgradig komplexer und heterogener Teilprozesse, die sich auf unterschiedliche Weise verwirklichen, wechselseitig bestimmen, verselbständigen. Auch hier steht Theorie damit vor strukturellen, im Prinzip nicht lösbaren Kontakt- und Balanceproblemen, die mehr oder weniger erfolgreiche und problematische Bewältigungsstrategien auslösen. Auf alle Fälle kann sich Psychoanalyse nicht als homogene, einheitliche Theorie präsentieren, sondern stellt ein Feld von Angeboten dar, die unterschiedliche Leistungen mit unterschiedlichen Schwächen verbinden. – Auch hier hilft also nur ein vergleichsweise arbiträrer Zugriff mit dem Versuch, die Angebote nach bestimmten Kriterien zu ordnen. Das übliche Vorgehen ist in diesem Fall, bei Freud nachzulesen. Für Freud war Macht naturgemäß kein Primärthema. In seinen früheren Schriften ist häufiger von einem »Bemächtigungstrieb« (1905/1960a, S. 93, S. 99), der mit dem »Bemächtigungsapparat« (1905, S. 58) verbunden ist und aus dem Aggressionen stammen, die Rede. Er wird mit der analen Stufe der Libidoentwicklung und der Polarität aktiv versus passiv in Verbindung gebracht. Später behandelte Freud (1917/1960b, S. 4) den »Machtwillen« als Teil der Ich-Triebe, ohne ihm allerdings dieselbe entwicklungspsychologische und psychodynamische Aufmerksamkeit zu widmen wie der Libido. Immerhin kam ihm in dieser Fassung noch eine gewisse Bedeutung zu. Mit der Revision der Triebtheorie und der Aufstellung der Todestriebhypothese schrumpfte, so Freud (1920/1960c, S. 41), »die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht-

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und Geltungstriebe […]; es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern«. Zu dieser Abwertung des Themas hat vermutlich (zumindest indirekt) Adler beigetragen, der bekanntlich Machtstreben als zentrales Motiv annahm und es damit für Freud (1925/1960d, S. 79) kontaminierte. Danach ist bei Freud nur noch vom Aggressionstrieb die Rede, das heißt von einer Triebenergie, die von den funktionalen Erfordernissen des Ich weitgehend gelöst ist; Machtstreben ist dann nur noch eines seiner Derivate. Eine erste systematischere Anwendung psychoanalytischer Perspektiven auf das Thema beschäftigte sich mit Politikern. Bekanntlich hat bereits Freud an einem Projekt von Bullitt mitgearbeitet, welches das Verhalten des US-amerikanischen Präsidenten Wilson auf seine Persönlichkeitsstruktur bezog. Diese Perspektive drängte sich anscheinend auf. In der Folge wurde häufiger diskutiert, welche Persönlichkeitseigenschaften dazu disponieren, sich um politische Macht zu bemühen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen dazu zwei Arbeiten: C. S. Bluemel (1948) geht davon aus, dass bei solchen Personen ein starker Herrschaftstrieb in Verbindung mit zwanghaften Zügen vorherrsche und plädiert dafür, dass nur reife, psychologisch geschulte Personen Regierungsfunktionen übernehmen sollten – eine moderne Version des Platon-Projekts. Lasswell (1948) benutzt in seinem Buch »Power and Personality« das Argument der Kompensation – wer Macht sucht, versuche so Ich-Schwächen zu kompensieren. In einer neueren Arbeit untersucht zum Beispiel Frank (2004) mit den Mitteln der Theorie von M. Klein die Überzeugungen und das Verhalten von George W. Bush sowie deren Zusammenspiel mit den Bedürfnissen seines Publikums. – Es handelt sich dabei allerdings um Fern-Diagnosen. Denn Realkontakte mit Mächtigen hatten und haben die Autoren nicht. Dahinter stehen bei näherer Betrachtung strukturelle Probleme. Cremerius, Hoffmann und Trimborn (1979) haben im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Thema »Psychoanalyse und Schicht« argumentiert, dass die Reichen und Mächtigen nicht im Erfahrungshorizont von Analytikern präsent sind, weil sie (zu) viele soziale Möglichkeiten des Agierens und der Kompensation haben, so dass es an Krankheitsbewusstsein fehle. Wer seine Neu-

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rosen sozial erfolgreich inszenieren könne, aber auch, wem es gelinge, sich voll mit dem System, in dem er/sie erfolgreich ist, zu identifizieren, vermeide Krankheitsbewusstsein und erspare sich die Auseinandersetzung. Wahl (1974) hatte schon früher auf einen anderen Punkt hingewiesen: Therapien mit Reichen, Schönen und Mächtigen sind auch deshalb schwierig, weil sowohl Übertragungen als auch Gegenübertragungen schwierig sind – als Patienten sind diese Personen meist beziehungsgestört (betrachten z. B. Partner als käuflich), was massive Gegenübertragungen provoziert (die Analytikerinnen und Analytiker reagieren verzückt, abgestoßen oder gekränkt). Ausführlicher beschäftigt hat sich psychoanalytische Forschung in der Folge mit dem Thema »Macht in der Therapie« (was ich ausklammere). Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die schon erwähnte Kritik von Foucault und die ausführlicheren Überlegungen von Castel (1976). – Die Fragen des Zusammenhangs von Macht und Psyche kamen ausführlich zur Sprache im Rahmen eines Symposiums, dessen Ergebnisse Massermann 1972 publizierte. Die Aufsätze spiegeln den erweiterten und differenzierten Horizont psychoanalytischer Theorie. Das Spektrum umfasst ausführlichere Darstellungen des Zusammenhangs von Machtbedürfnis und der Suche nach externen Ich-Stützungen (Ryder 1972) sowie der Abwehr von basalen Ängsten (Kelman 1972). Hingewiesen wird auch auf die Wurzeln in Allmachtsphantasien (Dince 1972) und der Bewältigung von Trennungsängsten und Ohnmachtsgefühlen (Salzman 1972). Untersucht wird auch die intrapsychische Mechanik. Arieti (1972) argumentiert, dass Machtmissbrauch die Folge der Integration der Elternrolle in ein (dadurch) tyrannisch werdendes Über-Ich ist. Angesprochen werden aber auch andere Aspekte: dass die Fähigkeit zur kompetenten Machtausübung auf Ich-Stärke und der Fähigkeit, Ambivalenzen aushalten zu können, basiert (Schimel 1972), und welche Rolle »subversive Macht« in der Analyse und im Alltag spielt (Gadpaille 1972). Was sich in vielen Überlegungen abzeichnet, ist das Vordringen vor allem kleinianischer Sichtweisen und der Narzissmus-Theorien (in denen die frühkindlichen Entwicklungen/Störungen in ihrer Bedeutung stärker betont werden). Gerade die narzissmustheoretische Sicht hat in neuerer Zeit die Machtthematik befruchtet.

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Lasch (1982) ist auf dieses Thema ausführlich eingegangen und hat untersucht, in welchem Ausmaß Macht dazu dient, dass Größenselbst zu pflegen und ihm Ausdrucks- und Expansionsmöglichkeiten bietet. Vor kurzem hat Hans Jürgen Wirth (2002) mit seinen Analysen prominenter zeitgeschichtlicher Politiker die vielfältigen Facetten der Thematik behandelt und gezeigt, in welchem Ausmaß biografisch verständliche Eigenschaften, Beziehungen, die auf diesem Hintergrund entstehen, und die Dynamik des sozialen Feldes ineinander greifen und sich gegenseitig bestimmen. Damit ist der weitere Kontext der Thematik angesprochen. Schon Freud hatte versucht, mit Hilfe psychoanalytischer Sozialpsychologie historische Prozesse und gesellschaftliche Entwicklungen zu diskutieren. Seit (um ein bemerkenswertes Beispiel zu nehmen) der frühen Studie von Erich Fromm (1930) über die Entwicklung des Christusdogmas, in dem er nachzeichnet, wie der revolutionäre und egalitäre Charakter des Urchristentums im Zuge seiner Etablierung als Staatsreligion in ein konsequent hierarchisiertes Modell verwandelt wird, und Untersuchungen über die Struktur und Funktion des »Autoritären Charakters« im Präfaschismus hat es eine Fülle von Fortsetzungen gegeben, in denen es immer auch um die Beziehung zu Herrschaft und Macht geht. So etwa auch in Alexander Mitscherlichs »Vaterloser Gesellschaft« (1968), die unter anderem aufzeigt, was die Entpersönlichung von Machtverhältnissen und von Besitzstrukturen für Folgen in Beziehungen, in Sozialisationsprozessen und im Verhältnis von Bürgern und Staat hat. Alle diese Studien sind bekanntlich als »spekulativ« kritisiert worden (was insofern berechtigt ist, als sie nicht anders sein können, aber unberechtigt ist, weil es nichts über die Stimmigkeit der Argumente sagt). Einen bemerkenswerten Versuch, psychoanalytische Kategorien mit herkömmlicher empirischer Forschung zu verbinden, hat David McClelland unternommen. Sein Studie über »Power. The Inner Experience« (deutsch: Macht als Motiv, 1978) ist in verschiedener Hinsicht wichtig. Zum einen bietet er eine (empirisch entwickelte!) psychische Entwicklungsgeschichte des Machtthemas. Dem Machtbedürfnis liegt der Wunsch zugrunde, sich stark zu fühlen und Einfluss zu haben (McClelland 1978, S. 79f., 95). Mc-

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Clelland unterscheidet (in Anlehnung an Freud und Erikson) vier Niveaus des Umgangs mit Macht, die er in einem Beziehungsmodell formuliert und zugleich geschlechtsspezifisch differenziert: − Orale Phase: »Es stärkt mich« – Für Männer steht hier die Mutteridentifikation als Absicherung eigener Aktivitäten im Vordergrund, Frauen streben eine Selbststärkung zwecks Unterstützung von anderen an. − Anale Phase: »Ich stärke mich« – In dieser Phase geht es Männern vorrangig um Kontrolliertsein/-erscheinen, um Autonomie. Frauen beschäftigen sich eher mit Aggressionskontrolle und Freiheitsgraden in Beziehungen (mit dem Hauptpartner). − Phallische Phase: »Ich habe Einfluss auf andere« – Männer streben narzisstische Beziehungsfreiheit an und meiden Bindungen (z. B. an Kinder). Frauen geht es um Aktivitätsmöglichkeiten und Selbständigkeit. − Ödipale Phase: »Es drängt mich, meine Pflicht zu tun« – Auf diesem Niveau zeigen Männer mehr Identifikation mit Organisationszielen und weniger persönlichen Ehrgeiz, während Frauen in Kompetenzrollen mehr Ehrgeiz demonstrieren. McClelland untersucht in diesem Zusammenhang auch kulturspezifische Faktoren und sieht beispielsweise Unterschiede darin, dass in den USA Macht »handlungsorientiert« (phallisch/ödipal) gesehen wird. Orale und anale Dimensionen sind eher schwach ausgeprägt. Dagegen operieren archaische Gesellschaften psychodynamisch eher auf diesen Niveaus. Das heißt auch: Sie akkumulieren Macht, wenden sie aber nicht an. Wie sich dies im geschlechtsspezifischen Verhältnis zur Macht auswirkt, ist nicht definitiv bestimmbar. McClelland geht von einem Zusammenspiel biologischer Vorgaben und sozialer Selektionen/Verstärkungen aus. Dass Frauen stärker beziehungs-, Männer eher dingorientiert sind, dass Frauen interdependenter, Männer assertiver sind, ist also ein komplexes Produkt, wobei klar erkennbar ist, in welchem Maße dominante Normen und Sozialisationsmodi dazu beitragen. Damit ist bereits einer der relevanten neueren Diskurse angesprochen: Die Frage des Verhältnisses von Psychoanalyse und Gender. Auch psychoanalytische Theorie sieht sich seit einer Generation mit einer zum Teil sehr grundsätzlichen feministischen

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Kritik konfrontiert. Dass Freud vieles aus einer traditionell-patriarchalen Perspektive gesehen hat und dies in seine Interpretationen eingegangen ist, ist lange bekannt. Während die frühe feministische Kritik an Freud oft sehr barsch ausfiel (vgl. dazu z. B. Koellreuter 2000), wird mittlerweile meist die Zeitbedingtheit betont und der Blick auf das, was er unter diesen Umständen geleistet hat, fällt differenzierter aus. Entsprechend hat sich auch die Kritik an der Psychoanalyse entwickelt. Am Anfang stand meist eine in jeder Hinsicht radikale Psychoanalyse-Kritik – Kritik an der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, an ihrer »ödipalen Fixiertheit«, an ihrer Sexualitätstheorie (besonders am Penisneid), an Genese und Funktionsweise des Über-Ich, daran, dass Frauen als misslungene Männer, als weniger kulturfähig dargestellt werden, im Grunde: an fast allem. Der klassischen Psychoanalyse wurde angekreidet, dass sie in vieler Hinsicht schlicht patriarchalische Strukturen reproduziere und legitimiere. Seit einiger Zeit wird versucht, auf der Basis dieser Kritik und mit den Mitteln der Psychoanalyse selbst neue Wege zu gehen (vgl. ChasseguetSmirgel 1974 oder Benjamin 1990). Diese Versuche gehen nicht immer die gleichen Wege und vertreten unterschiedliche Ziele. Durchgängig ist dabei jedoch das Bemühen erkennbar, von einem different-komplementären Modell der Geschlechterbeziehungen zu einem different-reziproken zu kommen, also theoretisch das vorwegzunehmen, was praktisch erreicht werden soll: Gleichberechtigung, gleiche Anerkennung. Wegen/trotz dieser dezidierten Intention werden eine Reihe bis dato mehr oder weniger vernachlässigte Themenaspekte sichtbar. Dies spiegelt sich auch in den Texten zum Thema Frauen und Macht. Lässt man die Sichtweisen beiseite, die Weiblichkeit als Gegenwelt zur Männerwelt betrachten und sich zum Ziel setzen, letztere durch erstere zu ersetzen, geht die Standardperspektive aus von sozialisationsbedingten Beeinträchtigungen der expansiven und beherrschenden Fähigkeiten, die es Frauen besonders erschweren, in einer Männerwelt hinreichend konkurrent und aggressiv zu handeln, so dass sie auf Grund von Schuldgefühlen und regressiven Identifikationen Machtpositionen schwerer erwerben und Macht nicht ungehemmt nutzen können. Helga Kraus und Karin Kraus (2002) haben ein weiterreichendes Modell vorgelegt,

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in dem sie in der Ungleichheit der Machtverteilung eine unbewusste Kollusion zur Vermeidung eines Zustandes der Gleichberechtigung, sprich: eines kreativen Paares sehen. Gründe dafür sehen sie (mit Blick auf Torok und Benjamin) darin, dass Aufsteigen in der Hierarchie für Frauen eine entsprechende Mutterimago und eine passende Beziehungsphantasie voraussetzt. Deren Entwicklung ist durch die spezifische ödipale Konfliktlage belastet: »Die Tochter muss, identifiziert mit der Mutter als Frau und doch von ihr getrennt als andere, ihr eigenes phallisches Begehren im ödipalen Dreieck entfalten« (Kraus u. Kraus 2002, S. 43). Wo dies nicht hinreichend gelingt (weil die Mutter zu stark oder zu schwach erlebt wird), wird die Rivalität mit dem eigenen wie dem fremden Geschlecht zum Problem. Die kulturspezifische Unfähigkeit der Väter, rivalisierende Töchter annehmen zu können (und das dahinter stehende Bild des »süßen« sprich präödipal sexuellen Mädchens) erschweren die Situation zusätzlich. Unter diesem Druck entwickelt sich die unbewusste Tendenz, lieber in der zweiten Reihe zu bleiben und sich nicht zu exponieren. Einen anderen Aspekt hebt Ritter (2002) in Anlehnung an Bernstein, Lerner und andere hervor. Lerner (1974) hatte die unterschiedlichen Geschlechtsrollen als verschiedenes Abwehrmuster interpretiert: Beide Geschlechter erfahren Neid auf die Mutter, verarbeiten ihn aber anders. Männer können die Abhängigkeitsbeziehung umkehren und dadurch selbst mächtig werden, während Frauen nur in der Übernahme der Mutterrolle aktiv werden können, das heißt, sie bleiben nur auf der Ebene der Oralität mächtig und sind ansonsten gehemmt. Daher kommen Frauen mit den in Organisationen virulenten Neid- und Abwertungsstrategien wesentlich schlechter zu Recht als Männer. Gleichzeitig trifft sie der Neid unbewusst heftiger: »Entwertende Projektionen aufgrund von Neid treffen Frauen häufiger als Männer, weil der Schatten der präödipalen Mutter des Gegenübers sie begleitet« (Ritter 2002, S. 60).

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■ Psychodynamische Aspekte von Macht Auch hier stellt sich die Frage, was von den vielen Ansätzen und Anregungen im Rahmen einer interdisziplinären Betrachtungsweise aufgegriffen und verwendet werden kann. Und auch hier ist die erste Antwort: Angesichts der Vielzahl von Möglichkeiten und möglichen Fragestellungen ist eine einfache Auswahl kaum möglich. Daher auch hier nur einige allgemeinere Überlegungen: − Macht ist zweifellos ein psychodynamisch höchst relevantes Thema, welches die Beziehung zur Welt und die innere Logik der Psyche zugleich auf zentrale Weise anspricht. Es geht bei der Möglichkeit, die Umwelt zu beeinflussen und zu kontrollieren, und der Möglichkeit, von ihr beeinflusst und kontrolliert zu werden, um (auch psychisches) Überleben, immer auch um Zielvorstellungen und -verwirklichung, um innere Objekte, Beziehungskonzepte und Selbstwertbalance, kurz: um die gesamte Identität. Wo Macht mit Effekten verbunden ist, können sie »positiv« (Bedürfnisbefriedigung ermöglichen, Selbstwertgefühl stärken), aber auch »negativ« (externer Zwang, soziale und psychische Beschädigungen) sein und entsprechend besetzt werden. Daher ist aktiver und passiver Umgang mit Macht unausweichlich emotional aufgeladen, bringt erhebliche Lust/ Unlust mit sich. − Die externe Realität enthält Über-/Unterordnung, Ungleichheit, (machtspezifisch) definierte Ressourcen und Machtverhältnisse; der eigene Körper/die eigene Psyche spielt darin eine Rolle. In mancher Hinsicht ist Macht durch externe Bedingungen vordefiniert, so dass die psychischen (angeborenen und erworbenen) Ressourcen mit externem Status gekoppelt sind, in anderer Hinsicht ist Macht eine Frage des situativen Umgangs mit den Gegebenheiten. In jedem Fall stellt sich die Frage, wie vorgegebene Bedingungen und Möglichkeiten mit inneren Verhältnissen in Verbindung gebracht werden. Macht stellt sich daher als Thema auf doppelte Weise: als äußeres, das innerlich bearbeitet werden muss, und als inneres, dass in der Außenwelt Anhaltspunkte und Echo findet. − Ein phänomenologisches Modell könnte entsprechend so skizziert werden: A trifft (auf dem Hintergrund einer bestimmten

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Ausstattung mit Möglichkeiten und Problemen) auf B (mit analoger Ausstattung) beziehungsweise auf eine machtimprägnierte Situation; A’s innere (Macht-)Repräsentanzen, Bedürfnisse und Potenziale werden dadurch aktualisiert und realisiert; das machtspezifische Handeln ist qua Übertragung aufgeladen mit entsprechenden Latenzen, die bei B beziehungsweise in der Situation ihrerseits Gegenübertragungen auslösen und dadurch Reaktionen und Veränderungen bewirken. Durch die Gegenreaktion werden A’s Aktivitäten kommentiert und fortgesetzt; sie kommen verändert zurück und führen zu einem neuen Durchlauf und damit zu Verfestigungen und Weiterentwicklungen. Auf diese Weise werden machtbezogene psychische Strukturen (re-)produziert und Beziehungsmuster (Interaktionsformen sensu Lorenzer) etabliert, die dann Folgekontakte vorprogrammieren. − Macht ist dabei zugleich Ressource, externes »Objekt« (d. h. eine soziale Gegebenheit, die psychisch besetzt werden muss bzw. Besetzungen verlangt und provoziert) und interne Kompetenz, die in actu steuert und genutzt wird. Sie lässt sich daher auch aus psychodynamischer Sicht als Prozess und als Produkt betrachten. Die »Prozess-Perspektive« ist sinnvoll, wo es um die Frage geht, wie Ressourcen und Kompetenzen entstehen (in biografischen Formierungen, in Beziehungen, im Verlauf von Situationen). Die »Produkt-Perspektive« setzt externe und interne Verhältnisse als gegeben voraus und kann sich auf diesem Hintergrund mit Strukturen und mit der weiteren Dynamik dieser Gegebenheiten beschäftigen. Theorie muss daher sowohl eine genetische (entwicklungspsychologische) Erklärung als auch eine Erklärung aktueller Funktionsbedingungen und ihrer Dynamik enthalten. − Freuds ursprüngliche Idee eines »Bemächtigungstriebes« war – wenn man überhaupt triebtheoretisch argumentieren möchte – gar nicht so schlecht. Es spricht viel dafür, von einem basalen biopsychischen Antriebspotenzial auszugehen, welches vektoriell auf die Positionierung und das Agieren in der Welt gerichtet ist, aber primär ohne Ziele und Objektbindung ist und erst unter Risiko (von Beeinträchtigungen und Fehlentwicklungen) entwickelt werden muss; eine Fülle von empirischen Befunden

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zeigt unmissverständlich, dass die Fähigkeit zur Außenweltbeherrschung und zur Selbständigkeit ein entwicklungspsychologisch bedeutsames und psychodynamisch ständig virulentes Thema ist. Die Fähigkeit, mit Macht umzugehen, ist daher eine wichtige und komplexe psychische Kompetenz, die sich ebenso entwickeln muss und dabei ebenso scheitern kann wie andere Kompetenzen. Daher liegt es auch nahe, hier von unterschiedlichen biologischen Ausstattungen (und damit a priori individuierten Prozessen), zugleich aber von typischen Entwicklungsphasen auszugehen und deren »Schicksal« – die Bedingungen ihrer Formation und Deformation und die daraus resultierenden besonderen Konfigurationen – zu untersuchen. Damit könnte die vage und ideologisch befrachtete Philosophie eines »Willen zur Macht« abgelöst und überwunden werden. Implizit ist das Thema in vielen Ansätzen mitthematisiert worden. Entwicklungspsychologisch lassen sich spezifische Phasen unterscheiden. Phasen sind im Kern zeitliche Dominanz von Themen. Schon Erikson (1973) hat in seinem Modell darauf hingewiesen, dass dies so zu verstehen ist, dass die jeweilig dominanten Themen einen Vorlauf haben, auf einer bestimmten Stufe zentral werden und sich danach im Zusammenspiel mit anderen Themen weiterentwickeln. Insofern handelt es sich nicht um eine zeitliche Abfolge, sondern um eine idealisierte Darstellung typischer Konfigurationen, die empirisch unterschiedlich ablaufen und interagieren können. Folgt man den herkömmlichen Unterteilungen (und der Anregung von McClelland), so könnte man daraus ein typisches Muster entwickeln: − Ein Kernthema der oralen Phase ist die Beziehung zwischen einem noch nicht individuierten Subjekt und seiner Umwelt. Es geht mit den Fragen der Einheit und Trennung, der Konstitution von Identität mit und gegen die Umwelt um das grundlegende Schema Allmacht/Ohnmacht, also eine binäre und radikale Beziehung völliger Kontrolle oder völligen Ausgeliefertseins. Die dominanten Modalitäten der Verschmelzung, der Einverleibung und des Ausstoßens bestimmen den Austausch und sind dabei um die Frage des Versorgtwerdens zentriert. Das, was

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ein späterer produktiver Umgang mit Macht aus dieser Phase braucht, sind Reliabilität, Idealisierungsfähigkeit, Regressionskompetenz. Umgekehrt sind bei mangelnder/problematischer Entwicklung verschiedene Pathologien möglich, die vom Geschehen in dieser Phase geprägt sind: Paranoia, Größenwahn, Grenzenlosigkeit (in Richtung Machtmissbrauch) sowie Unfähigkeit zur Abgrenzung, Aufrechterhaltung von Struktur, hilflose Anlehnung (in Richtung Umgang mit Macht). − In der analen Phase ist das Subjekt vom Objekt unterschieden und steht in einer Beziehung zum Objekt, die zunächst vor allem die Themen Regulation, Durchlässigkeit, Austausch und Kontrolle einschließt. Haben/Nichthaben, Geben/Nehmen, Beherrschen/Beherrschtwerden sind damit dominante Themen. Es liegt nahe, hier eine der zentralen Entscheidungen über das Verhältnis zur Macht zu vermuten, etwa: die Beschäftigung mit Begrenzung, mit Austausch, mit Reziprozität. Damit verbunden sind beispielsweise die Fähigkeit zur formalen Organisation von Beziehungen, die Einhaltung und Kontrolle (und auch die Variabilität) von Regeln, vermutlich auch die Stabilität von Beziehungsmustern. Entsprechende Fähigkeiten sind auch im kompetenten Umgang mit Macht erforderlich. Bei Defiziten und Beeinträchtigungen der Verbindung zur Welt und zum Objekt sind typische Folgeprobleme sadistisches Zerstörenwollen und masochistische Anpassung, rigide Abgrenzung und fehlende Flexibilität, mangelnde oder extreme Durchlässigkeit. − In der phallisch-hysterischen Phase geht es um Auseinandersetzungen, um den Kampf mit beziehungsweise gegen das Objekt sowie um (den Erwerb von) Positionen im Objektfeld. Damit sind vor allem die Themen Status und Über-/Unterordnung angesprochen; der Beziehungshorizont erweitert sich entsprechend. Spätestens hier werden auch geschlechtsspezifische Differenzen deutlich: Das männliche Muster zielt auf Konkurrenz, Besiegen, Stärke in Beziehungen, das weibliche ist zentriert auf die Ausstattung und Präsentation (des Körpers) und Beziehungsorganisation/-inszenierung. Die Bedeutung der Macht in der Phase und die Bedeutung der Phase für den Umgang mit Macht ist evident: Es geht um die Frage, sich eine (Macht-)Position zu verschaffen, Ressourcen einzusetzen

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und sich in Auseinandersetzungen zu begeben und zu bestehen – sowohl im Kampf als auch in Statuskonkurrenz. Damit wird der Umgang mit Macht auf die Ebene dynamischen Beziehungsgeschehens gebracht. Die vielfältigen Möglichkeiten des Scheiterns/der Verzerrung können Fixierungen auf Besiegenwollen wie Unfähigkeit zum Kämpfen, ebenso Fixierung auf Inszenierung wie die Unfähigkeit zur angemessenen Selbstdarstellung als Mittel der Teilhabe am sozialen Geschehen zur Folge haben. − Die Triangulierung bringt das Thema exklusiver, reziproker und enger Beziehung im Kontext anderer Beziehungen. Damit ist unter anderem auch das Thema sozialer Anerkennung (Anerkanntwerden und Anerkennung des Objekts) und damit zugleich auch Einordnung in Beziehungssysteme verbunden. Entsprechend geht es um die Balance innerer/äußerer Welt und die Fähigkeit, mit Widersprüchen umgehen zu können. Eine »reife« Machtkompetenz kann daraus zum Beispiel die Fähigkeit zur Integration von Heterogenitäten, zum Aushalten von Konflikten, zur Kooperation, zur Perspektivenübernahme und Überzeugung gewinnen. Umgekehrt birgt das Scheitern der Triangulierung entsprechende Risiken: Doppelbödigkeit des Verhaltens, strategisches Handeln, Manipulierung oder Gegeneinander-Ausspielen – oder schlicht das Nicht-Erreichen eines reifen Beziehungsniveaus und damit Verbleiben auf niedrigeren Niveaus des Umgangs (auch) mit Macht. Es wäre vermutlich möglich, diese idealisierte Abfolge beispielsweise auf narzissmustheoretische, beziehungstheoretische, objekt- und selbsttheoretische Weise darzustellen, also in die meisten der prominenten Paradigmen zu übersetzen. Das Bild würde dadurch sicher erweitert, präzisiert und anders akzentuiert, im Ergebnis zumindest in dieser Hinsicht aber gleich bleiben: Man kann Reifungsphasen und -krisen auch im Umgang mit Macht identifizieren, deren Ausgang für den Umgang mit realer Macht wie für die innere Funktion von Macht entscheidend ist. Die Typologie ist naturgemäß nicht empirisch zu verstehen; empirische Konstellationen sind stets Mischformen, in die sich eine ganze Reihe von spezifischen Konfigurationen eingeschrieben hat, und

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können schon deshalb nicht linear und mechanisch zurückgeführt werden. Die Funktion einer solchen (oder ähnlichen) Typologie liegt daher nicht in einer kurzschlüssigen Kausalität und biografischem Reduktionismus, sondern darin, ein Raster für Syndrome von Machtqualifikationen und -pathologien zu bieten, mit denen begrifflich weiter operiert werden kann; sowohl auf der Ebene individueller und singulärer Einzelfälle als auch auf der Ebene abstrakten Geschehens und systematischer Zusammenhänge. Dazu reicht die Typologie allein jedoch nicht.

■ Über die Vermittlung soziologischer und psychoanalytischer Perspektiven Es ist ein schwieriges Thema, wie denn soziologische und psychoanalytische Theorien auf sinnvolle Weise in Verbindung gebracht werden können. Damit haben sich schon viele beschäftigt, ohne dass es zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen wäre (was angesichts der angedeuteten Theorieproblematik nicht verwunderlich ist). Da dies schwerlich als Versagen und daher als strukturelles Problem betrachtet werden muss, muss man davon ausgehen, dass es die perfekte Lösung nicht gibt. Es kann daher auch keine eindeutigen Regeln geben, deren Einhaltung automatisch zu korrekten und produktiven Ergebnissen führt. Immerhin kann man versuchen, die Fallstricke und Möglichkeiten der Kooperation anzusprechen. – Es ist in den meisten Fällen wenig sinnvoll und unproduktiv, Machtverhältnisse auf persönliche Eigenschaften von Personen zu reduzieren. Umgekehrt ist die Beschreibung von Machtverhältnissen ohne Personal, das entsprechend sozialisiert und selegiert ist, unvollständig und blutleer. Prinzipiell sind soziale Gegebenheiten auf Personal angewiesen, allein sind sie leere und unbewegte Formen. Macht muss praktiziert werden, auch wenn sich soziale Macht nicht auf deren praktische Verwendung reduzieren lässt. Die praktische Anwendung erfolgt jedoch nach den Regeln der Psychodynamik, die keine Verdopplung der sozialen sind (auch wenn diese sich in deren Genese ein-

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schreiben). Die Realisierung sozialer Macht ist daher immer eine Neukonfiguration. Zudem steht Akteuren ein breiteres Repertoire an Machtmitteln und an Vermischung von Machtmitteln zur Verfügung, als soziale Regelungen vorsehen können. Schon deshalb reicht eine rein soziale Matrix nicht aus. Dazu kommt, dass die Übersetzung von sozialen Vorgaben in Phantasien sowie deren Anreicherung mit bewussten und unbewussten Bedürfnissen das Geschehen auf dynamische Weise auflädt und damit erratisch und unkalkulierbar werden lässt. Die daraus resultierenden Interaktionen, das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung, die Entwicklung von Beziehungsmustern und deren Dynamik verlangen, dass Machtverhältnisse, Machtmittel, Machtbeziehungen genauer darauf untersucht werden müssen, warum sie »planmäßig« verlaufen und warum nicht. Eine allgemeine Beschreibung muss versuchen, strukturelle Affinitäten und Beeinflussungen sowohl in zeitlicher Abfolge als auch in situativer Dynamik anzugeben und deren Typologie zu erfassen. – Einer reduktionistischen Sichtweise fehlt das nötige Theoriepotenzial zur Analyse von Interferenzen, die eigendynamisch, emergent und widersprüchlich sind. Stattdessen ist eine dialektische Betrachtungsweise erforderlich, die die wechselseitigen Bestimmungsverhältnisse erfassen kann. Und sie muss neben der erforderlichen Festigkeit und Verlässlichkeit der allgemeinen Konstruktion hinreichend flexibel sein, um sich auf die jeweiligen Besonderheiten einstellen zu können. Denn die konkrete Wirklichkeit ist im allgemeinen Modell noch nicht beschrieben, das konkrete Geschehen steckt immer voller Komplexität, Widersprüche und Erratik, die die allgemeine Theorie so nicht erfasst. Insofern sind sowohl soziologische als auch psychoanalytische Theorien Instrumente für intelligenten und kreativen Gebrauch.

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■ Gender und Macht

■ Dietmar J. Wetzel

Mikrosoziologie der Führung – Macht, Habitus und Praktiken

In den Jahren 1976 und 1978 hat der Berliner Merve-Verlag mit den Arbeiten »Mikrophysik der Macht« und »Dispositive der Macht« wichtige Überlegungen Michel Foucaults zu seinem Machtverständnis in Buchform auf Deutsch vorgelegt. Anders und zugleich bescheidener als Foucault, der – nicht nur in diesen Texten – den Machtbegriff inflationär gebraucht, lasse ich mich im Folgenden ganz auf einen spezifischen Aspekt der Macht ein; um dies leisten zu können fokussiere ich zum einen auf die Mechanismen des Führens, zum anderen auf die spezifische Situation, in der sich eine Führungskraft wiederfindet. Mit meinen Ausführungen hinsichtlich einer »Mikrosoziologie der Führung« verfolge ich eine konzeptionelle Absicht, eine Art Rahmen zu skizzieren für eine zu leistende Arbeit, die zwischen Theorie und Empirie changiert. Es geht mir dementsprechend weniger darum, empirische Ergebnisse oder gar Fallvignetten zu präsentieren. Vielmehr synthetisiere ich Zwischenergebnisse, die sowohl aus theoretischen Reflexionen als auch aus diversen empirischen Materialien resultieren. Seit einiger Zeit interessiert mich der Themenkomplex »Führungskräfte, Führung und Macht« speziell in Organisationen und Unternehmen. In einem bereits abgeschlossenen Projekt ging es um eine empirischqualitative Forschung zum Thema »Macht und Unterordnung in Beschäftigungsverhältnissen Angestellter« (Brede, Thomas, Westenberger-Breuer u. Wetzel 2003). Während meiner Recherchen zur »Mikrosoziologie der Führung« bin ich auf einen aufschlussreichen Text aus dem Harvard Business Manager gestoßen, der im August 2004 erschienen ist. Er stammt von Peter F. Drucker, seines Zeichens Managementpapst und erfolgreicher Autor (vgl. dazu Drucker 2002). In diesem prä-

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gnanten Text behandelt Drucker das, wie er es nennt, »Geheimnis effizienter Führung« oder den perfekten Manager. Diesen Text unterziehe ich einer kritischen Lektüre, um ihn später mit meiner eigenen Theoriesprache in Verbindung zu bringen (Abschnitt 2). Dies unternehme ich nicht zuletzt im Hinblick darauf, Defizite in diesem Ansatz ausweisen zu können und eigene Vorschläge zu unterbreiten. Meine Vorstellung und meine Erwartungen an eine Mikrosoziologie der Führung berufen sich – neben der Geschlechterdifferenz – im Wesentlichen auf drei Schlüsselbegriffe, hinter denen sich drei zentrale Konzepte verbergen: erstens eine Analyse der Macht, zweitens ein bestimmter Begriff des Habitus (in Anlehnung an Bourdieu) und drittens ein Begriff der Praktiken, die ich in soziale Praktiken und Selbstpraktiken unterscheide (Abschnitt 3). Es wird sich zeigen, dass die Frage der Geschlechterdifferenz – zugespitzt auf die Thematik der so genannten »männlichen« und »weiblichen Führung« – bei Drucker keine Rolle spielt. Nachdem ich einen alternativen Rahmen vorgestellt habe, der die Schwachpunkte der Drucker’schen Überlegungen zu beheben versucht, gehe ich auf den Komplex Geschlecht, Führung und Dekonstruktion ein (Abschnitt 4). Mit einem Plädoyer für eine Analyse des »Prozesses des situativen Führens« möchte ich zu weiteren Überlegungen anregen und den Gang meiner Argumentation resümieren, bevor ich mit einem kurzen Fazit schließe (Abschnitt 5). Vor einer Überprüfung der Drucker’schen Thesen, man könnte auch insgesamt von einem »Manifest« sprechen, folgen Ausführungen zu dem Themenkomplex »Führung und Macht« (Abschnitt 1).

■ Führung und Macht Wenn der Soziologe Rainer Paris in seiner anthropologisch informierten »Phänomenologie der Macht« eben diese Macht in vier Prädikaten beschreibt, so konzentriert sich der vorliegende Text auf eines. Es lautet schlicht: Macht führt. Neben diesem Führungsaspekt behandelt Paris in seiner Arbeit »Macht: Tun und Leiden. Überlegungen nach Popitz« (2003) drei weitere Aspekte: Macht entlastet, Macht privilegiert und Macht genießt. Alles fraglos

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wichtige Aspekte der Macht, über die man mindestens einen eigenen Text schreiben könnte, allein, ich konzentriere mich auf den Zusammenhang zwischen Macht und Führung. Führung, so möchte ich in Übereinstimmung mit Paris behaupten, ist die eigentliche Arbeit der Macht. Derjenige der führt, trifft Entscheidungen und bestimmt dadurch das Handeln anderer. Nicht jeder Machtausübende muss zwingend führen, jedoch kommt in gelingender, alternativ: effizienter Führung der »Ordnungswert der Macht« (Popitz 1992) am besten zum Ausdruck. Man könnte auch sagen, immer dort, wo Unordnung und Desorientierung vorherrschend sind, entsteht ein eminenter Bedarf an Führung. Anders gesagt: Die Absenz von Führung kann auf Dauer nur unter Inkaufnahme von Nachteilen von statten gehen. Und wer will das schon? Jemand muss die Initiative ergreifen, die Führungsschwäche beheben und den Versuch unternehmen, Ordnung herzustellen. Eben dafür wissen sich im Allgemeinen Führungskräfte zuständig, wenn sie arbeiten; wir Soziologen versuchen dann »nur« noch die soziale Ordnung in all ihren Facetten und Schattierungen zu beschreiben. Beim Führen spielen nun immer auch individuelle Dispositionen und Talente eine wichtige Rolle (vgl. dazu Paris 2003, S. 1189). Das ist eine Tatsache, die in der rein soziologischen Organisationsforschung gerne unterschlagen wird. Dass es aber wenig Sinn macht, darauf zu verzichten, wissen wir vor allem aus der psychoanalytischen Führungsliteratur (Kets de Vries 1998). Die hier intendierte sozialphänomenologische Bestimmung geht indes noch einen Schritt weiter. Ich behaupte, Führung muss stets durchgesetzt werden, Machtscheu ist für sie geradezu tödlich. Eine (gute) Führungskraft agiert zudem immer im Hier und Jetzt, sie ist »wirklichkeitssetzend« und lebt nicht in Phantasiewelten. Ihre bewusst ausgeübte Macht ist allerdings alles andere als Selbstzweck – ansonsten sprechen wir auch von Machtmissbrauch. Eine erfolgreiche Führungskraft nützt ihre Macht, um sich und andere zu einem Ziel zu bringen. Dabei befindet sie sich, wie Paris (2003, S. 1190) zu Recht anmerkt, auf einer schwierigen Gratwanderung: »Erfolgreiches Führen charakterisiert eine schwierige Mischung und Spannungsbalance von unbeirrter Sach- und sensibler Personenorientierung, ein prekäres Zugleich von Entschlossenheit

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und Rücksichtnahme, rationalem Kalkül und empathischem Anschluss, Eigensinnigkeit und Takt«. Für Paris ist es nun vor allem diejenige Macht, die gerade nicht führt, die uns erbittert und empört, weil sie ihre eigentliche Aufgabe, das heißt, zu führen, verweigert. Deshalb entziehen wir konsequenterweise einer solchen Macht unseren Respekt – und dies, obwohl wir ihr folgen, da die Angst vor Sanktionen meistens größer ist als das Versprechen der Freiheit. In gewissem Sinn als Kontrast zu diesen ersten phänomenologischen Überlegungen zum Thema Macht und Führung stellen die folgenden Passagen die Gedankenwelt Druckers vor. Drucker, der – aus der Managementpraxis kommend – 95-jährig als der eigentliche Begründer der Managementlehre gilt, geht es in seiner resümierenden Arbeit um das »Geheimnis effizienter Führung«.

■ Das Geheimnis effizienter Führung (Peter F. Drucker) Druckers Hauptthese lautet ganz schlicht: »Spitzenleute können die unterschiedlichsten Charaktere haben. Der Schlüssel zum Erfolg liegt letztlich darin, acht einfache Prinzipien zu beachten« (Drucker 2004, S. 27). Dass ich dieser Einschätzung nicht folgen kann, liegt auf der Hand, allerdings möchte ich ein alternatives Konzept erst vorlegen, nachdem ich die Drucker’schen Überlegungen präsentiert und kommentiert habe. Denn mich interessiert tatsächlich etwas anderes sehr wohl, so beispielsweise: Was erfahren wir von Drucker bezüglich seiner Führungsprinzipien? Dazu bietet er dem Leser ein »Acht-Punkte-Programm«. Die Punkte lauten im Einzelnen: 1. Erfolgreiche Führungskräfte stellen sich – quasi dauerhaft – die Frage, was getan werden muss, und zwar in der jeweils aktuellen Situation. 2. Gute Führungskräfte fragen sich, was gut und richtig für das Unternehmen ist. 3. Führungskräfte schmieden Aktionspläne. Manager sind Macher, sie halten Wissen für nutzlos, solange es keine praktischen Konsequenzen hat.

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4. Führungskräfte übernehmen Verantwortung für Entscheidungen. Eine Entscheidung ist nicht wirksam, solange niemand weiß, wer verantwortlich ist, wer betroffen ist, also wer die Entscheidung kennen, verstehen und billigen muss, wer informiert sein muss, auch wenn er nicht unmittelbar betroffen ist, und für welchen Zeitraum die Entscheidung gilt. 5. Erfolgreiche Führungskräfte stellen sicher, dass die Kommunikation im Unternehmen fließt. Die Aktionspläne müssen nicht nur alle verstehen, gute Führungskräfte wissen auch, wo noch Informationsbedarf besteht. 6. Ein guter Manager konzentriert sich immer mehr auf Chancen als auf Risiken. 7. Führungskräfte führen effektive Meetings durch. Alle Studien über den Arbeitsalltag von Führungskräften (Kotter 1999; Schmidt 2002) zeigen, dass selbst Juniormanager und Fachkräfte täglich mehr als die Hälfte ihrer Zeit im Austausch mit anderen, sprich: in irgendeiner Form von Meeting verbringen. 8. Erfolgreiche Manager denken und sprechen in der Wir-Form, nicht in der Ich-Form. Bei diesen Ausführungen zu den »Geheimnissen effizienter Führung« lässt sich eine vollkommene und gleichzeitig einseitige Konzentration auf die sozialen Beziehungen beziehungsweise auf die sozialen Praktiken/Selbstpraktiken erkennen, die eine Führungskraft laut Drucker beherrschen muss. Ob es um die Kommunikation mit Mitarbeitern, das Meeting oder das verantwortungsvolle Treffen von Entscheidungen geht, ständig steht die soziale Dimension im Mittelpunkt. Ergänzt werden diese Techniken der Fremdführung durch die Maßnahmen der Selbstführung. Dazu gehört die Orientierung an der eigenen Wirksamkeit (die grundlegende Frage lautet dabei: Wie komme ich an?), die eingehende Hinterfragung des Tuns (reflexive Schleife) sowie das Erstellen von Aktionsplänen (Zeitmanagement). Drei wesentliche Dinge werden in solch einem Vorgehen ausgeblendet: Es fehlt erstens eine Analyse des Machtrahmens, in dem Führung situiert ist. So werden beispielsweise die Kommunikationsprozesse in Unternehmen gerade durch den Einfluss von Macht- und Hierarchisierungsphänomenen verzerrt (Brede et al.

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2003). Zweitens gerät der jeweils eingenommene Habitus (auch die psychodynamische Persönlichkeitsstruktur) völlig aus dem Blick. Bei Drucker geschieht dies durchaus wissentlich. Der Eindruck, der sich beim Leser einstellt, lautet: Man wird als Führender geboren oder eben nicht. Die Erwerbs- und Sozialisationsbedingungen finden bei solch einer Auffassung selbstverständlich keine Berücksichtigung mehr. Drittens kommt die Geschlechterdifferenz nicht in den Blick, dabei wird von vorneherein verschenkt, auf Macht- und Diskurseffekte des so genannten »gender trouble« zu reflektieren. »Gender trouble« spielt auf einer Verwirrung der Geschlechter und der Geschlechtszuschreibungen an, meint aber noch mehr: So geht die Forschung inzwischen davon aus, dass so genannte »gendered organizations« (vergeschlechtlichte Organisationen) die Alltagswelt der Unternehmen und Organisationen strukturieren (Wilz 2004).

■ Ein alternativer Rahmen: Macht, Habitus und Praktiken Nach diesen kritischen Ausführungen zu Druckers Führungsverständnis, das in Wirtschaftskreisen weit verbreitet ist, geht es nun darum, den Entwurf eines Bezugsrahmens zu präsentieren, mit dem eine empirische Analyse der Führungssituation und der Führungskräfte auf unterschiedlichen Ebenen durchführbar wäre. Um dies leisten zu können, möchte ich anhand von drei Schlüsselbegriffen versuchen, die soziale Wirklichkeit von Führungskräften und insbesondere den (sozialen) Akt der Führung beschreib- und verstehbar zu machen (Boltanski 1990). Mit den von Drucker beschriebenen sozialen Praktiken und den Selbstpraktiken bin ich weitestgehend einverstanden, allerdings berücksichtige ich den – neben anderen Dingen vom Geschlecht abhängigen – Habitus von Führungskräften (Bublitz 2003). Beginnen werde ich aber mit einer weiterführenden Analyse der Machtprozesse, so wie sie bereits skizziert wurden. Zur Erinnerung: Bei der durchgeführten Analyse befinden wir uns immer im sozialen und betrieblichen Kontext der Führung, alles andere wird notgedrungen ausgeblendet.

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■ Macht-Analytik Macht ist etwas Amorphes, Relationales, dabei nicht eindeutig zu Fassendes, ohne in jeglicher Beschreibung vorschnell in Ontologien abrutschen zu dürfen. Und positiv gewendet? Macht ist vor allem, so könnte man in einer Mischung aus Überlegungen von Max Weber (1904, 1905/2000) und Michel Foucault argumentieren, Aktion, Initiative, Produktion, Aufprägen und Durchsetzen des eigenen Willens, gerade und insbesondere gegen das Widerstreben anderer. Gleichfalls ist Macht die elementare Erfahrung des Ausgeliefertseins, der puren Objekthaftigkeit, Realisierung eines fremden Interesses im Medium des eigenen Handelns (vgl. Paris 2003, S. 1188). Eine stets relational zu denkende Macht, die sich analytisch in drei Aspekte unterteilt, wäre in ihren feinen Verästelungen sozialphänomenologisch und anthropologisch zu beschreiben (Popitz 1992; Röttgers 1990; Luhmann 2003). Der erste Aspekt ist die so genannte Positionsmacht, die aus der jeweils in der Hierarchie eingenommenen Stellung der Führungskräfte resultiert. Sie beeinflusst die Fähigkeit und Kompetenz zur Führung. Zweitens existiert eine Art Handlungsmacht, die in Führungspraktiken kulminiert; diese tritt etwa in der Form von Kontrollpraktiken, Vertrauenspraktiken und Überzeugungspraktiken auf. Und drittens stößt jede Analyse auf eine diskursiv strukturierte Machtordnung, die den Ablauf in den Unternehmen – über Verordnungen, Gesetze und Weisungen – präfiguriert. Auch diese Ausgestaltung der Macht nimmt Einfluss auf die Führungspraxis des Leitungspersonals. Ich möchte demzufolge behaupten: Macht und Führung liegen sehr eng beieinander; sie können nur künstlich, zu analytischen Zwecken, voneinander getrennt werden. So wird beispielsweise Interaktionsmacht von Führungskräften immer dann eingesetzt – zumindest unternehmen Führungskräfte diesen Versuch –, wenn es auf der kommunikativen Ebene der Führung zu keiner Lösung kommt. Eben dann wird – so könnte man nochmals mit Max Weber konstatieren – der eigene Wille auch gegen Widerstand durchgesetzt.

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■ Habitus Das Habituskonzept verbindet sich in den Sozialwissenschaften vor allem mit dem Namen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1992). Wir finden zum Habituskonzept jedoch schon Äußerungen bei Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, Talcott Parsons und Erving Goffman (Willems 1997). Weil sich der Erwerb der gesellschaftlichen Rolle des Subjekts für Bourdieu (1992), den ich zum Ausgangspunkt mache, wesentlich im Unbewussten abspielt, begreift er den Habitus als die zur zweiten Natur gewordene, in motorische Schemata und körperliche Automatismen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit. Dabei entgeht Bourdieu dem Determinismusvorwurf insofern, als er darauf hingewiesen hat, dass mit dem Wirksamwerden des Habitus eine Praxis nicht im strengen Sinne determiniert ist. Durch die äußeren materiellen, kulturellen und sozialen Existenzbedingungen – das heißt durch die gesellschaftlichen Strukturen – und deren verinnerlichende Transformation in habituelle Denk-, Erwartungs- und Handlungsstrukturen werden lediglich die Grenzen möglicher und unmöglicher Praktiken festgelegt, nicht aber die Praktiken an sich. Der Habitus eines »pragmatischen Machers« impliziert die Orientierung an der Umsetzung und an den Ergebnissen, dagegen weniger die reflexive Analyse der Gesamtsituation und ihrer Folgen. Der jeweils verkörperte Habitus steht für ein soziales Verhaltensmuster, das, durch Sozialisation erworben, den spezifischen Lebensstil von Individuen und sozialen Gruppen strukturiert. Folgen wir Bourdieu (1993, S. 279), so ist in den Dispositionen des Habitus »die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt«. Die Schwierigkeit besteht dennoch darin, habituell bedingte Verhaltensweisen voneinander abzugrenzen, ohne zu sehr auf Differenzierungsleistungen zu verzichten. So macht es in bestimmten Führungs- und Managementsituationen sicherlich Sinn von einem hegemonialen männlichen Habitus (Böhnisch 2003) zu sprechen, allerdings möchte man als Forscher schon gerne weiter differenzieren, um bestimmte Typen bilden zu können. Da der Habitus die Praktiken strukturiert, aber eben nicht determiniert, möchte

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ich als letzten Schlüsselbegriff eben den der Praktiken thematisieren. Ich unterteile dabei in Selbstpraktiken, die die Kunst der Selbstführung (in Anlehnung an Foucault) umfassen, und in soziale Praktiken, die den interaktiv-kommunikativen Aspekt im Umgang mit anderen berühren. Aus dem Zusammenspiel der sozialen Praktiken, den Selbstpraktiken und dem Habitus resultiert das gewordene Subjekt, hier die Führungskraft. Demnach stellt sich an dieser Stelle die sowohl theoretisch als auch empirisch aufregende, aber keinesfalls einfach zu beantwortende Frage, wie Subjektkonstitution, Macht und Habitus zusammenhängen.

■ Praktiken und das Werden des Subjekts Bekanntlich hat der französische Philosoph Michel Foucault damit begonnen, die komplexe Dialektik der Beziehungen zwischen Unterwerfung und Subjektivierung in einer neuen Weise freizulegen, die es ermöglicht, aus einer vereinfachten Konzeption der Macht herauszutreten. Die Subjekte sind gleichzeitig die Produkte historisch zu rekonstruierender Machttechniken sowie ihres Widerstandes gegen diese Unterwerfungen (Foucault 1987, 2000). Für Feher (2002) liegt das wichtigste Anliegen des Kampfes genau in der Konstitution von Subjekten, die durch ihre Art definiert werden, wie sie regieren und wie sie regiert werden. Indem sie sich selber regieren, versuchen die Subjekte zu verhindern, dass man sie regiert. Die Frage der Subjektivierung entfaltet sich gegenwärtig – eigentlich immer schon, es sei denn, man würde idealistischphilosophisch befangen argumentieren – in einem historischen Moment, da das Individuum, hier die Führungskraft, offen als zur Verfügung stehendes Potenzial (Humankapital) betrachtet wird. Es wird dazu eingeladen, sich selber in all seinen Potenzialitäten und in allen Sektoren seiner Existenz einzubringen (schärfer formuliert: auszubeuten). Oder es entsteht ein Individuum, das als zweideutiges Objekt einer humanitären Fürsorge fungiert, wenn es nicht mehr »gebraucht« wird oder nicht mehr länger solvent ist (entlassene Führungskräfte). Die Thematik der Führung muss auf eine Wechselwirkung zweier oder mehrerer strategiefähiger Akteure im Kontext einer komplexen Organisation zugeschnitten

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werden, bei dem die Untergebenen zum Gelingen der »Führung« ebenso einen Beitrag leisten wie diejenigen, die Anweisungen zu geben berechtigt sind – ohne dass deswegen der Aspekt einer fortbestehenden Machtasymmetrie zu vernachlässigen wäre (Neuberger 2002; Pohlmann 2002). Innerhalb der Sozialwissenschaften, insbesondere auch im Kontext der Arbeits- und Industriesoziologie, wurde bereits öfters der Versuch unternommen, jenseits von Handeln und Struktur eine Analysekategorie zu entwickeln, die beide Dimensionen des Sozialen einzufangen vermag. Inspiriert von Anthony Giddens (1997) und seiner »Theorie der Strukturierung« hat sich gleichsam der Begriff der sozialen Praktiken in Verbindung mit dem Habitus Bourdieu’scher Prägung als ein aussichtsreicher Kandidat erwiesen (Bourdieu 1993). Schienstock (1993) hat den Begriff der sozialen Praktiken für die Arbeitssoziologie fruchtbar zu machen versucht, während neuerdings Reckwitz (2003) in seiner Arbeit eine Art der Synthese hinsichtlich einer Identifizierung von Grundelementen einer Theorie der sozialen Praktiken intendiert. Was bislang jedoch fehlt, ist eine durch die empirischen Ergebnisse qualitativer und quantitativer Sozialforschung gestützte Beschreibung sozialer Praktiken im Unternehmenskontext von Führungskräften, die sich eben nicht nur diskursiv aus der Managementliteratur ableiten lassen (vgl. dazu exemplarisch Opitz 2004). Dabei gilt: Diskursive Praktiken (Foucault) sind soziale Praktiken, aber nicht alle sozialen Praktiken sind diskursiv. Als unstrittig darf gelten, dass jegliche soziale Praktik von Macht durchzogen ist, allerdings bleibt die Frage nach dem Wie bislang weitgehend ungeklärt. Einzelfallstudien können über diesen mikrosoziologischen Aspekt aufklären. Über welche Praktiken eine Führungskraft verfügt, hängt eindeutig von dem von ihr verkörperten Habitus beziehungsweise von der psychodynamischen Struktur ihrer Persönlichkeit ab. Ein besonders reflexiver Umgang mit dem eigenen Habitus ermöglicht es der Führungskraft, ihre Dispositionen zu durchschauen und dementsprechend diese nicht oder nur bedingt in den Prozess des Führens einfließen zu lassen. Diesen Typus könnte man als »reflexiv-intellektuellen« Habitus qualifizieren. Ihn findet man vor allem unter akademisch gut ausgebildeten Führungskräften und Managern, die für Neuerungen im Führungsprozess offen sind.

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■ Geschlechterdifferenz, Führung und Dekonstruktion Was ich bislang stillschweigend vorausgesetzt und dennoch implizit in meiner theoretischen Anlage mitgeführt habe, möchte ich nun zumindest ansatzweise behandeln. Es geht um die Bedeutsamkeit des »Faktors« Geschlecht oder genauer der Geschlechterdifferenz, insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Führung und der Macht (vgl. auch Haubl 2003). Eines sollte nicht vergessen werden: Gerade weil zentrale Elemente des so genannten »weiblichen Arbeitsvermögens« (Ernst 1999, S. 22) unter modernen Produktions- und Organisationsbedingungen mehr denn je funktional erscheinen, werden sie auch von männlichen Führungskräften erwartet und damit in gewisser Hinsicht neutralisiert. Diese Zuschreibungen werden demnach aus der polarisierenden Zuweisung zum weiblichen Geschlechtsstereotyp herausgenommen und als »allgemeine« Erfolgsvoraussetzungen deklariert, so etwa geschehen bei der »emotionalen Intelligenz« (Goleman, Boyatzis u. McKee 2002; Schreyögg u. Sydow 2001), der Sozialkompetenz und der Teamfähigkeit, die zu einer ganzen Palette von »soft skills« gehören (Neuberger 2002, S. 787). An dieser Stelle erscheint es allerdings wenig hilfreich, die geschlechtsstereotypen Zuschreibungen (emotional versus rational etc.) zu wiederholen (Kutzschenbach 2004, S. 62). Zu bedenken wäre vielmehr für den Kontext der Führungssituation – dabei den Einschätzungen Oswald Neubergers folgend –, dass erstens ein überlegener Führungsstil, sei er männlich oder weiblich apostrophiert, bislang nicht nachgewiesen werden konnte. Eine absolut nachvollziehbare Reaktion auf diese (anhaltende und unbefriedigende) Diskussion war dezidiert die Entwicklung der so genannten situativen Führungskonzeptionen, die nicht abstrakt und universal, sondern vielmehr zeit- und kontextgebunden das jeweilige Führungsverhalten zu verstehen versuchen. Zweitens hat sich empirisch gezeigt, dass die Intragruppendifferenz – damit ist die Differenz jeweils innerhalb der Gruppe des gleichen Geschlechts gemeint – größer ist als die Intergruppendifferenz (also zwischen der Gruppe der Frauen und der Gruppe der Männer). Drittens findet durch die Reduktion auf das jeweilige Geschlecht »männlich« oder »weiblich« eine binäre

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Typisierung statt, die nicht mehr in der Lage ist, die feinen Unterschiede des realen Handelns oder eben der Praktiken aufmerksam, das heißt immer auch mikrosoziologisch zu beschreiben. Viertens und besonders wichtig: Weder Frauen noch Männer sind darin frei, »den persönlich bevorzugten Führungsstil zu praktizieren, weil sie externen Zwängen unterliegen, die sie zum großen Teil nicht kontrollieren können (Zeitdruck, Ressourcenknappheit, Effizienzforderung, Verwertungslogik)« (Neuberger 2002, S. 790). Der Clou dabei ist: Beide Geschlechter – Männer und Frauen – unterliegen diesen Zwängen, so dass es zu einer Angleichung der Reaktionen kommt. Noch einmal grundsätzlicher formuliert: Nach einer mittlerweile weit fortgeschrittenen Dekonstruktion der Geschlechterzuschreibungen (Wetzel 2003) beziehungsweise der vom Essentialismus vorgetragenen Geschlechterdifferenz hat sich gezeigt, dass die gesellschaftlichen Zuschreibungen für das jeweilige Geschlecht, also rational versus emotional, zielgerichtet versus umfassendes Vorgehen, Sach- versus Personenbezogenheit und so weiter immer sozial konstruierte (binäre) Geschlechterunterschiede sind. Ich halte daher die folgende, von Gertraude Krell (1998, S. 346) ausgegebene Forschungsstrategie für sinnvoll. Sie visiert dabei dreierlei an: − das entschiedene Beibehalten einer dekonstruktiven Perspektive, um gesellschaftliche Zuschreibungen als solche in ihren Begrenztheiten/Normativitäten deutlich zu machen; − das Einnehmen einer interpretativen Perspektive, die aufzeigt, wie sich an Geschlechterstereotypen orientierte Schemata für das Führungsverhalten und den Führungserfolg von Frauen (und von Männern) auswirken; − und schließlich das Bestehen auf einer politikorientierten Perspektive, die den Blick auf die Bedeutung von Interessen, Macht und Herrschaft lenkt. Ich denke, wir können der ganzen Diskussion um männliche und weibliche Führungsstile, die in ihren stereotypen Zuweisungen keineswegs zufällig an die Debatte um männliche und/oder weibliche Moral erinnert, nicht entkommen (Wetzel 2003, S. 116). Ebenso verhält es sich mit der angeblichen »Entweder-oder-Entscheidung« bezüglich eines autoritären und eines kooperativen

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Führungsstils. Allerdings entschärft sich die verzwickte Lage insofern, als der entscheidende Punkt in etwas anderem begründet liegt: nämlich im Fokussieren auf den Prozess des »situativen Führens«, der mit dem Vorgang und der Umsetzung des »Doing Gender« zusammenfällt. Hier liegt meines Erachtens der Kernpunkt einer »Mikrosoziologie der Führung« begründet.

■ Mikrosoziologie der Führung und die Analyse des prozesshaft-situativen Führens In einem ersten Schritt wurde in die grundlegende Thematik Macht und Führung eingeleitet. Dabei habe ich Führung als die eigentliche Arbeit der Macht vorgestellt und phänomenologisch näher zu bestimmen versucht. Daraus hat sich ergeben, dass Führung immer Hierarchien erzeugt. Anders gesagt: Macht und Unterordnung spielen weiterhin eine fundamentale Rolle im Führungsprozess (Pohlmann 2002). Führung setzt Ziele und übernimmt Verantwortung (Drucker 2004). Dabei lässt sich die Führungssituation als eine soziale und von Macht durchzogene Beziehung charakterisieren, in der Führende und Geführte interagieren und – möglichst gemeinsam – Ziele verwirklichen. Führung ist persönliches Wirken und somit eine Frage der Kunst der Selbstführung, was wiederum einer ganz bestimmten habituellen Verhaltensweise geschuldet ist. In der Folge habe ich anhand der Auseinandersetzung mit den »Geheimnissen effizienter Führung« à la Drucker gezeigt, dass dieser Managementspezialist lediglich den Bereich der Praktiken (soziale Praktiken und Selbstpraktiken) analysiert und er diesem Bereich Bedeutung zugesteht. Ich habe mich gegen die These Druckers verwahrt, der behauptet, die Psychodynamik der Persönlichkeit oder der Charakter würden für das Führen keinerlei Bedeutung reklamieren können. Zusätzlich zu dem Begriff der Praktiken habe ich deshalb auf die Aspekte der Macht und des Habitus im Kontext des Führens verwiesen. Eine weitere – immanent gedacht durchaus logische – Leerstelle nimmt bei Drucker die Geschlechterdifferenz ein. In Absetzung von dieser geschlech-

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terneutralen Position plädiere ich des Weiteren für eine Dekonstruktion des männlichen und weiblichen Führungsdiskurses. Dies geschieht deshalb, weil ich mit Krell (2001) der Meinung bin, dass es nicht länger darum gehen kann, einer Vereigenschaftlichung von Geschlecht zuzuarbeiten. Positiv müsste es um die Ausarbeitung einer interpretativen Perspektive gehen, die weder die Errungenschaften der Dekonstruktion vergisst noch die Bedeutung von Interessen und Herrschaft bei der Geschlechterfrage unterschlägt. Was heißt das nun für eine weitergehende Analyse? Nach der Dekonstruktion folgt die Konstruktion, allerdings unter Einsatz einer Kontextualisierung des Führungsgeschehens. Einen ersten Schritt in diese Richtung geht das, was ich mit der Formel »Prozess des situativen Führens« beschreibe. Worum geht es dabei? Effizientes und verantwortungsvolles Führen, was nichts anderes bedeutet als möglichst mit dem kleinstmöglichen Aufwand Ziele zu erreichen und im Interesse des Unternehmens und der Mitarbeiter zu agieren, gelingt immer nur dann, wenn Maßnahmen angeordnet und Aufträge erteilt werden, die der jeweiligen Situation und der Einschätzung der Beteiligten entsprechen und den besten Weg in die Zukunft weisen. Obwohl eine Situation alles andere als eindeutig lesbar ist, muss der forschungspraktische Versuch unternommen werden, dem komplexen Zusammenspiel von Macht, Habitus und Praktiken Rechnung zu tragen, denn: Situatives Führen akzeptiert und berücksichtigt verschiedene Wahrnehmungen und völlig unterschiedliche Motive aller Betroffenen in der Beurteilung einer Situation, die gerade durch habituelle Verhaltensweisen geprägt sind und durch Machtgebaren zu Stande kommen. Situatives Führen muss prinzipiell für beide Entscheidungssituationen offen sein: einerseits für die schnelle und alleinige Entscheidung der Führungskraft als auch andererseits für einen unter Umständen lang andauernden Prozess der Entscheidungsfindung. Situatives Führen erfordert Mut, Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen zu übernehmen. Wichtig ist auch, die Perspektive der situativen Führungsentscheidung in den Kontext längerfristiger Überlegungen einzubinden. Zu dem Fokussieren auf das Situative im Führungsprozess tritt die Perspektive eines »Doing Gender«. Die Leitfrage lautet: Wie werden im Prozess des Führens Geschlechter hergestellt oder gemacht, und

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welche Eigenschaften und Dispositionen werden Männern und Frauen, die aufgrund der Geschlechterdifferenzierungen niemals eins sind, gesellschaftlich zugeschrieben?

■ Ausblick Meine vorgestellte »Mikrosoziologie der Führung« kulminiert und endet mit einer sozusagen idealtypischen Beschreibung dessen, was ich als »Prozess des situativen Führens« gefasst habe. Dorthin bin ich anhand einer Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen Macht, Habitus, Praktiken unter dem Einbeziehen der Geschlechterfrage gelangt. Methodisch betrachtet nenne ich mein Vorgehen, das ich hier lediglich präsentiert, aber nicht empirisch überprüft habe – sozusagen im Rückblick auf die Anfänge – mikroanalytisch-dekonstruktiv. Dieses Vorgehen thematisiert die Macht sowie die Praktiken des Unterscheidens im Rahmen von Institutionen (Unternehmen), die diese Praktiken sowohl erzwingen wie schützen. Zudem untersucht werden die wechselseitige Erzeugung beziehungsweise Stabilität von Praktiken und Institutionen im Führungskontext. Ich gehe weiter davon aus, dass es wenig fruchtbar erscheint, zu fragen, ob männliche oder weibliche Führungskräfte sich in ihren Eigenschaften oder Verhaltensweisen signifikant unterscheiden. Umso wichtiger ist es herauszufinden, warum diese Frage gestellt wird (Aspekt der Macht), und wie Geschlechter in Unternehmen gemacht werden (Aspekt des »Doing Gender«). Gleichfalls wäre zu fragen, durch welche Praktiken und Institutionen Unterschiede erzeugt oder aufrechterhalten, wie sie gerechtfertigt werden (Aspekt der Praktiken und des Habitus) und wie auf Versuche ihrer Nivellierung reagiert wird (Neuberger 2002, S. 796). Eine »Mikrosoziologie der Führung«, die vor allem einer empirischen Überprüfung weitestgehend harrt, will sich einer solchen komplexen Herausforderung stellen.

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D. Wetzel · Mikrosoziologie der Führung

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■ Daniela Rastetter

Mikropolitisches Handeln von Frauen

Leitungspositionen sind in der Regel mit Machtbefugnissen verknüpft. Leitende Personen dürfen Aufgaben delegieren, Mitarbeiter auswählen, Entscheidungen treffen und Teams zusammenstellen. Jede Führungskraft in der Praxis macht jedoch die Erfahrung, dass Macht und Ohnmacht nahe beieinander liegen, dass einem oft die Hände gebunden sind und Mitarbeiter nicht selten durch Verbündung und kluge Taktik formale Machtverhältnisse aushebeln können. Seit Frauen in nennenswerter Zahl Leitungsfunktionen übernehmen, wird die Frage interessant, ob Macht und Machtausübung auch bei formal machtvollen Positionen geschlechtsspezifisch unterschiedlich verteilt sind beziehungsweise wie Frauen mit Macht umgehen, die ihnen qua Geschlecht nicht gerade in die Wiege gelegt wurde. Der Handlungsaspekt steht hier im Vordergrund: Es soll nicht abstrakt über Macht gesprochen werden, sondern über den Einsatz und Aufbau von Macht. Dieser Handlungsaspekt wird mit dem Begriff der Mikropolitik beschrieben. Interessant ist diese Fragestellung nicht nur für die Genderforschung und die Führungsforschung, sondern auch in der Praxis für alle, die mit Führungskräften arbeiten: Organisationsberater, Coaches, Therapeuten, Supervisoren. Denn sie werden immer wieder mit Fragen und Konflikten ihrer Klienten konfrontiert, die mit Macht und Ohnmacht, mit erfolgreichen Strategien und mit möglichen Erweiterungen des Handlungsspielraums zu tun haben.

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■ Mikropolitik Zwischen der sozialromantischen Vorstellung, dass der Mensch in Organisationen im Mittelpunkt stünde und deshalb seine Bedürfnisse und Wünsche mehr als früher einbringen könne, und dem Zwang der Verhältnisse, der keinerlei Subjektivität der Arbeitnehmer zulasse, nimmt Mikropolitik eine Vermittlungsrolle ein (Neuberger 1995, S. 1). Das bedeutet, dass es Handlungskorridore und Spielräume gibt, die genutzt werden können, freilich nicht beliebig und nicht ohne dass organisationale Strukturen diese begrenzen, aber auch ermöglichen würden. »Die Handelnden sind zwar an überindividuelle Ordnungen gebunden, aber sie erzeugen, bestätigen oder ersetzen diese Ordnungen durch ihr Handeln« (ebd., S. 1). Subjekte bringen in Organisationen ihren Eigensinn ein; sie folgen nicht passiv der Unternehmenspolitik, sondern machen ihre eigene Innenpolitik oder »Tagespolitik«. Nicht willenlose Marionetten agieren an ihren Arbeitsplätzen, sondern Menschen mit Interessen, Wünschen, Hoffnungen und Gefühlen. Wenn dem nicht so wäre, bräuchte es keine Motivationsseminare, kein Coaching und keine Supervision. Haben Akteurinnen und Akteure aber Spielraum, dann wird dieser Spielraum für die anderen zur Unsicherheitsquelle. Damit sind wir beim Thema Macht. Die Macht des Einzelnen wird um so größer, je relevanter die »kontrollierte Ungewissheitszone« ist, das heißt je unentbehrlicher dieser Einzelne für die Organisation ist. Nach Neuberger (1995, S. 14) ist damit Mikropolitik »das Arsenal jener alltäglichen ›kleinen‹ (Mikro-)Techniken, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen«. Nicht zu vernachlässigen ist dabei, dass Mikropolitik wie jede Politik nicht nur negativ oder konfrontativ, sondern auch positiv und konstruktiv ist. Man stelle sich vor, Organisationsmitglieder würden nur buchstabengetreu ihrer Stellenbeschreibung folgen, keine neuen Ideen durchsetzen und nicht Partner für ihre Projekte suchen. Alles Dinge, die heute mehr denn je von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gefordert werden. Organisationen sind in dieser Perspektive Arenen interessengeleiteter Interventionen und Aushandlungen. Weder der Markt noch die Technologie noch

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sonstige Umweltfaktoren vermögen die Freiheit zur Mikropolitik zu zerstören.

■ Frauen in Führungspositionen Mikropolitisches Handeln ist niemals unabhängig von äußeren Gegebenheiten (»Fakten«), die dieses ermöglichen und beschränken. Bevor deshalb auf die Handlungsweisen von Frauen eingegangen wird, müssen die Rahmenbedingungen geklärt sein, unter denen Frauen arbeiten. Eine Tatsache bei Frauen in Leitungsfunktionen besteht darin, dass sie in praktisch allen Organisationen gegenüber Männern in der Minderheit sind. Ihr Anteil an Top-Positionen in deutschen Großunternehmen liegt bei circa fünf Prozent, in mittelständischen Unternehmen bei 8 Prozent, in mittleren Positionen sind sie zu circa 15 Prozent vertreten (Bischoff 2005, S. 36). Eine zweite nicht unerhebliche Tatsache ist, dass Frauen in vergleichbaren Positionen im Durchschnitt 15 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen verdienen – diese Schere scheint sich sogar zu vergrößern (Bischoff 2005, S. 115ff.) – sowie weniger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben. Die Zahl der Frauen in Führungspositionen steigt langsam an, entspricht aber bei weitem nicht ihrem Anteil an qualifizierten Arbeitskräften. Frauen in Leitungspositionen sind stets und bis auf weiteres Ausnahmen, nicht die Norm. Mit dieser Ausgangsbedingung muss jede Frau rechnen, wenn sie Karriere macht. Als Normabweichung überschreitet die Führungsfrau Grenzen: zum einen Grenzen zwischen Frauen- und Männerberufen, da Führungstätigkeiten klassische Männerdomänen sind; zum anderen Grenzen zwischen den Geschlechtern, die traditionell hierarchisch angelegt sind und Frauen den geringeren Status in der Gesellschaft zuweisen. Frauen in Leitungspositionen haben in der Regel viele männliche Kollegen und weisen eine Reihe von Untergebenen an. Mit gutem Recht können sie in dieser untypischen Rolle als Pionierinnen neuer Geschlechterverhältnisse bezeichnet werden, und Pioniere werden nicht selten – manche meinen, in

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Deutschland ganz besonders – misstrauisch beäugt. Sie stellen nicht nur die Lebensform derer in Frage, die nach traditionellen Mustern leben, sondern bedrohen etablierte Arrangements, in diesem Fall den herrschenden »Geschlechtervertrag«, nach dem die Frau hierarchisch niedrigere Positionen als der Mann einnimmt. Als Minderheit sind Frauen besonders sichtbar. Das hat Nachteile und Vorteile. Der Nachteil besteht in der stereotypen Wahrnehmung der Frau als Angehörige ihrer Gruppe (»Wie macht sie als Frau das?«). Sie wird weniger als Individuum Frau X als vielmehr als Vertreterin ihrer Geschlechtergruppe betrachtet, da wenige differenzierte Informationen über andere Frauen in Führungspositionen vorliegen. Dieses Phänomen der kognitiven Verarbeitung ist auch bezüglich anderer Minderheiten beobachtbar, zum Beipiel bei Ausländern. Kennt man beispielsweise bislang keine Araber persönlich, ist man geneigt, die Informationen über jenen Araber, den man kennen lernt, auf alle zu verallgemeinern, um die generelle Unsicherheit und Uninformiertheit gegenüber dieser Gruppe zu vermindern. Sichtbarkeit hat aber gerade im Führungsbereich auch einen Vorteil. Selbstdarstellung und das Erzielen von Aufmerksamkeit gehören zu den klassischen Karrierestrategien. Je sichtbarer und auffälliger jemand ist, desto weniger Aufwand muss er/sie betreiben, um wahrgenommen zu werden. Das Verschwinden in der Masse kann Frauen in Führungspositionen kaum passieren. Man darf aber nicht vergessen, dass Strategien der Selbstdarstellung unterschiedlich gedeutet werden. Bei Frauen kann die Demonstration von Selbstbewusstsein und Durchsetzungsstärke als unweiblich ausgelegt werden, was wiederum ihre Anerkennung gefährdet. In einer Studie, in der 360-Grad-Beurteilungen von 13 weiblichen und männlichen Vorstandvorsitzenden und von jeweils 73 Senior Vice Presidents verglichen wurden, ergab sich: Männliche Firmenlenker werden gut beurteilt, wenn sie machtvoll, überzeugend und wettbewerbsorientiert auftreten, und schlecht beurteilt, wenn sie sich kooperativ und mitfühlend verhalten. Bei weiblichen Topmanagern ist es umgekehrt: Sie erhalten schlechte Noten für dominantes Verhalten und gute für kooperatives Verhalten (Bierach 2001). Von Frauen wird also wesentlich mehr »inszenatorische Kompetenz« verlangt als von Männern: Sie müssen sich gut

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überlegen, was sie auf welche Weise zeigen, um einerseits ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und Kollegen und Kolleginnen gegenüber Sicherheit und andererseits Authentizität als Frau zu vermitteln. Wenn Mikropolitik nur innerhalb organisationaler Strukturen denkbar ist, dann sind diese Strukturen keinesfalls geschlechtsneutral, sondern eine »gendered order«, eine überindividuelle Ordnung, in die Geschlecht eingeschrieben ist. Die Geschlechterordnung in Organisationen mag variieren, die allermeisten Arbeitsplätze und Berufe sind aber eindeutig geschlechtstypisiert. Auf keinen Bereich trifft dies so stark zu wie auf den Führungsbereich, der eine hartnäckige Männerdomäne ist. Macht und Aufbau von Macht geschehen innerhalb dieser Ordnung und sind deshalb nicht unabhängig vom Geschlecht zu sehen.

■ Weiblichkeit als Ressource Glaubt man den Verlautbarungen der letzten Jahre, haben Frauen heutzutage weit mehr Chancen auf mikropolitisches Agieren als früher. Denn sie sind erwünscht: »Wir brauchen Frauen in der Wirtschaft. Wir können auf die intellektuellen Ressourcen beider Geschlechter nicht verzichten.« Solche Aussagen hat jeder schon gelesen. Günter Ogger forderte bereits 1992 in seiner bekannten Schrift »Nieten in Nadelstreifen«: Frauen an die Macht! Frauen bringen, so ist seitdem zu lesen, besondere Qualitäten ein, die heutzutage für Führungstätigkeiten gefordert werden. Teamfähigkeit, Integrationskraft, offene Kommunikation, ganzheitliches Denken. Einer Umfrage unter den 36 größten Unternehmen der Welt im Jahr 2000 zufolge sind Kommunikationsfähigkeit und der gute Umgang mit Menschen die am häufigsten genannten Anforderungen an Topmanager (Bischoff 2001, S. 18). Da Frauen diese so genannten »soft skills« eher als Männern zugeschrieben werden, sehen manche eine »Feminisierung des Managements« kommen, bei der die große Stunde für Frauen schlägt, wie das die bekannte Unternehmensberaterin Gertrud Höhler (2002) ausdrückt. Auch wenn diese Aussagen aktuell und innovativ klingen, leh-

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nen sie sich an die alte Idee des so genannten weiblichen Führungsstils an. Nach diesem Konzept ist der weibliche Führungsstil dem männlichen überlegen oder zumindest eine notwendige Ergänzung für ihn. Gemäß dem weiblichen Führungsstil setzen Frauen mehr auf Zusammenarbeit statt auf Kontrolle, mehr auf Gefühle als reinen Sachverstand (Helgesen 1992) – heute würde man sagen, sie haben mehr »emotionale Intelligenz«. In einer neueren Studie aus den 1990er Jahren heißt es, der weibliche Führungsstil weise eine teambezogene Netzwerkstruktur mit der Frau im Zentrum des Teams auf. Die Führungsfrau bilde das »Herz« und bemühe sich um »intensive Beziehungen zu ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern«, während der männliche Führungsstil »pyramidalhierarchisch« sei, mit dem Führer als »Kopf« (Macha 2000). Der »weibliche Führungsstil« hat damit etwas recht Sympathisches und Hoffnungsvolles an sich, weil er der lange Zeit vorherrschenden Meinung, dass Frauen nicht führen können, widerspricht und im Gegenteil Frauen sogar als die besseren Führungskräfte darstellt. Frauen müssten sich nicht verbiegen und verstellen, und es hätte ein Ende, dass machtvollen Frauen wie Margaret Thatcher oder Angela Merkel die Weiblichkeit abgesprochen würde. Die Balance zwischen Privatleben und Beruf wäre leichter zu finden, weil es zu weiblichen Werten dazugehört, persönliche Bindungen ernst zu nehmen und nicht zugunsten einer Karriere zu vernachlässigen. Wenn dies stimmt, könnten davon auch Männer profitieren. Sie gehören zwar dem dominanten Geschlecht an und partizipieren an dessen Privilegien – »partizipative Macht« nennt es der Männerforscher Robert Connell (1999) –, fühlen sich aber, wenn man Studien glaubt, häufig gar nicht stark und mächtig, sondern im Gegenteil hilflos und ohnmächtig, sie scheitern im Zuge veränderter Geschlechterarrangements in der Familie immer mehr an der Balance zwischen Beruf und Privatleben, weil ihre Partnerinnen die Rolle der klassischen Ehefrauen mehr und mehr ablehnen (z. B. Lehner 2002, Peinelt-Jordan 2004). Die Kosten der Macht – Stress, Gesundheitsprobleme, keine Zeit für die Familie, zu wenig innere Ruhe – könnten durch die Ergänzung mit dem weiblichen Prinzip verringert werden. Eine Win-win-Situation. Ist Weiblichkeit also zum Machtmittel geworden? Können Frauen mikropolitisch geschickt Geschlecht einsetzen, um nach

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oben zu kommen und, noch wichtiger, dort Erfolg zu haben? Und zwar nicht, weil sie sich gemäß klischeehafter Fantasien »hochgeschlafen« haben, sondern weil sie besondere zentrale Führungsfähigkeiten einbringen? Manche scheinen diese Ansicht zu vertreten. Dabei wird aber vergessen, dass Mikropolitik nicht auf ökonomischer Rationalität basiert, sondern auf interessegeleitetem Handeln. Damit stoßen Frauen, selbst wenn sie besondere Führungsqualitäten hätten, auf Gegeninteressen und Gegenspieler, die anderes als gute Führung im Sinn haben.

■ Abwehr von Frauen Damit kommen wir zu der Frage, mit welchen mikropolitischen Strategien Frauen konfrontiert sind. Wie bereits gesagt, besteht die Besonderheit bei ihnen darin, dass sie als relativ »Neue« in eine klassische Männerdomäne eindringen, die lange Zeit, je nach Bereich und Branche, ohne Frauen ausgekommen ist. Daraus ergeben sich zwei für die Handlungsmöglichkeiten von Frauen relevante Aspekte: zum einen das männliche Managermodell und zum anderen männliche Abwehrstrategien. Das männliche Managermodell leitet sich davon ab, dass der typische Manager noch immer nicht nur ein Mann ist, sondern auch mit dem männlichen Geschlechterstereotyp verknüpft wird. Männliche Stereotype wie Aktivität, Kompetenz, Durchsetzungsvermögen und Leistungsstreben überschneiden sich mit dem Bild vom idealen Manager, und zwar sehr stabil trotz der genannten neuen Anforderungen an »soft skills«. Stereotyp maskuline Eigenschaften werden als erwünschter für einen guten Manager angesehen als stereotyp feminine Eigenschaften. Weiblichkeit wird nach wie vor mit Machtlosigkeit, Männlichkeit mit Macht assoziiert. Zudem weicht das Substereotyp Karrierefrau weiter vom generellen Frauenstereotyp ab als das Substereotyp Karrieremann vom generellen Stereotyp Mann (Eckes 1997). Die Karrierefrau ist also zweifache Abweichlerin, sie ist keine typische Frau und keine typische Führungskraft und begibt sich auf eine Gratwanderung zwischen der weiblichen Rolle und der

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Führungsrolle. Sie erlebt Ambivalenz: Passt sie sich an das männliche Managermodell an, wird sie als unweiblich wahrgenommen, also in sexuellen Labels. Verhält sie sich »weiblich«, gerät sie in eine Sonderrolle und hat einen abweichenden Status zu den Kollegen, der ihr im Konfliktfall negativ ausgelegt wird. Weibliche Attribute können allzu leicht als Abwertung verwendet werden, da sie in der Gesellschaft den geringeren Status haben als männliche. Die Merkmale des so genannten weiblichen Führungsstils entsprechen weiblichen Geschlechterstereotypen. Handelt die Frau also gemäß dem weiblichen Führungsstil, läuft sie Gefahr, Macht abgesprochen zu bekommen. Ich wage deshalb die These, dass die verlockende Aussicht, Frauen würden bestimmte weibliche Qualitäten einbringen, eine mikropolitische Taktik von Männern ist, um ihre angestammten Positionen zu halten und Frauen auf die zweiten Plätze zu verweisen. Für diese Vermutung spricht, dass Frauen in Leitungsfunktionen praktisch durchgängig die männerdominierte Kultur als größtes Karrierehindernis angeben (Accenture 2002). Unter diesem ziemlich unspezifischen Ausdruck kann man sich vieles vorstellen und zudem variiert die »Kultur« von Organisation zu Organisation. Häufig werden folgende »kulturelle« Phänomene genannt: nicht informiert werden, vor vollendeten Tatsachen stehen, nicht auf halb informelle Treffen eingeladen werden, sexistische Witze und Bemerkungen anhören müssen, kurz: »intern ausgeschlossen« werden, ein Mitglied ohne Anrecht auf Mitgliedschaft zu sein. Die mikropolitische Strategie dürfte einleuchten. Ich habe schon an anderer Stelle die These vertreten, dass die Abwehrstrategien von Kollegen auf gleicher Ebene nicht nur auf interessegeleitetem Handeln basieren, sondern tiefere Ursachen haben (Rastetter 1998, 2005). Männer bleiben zum einen unter sich, um in der homogen männlichen Gruppe durch gegenseitige Bestätigung ihre männliche Identität zu stabilisieren und Entscheidungen und Visionen ohne Frauen zu produzieren. Zum anderen vermindern sie durch die Vertrautheit im Umgang mit dem eigenen Geschlecht Unsicherheiten, die mit dem Fremden aufkommen würden. Beispielsweise die Unsicherheit, ob die neue Kollegin freundlich oder feindlich gesinnt ist. Ob man die gewohnte Sprache beibehalten kann oder sich anders ausdrücken muss. Wie

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man mit der Kollegin umgehen soll: höflich und zuvorkommend oder eher freundschaftlich und schulterklopfend? Da bleibt Mann lieber unter seinesgleichen und wählt Nachfolger aus den eigenen Reihen nach dem Prinzip der Ähnlichkeit. Ähnlichkeit ist ein zentrales Kriterium für Vertrauen, und Vertrauen ist wiederum eine wichtige Ressource innerhalb komplexer Leitungstätigkeiten, bei denen das Verhalten des anderen noch weniger vorhersehbar und seine Loyalität noch weniger leicht kontrollierbar ist als in der restlichen Organisation (Rastetter 2005). Wenn diese These grob vereinfachend klingt, dann deshalb, weil der Mechanismus des internen Ausschlusses von Frauen subtil und kaum bemerkbar abläuft, und dies umso mehr, je stärker der Diskurs der besonderen Führungsqualitäten von Frauen gepflegt wird. Laufen Frauen in diese diskursive Falle, erwarten sie eine selbstverständliche Anerkennung, eine Erwartung, die nicht nur enttäuscht wird, sondern sogar genutzt wird, um hinterrücks gegen die Frau zu taktieren. Nicht von ungefähr wird deshalb ein konstanter Drehtüreffekt bei Frauen beobachtet: Viele kommen in untere und mittlere Führungspositionen, viele gehen aber auch wieder. Familiengründung spielt hierbei eine geringere Rolle als eben die »männerdominierte Kultur«, denn die Frauen wechseln in der Hoffnung auf ein besseres Klima überwiegend in andere Unternehmen oder immer öfter in die Selbstständigkeit. Vereinfachend ist die These sicherlich darin, dass es Unterschiede in der Abwehrhaltung der Männer gibt. Auch unter Männern finden sich solche, die zur »ingroup«, und solche, die zur »outgroup« gehören und von daher schon unterschiedlichen informellen Status haben. Zudem gibt es interindividuelle Unterschiede. Wer traditionelle Vorstellungen über die Geschlechter hat, lehnt Frauen als Kolleginnen und Vorgesetzte eher ab als jemand, der weniger stereotype Annahmen vertritt. Männliches Managermodell und Abwehrstrategien sind zwei »Fakten«, mit denen Frauen in Führungspositionen umzugehen haben, und es hilft meiner Meinung nach, diese zu kennen und zu erkennen. Wenn Frau zu dem Schluss kommt, dass in ihrer Abteilung beides wenig ausgeprägt ist und sie nicht beeinträchtigt – umso besser. Häufig liegt der Fall aber umgekehrt: Beides ist am Werk, wird aber nicht ernst genommen oder es wird versucht, mit

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Sachverstand und Leistung davon zu überzeugen, dass es ineffizient ist. Da es aber um Interessen oder auch Emotionen geht, spielt Effizienz keine Rolle.

■ Klassische Strategien von Frauen Eine weitere mikropolitische Strategie der Angestammten besteht darin, Frauen in Führungspositionen klassische weibliche Rollen anzubieten. Hierbei sind die Frauen aber auch aktiv beteiligt, das heißt sie nehmen das Rollenangebot an oder machen es gar selbst. Damit ist innerhalb Grenzen sprengender Verhältnisse ein Stück weit das traditionelle Geschlechterarrangement wieder hergestellt. Freilich können Frauen diese Rollen auch für sich nutzen, das ist ja gerade der »Witz« bei Mikropolitik. Niemand ist determiniert und festgelegt auf ein Verhalten, so stark die Übermacht auch sein mag. Frauen haben hier sogar eine spezielle Expertise erlangt, war ihnen doch traditionell die große Politik verwehrt. Sie lernten daher, in der kleinen Politik zu agieren, deren Techniken sie sich in der dauernden Auseinandersetzung mit Herrschaftsträgern angeeignet haben. Emotionen wurden eine wichtige Tauschware, denn davon hatten sie im Gegensatz zu Reichtum oder Status genug. Vor allem Mittelschichtfrauen sind deshalb nach Arlie Hochschild (1990) die typischen Emotionsarbeiterinnen, die auch im Beruf diese Rolle einnehmen, etwa als Stewardess oder Krankenschwester. Der Einsatz von Gefühlen kann sowohl besondere Zuwendung bedeuten als auch negative Gefühlsäußerungen oder das Vorenthalten von positiven Gefühlen. Hochschild hat eindrücklich gezeigt, wie Stewardessen darauf trainiert werden, die situativ passenden Gefühle zu zeigen, damit die Fluggäste in erwünschter Richtung handeln. Von den vielgestaltigen weiblichen Rollen will ich drei wohl bekannte herausgreifen (siehe auch Rastetter 1997): 1. Mutterrolle: Weibliche Eigenschaften wie sensibel, sozial kompetent, geduldig passen zum Stereotyp der guten Mutter, die fürsorglich und doch auch organisiert ist, ihre Familie fest im Griff hat, aber liebevolle Beziehungen herstellt. Die Macht der Mutter kann der Untergebene zur Not anerkennen, diese hat er

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früh kennen gelernt und auch früh Strategien entwickelt, ihr aus dem Weg zu gehen. Anforderungen an Führungsfrauen nach Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit entsprechen Bedürfnissen nach Umsorgtsein wie früher von der Mutter. Nur spielt die Mutter typischerweise die Nr. 2 in der Familie, sie hat die Binnenmacht, während der Vater die erste Autorität darstellt. Die Mutterrolle ist nicht mit öffentlicher Macht verbunden, sondern wirkt nach innen. Das wäre in vielen Situationen noch nicht weiter schlimm, problematisch ist aber, dass sich untergebene Männer und Frauen ungern mit einer Nr. 2 verbünden, wenn sie Karriere machen wollen (Bayes u. Newton 1989). Frauen bewegen sich mit der Mutterrolle einerseits auf sicherem Terrain, denn die Rolle ist altbekannt. Wie jede Mutter hat die Mutter-Führungskraft die Macht, Zuwendung zu geben oder zu entziehen, und bestimmte Mitarbeiter oder Kollegen – ihre Kinder – zu bevorzugen. Sie trägt aber das Risiko, zum »seelischen Mülleimer« zu werden und gemäß ihrer unterstützenden Funktion für die Gruppe und weniger nach ihren eigenständigen Beiträgen bewertet zu werden. Im Extremfall wird die Frau dann in weiteren Karriereschritten behindert, weil sie die Mutterrolle nicht mehr ohne Weiteres ablegen kann, oder ihre Ideen und Projekte werden nicht anerkannt, da sie ja andere Funktionen für die Gruppe hat. 2. Mädchenrolle: Dieses Rollenangebot schafft folgendes Szenario: Männer loben ihre nette Kollegin oder Vorgesetzte, die nicht wie eine Emanze auftritt, sondern natürlich und unkompliziert ist, und sie fühlen sich in ihrer Gesellschaft wohl. Die MädchenFührungskraft gibt den Männern ihrerseits Bewunderung für ihre Leistungen und damit für ihre Männlichkeit, so dass die Bedrohung vermindert wird, die von einer gleichgestellten Frau ausgeht. Die Mädchenrolle erhöht die Männer, weil die traditionelle Geschlechterhierarchie wieder teilweise hergestellt ist. Für Frauen besteht der Gewinn darin, dass sie geliebt und akzeptiert werden, keine vernichtenden Grabenkämpfe durchstehen müssen und dass sie im besten Fall auch beruflich gefördert werden. Wie bei der Mutterrolle besteht aber die Gefahr, dass ihnen kein professioneller Respekt gezollt wird. Ein Aufstieg in höchste Hierarchieebenen ist unwahrscheinlich. Frauen nutzen

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diese Rolle aber durchaus für sich aus: Sie appellieren an die Ritterlichkeit der Männer und an deren Beschützerrolle. Manches könnte ihnen dadurch leichter gemacht werden als ihren Kollegen. Wie gesagt, der Erfolg der Rolle ist jedoch begrenzt. 3. Verführerin: Die klassische Frauenrolle neben der Heiligen, Asexuellen ist die Verführerin. Komplementär dazu fungiert der Macho, der die Frau als Sexualobjekt betrachtet und damit automatisch ihre professionelle Rolle abwertet. Damit ist wie bei den anderen Rollen die egalitäre Struktur zwischen den Geschlechtern teilweise wieder aufgehoben. Männer konkurrieren um die Verführerin, nicht mit ihr um gute Positionen. So wird die Rolle der Verführerin aber auch gefährlich, da Männer sensibel auf Ablehnung reagieren. Die Verführerin muss mit Rivalität und Eifersucht der Männer rechnen. Schließt sie mit einem statushohen Mann einen manifest sexuellen oder auch nur latent erotischen Bund, um Förderung und »abgeleitete Macht« zu erhalten, wird sie von ihm abhängig und von den restlichen Männern mit Misstrauen betrachtet. Die Integration in die Gruppe ist erschwert, erst recht, wenn erotische Verwicklungen hinzukommen. Die Verführerin hat nicht nur mit männlichen Fantasien umzugehen, sondern auch mit dem Argwohn der anderen Frauen, die auf diesen spezifischen männlichen Schutz verzichten müssen oder wollen. Damit ist diese Rolle auch nicht geeignet, die Kooperation unter Frauen zu verbessern. Alle klassischen Rollen verstärken die bereits genannte Gratwanderung von Frauen in Führungspositionen zwischen Weiblichkeit und Führungsrolle. Sie eröffnen einen mikropolitischen Handlungsspielraum, weil sie von Frauen kompetent auszuüben und nicht immer leicht durchschaubar sind. Die Macht der Frauen kann sich in diesen Rollen manifestieren und wird deshalb auch genutzt. Das kann auch situationsspezifisch geschehen. So kann in einem Konfliktfall die Mutterrolle eingesetzt werden, die wie in der Familie die Streitigkeiten schlichtet, während bei Verhandlungen mit Geschäftspartnern die verführerische Rolle durchaus erfolgreich sein kann. Solange genügend Rollendistanz dazu führt, dass mit Rollen gespielt wird und diese wie im Theater wieder abgelegt werden können, lässt sich ihr Gefahrenpotenzial begrenzen. Frau

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sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, dass sie mit klassischen weiblichen Rollen auf Dauer kaum gleichberechtigte Verhältnisse schaffen kann und dass diese Rollen von Gegenspielern ausgenutzt werden können, um Frauen zu behindern und abzuwehren. In Beratungssituationen können die verschiedenen Facetten der weiblichen Rollen ausgelotet werden, um zu überlegen, welche Konsequenzen diese im konkreten Fall für die Frau haben.

■ Anpassungsstrategie Vielleicht liegt es an der potenziellen Gefahr weiblicher Rollen, dass Frauen in Leitungsfunktionen klassische weibliche Rollen eher ablehnen, vielleicht aber auch an Selbstselektionseffekten. In Befragungen findet man die Tendenz, dass Frauen die eigenen Verhaltensweisen gemäß dem männlichen Managermodell beschreiben, nicht gemäß dem weiblichen Führungsstil oder gemäß weiblicher Rollen. In einer Untersuchung mit 83 Politikerinnen, Unternehmerinnen, Angestellten und Professorinnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zählen die Frauen »soft skills« durchgängig nicht zu ihren Führungsqualitäten, sondern vielmehr strategische und analytische Fähigkeiten, die Begeisterung für die Sache und Entschluss- und Durchsetzungsfähigkeit (Accenture 2002). Sie wollen, so die Vermutung, eben gerade nicht Unterschiede zu ihren Kollegen herstellen, sondern die Ähnlichkeit erhöhen, um Vertrauen zu erlangen (»beige suit syndrome«). Dabei ist es unerheblich, dass die real existierenden Männer häufig dem Manager-Idealbild gar nicht entsprechen, ausschlaggebend ist dessen Funktion als Orientierungs- und Leitwert. Frauen in entsprechenden Positionen glauben also, dass nichttraditionelles Verhalten den größten Erfolg verspricht. Auch andere Studien ergeben, dass Frauen in Beschreibungen ihres Verhaltens oder ihrer Leistungen Differenzen zwischen den Geschlechtern eher minimieren, während Männer Differenzen gerne erhalten und betonen (Lehnert 1999, S. 173f.). Frauen wollen am liebsten das Geschlecht vergessen machen, verständlicherweise, bringt es ihnen doch zumindest im professionellen

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Kontext Nachteile. Betrachtet man Anpassung als mikropolitische Strategie, stellt sich die Frage, inwieweit Frauen mehr als Männer von der Gefahr der Selbstentfremdung betroffen sind. Einerseits liegt es nahe, dass eine »männerdominierte Kultur« Anpassungsleistungen verlangt, die anstrengend und entfremdend sind. Man stelle sich vor, Frau schluckt bei sexistischen Bemerkungen ihre Wut so lange hinunter, bis sie selbst die Bemerkungen nicht mehr schlimm findet. Andererseits sind Führungsfrauen vermutlich selbst eine besondere Auslese, die sich von Haus aus nicht so sehr von ihren Kollegen unterscheidet, oder sie betreiben ihre Anpassung aktiv und intentional und machen damit das, was oben schon angesprochen wurde: Sie spielen mit ihren Rollen, bewegen sich kompetent darin und verlassen sie auch wieder. Das setzt allerdings ein hohes Maß an Selbstreflexion voraus, zu dem Beratung und Coaching beitragen können. Denn gerade in Fragen des Einsatzes von Taktiken oder der Übernahme von Rollen kommt auch Moral mit ins Spiel. Viele glauben, sich unmoralisch zu verhalten, wenn sie taktieren und so tun als ob. Gerade junge Frauen lehnen kategorisch jegliche Strategiebildung ab, weil sie Angst haben, sich zu »verbiegen«. Auch diese Fragen der Authentizität und Identität sollten zum Thema der Beratung werden, vor allem bei der Karriereplanung.

■ Macht hat einen anderen Stellenwert Mikropolitik bedeutet den Aufbau und Einsatz von Macht. Aber verstehen Frauen und Männer das Gleiche unter Macht? Hier scheint es wesentliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern in Führungspositionen zu geben: Der Umgang mit Macht ist geschlechtsspezifisch. In der erwähnten Studie mit 83 Frauen in Leitungsfunktionen (Accenture 2002) zählt der Machtaspekt mit Ausnahme bei den Politikerinnen nicht viel. Ertragreicher ist in diesem Zusammenhang eine weitere Studie, die mit der Storytelling-Methode arbeitete (Frenzel 2001): Es wurden zwanzig Geschichten mit Führungsfrauen und zwanzig Geschichten mit Führungsmännern

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gesammelt. Die Studie beschreibt den Übertritt vom Mitarbeiterstatus zur Führungskraft bei Frauen als »weichen Übergang« mit Kontinuität, was die Aufgabe betrifft. Inhalte bleiben im Fokus ihres Denkens. Führen bedeutet, sich mit diesen Inhalten in einer neuen, höheren und damit gestärkten Funktion zu beschäftigen. Die starke inhaltliche Identifikation mit der Aufgabe ist das zentrale Motiv für die Übernahme von Führungsverantwortung. Bei Männern bedeutet der Wechsel in die Führungsfunktion dagegen oft einen Bruch. Führen impliziert einen neuen Job, der nichts mit den vorigen Inhalten zu tun hat. Die Aufgabe heißt nun: Anleiten von Mitarbeitern. Die Führungsrolle können die befragten Männer nach eigenen Aussagen in jedem beliebigen Kontext erfüllen, weshalb sie häufig nacheinander Führungsaufgaben in heterogenen inhaltlichen Kontexten übernehmen. Ein Wechsel vom Anlagenbau zur Mikroelektronik und dann zur Telekommunikation ist normal. Bei Frauen ist Führen keine Rolle, sondern eine Funktion der Aufgabe. Sie wollen die Aufgabe optimal erfüllen, und Führung muss der Aufgabe und den Personen gerecht werden, die mit ihr betraut sind. Auf eine griffige Formel gebracht: Männer sehen ihre Aufgabe als Funktion für den Aufstieg, Frauen sehen Aufstieg und Führungsverantwortung als Funktion für die Aufgabe. Männern ist die pyramidale Organisationsform mit den üblichen Kommunikationswegen des Anordnens und des Berichtens stets bewusst. Sie machen Pläne und Zieldefinitionen und versuchen, die anderen mitzuziehen. Frauen legen einen groben Rahmen für die Qualität des Produkts fest und bevorzugen gemeinsame Projektbesprechungen. Wenn Führen bedeutet, die Aufgabe besser gestalten zu können, sind Frauen einerseits nicht so leicht von der Position wegzulocken, in der sie noch Möglichkeiten sehen. Andererseits verlassen sie die Organisation schneller als Männer, wenn die Kultur ihren Ansprüchen nicht genügt oder sie negative Entwicklungen erkennen. Männer registrieren Verschlechterungen in der Kultur auch, arrangieren sich aber und bleiben auf ihren Posten. Frauen ziehen Konsequenzen, Männer harren aus, hängen an ihren Karriereinvestitionen, ertragen negative Kulturen bis hin zum Verlust der Selbstachtung. Wenn diese Ergebnisse stimmen, nutzen Frauen weniger Taktiken, die rein um Macht gehen, wie beispielsweise Informationen

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zurückzuhalten. Eine Studie der Personalberatung Management Research Group (Bierach 2001) in den USA kommt zum Schluss, dass Frauen weniger mikropolitische Taktiken einsetzen als Männer. Informationen unter Verschluss zu halten – eine typische mikropolitische Strategie – empfinden sie als nutzlos. Männer setzen dagegen ihr Wissen sparsam und gezielt ein. Wenn die Chefin Kollegen über ein verpasstes Meeting informiert, wird sie dann einfach als nett empfunden und nicht als jemand, der die Voraussetzungen für wichtige Entscheidungen schafft. Andere Taktiken nutzen Frauen aber sehr wohl, zum Beipiel die Verbündung mit relevanten Stakeholders. Wo Machtfragen im Vordergrund stehen, so die Schlussfolgerung, fühlen sich Frauen in ihrer Leistung missachtet und verlassen die Organisation um so schneller. Da Machtfragen in hohen Positionen vermutlich eine besondere Rolle spielen, schließt sich der Teufelskreis. Die starke Aufgabenorientierung, die manchmal fälschlich als weibliche Bescheidenheit interpretiert wird, scheint quer zum weiblichen Stil auf der einen und männlichen Stil auf der anderen Seite zu liegen. Er hat wenig mit besonderen sozialen und emotionalen Kompetenzen, aber auch wenig mit Machtspielen und Positionskämpfen zu tun. Es gibt durchaus Frauen, die nach Macht streben und einiges dafür in Kauf nehmen, gerade im politischen Bereich. Viele scheinen aber von Machtkämpfen abgeschreckt zu werden beziehungsweise nach neuen Aufgaben zu suchen, wenn der Machtaspekt gegenüber den Sachfragen zu dominant wird. Bei diesen Befragungen gilt es, ein gewisses Maß an Vorsicht walten zu lassen, da es sich immer um Selbstaussagen handelt, die auch Selbstdarstellung – eine gängige mikropolitische Taktik – beinhalten. Möglicherweise wollen sich Frauen aufgabenorientierter darstellen als sie sind, weil Machthunger bei Frauen weniger akzeptiert wird. Wenn die Ergebnisse jedoch zutreffen, setzen Frauen andere mikropolitische Strategien ein als Männer, da sie auch partiell andere Ziele verfolgen. Für die Einzelarbeit in der Beratung bedeutet das, den Stellenwert von Macht für die individuelle Frau jenseits von Stereotypen zu klären.

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■ Konkurrenzverhalten Möglicherweise ist der unterschiedliche Umgang mit Macht Ausdruck geschlechtsspezifischen Konkurrenzverhaltens, das unter anderem von Bischof-Köhler (z. B. 2002) in die Diskussion eingebracht wurde. Dieser These zufolge sind beide Geschlechter kompetitiv, aber Männer lösen Konkurrenz in Form einer Dominanzhierarchie, Frauen in Form einer Geltungshierarchie. Aus unterschiedlichem Konkurrenzverhalten müssten unterschiedliche mikropolitische Handlungsmöglichkeiten folgen. Bei der Dominanzhierarchie, die der Hackordnung im Tierreich entspricht, wird um den eigenen Rang in der Gruppe gekämpft. Wenn die Rangordnung aber einmal steht, ist sie relativ konfliktfrei und stabil, weil sich der Einzelne auch bei Meinungsabweichung unterordnet. Typische Taktiken sind Imponieren und Einschüchtern. Nachteile der Dominanzhierarchie liegen darin, dass sie wenig Raum für Kreativität und persönliche Belange lässt. Es wäre demnach schlüssig, dass Männer sich innerhalb der Hierarchie klaglos unterordnen und auf ihre Chance warten, aber auch, dass sie darum kämpfen, eine bessere Position zu erreichen. Die Frauen zugeschriebene Geltungshierarchie findet dagegen im Bild des Krabbenkorbs ihren Ausdruck. Gefangene Krabben in einen Korb versuchen zwar unablässig, an der Korbwand hochzukriechen, und ein Stück weit gelingt ihnen das auch. Aber bald sind andere Krabben zur Stelle, die in ihnen eine willkommene Treppenstufe sehen und sie ihrerseits zu besteigen suchen, woraufhin beide gemeinsam unter der Überlast auf den Korbboden zurückfallen und das Spiel von Neuem beginnt. Dieses Bild bedeutet, dass Frauen sich gegenseitig daran hindern aufzusteigen und deswegen auch keine dauerhafte Hierarchie aufbauen können. Weibliche Rangordnungen sind in dieser Perspektive konfliktanfällig und instabil. Vorzüge der Geltungshierarchie liegen in der egalitären Struktur, in der sich Meinungsvielfalt entwickeln kann und in der die Anliegen der Einzelnen zur Geltung kommen. Nachteile liegen laut der Unternehmensberaterin Mechtild Erpenbeck darin, dass Frauen »Konkurrenz oft auf eine unterschwellige Weise aus[-tragen], die die Kommunikation blockiert und Entscheidungen verschleppt. Am Ende muss meistens eine von beiden gehen

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[…] Frauen orientieren sich weniger an formalen Rollen als an Persönlichkeit. Bei ihnen nistet sich im Fall der Niederlage leicht das Gefühl persönlicher Vernichtung ein« (Die Zeit, Nr. 51, S. 24). Frauen haben es möglicherweise nicht gelernt, einer anderen Frau Anerkennung auf Grund ihrer Position zu geben. Eine Frau muss sich durch Taten beweisen. Nach dieser These wäre es nachzuvollziehen, wenn Frauen am Aufstieg als solchem nicht gelegen ist, sondern nur dann, wenn sich daran besondere Inhalte knüpfen. Einige Studienergebnisse unterstützen die These des geschlechtsspezifischen Konkurrenzverhaltens, wenn auch nur schwach. Nach der Studie von Bischoff (2005, S. 264) kritisieren Frauen an Frauen an erster Stelle Rivalität, Konkurrenzdenken, Neid, Eifersucht und Machtkämpfe (sie loben jedoch auch »bessere Kommunikation«, was im Übrigen auch Männer an Frauen schätzen!). Die Studie von Wunderer und Dick (1997, S. 121) ergab, dass weibliche Führungskräfte mit Frauen und Männern mehrheitlich keine unterschiedlichen Erfahrungen machen. Sofern jedoch Unterschiede gesehen werden, fallen diese durchwegs zugunsten der Männer aus. So haben 23 Prozent mit männlichen Kollegen, 33 Prozent mit männlichen Vorgesetzten und 12 Prozent mit männlichen Mitarbeitern bessere Erfahrungen gemacht als mit Frauen, für die die entsprechenden Werte 13, 9 und 7 Prozent betragen. Dagegen haben 16 Prozent der männlichen Führungskräfte bessere Erfahrungen mit weiblichen als mit männlichen Mitarbeitern gemacht. Weibliche Vorgesetzte scheinen mehr Akzeptanzprobleme von Seiten der weiblichen Untergebenen zu haben als männliche Vorgesetzte. Es ist denkbar, dass die oben beschriebene Statusinkongruenz zwischen Position und Geschlecht dazu führt, dass an weibliche Vorgesetzte andere Wünsche gerichtet werden als an männliche. Diese Wünsche beziehen sich auf einen weiblichen Führungsstil, Einfühlungsvermögen, Fürsorge, Wärme und Verständnis für die weiblichen Unterstellten (Cordes 2001, S. 71). Unterschiedliches Konkurrenzverhalten könnte wiederum auf geschlechtsspezifische Sozialisation zurückgeführt werden (z. B. Lehner 2002). Innerhalb der bei uns herrschenden familialen Arbeitsteilung ist die Mutter, wie schon oben beschrieben, das emotionale Zentrum der Familie und der Vater trotz gestiegener Beteiligung an Familienaufgaben zumindest auf der fürsorglich-

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gefühlsmäßigen Ebene der »Abwesende«. Die starke Bindung an die Mutter, die in dieser Form zum Vater nicht existiert, führt erstens dazu, dass sich Männlichkeit ohne intensive körperlich-emotionale Beziehung zu einer männlichen Bezugsperson entwickelt und zu einem emotionslosen, abstrakten, wenig sicheren Ideal wird. Zweitens trägt es dazu bei, dass Jungen im Ablösungsprozess von der Mutter und auf der Suche nach ihrer männlichen Identität mehr oder weniger sich selbst und ihren Freunden überlassen sind. In der Auseinandersetzung mit den Spielkameraden entwickeln sie hierarchische Über- und Unterordnungsverhältnisse, um Konflikte zu regeln, aber auch Strategien, ihre Position innerhalb der Gruppe zu verbessern, das heißt Konkurrenzverhalten (Lehner 2002, S. 27). Männlichkeit bedeutet dann: sich durchsetzen, keine Schwäche zeigen, sich möglichst gut positionieren, sichtbare Ziele erreichen. Weibliche Sozialisation findet dagegen weniger in gleichaltrigen Mädchengruppen statt und ist weniger mit Konflikt regulierenden Auseinandersetzungen verbunden. Dadurch wäre verständlich, dass Frauen einen anderen Umgang mit Konkurrenz aufweisen. Womöglich sind jedoch die Konflikte zwischen traditionell und nichttraditionell lebenden Frauen größer als zwischen Frauen und Männern, da die gegenseitige Anerkennung nicht selbstverständlich ist. Die »traditionelle« Frau reagiert mit Neid auf den Status und die Unabhängigkeit der Karrierefrau, die ihr »vormacht«, was auch für sie zumindest theoretisch möglich gewesen wäre. Die Karrierefrau hat aber auch Grund zum Neid, nämlich auf die geradlinige Identitätsbildung der traditionellen Frau und deren Akzeptanz von anderen Frauen und Männern, eine Akzeptanz, die sich die Führungsfrau erst verdienen muss. Denn als Abweichlerin muss sie beweisen, dass sie trotzdem eine richtige Frau ist. Das Thema »Konkurrenz unter Frauen« ist weithin ein Tabu und auch in der Wissenschaft wenig untersucht. Um so sinnvoller ist es, Konkurrenz in Beratungssituationen anzusprechen und zu verstehen, warum eine Frau eine bestimmte Strategie gewählt hat. An dieser Stelle ist die Bemerkung angebracht, dass differenztheoretische Ansätze, die den Thesen geschlechtsspezifischer Konkurrenz oder Sozialisationsverläufe zugrunde liegen, dazu verleiten, Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu verstärken

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und Gemeinsamkeiten zu übersehen. In der Praxis erbringen Untersuchungen an realen Frauen und Männern in Führungspositionen immer wieder das Ergebnis, dass die Unterschiede zwischen Frauen und Männern wesentlich geringer sind als angenommen, zum einen was emotionales versus autoritäres Verhalten oder Leistungs- und Mitarbeiterorientierung betrifft, zum anderen was die Effizienz, das heißt den Führungserfolg angeht (Wunderer u. Dick 1997; Bischoff 2005). Dennoch ist es wichtig, in der Beratungssituation daran zu denken, dass der individuelle Fall nicht unabhängig von Geschlecht zu verstehen und zu beraten ist. Die genannten Thesen sollten als eine Art Fundgrube betrachtet werden, die dabei hilft, den Blick zu schärfen für mögliche genderrelevante Ursachen von Konflikten, ohne dass dies im Einzelfall so sein muss.

■ Gute Ratschläge Im Rahmen von Beratung und Coaching möchte ich noch auf die Literaturgattung der Ratgeberbücher eingehen. Denn viele Frauen suchen sich nicht einen Coach, sondern lesen ein Buch über Karriere. Wie sind die dortigen Ratschläge zu bewerten? Zunächst ist zu sagen, dass es eine schier unendliche Zahl an Ratgebern für karrierewillige Frauen gibt. Einige davon haben einen vorwurfsvollen Tenor: Frauen seien selbst schuld, dass sie so rar in höheren Hierarchiestufen vertreten seien, denn sie hätten kein Durchhaltevermögen, wählten den »Heldennotausgang« Mutterschaft und Familie – so die Autorin Barbara Bierach in ihrem Buch »Das dämliche Geschlecht« – und wollten einfach nicht um die Macht kämpfen. Weniger drastisch, aber mit ähnlichen Argumenten bekommen Frauen zu hören, sie würden zu wenig ihre Fahne schwenken, sie könnten nicht mit Macht umgehen, und sie hätten einen Hang zur Selbstverneinung. Rubin (1998) führt in ihrem Buch »Machiavelli für Frauen« aus: »Zwischen vielen Frauen und ihrer Fähigkeit zu bekommen, was sie wollen, steht ihr Hang zur Selbstverneinung. Jede von uns hat diese Selbstverneinung schon in ihrem Verhalten gegenüber Essen und Appetit manifestiert gesehen, wo sie manchmal die extreme Form der Magersucht

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annimmt. Aber Magersucht ist nur ein Symptom für einen tieferen Aspekt der Selbstverneinung: die Sehnsucht nach Machtlosigkeit« (Rubin 1998, S. 95). Es scheint so, dass »frau sich selbst im Wege steht«, wie die Ratgeberautorin Renate Haen (2000, S. 94f.) schreibt. Kreissl (2000) meint, dass Frauen nicht mit Macht umgehen könnten, denn es ginge ihnen um die Sache, sie argumentierten moralisch und bauten ihre Politik auf Prinzipien auf. Gerne suchten sie Fehler bei sich selbst. Er gibt den Tipp, Macht nicht allzu ernst zu nehmen, sondern ihr mit Gleichgültigkeit und Gelassenheit zu begegnen. Folgerichtig wird Frauen mehr Selbstvertrauen empfohlen, aber auch ein geschickterer Umgang mit der Macht. »Die Kunst des Klüngelns«, heißt ein Erfolgsratgeber (Hausladen 2001). Frauen sollen die Spiele der Männer zu spielen wissen, die Mutter ihnen nicht beigebracht hat – so der Titel eines Buches aus den 1970er Jahren von Betty Harragan (1977). Sie sollen aber noch einen Schritt weiter gehen: nämlich jederzeit aussteigen können und nach eigenen Regeln weiter spielen – eine souveräne Anpassung an wechselnde Anforderungen und Konkurrenzverhältnisse. Das Geschlecht wird in den Dienst des Erfolgs gestellt. Skrupel werden dabei über Bord geworfen, es gilt, männliche Taktiken ohne schlechtes Gewissen zu übernehmen. Eine Schlüsselstellung in Erfolgsratgebern haben »Selbst«-Wörter: Selbstbewusstsein, Selbstachtung, Selbstvertrauen, Selbstverantwortung (Bröckling 2002). In den Büchern wird die immer währende Debatte aufgegriffen, ob Frauen sich der Männerwelt in ihren Werten anpassen müssen, um in die Chefetagen und an die Macht zu kommen, oder ob Frauen gerade das Gegenteil tun sollen, nämlich ihre spezifisch weiblichen Stärken wie Kommunikationsfähigkeit und Teamorientierung ausspielen. Manche Rategeber favorisieren eine der beiden Strategien. Der Trend geht jedoch zum Identity-Switching, zum taktischen Einsatz eines situationsangemessenen Verhaltensrepertoires, das aber nicht unecht oder taktisch wirken darf, sondern Teil der weiblichen Identität sein soll. Frauen wird also zu einem mühelosen Agieren in der politischen Arena der Organisation geraten, das viele Männer – bei weitem nicht alle – bereits beherrschen. Vernachlässigt wird zum einen die Frage der Kosten dieser Strategie, die auch bei Männern anfallen: mögliche Selbstent-

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fremdung, Ausschalten von Gefühlen wie Angst und Mitleid, der Zwang, dauernd Stärke zeigen zu müssen. In Beratungssituationen drücken auch Männer ihre Probleme mit der Daueranspannung aus, ständig auf der Hut vor Gegnern und Intrigen sein zu müssen. Ratgeberbücher tun gerne so, als sei der Erfolg genug Belohnung für die Mühe. Zum anderen wird die Frage der Aneignung dieser Strategien nicht geklärt. Hier können Berater sinnvolle Hilfestellung geben, einerseits praktischer Natur, indem schwierige Situationen mit verschiedenen Handlungsmöglichkeiten durchgespielt werden, andererseits auf reflektierendem Niveau, indem Skrupel, aber auch Blockaden ernst genommen und bearbeitet werden, die mit mikropolitischen Taktiken verbunden sind.

■ Fazit Frauen und Männer arbeiten unter verschiedenen Bedingungen – das hat die Genderforschung zur Genüge herausgearbeitet. Arbeitsplätze sind geschlechtstypisch markiert, Arbeitsgruppen asymmetrisch zusammengesetzt, Geschlechter ungleich auf die Hierarchien verteilt, private Lebensumstände unterscheiden sich, Verhaltensweisen von Frauen und Männern werden unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet … Bei all dem ist es fast schon verwunderlich, dass es gerade im Führungsbereich Situationen geben mag, die wenig mit Geschlecht zu tun haben, nämlich dann, wenn die Situation selbst derart starke Vorgaben macht, dass individuelle Merkmale wie Führungsstil, Geschlecht oder Eigenschaften kaum eine Rolle spielen. In solch »starken Situationen« handeln alle Beteiligten ungefähr gleich. Nach dem Ansatz der Mikropolitik gibt es aber in jeder Situation Handlungsspielräume und diese sind nicht selten, wie der Beitrag zeigen wollte, geschlechtstypisch geprägt. Frauen werden spezifische Handlungskorridore eröffnet (weibliche Rollen übernehmen, »weibliche« Fähigkeiten einbringen), andere zu verschließen versucht (Integration in die Männergruppe, informelle Aufnahme), um ihre Macht zu begrenzen. Sie scheinen Macht einen anderen Stellenwert zu geben als Männer, was angesichts der engen Verzah-

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nung von Männlichkeitsvorstellungen und Macht auf der einen Seite und Weiblichkeitsvorstellungen und Machtlosigkeit auf der anderen Seite kein Wunder ist. Damit ist aber kein Festgelegtsein auf bestimmte Verhaltensmuster verbunden. Handlungen können gemäß dem mikropolitischen Ansatz überdacht, revidiert, neu entwickelt, verworfen, ausprobiert, trainiert werden. Hier wird die Rolle des Beraters sichtbar: Gerade Frauen in Führungspositionen befinden sich oft im Minderheitenstatus und sind in Gefahr, die dominanten Deutungsmuster der Mehrheit zu übernehmen oder mangels Rollenvorbildern keine alternativen Handlungsmöglichkeiten für sich zu erkennen. Zuweilen werden Probleme auch zu schnell auf Geschlecht attribuiert, weil es sich als sichtbares Merkmal von alleine anbietet. Ein gendersensibler Berater kann helfen, geschlechtsspezifische Ursachen von Konflikten zu erkennen, muss aber auch prüfen, ob nicht eine konkrete Situation relativ geschlechtsunabhängig zu analysieren ist.

■ Literatur Accenture (2002): Aufstiegschancen und -hindernisse für weibliche Führungskräfte (www.accenture.de/index2html?/4publika/index.jsp, Zugriff am 20.8.2004). Bayes, M.; Newton, P. M. (1989): Frauen an der Macht: eine sozialpsychologische Analyse. Organisationsentwicklung 8 (1): 47–62. Bierach, B. (2001): Cherchez la femme! Wirtschaftswoche 4: 72–77. Bischoff, S. (2001): Frauen in Führungspositionen: Mythos, Realität und Zukunft. Personalführung 3: 28–33. Bischoff, S. (2005): Wer führt in (die) Zukunft? Männer und Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft in Deutschland. Bielefeld. Bischof-Köhler, D. (2002): Geschlechtstypische Besonderheiten im Konkurrenzverhalten: Evolutionäre Grundlagen und entwicklungspsychologische Fakten. In: Wolf, M. (Hg.): Frauen und Männer in Organisationen und Leitungsfunktionen. Frankfurt a. M., S. 91–124. Bröckling, U. (2002): Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter. Gender-Konstruktionen in Erfolgsratgebern. Leviathan 2: 175–194. Connell, R. (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen. Cordes, M. (2001): Chefinnen. Zur Akzeptanz von weiblichen Vorgesetzten bei Frauen. Opladen. Eckes, T. (1997): Geschlechterstereotype. Pfaffenweiler.

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Frenzel, K. (2001): Frauen und Führung. Bleibt Dornröschen ungeküsst? (www.sys-kom.de/relaunch/files/Frauen_und_Fuehrung.pdf, Zugriff am 1.9.2004). Haen, R. (2000): Das Zicken-Prinzip: der weibliche Weg zu Ruhm und Glück. München. Harragan, B. L. (1977): Games Mother Never Taught You. Corporate gamesmanship for women. New York. Hausladen, A. (2001): Die Kunst des Klüngelns. Reinbek bei Hamburg. Helgesen, S. (1992): Frauen führen anders: Vorteile eines neuen Führungsstils. 3. Aufl. Frankfurt a. M. Hochschild, A. (1990): Das gekaufte Herz. Frankfurt a. M. Höhler, G. (2002): Wölfin unter Wölfen: warum Männer ohne Frauen Fehler machen. München. Kreissl, R. (2000): Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nase voraus ist. München. Lehner, E. (2002): Die Organisation als Männerbund. In: Wolf, M. (Hg.): Frauen und Männer in Organisationen und Leitungsfunktionen. Frankfurt a. M., S. 19–36. Lehnert, N. (1999): »… und jetzt wollen Sie uns wieder in die Frauenecke stellen!« Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in den Vorstellungen von Frauenförderung. Bielefeld. Macha, H. (2000): Erfolgreiche Frauen: wie sie wurden, was sie sind. Frankfurt a. M. Neuberger, O. (1995): Mikropolitik. Der alltägliche Aufbau und Einsatz von Macht in Organisationen. Stuttgart. Peinelt-Jordan, K. (2004): Elternzeit auch für Männer?! In: Krell, G. (Hg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik. Wiesbaden, S. 297–305. Rastetter, D. (1997): Mann gegen Frau. Mikropolitik der Geschlechter. Kurswechsel 3: 55–65. Rastetter, D. (1998): Männerbund Management. Zeitschrift für Personalforschung 12 (2): 167–186. Rastetter, D. (2005): Gleichstellung contra Vergemeinschaftung. Das Management als Männerbund. In: Krell, G. (Hg.): Betriebswirtschaftslehre und Gender Studies. Wiesbaden, S. 247–266. Rubin, H. (1998): Machiavelli für Frauen. Frankfurt a. M. Wunderer, R.; Dick, P. (1997): Frauen im Management. Kompetenzen, Führungsstile, Fördermodelle. Berlin.

■ Rolf Haubl

Bescheidenheit ist keine Zier Enttabuisierung weiblicher Aggression in Organisationen

Machtstreben sowie der Gebrauch und Missbrauch von Macht sind im organisationswissenschaftlichen Diskurs um »Führung« nach wie vor eher randständige Themen (vgl. Haubl 2005). Ist Macht in Organisationen die Fähigkeit, eigene Interessen gegen den Widerstand anderer Organisationsmitglieder durchzusetzen, dann gibt es keine Macht ohne Aggression. Denn Aggression lässt sich als ihre – wenn man es so sagen will – Triebgrundlage begreifen, die sich emotional als Ärger und Wut über den angetroffenen Widerstand manifestieren kann. Ruft der Widerstand dagegen Angst hervor, wird ein Machtkampf eher zu meiden gesucht. Machtmittel sind Mittel, die Organisationsmitglieder einsetzen, um den Widerstand gegen die Durchsetzung ihrer Interessen, der sie ärgert und der sie wütend macht, zu überwinden. Um dabei Erfolg zu haben, bedarf es einer angemessenen Einschätzung, wie groß die Gegenmacht ist, die den Widerstand unterhält. Und auch diese Gegenmacht kann von Ärger und Wut getragen sein, weil Aggressionen nicht nur Angst, sondern wiederum Aggressionen hervorrufen. Es gibt nichts, was nicht unter bestimmten Bedingungen als Machtmittel dienen könnte. Sogar Emotionen sind als Machtmittel zu gebrauchen und zwar durch Emotionsmanagement: Wer so wütet, dass er andere erschreckt, erreicht damit vielleicht, dass sie keinen Widerstand gegen die Durchsetzung seiner Interessen leisten. Wer unerschrocken bleibt, wenn andere wüten, bringt sie vielleicht davon ab, ihre Interessen durchsetzen zu wollen. Allerdings verlangt Emotionsmanagement eine distanzierungsfähige Emotionalität. Nur wer seinen Emotionen selbst nicht erliegt, kann sie kalkuliert einsetzen.

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■ Aggressionshemmung als Karrierehandicap von Frauen Leitungskräfte benötigen ein unverkrampftes Verhältnis zu ihren Aggressionen. Personen mit einer Aggressionshemmung zeigen nur ein schwaches Machtstreben, was verhindert, dass sie in Leitungspositionen aufsteigen oder dass sie eine solche Position bald wieder räumen, obwohl sie ansonsten sehr geeignet sein mögen. Dieses Problem ist nicht geschlechtsneutral (vgl. Goodrich 1994). Es sind vor allem Frauen mit einer traditionellen Geschlechtsrollenorientierung oder mehr noch: einem traditionellen Geschlechtsrollencharakter, die sich als aggressionsgehemmt erweisen. Die Schwierigkeiten, die sie mit der Ausübung von Macht haben und sei es die Macht, die ihnen aufgrund ihrer Position legitimer Weise zur Verfügung steht, wurzelt – so die zugespitzte These – in einer Angst, ihre Aggressionen auszudrücken oder überhaupt nur zu spüren. Dass dies ein Karrierehandicap ist, wird nicht selten durch die Zuschreibung einer konstitutionellen Friedfertigkeit verdeckt, mit der Frauen ihre Ohnmacht in Männerbünden als größere Zivilisiertheit schön geredet werden soll. Die »friedfertige Frau« (M. Mitscherlich 1985) aber ist ein Mythos, gegen den es Einspruch zu erheben gilt, gerade weil er die wohlfeile Gratifikation bereit hält, Männer stereotyp als Barbaren erscheinen zu lassen. Mögen sich die Geschlechter auch »in der Verarbeitung und Äußerung aggressiver Impulse« unterscheiden, sind dennoch »bei beiden Geschlechtern, von Geburt an, aggressive Potentiale vorhanden und können jederzeit geweckt werden. Sie werden auch gebraucht, um Aktivität, Individuation, Abgrenzungsfähigkeit [von Kindheit an] zu fördern« (M. Mitscherlich 1985, S. 181). Folglich müssen Frauen lernen, ihre Aggressivität zu bejahen, um in Machtkämpfen bestehen zu können. Der Kampf um knappe Güter, wie es Leitungspositionen in Organisationen sind, gehört dazu (vgl. Bernstein 1979). Wenn sich Frauen zu Recht über die »gläserne Decke« empören, wonach ihnen Top-Positionen in Aussicht gestellt werden, die sie aber nicht erreichen (Klenke 1996, S. 171ff.), darf dennoch nicht übersehen werden, dass äußere Hindernisse meist durch innerpsychische Hemmungen verstärkt werden. Gelegentlich muss eine Fixierung auf äußere Hindernisse

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sogar dafür herhalten, sich eine Auseinandersetzung mit innerpsychischen Hemmungen zu ersparen. Verlangt Machtstreben und Machtgebrauch »gekonnte Aggression« (A. Mitscherlich 1978, S. 181), so scheitern vor allem Frauen mit einem traditionellen Geschlechtsrollencharakter an der Übernahme von Leitungspositionen, wenn sie überhaupt den Anspruch auf solche Positionen erheben, weil sie Selbstbehauptung als destruktiv erleben, mithin Aggressivität und Destruktivität kurz schließen. Dadurch erschrecken sie leicht vor sich selbst, wenn sie ihre eigenen aggressiven Impulse spüren. Deshalb suchen sie eine solche Selbstkonfrontation zu vermeiden, indem sie sich eine vorauseilende Kompromissbereitschaft oder gar notorische Bescheidenheit verordnen. Anders, wenn es darum geht, für andere einzutreten. Gerade der Schutz von Schwachen nach dem Muster des Schutzes von Kindern durchbricht ihre Reaktionsbildung. Um sie zu verteidigen, gewinnen Frauen einen Zugang zu einer Aggression, die sie oft selbst nicht für möglich gehalten haben. Aggression, um die Selbstbehauptung anderer Menschen zu unterstützen, gelingt ihnen besser, als sich selbst zu behaupten. Der Kurzschluss von Aggression und Destruktion ist auch ein Problem von Aggressionstheorien. Gerade Triebtheorien verleiten zu einer Dämonisierung der Aggression und tragen dadurch zu deren undifferenzierter Tabuisierung bei. Um die Idee einer gekonnten Aggression plausibel zu machen, eignen sich Motivationstheorien wie die von J. Lichtenberg (1991) besser. Er unterscheidet fünf voneinander unabhängige Motivationssysteme, von denen zwei für das Schicksal der Aggression besonders relevant sind: die Systeme der Assertion und der Aversion. Das System der Assertion beruht auf dem grundlegenden Bedürfnis von Menschen, sich selbst zu behaupten. Selbstbehauptung ist dabei nichts Statisches, sondern ein Prozess der Erweiterung von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, weshalb das Konzept, das Lichtberg formuliert, Selbstbehauptung und Exploration zusammenbringt. Das Motivationssystem der Aversion springt nicht zuletzt dann an, wenn Menschen daran gehindert werden, sich selbst zu behaupten und ihre Entwicklungschancen zu explorieren. Auf solche Behinderungen reagieren sie entweder mit Ärger und Wut oder mit Angst. Während Ärger und Wut zu

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Angriffen führen, die das Ziel haben, die Behinderung zu beseitigen (Kampf), führt Angst zu Rückzug und künftiger Vermeidung (Flucht). Als Reaktionstyp zwischen Kampf und Flucht lässt sich der Trotz nennen. Wer trotzt, hält stand, obwohl er fliehen möchte, und gibt sich kämpferisch, obwohl er um seine Unterlegenheit weiß. L. Wurmser (1987, S. 37f.) spricht deshalb treffend von einer »Waffe der Verzweiflung«, die dem »Selbstschutz bei Schwäche und Demütigung« dient. Das Zusammenwirken der Motivationssysteme der Assertion und der Aversion erzeugt eine Aggression, die primär nicht destruktiv ist und zwar solange nicht, wie sie nicht auf die Schädigung derer zielt, die eine explorative Selbstbehauptung behindern. Wo Schädigungen in Kauf genommen oder gar intendiert werden, beginnt die Destruktion. Sie nimmt in dem Maße zu, in dem die Grausamkeit steigt, mit der die Schädigungen erfolgen. Dies schließt Selbstschädigungen ein, die daraus resultieren, dass sich Menschen selbst zum Feind werden. Schädigung oder gar Vernichtung sind extreme Formen, Kontrolle auszuüben. In ein entwicklungslogisches Modell gebracht, lassen sich vier Entwicklungsstufen im Verhältnis von Fremdkontrolle und Selbstkontrolle aggressiver Impulse unterscheiden: von anderen kontrolliert werden – sich selbst kontrollieren – andere kontrollieren – situationsspezifisch angepasst kontrollieren, was Kontrollverzicht einschließt. Selbstbehauptung impliziert, sich der Kontrolle durch andere Menschen entziehen zu können. Dazu muss man sich selbst kontrollieren können, weil Selbstkontrolle eine Voraussetzung für Ziel führendes, weil überlegtes Handeln ist. Wer sich selbst kontrollieren kann, vermag auch andere Menschen zu kontrollieren, soweit er überlegene Kräfte besitzt. Die höchste Form der Selbstbehauptung setzt eine situationsbezogene Bilanzierung der eigenen Kräfte im Vergleich mit den Kräften anderer Menschen voraus, wobei auch überlegene Kräfte »verhältnismäßig« eingesetzt werden. Ein typischer Fall, in dem Frauen mit einer traditionellen Geschlechtsrollenorientierung ihre aggressiven Impulse als destruktiv erleben, sind Trennungsaggressionen (vgl. Miller et al. 1981). So halten sie immer wieder Beziehungen aufrecht, die ihnen

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schaden, weil sie eine Trennung nicht als Selbstbehauptung erleben, sondern als Zerstörung des anderen Menschen, weshalb sie auf ihre Wünsche, sich von ihm zu trennen, mit Schuldgefühlen reagieren. Gleichzeitig birgt diese Zerstörungsphantasie aber eine verheimlichte narzisstische Gratifikation: Wenn die betreffenden Frauen diejenigen Menschen zerstören, von denen sie sich trennen, sind sie selbst lebenswichtig – so lebenswichtig, wie sie gerne für jene wären. Indem sie derart ihre Trennungsaggression dämonisieren (vgl. auch Rohde-Dachser 1990, S. 36f.), produzieren sie eine ängstliche Aggressionshemmung, in der sie auf entstellte Weise sich selbst genießen.

■ Mangelnder Selbstwertschutz von Frauen Die Aggressionshemmung von Frauen wird von weiteren Faktoren flankiert, die für eine Erfolg versprechende Selbstbehauptung gerade im Beruf hinderlich sind: zum einen ihre – im Vergleich mit Männern, die einen traditionellen Geschlechtsrollencharakter haben – geringere Fähigkeit und Bereitschaft zur Spaltung von Person und Handlung, zum anderen ihre weniger selbstwertdienliche Ursachenzuschreibung für Erfolg und Misserfolg. Während die Männer die Ergebnisse ihres Handelns nicht »persönlich« nehmen, da sie ihr Handeln von ihrer Person trennen, neigen Frauen zum Gegenteil: Sie erleben die Ergebnisse ihres Handelns als Urteile über ihre Person. Gilt das zunächst generell für Erfolg und Misserfolg, so kommt erschwerend hinzu, dass Frauen dazu neigen, die Ursache für ihre Erfolge günstigen äußeren Umständen zuzuschreiben, dagegen Misserfolge als Belege für ihre mangelnden Fähigkeiten zu nehmen. Im Unterschied dazu schreiben die Männer die Ursachen für ihre Misserfolge ungünstigen äußeren Umständen und ihre Erfolge ihren Fähigkeiten zu, was ihren Selbstwert schützt. Diese »positive Einschätzung der eigenen Fähigkeit« impliziert die »Neigung, sich auch einmal zu überschätzen und sich auch dort etwas zuzutrauen, wo die Erfahrung eigentlich gezeigt hat, dass man nicht so gut ist«, während Frauen dazu neigen, »das eigene Können selbst bei gegenteiligen

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Erfahrungen zu unterschätzen« (Bischof-Köhler 2002, S. 114). Mehr noch: Gehört der Abwehrmechanismus der Spaltung zur habituellen psychischen Ausstattung von Männern mit einem traditionellen Geschlechtsrollencharakter, so bewirkt dieser Mechanismus, dass Misserfolge keinen psychischen Niederschlag finden, weshalb es ihnen gelingt, umgehend einen neuen Versuch mit einer hohen Erfolgserwartung zu starten. Was Frauen – provokant formuliert – schon mal als habituelle »Lernbehinderung« von Männern erscheint, ist ein wirksames Anti-Depressivum, das Frauen nicht parat haben, da ihnen alles, was sie tun oder lassen, »nachhängt«. Sie benötigen für ihre Erlebnisse längere psychische Verarbeitungszeiten mit dem Risiko einer depressiven Selbstlähmung (vgl. Alsaker 2002). Keine Frage, dass beide Strategien ihre je eigenen Vor- und Nachteile haben. Unter den Bedingungen einer scharfen Konkurrenz um knappe Güter wie etwa Leitungspositionen sind Frauen mit der skizzierten psychischen Ausstattung benachteiligt, da sie sehr viel defensiver agieren: Sie melden Leitungsansprüche nicht offensiv genug an und stellen die Leistungen, die diese Ansprüche rechtfertigen, nicht sichtbar genug heraus. Sie reagieren so defensiv, weil sie, indem sie alle Handlungsergebnisse, vor allem aber die Misserfolge »persönlich« nehmen, in Konkurrenzsituationen psychisch mehr riskieren. Dementsprechend setzen Frauen mikropolitisch auch die defensiveren Machtmittel ein. Wie weit die beschriebenen Unterschiede zwischen Frauen und Männern soziobiologisch determiniert sind, sei an dieser Stelle dahingestellt. Auch wenn dem so wäre, lässt sich daraus nicht der Schluss ableiten, Männer seien die »geborenen« Leiter. Denn die »Natur« der Geschlechter resultiert zu einem maßgeblichen Teil aus der Verkörperung historisch-kulturell-gesellschaftlich bestimmter sozialer Praxis, ganz im Sinne von P. Bourdieu (1977), der geschlechtsspezifische Sozialisation als einen Prozess begreift, der nicht nur das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen formiert, sondern sogar deren Körper. Im Verlauf dieses Formierungsprozesses »konstruiert die soziale Welt den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und in eins als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien« (Bourdieu 1977, S. 167).

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■ Aggressionshemmung als Fokus im Coaching von Frauen Kein Tabu, auch das Tabu der weiblichen Aggression nicht, ist für alle Ewigkeiten festgeschrieben. Es unterliegt historisch-kulturellgesellschaftlichen Veränderungen (Rohde-Dachser u. MengeHerrmann 1995, S. 79). Dennoch wäre es verfrüht, bereits von einer Enttabuisierung zu sprechen. Frauen tun sich nach wie vor mit ihren aggressiven Impulsen schwer. Und nicht nur Frauen mit einem traditionellen Geschlechtsrollencharakter. Schwierigkeiten haben auch Frauen, die bewusst längst einem anderen Frauenbild folgen. Denn das Erleben bleibt in der Regel hinter dem Bewusstsein zurück. Der notorische Verweis auf gesellschaftliche Zwänge hilft da nicht weiter. Für Frauen gilt es, sich den innerpsychischen Aggressionshemmungen zu stellen, über die T. Musfeld (1997, S. 98) urteilt, sie würden der unbewussten »Herstellung und Inszenierung eigener Handlungseinschränkungen« oder sogar der »Selbstkolonialisierung« dienen. Damit sind auch Stichworte geliefert, die für die Supervision oder das Coaching von Frauen – zwischen beiden Beratungsformen soll an dieser Stelle nicht unterschieden werden (vgl. aber Schreyögg 2005) – relevant sind. Bislang fehlt es an konzeptuellen Überlegungen zu einer gendersensiblen (psychodynamischen) Thematisierung von Machtfragen in der Supervisions- und Coaching-Praxis (vgl. aber Haubl 2006, S. 63ff.; Schreyögg 2001). Ich kann an dieser Stelle eine solche Konzeptualisierung nicht bieten, möchte aber anhand von drei Coaching-Fällen auf Phänomene aufmerksam machen, die bei einer solchen Konzeptualisierung reflektiert werden sollten. Alle drei Frauen haben bei mir Coaching nachgefragt. Bereits in der ersten Sitzung hat sich als einer der vorrangigen Problemstränge eine Variante der hier skizzierten Aggressionshemmung herausgestellt, die dann in einem Zeitraum zwischen vier und fünfzehn Sitzungen bearbeitet worden ist. Katamnestische Kommentare der Frauen sprechen von einem (subjektiven) Erfolg des Coachings, was darauf hinweisen mag, dass der Fokus nicht falsch gewählt gewesen ist. Die Sitzungen sind auf Tonträger aufgezeichnet und transkribiert worden. Ich zitiere aus diesen Transkripten

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und zwar so, dass die Anonymität der Frauen möglichst gewahrt bleibt. Gleiches gilt für die Kontextinformationen. Die transkribierten Äußerungen der Frauen werden samt der Beziehungsentwicklung während der Coaching-Sitzungen psychodynamisch interpretiert, allerdings nur in den Passagen, die für das Thema des Machtstrebens und Machtgebrauchs relevant sind.

■ Frau A Frau A ist Leiterin einer medizinischen Abteilung. Die Leiter aller anderen Abteilungen sind Männer. Obwohl mit einer Leitungsfunktion betraut, ist sie von ihrem beruflichen Status her im Vergleich mit den Männern aber von niedrigerem Rang. Zudem hat sie einen Teil ihrer beruflichen Qualifizierung in einer der anderen Abteilungen absolviert, bevor sie die Leitung ihrer Abteilung erhielt. Die Erinnerung an diese Qualifizierungsmaßnahme ruft bei Frau A brennende Scham hervor, da es ihr nicht gelungen ist, sich in dieser Abteilung, die einen ausgesprochen männlich-dominanten Berufshabitus pflegt, erfolgreich zu qualifizieren. Mit den damaligen Kollegen, vor denen sie sich blamiert zu haben glaubt, hat sie auch heute noch zu tun. Abteilungsleiterin ist sie nur mit halber Stelle, mit der anderen Hälfte dagegen Mitarbeiterin in der Abteilung, in der sie einst ihre Qualifizierungsmaßnahme abgebrochen hat. Gleichzeitig Vorgesetzte und Untergebene zu sein, erzeugt Rollendiffusion. Gerade die Kollegen aus der Abteilung, in der sie Mitarbeiterin ist, bereiten ihr die größten Koordinationsprobleme. Sucht sie diese Abteilung auf, geht sie in ihrer Abteilung als Vorgesetzte los und kommt dort als Untergebene an! Infolgedessen wagt sie es nicht, sich mit dem Leiter dieser Abteilung auf kurzem Weg in Verbindung zu setzen, wie es unter Gleichgestellten möglich ist. Stattdessen sucht sie den Weg über seine Sekretärin und lässt sich von ihr vertrösten. Sie nimmt es hin und ist gleichzeitig ärgerlich, kann ihren Ärger aber nicht ausdrücken, was ihr selbst rätselhaft erscheint. Als sie Coaching nachfragt, liegt es erst ein paar Monate zurück, dass sie ihre Abteilung übernommen hat. Obgleich sie die Entscheidung der Organisation, ihr die Leitungsfunktion zu über-

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tragen, als Bestätigung ihrer Eignung beurteilt, kann sie sich nicht erklären, warum sie sich selbst in Alltagssituationen gegenüber ihren männlichen Kollegen nicht zu behaupten weiß, besonders nicht gegenüber denen, die sie noch von der damaligen Qualifizierungsmaßnahme her kennen. Es ist eine wiederkehrende Situation, die sie nicht bewältigt: Zu ihren Aufgaben gehört, bestimmte Leistungen für die anderen Abteilungen zu erbringen, was verlangt, sich mit ihnen abzustimmen. Diese Abstimmung gelingt nicht recht, weil sie meist unter großem Handlungsdruck zwischen Tür und Angel stattfindet und auf ihre Kosten geht. Denn niemand nimmt auf sie Rücksicht. Alle sind nur auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen bedacht. Mit solchen Rücksichtslosigkeiten könne sie nicht umgehen: »Ich fühle mich wie so ’ne Zicke, die beleidigt ist […] also dass ich mich da rausnehmen kann und irgendwie einfach mal was einfordern kann, das funktioniert irgendwie nicht. Ich denke, ich reagiere über. Ich kann das überhaupt nicht mehr einschätzen, ob ich mich angemessen verhalte. Ich hab das Gefühl, ich klappe aber auch immer wieder als, wie soll ich sagen, als Gegenpol oder als Leitung, die ja irgendwie präsent sein muss, zusammen, bin dann gar nicht mehr vorhanden als Gegenüber für diese Menschen, mit denen ich’s da zu tun habe, sprich: meinen Kollegen und meinen Vorgesetzten […] Und [ich] kann auch nicht gut unterscheiden, was ist da ganz normales – in Anführungszeichen – männliches Verhalten, was ist – in Anführungszeichen – Mikropolitik und was ist womöglich Mobbing.«

Wenn andere sich rücksichtslos verhalten, dann weicht sie sofort zurück und sucht den Fehler bei sich: »Ja, es [das sofortige Zurückweichen] ist so wie ’ne zweite Haut für mich […] Wo ich innerlich so zusammenknicke und das Gefühl hab, ich komm mir vor wie ein neunjähriges Kind, was mit dem Fuß aufstampft, da beziehe ich das dann auch total auf mich.«

Das rücksichtlose Verhalten der Männer, unter dem sie leidet, nennt sie »Poltern«. »[…] wenn irgendwas war und die kommen dann, ›also weißt du, das geht

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aber nun überhaupt nicht, das können wir so überhaupt nicht machen, also da muss beim nächsten Mal überhaupt […]‹ Überfallartig, auch lauter und natürlich, ohne zu hören, zuzuhören, erst mal so voll zu schütten und dann zu gehen. Und das ist für mich Poltern. Und ich kann nicht poltern, ich kann nur zicken, also das ist wieder [mich selbst] abwertend. Aber ich kann, wenn ich mich ganz fürchterlich aufrege und auch so ’nen Hals habe und sage, ›also hör mal, jetzt hättest du das aber wirklich mal anders machen können und ich erwarte eigentlich […]‹ Da erlebe ich mich eigentlich nur so wie ’ne Furie und nicht, also auch so innerlich, dass die anderen mich auch so innerlich absortieren unter, ja, Zicke.«

Frau A möchte Poltern können wie die Männer. Laut werden wie sie. Aber etwas hemmt sie. Auf die Frage, wie es wäre, ihre »Stimme zu erheben, laut zu werden«, antwortet sie: »Meine Stimme? Die wird, wenn ich lauter werde, also, und vor allen Dingen jetzt, wenn ich jetzt so unter dieser Situation [des Coachings] laut werde oder lauter werde, dann ist sie okay. Aber wenn ich angespannt bin und mich selber ärgere, dann wird sie höher, und dann mag ich die so laut nicht hören, dann wird’s nämlich Gekeife.«

Alle Sprachbilder, die Frau A in ihrer Selbstbeschreibung gebraucht, implizieren Entwertungen. Es sind negative Frauenbilder – primär aus der Sicht des Männerbundes. Diese Bilder wendet sie gegen die eigene Person. Da »Zicken«, »Keifen« und sich wie eine »Furie« aufführen, dem widersprechen, was sie sein möchte, kann sie sich selbst nicht akzeptieren, wenn sie derart die Selbstkontrolle verliert oder befürchtet, sie zu verlieren. Sie kommt sich dann wie »ein neunjähriges Kind, das mit den Füßen aufstampft« vor. Damit zeichnet sich eine geschlechtsspezifische Aggressionshemmung ab: Frau A wünscht sich, »poltern« zu können, was ihr – männlich codiertes – Sinnbild einer selbstverständlichen aggressiven Selbstbehauptung ist. Trifft sie auf »polternde« Männer, dann regrediert sie: erlebt sich als ohnmächtig trotzend. Sie hat dem »Poltern« nichts entgegenzusetzen, weil sie damit beschäftigt ist, ihre Selbstentwertung zu begrenzen. Darüber, dass sie sofort in die Defensive geht, sagt Frau A, dies sei für sie »wie ’ne zweite Haut« – ein eigentümliches Sprachbild. Üblich ist die Redewendung, etwas sei einem zur »zweiten Na-

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tur« geworden, also zu gelernten Verhaltensweisen, die nahezu reflexartig ablaufen. Welche Verhaltensweisen das sein könnten, ist mit »Haut« assoziiert und lässt an die sprichwörtliche »Dünnhäutigkeit« oder das ebenso sprichwörtliche »dicke Fell« denken. So betrachtet, sagt Frau A auf verdichtete Weise: »Dünnhäutigkeit ist mir zur zweiten Natur geworden, was ich statt dessen als zweite Natur bräuchte, wäre ein dickes Fell.« Irritierenderweise erlebt Frau A ihre Aggressionshemmung vorwiegend im Beruf. Privat sei sie weit weniger gehemmt, sich aggressiv zu zeigen. Das dürfte daran liegen, dass ihre innerpsychische Hemmung durch äußere Hindernisse verstärkt wird: durch eine Organisationsstruktur, die ihr eine Rollendiffusion zumutet und dadurch von vornherein ihre Position schwächt sowie diese sie zudem zwingt, ständig Organisationsmitgliedern zu begegnen, deren pure Existenz sie an ein beschämendes persönliches Versagen erinnert. Ihre Scham lähmt sie, so dass sie »als Leitung, die ja irgendwie präsent sein muss, zusammen[klappt]«. Statt Präsenz zu zeigen, ist sie »dann gar nicht mehr vorhanden als Gegenüber«. Stattdessen sucht sie sich unsichtbar zu machen. Dadurch droht ihr aber erneut ein persönliches Versagen, das Versagen als Leitungskraft, in dem sich das frühere Versagen wiederholt, weil sie es noch nicht bewältigt hat.

■ Frau B Frau B ist pädagogische Leiterin einer Schule, im Übrigen diejenige Frau, über die auch Carola Eunicke-Morell, die zeitweise ebenfalls mit ihr gearbeitet hat, in diesem Buch berichtet. Die Bezeichnung pädagogische Leiterin suggeriert mehr Macht, als der Position faktisch zukommt, da sie im Organigramm unter dem Schulleiter steht, dem gegenüber sie weisungsgebunden ist. In Richtungskämpfen, die sie mit diesem Mann um ein Erfolg versprechendes Schulprofil ausficht, hat sie sich bis zur Erschöpfung aufgerieben. Ein Krankenhausaufenthalt ist die Folge. Im Anschluss daran fragt sie Coaching nach, um sich vor einem erneuten Zusammenbruch zu schützen. Ihrer Beschreibung zufolge besteht seit Jahren ein äußerst gespanntes Verhältnis zwischen Kollegium und Schulleiter.

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Eine inoffizielle Beschwerde des Kollegiums gegen ihn im Schulamt ist als nicht aussichtsreich beurteilt und deshalb nicht weiter verfolgt worden. Ebenfalls keine nachhaltige Wirkung hat ein darauf hin durchgeführtes Teamcoaching gehabt. Folge der anhaltenden Spannungen unter den Lehrerinnen und Lehrern der Schule sind eine sinkende Motivation und steigende Bemühungen, an andere Schulen versetzt zu werden. Im Laufe des Coachings wird auch der Wunsch bei Frau B stärker, sich zu verändern. Sie fasst Mut, sich um eine Schulleiterstelle zu bewerben. Ihr Schulleiter habe eine »kooperative Schulleitung« versprochen, sein Versprechen aber nicht gehalten, sondern es als Fassade genutzt, um autoritäre Entscheidungen durchzusetzen: Er »hat sich total auf die Position zurückgezogen, ›ich entscheide, was hier gemacht wird, und die müssen das auch nach außen vertreten‹«. Frau B fühlt sich missbraucht: »Und am Anfang hab ich das noch nicht so durchschaut und, ähm, hab auf irgendeine Weise auch dieses Spiel mitgespielt, für das ich mich heute zum Teil schäme.«

Im Coaching möchte sie lernen, sich erfolgreicher zu behaupten: »Dass ich nicht so in diese Falle [des Kooperationsversprechens] laufe und sage, ›das ist mir wichtig und das möchte ich auch vortragen und das will ich auch durchsetzen‹, und wenn er mir mit seiner Macht kommt, dann muss ich mir etwas einfallen lassen«.

Einerseits würde sie gerne die Schule verlassen, um einem fortgesetzten Machtkampf aus dem Weg zu gehen, andererseits fühlt sie sich gebunden. Dabei reagiert sie auf Alleingänge ihres Schulleiters immer wieder enttäuscht, obwohl sie glaubt, gar nichts anderes erwartet zu haben, weil sie ja aus Erfahrung wisse, dass er keine kooperative Entscheidungsfindung in der Schulleitung zulasse. Dieses irritierende Verhalten lässt sich als Ablehnungsbindung beschreiben. Ablehnungsbindungen hintertreiben Distanzierungsbemühungen, weil sich eine derart gebundene Person nach Anerkennung von jemandem sehnt, dessen Anerkennung gar nichts wert ist, weil er als Person entwertet ist. Dies kann ein einseitiges, aber auch ein reziprokes Bindungsmuster sein. Vor allem bei wechselseitigen Ablehnungsbindungen sind subtile Machtkämpfe

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die Folge, in denen sich die Kollusion ständig reproduziert. Ein Gutteil des Coachings hat darin bestanden, die für Frau B vermutete Ablehnungsbindung zu rekonstruieren und durchzuarbeiten. Coach (C): […] ich spitze mal so zu, wie ich es [ihre Beschreibung der Konflikte mit ihrem Schulleiter] gehört habe. Sie sagen, »ich geh da so lange nicht weg, wie ich nicht die Anerkennung [von ihm] kriege, um die ich kämpfe«. Klientin (K): Hmhm … Ich für mich persönlich? C: Ja, ja. K: Ja genau. C: Das ist aber eine Art Selbstfesselung, nicht wahr? K: Ja … Das ist mir, das ist mir schon klar, aber […] so war’s eigentlich immer in meinem Leben bisher, wenn ich das Ge-, wenn ich das Gefühl habe, ›ich hab hier getan, was ich tun konnte‹, dann bietet sich auch ’ne Alternative. Entweder die Situation an der Schule bessert sich, so dass ich nicht mehr weg muss, oder aber ich hab, ich kriege wirklich ’ne Alternative.

Wenn Frau B ganz erstaunt fragt: »Ich für mich persönlich?«, dann weist sie erst einmal die Unterstellung, sie kämpfe mit ihrem Schulleiter um persönliche Anerkennung von sich. Stattdessen setzt sie den Anspruch an sich selbst dagegen, »hier [in der Schule] zu tun, was ich tun kann«. Das Festhalten an diesem – uneigennützigen – Anspruch werde dann, das ist fast magisch gedacht, belohnt: Es tue sich rechtzeitig eine günstige Handlungsalternative auf, die sie von der »Selbstfesselung« an den Schulleiter befreie – ohne sich die Dynamik bewusst machen zu müssen, die zu dieser Selbstfesselung führt. Dass es ihr »klar« sei, sich durch ihren Kampf um Anerkennung selbst zu fesseln, wie sie schnell zustimmt, klingt wenig überzeugend. Hat sie denn nicht die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass sie krank geworden ist, weil ihr ihre sie selbst schädigende Psychodynamik nicht bewusst war? C: Oder Sie werden so krank, dass Sie sich nicht mehr aufrappeln. K: Ja, ja, aber das, ich vermute, also da glaub ich eher, dass das nicht mehr passiert, weil ich das [krank geworden zu sein], äh, erlebt habe […] Also, ich glaube, das war, das war Warnschuss genug. C: Aber, was macht Sie so sicher, dass das nicht wieder passiert?

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K: … Ja, weil ich es nicht mehr, wenn es, wenn es passieren würde, würde ich eher »Stopp« sagen.

Diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen, dazu soll ihr das Coaching verhelfen, weil der Kampf um Anerkennung vielleicht doch noch nicht ausgefochten ist: C: [In dem, was Sie erzählt haben], konzentrierte sich das sofort alles auf den Schulleiter und, ähm, so hat es auf mich erst mal gewirkt, wie ein Zweikampf, den Sie da führen. Und sie wären nicht die Erste, die an ihren Gegner gebunden ist. K: Hmhm. […] C: [Ich meine], dass man eine Situation so lange nicht verlässt, bis nicht entschieden ist, wer gewonnen oder verloren hat. Und da werden viele Kräfte rein gesteckt, ähm, … in eine Situation, wo es vielleicht gar keinen Sieger oder Verlierer dann am Ende geben kann. K: Wobei ich, ich für mich das Gefühl hab, »ich hab noch nicht alle Kräfte, die ich hab«, mobilisiert.

Das klingt, als sei der Kampf noch lange nicht zu Ende, auch wenn Frau B im Folgenden einen anderen Akzent setzt: C: Aber die Krankheit hat Ihnen doch gezeigt, dass Sie weniger Kraft hatten, als Sie dachten, oder? K: Ja, aber ich vermute, dass ich meine Kräfte falsch eingesetzt habe […] Dass ich mich genau in diese Zwei-, auf diese Zweikämpfe eingelassen hab, statt bei mir zu bleiben und zu sagen, »A. [Vorname der Klientin], das ist dir wichtig und das versuchst du wirklich auch nach außen zu tragen, dass das dein-, deine Vorstellungen sind.«

Mit ihrer Formulierung »bei sich zu bleiben« markiert Frau B. eine Gegenposition zu ihren Kräfte raubenden Zweikämpfen mit dem Schulleiter. Aus einer selbstsicheren Haltung heraus möchte sie ihre eigenen Interessen vertreten, die sie wiederholt als uneigennützige Interessen darstellt: tun, »was für die Schule am besten ist«. Damit erscheint der Schulleiter als Machthaber, der sie daran hindert, das Gemeinwohl zu verbessern. Die Anrufung des Gemeinwohls eignet sich freilich gut dafür, ihre persönliche Verstrickung mit ihm zu verdecken. Diese Verstrickung beherrscht bereits die Initialszene ihrer Beziehung:

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»Ich habe diese St[elle] ja, es gab viele Bewerber, fünf oder sechs mit mir zusammen, damals auf diese Stelle und er wollte mich. Obwohl er mich im ersten Vorstellungsgespräch wirklich fast zur Sau gemacht hat, ja.«

Dies ist genau die Beschreibung einer Ablehnungsbindung: Jemandem dankbar sein zu müssen, den man selbst aber nicht anerkennt. C: Okay, das heißt, es gibt eine Dankesschuld. K: Ja, so hab ich das empfunden, so hab ich das empfunden.

Aber statt sich tatsächlich dankbar zu zeigen, konfrontiert sie den Schulleiter, kaum hat sie ihre Stelle angetreten, mit dem Wunsch, sich wegzubewerben: »Und hab ich es ihm gegenüber auch begründet, und er hat es aber als persönliche, persönliche Absage genommen, Undankbarkeit ihm gegenüber, weil natürlich, wenn ich gehe, ist die Stelle […] weg.«

Liest man »persönliche Absage« als persönliche Ablehnung, so korrespondiert sie der Ablehnung im Vorstellungsgespräch, die dennoch zu einer Bindung – »er wollte mich« – geführt hat. Desgleichen führt auch ihre Ablehnung des Schulleiters nicht zu einer Trennung, sondern zu einer Bindung. Denn Frau B ist geblieben und auch noch sechs Jahre später an der Schule. Inzwischen hat sich ihre Ablehnung zu einer Verachtung des Schulleiters gesteigert. Es fällt ihr schwer, das auszusprechen, sie tut es aber dann doch: »Na, ich denke, ich, ich verachte den. Ich verachte den ungeheuer.« Wer einen Anderen verachtet, vermeidet aber nicht zwangsläufig die Begegnung mit ihm, auch wenn das möglich wäre, sondern sucht nach Mitteln und Wegen, ihn die Verachtung spüren zu lassen, ohne aber einen offenen Konflikt zu riskieren, gerade dann nicht, wenn der verachtete Andere über mehr Macht verfügt. Verachtung bietet moralische Erhebung als psychischen Gewinn, der dann besonders groß ist, wenn der verachtete Andere sich immer wieder unter den Augen seines Verächters als verachtenswert erweist. Frau B ist erstaunt, dass sie ihr Gefühl der Verachtung für den Schulleiter geäußert hat: »Ja, ich weiß nicht, nee, ich wusst nicht, dass ich das überhaupt rauslassen, ja, ähm, … also … ich wunder’ mich, dass so ein Mensch so eine Position bekleidet.«

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C: Der Punkt ist aber […], er hat die Macht. K: Genau. Genau und auch, auch vor diesem Hintergrund möchte ich nicht den Rückzug antreten. C: Warum? Was könnte das für Sie bedeuten, … K: Ja ich … C: … gegen ihn zu verlieren? K: … hab das Gefühl, ich, ich würde klein beigeben. C: Aber öfter gibt auch der Klügere nach. K: Also hab ich echt, hab ich noch nicht wirklich in Betracht gezogen. Hab ich wirklich noch nicht ernsthaft in Betracht gezogen.

Wörtlich genommen, deutet Frau B an dieser Stelle an, dass es ihr gleich ist, die Klügere zu sein. Die schwierige Arbeitsbeziehung mit dem Schulleiter wird dann auch nicht klug gestaltet, sondern von uneingestandenen Aggressionen beherrscht, ihn zu guter Letzt zu Fall zu bringen.

■ Frau C Frau C ist eine junge Mitarbeiterin in einer Beratungsfirma. Das Team, in dem sie arbeitet, besteht aus lauter Frauen. Die Teamleiterin ist ebenfalls eine Frau. Mit ihr hat Frau C große Probleme. Wird sie von ihrer Teamleiterin kritisiert, dann ringt sie mit der Fassung und bricht auch schon mal in Tränen aus. Um solche Situationen zu vermeiden, versucht sie, im vornhinein alle Kritikpunkte zu bedenken und zu vermeiden. Das kostet sie Zeit und Kraft. Oft kommt sie erst nachts von der Arbeit nach Hause. Als sie das Coaching nachfragt, ist sie erschöpft. Ob die psychische Stabilisierung, derer sie bedarf, durch Coaching zu leisten ist, steht anfangs in Frage. Dann kann sie aber doch von den Sitzungen profitieren. Frau C beginnt eine Sitzung mit der Erzählung, dass die Teamleiterin ihr in einem der üblichen Mitarbeitergespräche vorgehalten habe, sie würde »Stimmung machen«. Auf die Frage »Gegen sie?« weicht sie aus: »Ja, das hat sie nicht explizit gesagt, sondern einfach nur, Stimmung machen […]« Statt den Sachverhalt zu klären, sei Frau C »ziemlich perplex« gewesen, weshalb sie »dann auch nicht näher darauf eingegangen« sei. »Und, ähm, einfach ge-

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sagt hab’, es tut mir leid [lacht], dass das so ankommt, es ist bestimmt nicht meine Intention, Dinge, Informationen zu unterschlagen.« Frau C lacht, weil sie dieses Verhalten von sich kennt. Wenn sie kritisiert wird, entschuldigt sie sich sofort und gibt damit dem Kritiker ohne Prüfung des Sachverhalts Recht: »Es passiert selten, dass mir jemand irgendwas vorwirft oder irgendwas unterstellt oder, ähm, irgendetwas kritisiert, wo ich nicht denke, ja, es ist richtig.«

Sie lacht. Schnell geht ihr Lachen aber in Weinen über. Frau C erlebt Kritik als Aggression, gegen die sie sich nicht wehren kann, besonders, wenn es eine Kritik ist, die ihr unterstellt, aggressiv zu sein – wie in der skizzierten Episode. Unter Tränen berichtet sie, sie habe mit ihrer Teamleiterin noch einmal darüber sprechen wollen: »[…] ihr darzulegen auch, dass ich das, dass mich das entsprechend auch bestürzt hat, dass sie mir so etwas zutraut und unterstellt, einfach ihr das noch mal zu schildern. [Damit habe ich mich aber so] unter Druck gesetzt, dass ich mittags auch rausgehen musste und erst mal mich abreagieren. Ich musste dann auch erst mal jemand anrufen und hab dann erst mal nur auch weinen müssen. Und bin in die Apotheke gegangen und hab mir Beruhigungsmittel geholt.«

Die Dramatik des Geschehens, so steht zu vermuten, rührt unter anderem daher, dass die Unterstellung, sie selbst sei aggressiv, wo sie doch immer nur die Kritik der anderen als aggressiv erlebt, ihr Selbstbild erschüttert. Das Selbstbild, das sie bestätigt sehen möchte, ist das Bild eines Menschen, der keinerlei Kritik verdient: C: […] diese Erklärungen [Entschuldigungen], die Sie dann ansetzen, glaube ich, die haben alle eigentlich die Botschaft, ich mach’s doch gut. K: Ja, ja, ist korrekt […] Das ist die Botschaft, die dabei rüberkommen soll [lacht]. C: Das ist ’ne kindliche Botschaft. […] K: […] wenn ich versuche, mich selber in der Situation zu beobachten, nehm ich mich eher als tatsächlich, so wie Sie’s beschrieben haben, de-

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mütig und kindlich wahr, das merke ich auch [weint]. Das ist aber keine Rolle, in der ich mich wohl fühle. C: Ja, ich … K: [unterbricht] Ich hab auch schon zurückgespiegelt bekommen, dass ich nach außen hin den Eindruck mache, als-, also im Sinne von arrogant, als wüsste ich alles und als wär ich so souverän, dass man mir auch gar nichts sagen kann. Den Eindruck nach außen kann ich schon mal vermitteln, was ich selber so eigentlich nicht wahrnehme, aber was ich schon zurückgespiegelt bekommen habe, was mir dann natürlich auch wiederum zu denken gibt [lacht].

In dieser Passage entsteht der Eindruck, dass Frau C versucht, potenzielle Kritiker mit einem arroganten Habitus (an anderer Stelle ist von Perfektionismus die Rede) auf Distanz zu halten, weil sie deren Kritik nicht erträgt. Kommt es zu einer Kritik, nimmt sie eine Kinderrolle ein, um sich zu schützen, realisiert aber nicht die darin enthaltene eigene Aggression: C: Aber jetzt stellen Sie sich vor, vielleicht ein bisschen losgelöst von Ihrer realen Situation, ein Erwachsener streitet mit einem anderen Erwachsenen. Die Folge davon ist, dass der andere Erwachsene sich ganz klein macht, anfängt zu weinen und eigentlich in sich selbst sich zurückzieht und nur sagt, »Aber ich hab’s doch gut gemacht, ich hab’s doch gut gemacht.« … Das ist auch ’ne Aggression …, die kommt Ihnen als Ohnmacht vor, aber sie spiegelt dem Anderen zurück, dass er Ihnen [mit seiner Kritik] eigentlich Gewalt antut […] Ist womöglich auch für den keine angenehme Situation. K: Mhm. C: Und es wär vielleicht leichter, auf jemanden zu treffen, der angemessen zurückkeilt, und sich’s dann in Luft auflöst, weil man sich mal die Meinung gesagt hat … Aber zu spüren, dass es relativ leicht ist, Sie so tief zu verletzen, macht es wahrscheinlich auch nicht leicht, mit Ihnen umzugehen. K: Mhm … Ja, theoretisch kann ich das nachvollziehen … Praktisch hab ich noch keine Vorstellung davon, wie man das ändern kann.

Offenbar hofft Frau C, Kritiker würden ihre Kritik einstellen, wenn es ihr gelingt, sie als Aggressoren erscheinen zu lassen, die keine Rücksicht auf ihre Verletzlichkeit nehmen. Tritt der gegenteilige Effekt ein, fühlt sie sich völlig missverstanden.

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Da sie vor sich selbst und ihrer Teamleiterin unbedingt als harmlos erscheinen möchte, strebt sie eine generelle Beziehungsklärung mit ihr an. Dabei reproduziert sie in der Vorbereitung dieses Gesprächs das bekannte Selbstbild: Die Teamleiterin soll wissen, dass Frau C sie als vorwurfsvoll und sich selbst als missverstanden erlebt. Während sie darüber im Coaching spricht, verfällt sie in einen kindlichen Ton, der einer Aussprache unter Erwachsenen und schon gar nicht zwischen Mitarbeiterin und Chefin angemessen ist: C: [Sie tun so], also ich übertreib jetzt mal, als würden Sie gerne ihrer Chefin Ihr Herz ausschütten. K: Ja, ja . C: Das ist aber der falsche Platz. Sein Herz ausschütten kann man in Situationen, in denen keine Macht existiert, aber Sie befinden sich in einer Situation, wo’s um Macht geht, wo’s um Machtkämpfe geht. Wenn Sie das wirklich täten, so wie Sie sich’s wünschen, würden Sie die Situation verwechseln. Das können Sie mit Ihrer Mutter machen, mit Ihrer besten Freundin, aber sicher nicht mit Ihrer Chefin.

Das Beratungsunternehmen, in dem Frau C angestellt ist, fördert solche Verwechslungen, in dem es eine Kultur vorgibt, in der sich die ganze Belegschaft duzt. Dadurch verwischen die Grenzen zwischen beruflichen und privaten Beziehungen, so dass eine Regression auf die Ebene von Übertragungsbeziehungen begünstigt wird. Eine solche Regression schließt die Tabuisierung von Machtkämpfen ein, die hinter der Fassade einer heilen Unternehmensfamilie nur umso heftiger toben. Auf die – den Kinderton aufnehmende – Frage, ob sie denn auch »böse« sein könne, berichtet Frau C von heftigen Wutausbrüchen, von denen sie nachträglich aber stets denkt, sie hätten gar nicht sein müssen, wenn sie sich nur besser beherrschen würde. Sie verbietet es sich, ihre eigenen aggressiven Impulse zu spüren. Brechen sie dennoch durch, tritt sie schon mal wutentbrannt gegen alles Mobiliar, »das jetzt mir da im Weg steht« [lacht]. C: Ja, Ihre Chefin steht Ihnen ja auch im Weg. K: Ja, die kann ich aber nicht treten [lacht]. C: Warum nicht? Also jetzt – K: [unterbricht] Weil ich’s verbal machen müsste und das liegt mir nicht.

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In verdichteter Form äußert Frau C hier den Wunsch, ihre Teamleiterin aus dem Weg zu räumen, traut sich aber nicht, offen gegen sie anzutreten, da sie sich ihr in verbaler Aggression unterlegen fühlt und andere Mittel – wie (pars pro toto) Treten – nicht erlaubt sind. Gleichzeitig lässt ihr Beispiel, wutentbrannt gegen einen Tisch zu treten, aber ihren Mangel an gekonnter Aggression erkennen: Wer gegen einen Tisch tritt, verstaucht sich die Zehen. Genau so sich selbst schädigend ist es, wenn sie ihre aggressiven Impulse in den Versuch kleidet, ihren Kritikern Schuldgefühle zu machen. Denn das kann überhaupt nur gelingen, wenn sie sich als höchst verletzliches und deshalb schutzbedürftiges Kind präsentiert, was sie nicht gerade für eine Leitungsfunktion qualifiziert. Nachdem Frau C den Vorwurf ihrer Teamleiterin, sie mache Stimmung gegen sie, indem sie sie durch das Vorenthalten wichtiger Informationen in eine Falle laufen lasse, durchgearbeitet und dabei die Spuren ihrer eigenen Aggressionen aufgenommen hat, kommt es im Coaching zu einer Szene, in der sich die Szene mit der Teamleiterin wiederholt. Überraschend schiebt sie eine bislang vorenthaltene Information nach: Sie, die gerade eben ihre Probezeit hinter sich gebracht hat, erzählt, dass die Teamleiterin gehe und deren Stelle frei werde: »Und ich bin schon informell drauf angesprochen worden, ob ich die Funktion übernehmen würde, die Teamleitung. Ich hab das abgelehnt jetzt, also informell abgelehnt, weil ich’s mir zurzeit einfach nicht zutraue, das mal so von mir persönlich.« Damit legt Frau C die Vermutung nahe, dass die Beziehung zu ihrer Teamleiterin vielleicht schon länger von einer uneingestandenen Konkurrenz belastet gewesen ist: »Und Konkurrenz geht nicht ohne Aggression.« Letztlich bestätigt sie die Vermutung, indem sie wissend lacht: »Ja … Und ich hab mich entschieden, in diesen Konkurrenzkampf [um die Nachfolge in der Teamleitung] nicht einzutreten, also zumindest nicht um die Stelle [lacht].« Frau C Aggressionen zuzuschreiben, ohne sie zu moralisieren, führt dazu, dass sie sich aus ihrer Deckung demonstrativer Harmlosigkeit herauswagt und ein Stück offensiver wird.

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■ Von Männern lernen, aggressiv aufzutreten? Alle drei Frauen, die hier vorgestellt worden sind, ringen mit dem Tabu weiblicher Aggression. Dieses Tabu führt dazu, dass sie ihre aggressiven Impulse nur entstellt ausdrücken. Neben den Rollenvorschriften für einen traditionellen weiblichen Geschlechtsrollencharakter gibt es dafür zweifellos auch individuelle lebensgeschichtliche Gründe, die im Coaching aber nicht Thema werden. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob die Art und Weise, wie sich die drei Frauen im Coaching darstellen, auch etwas mit der zweigeschlechtlichen Coaching-Dyade zu tun hat. Was bedeutet es, wenn ein männlicher Coach sich um das Empowerment von Frauen kümmert? Wären gleichgeschlechtliche Dyaden nicht Erfolg versprechender (vgl. Nelson u. Holloway 1999)? Bislang gibt es keine empirischen Befunde, die diese Frage befriedigend beantworten würden (vgl. Petzold u. a. 2003, S. 140ff.). Ich jedenfalls werde nicht selten von Frauen angefragt, die explizit einen Mann als Sparringspartner wünschen, um von ihm zu lernen, wie Männer mikropolitisch denken und handeln. Dass es dabei leicht zu einer Re-Inszenierung geschlechtsspezifischer Unterschiede kommt, ist anzunehmen. Wenn sich der männliche Coach als Experte für gekonnte Aggression definiert und die gecoachten Frauen sich dieser Definition fügen, werden sie ihm womöglich vor allem Formen weiblicher Aggression präsentieren, die er für nicht gekonnt hält. Den Frauen erspart es, offenzulegen, was sie tatsächlich tun, um ihre Interessen durchzusetzen.

■ Literatur Alsaker, F. D. (2000): The development of a depressive personality orientation: The role of the individual. In: Perrig, W. J.; Grob, A. (Hg.): Control of human behaviour, mental processes and consciousness. Hillsdale, S. 345– 359. Bernstein, D. (1979): Female identity synthesis. In: Roland, A.; Harris, B. (Hg.): Career and Motherhood. New York, S. 104–123. Bischof-Köhler, D. (2002): Geschlechtstypische Besonderheiten im Konkurrenzverhalten: Evolutionäre Grundlagen und entwicklungspsychologische

R. Haubl · Bescheidenheit ist keine Zier

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■ Bildungsinstitutionen und Macht

■ Sebastian Keil

Schulleitungs-Coaching als unverzichtbarer Bestandteil der persönlichen und der schulischen Entwicklung?

■ Die Ausgangssituation für Schulleiter Schulleiter1 finden sich in den letzten Jahren immer mehr in »Zwischenrollen« wieder: Sie stehen auf der einen Seite als Leiter einer Schule verstärkt im Spannungsfeld der Akteure des internen Schulbetriebs, also zwischen Lehrern und Schülern, oder zwischen Führungskräften und Kollegiumsmitgliedern. Zusätzlich müssen sie ihrer Aufgabe als Pädagoge und Lehrender innerhalb der eigenen Institution nachkommen, ihr Unterrichtsdeputat erfüllen und als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite sind sie als Schulrepräsentanten im externen Einzugsbereich, zum Beispiel im Umgang mit Eltern, Schulaufsichtsbehörden sowie der Öffentlichkeit, starkem und mitunter auch normativ aufgeladenem Erwartungs- und Rechtfertigungsdruck ausgeliefert. Darüber hinaus sehen Schulleiter sich mit eher »schulfremden« Entwicklungen und zunehmenden Autonomisierungsprozessen konfrontiert. Dies zeigt sich a) in personeller Hinsicht in der Möglichkeit, eigenes Lehr-Personal rekrutieren und damit gezielter als bisher Personalentwicklung betreiben zu können, b) in finanzieller Hinsicht bei der zunehmenden Akquise monetärer Ressourcen zum Beispiel in Form des Fundraisings oder der Zusammenarbeit mit werbetreibenden Firmen und Interessenverbänden (vgl. Lohmann u. Rilling 2002, S. 189) und c) in curricularer Hinsicht. So können zum Beispiel Hessens Schulen seit diesem Schuljahr selbst darüber 1 Der besseren Lesbarkeit halber wurde ausschließlich die männliche Form (wie Schulleiter, Lehrer, Schüler usw.) verwendet, die natürlich alle weiblichen Mitglieder dieser Personengruppen mit einschließt.

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entscheiden, ob sie wie gewohnt den Fachunterricht stundenweise pro Woche über das Schuljahr verteilen oder en bloc über nur wenige Wochen anbieten. Idealiter sollen durch diese Autonomisierungsbestrebungen, die grundsätzlich die Befreiung von staatlicher Bevormundung bedeuten, neue Identifikationsmöglichkeiten für die Beteiligten geschaffen, höhere Motivation freigesetzt und die Schulen gegenüber ihrer Umwelt glaubwürdiger konstituiert werden. Des Weiteren sollen Schulleiter zum effizienteren Einsatz der vorhandenen personellen und finanziellen Mittel animiert werden (vgl. Hohelücker-Menge u. Kreft 2004, S. 7). Gleichzeitig wirken sich jedoch andere bildungspolitische Entwicklungen eher kontraproduktiv auf die (vermeintlich) autonomeren Strukturen aus. So beschneiden beispielsweise die beschlossenen nationalen Bildungsstandards durch ihre resultatsbezogenen (oder: outcome-orientierten) Testverfahren die neu gewährte curriculare Autonomie in nicht unerheblicher Weise. Insgesamt ist festzustellen, dass Schulleitung heute weniger die Verwaltung vorhandener und vom Staat verteilter Ressourcen bedeutet, sondern zunehmend von den Beteiligten auch betriebswirtschaftliches Denken und Handeln fordert. Schulleiter müssen sich neu orientieren und beweisen. Dass ihnen dies jedoch innerhalb des hier nur kurz skizzierten Spannungsfeldes der Akquise finanzieller Mittel, des pädagogischen Auftrags und der Zunahme der Eigenverantwortlichkeit immer weniger zu gelingen scheint, die individuelle Belastung stetig zunimmt und sich deshalb immer mehr potenzielle Kandidaten gegen die Bewerbung um eine Leitungsstelle entscheiden, zeigen die steigenden Zahlen der nicht besetzten Positionen an deutschen Schulen: In Nordrhein-Westfalen waren zu Schuljahresbeginn im Spätsommer 2004 knapp 800 Schulen ohne bestellten Schulleiter. In vielen Bundesländern kamen im Jahr 2004 auf eine ausgeschriebene Rektorenstelle im Schnitt nicht einmal zwei Bewerbungen, so dass hier schwerlich von einem qualitätssichernden Wettbewerb gesprochen werden kann (vgl. Fehrmann 2005, S. 8). In Anbetracht dieser Entwicklung ist die Auseinandersetzung mit den an die Schulleitungen gestellten Anforderungen im Kontext von Schulentwicklung unerlässlich, damit die anstehenden

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bildungspolitischen Aufgaben und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik konstruktiv mitgestaltet werden können. An dieser Stelle setzt mein Beitrag an und schildert die Möglichkeiten, die die professionelle Begleitung durch Coaching während oder auch bereits vor der Ausübung der Leitungsfunktion spielen kann. Der Auf- beziehungsweise Ausbau wichtiger Kompetenzen der handelnden Personen in den Bereichen der Personalführung/-entwicklung und Budgetverwaltung sowie die Förderung der Reflexion der eigenen Wert- und Zielvorstellungen stellen die Schlüsselfaktoren bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben und Entwicklungen dar. Diese Punkte betreffen eher »äußere« Bedingungen und Anforderungen, die an die Schulleiter herangetragen werden. Zusätzlich wird jedoch gerade auch der Rollenwechsel vom »einfachen« Lehrer zur Leitungskraft beziehungsweise in die Leitungsfunktion oft als schwierig wahrgenommen. Durch die Reflexion der Fremd- und Eigenerwartungen sowie die Stärkung der Kooperations- und Konfliktfähigkeit im Coachingprozess kann die Wertschätzung der eigenen Arbeit erhöht, den äußeren Anforderungen besser begegnet und die Freude am Beruf letztlich gesteigert werden (vgl. Barz-Meißner 2003, S. 52; Jugert 1998, S. 30).

■ Zielfunktionen und Auslöser für Coachingmaßnahmen im schulischen Kontext Allen Definitionsversuchen von Coaching gemeinsam ist die Beratung einer oder mehrerer Leitungsperson(en) innerhalb einer Organisation, wobei diese in Form einer Einzelberatung oder in einer kleineren Gruppe stattfinden kann. Dem Coach fällt dabei die Aufgabe zu, Leitungskräfte, Projektleiter oder Fachexperten, aber auch »einfache« Mitarbeiter darin zu unterstützen, innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens selbst gewählte Ziele zu erreichen (vgl. König 2001, S. 128). An dieser Stelle wird oft von direkter Personalentwicklung durch das Coaching gesprochen. Im Gegensatz zur Supervision werden organisationstheoretische Ansätze bewusst mit in die Arbeit einbezogen und Rücksicht auf die be-

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sondere Stellung der zu coachenden Person in ihrem spezifisch organisatorisch-institutionellen Kontext genommen. Neben der individuellen Karriereberatung und Kompetenzerweiterung wird Coaching auch zur Bewältigung individueller und kollektiver beruflicher Krisen eingesetzt (vgl. Schreyögg 2000a, S. 5f.). Wie bereits angedeutet, kann vor allem die Übernahme einer Leitungsfunktion bei Betroffenen großen Stress auslösen, der mit der neuen Rolle und deren erwarteter, kompetenter Ausfüllung in Verbindung steht. Dies scheint für die Anwendung von Coachingmaßnahmen im Bereich der Schule einer der relevantesten Punkte zu sein. Schlamp (2000, S. 57) spricht in diesem Zusammenhang vom Durchlaufen einer »Statuspassage« der Betroffenen und begründet dies mit dem hohen Neuigkeitsgrad der Anforderungen, die mit der Übernahme der neuen Funktion einhergehen. So stünden noch wenig Erfahrung und Routine zur Verfügung, zudem bewirke der Rollenwechsel persönliche Verunsicherung. Schreyögg (2000a, S. 17) spricht in dieser speziellen Situation von einer »Rollenüberlastung«: »Schulleiterinnen und Schulleiter werden sich selten schon vor Antritt des neuen Amtes diese Rollenvielfalt verdeutlichen. Viel häufiger landen sie ›kopfüber‹ in einem unübersichtlichen Feld von Ansprüchen seitens des Kollegiums, seitens der Schüler, der Eltern usw., die sie für mehr oder weniger berechtigt halten; und sie landen meistens auch in vielfältigen Selbstansprüchen. Auf diese Weise entwickeln sie oft schon bei Amtsantritt Gefühle von ›Rollenüberlastung‹.« Wie negativ die neue Rolle von außen bewertet werden kann, zeigt folgendes Zitat: »Manche Lehrerkollegen empfinden den Wechsel von Kollegen in die Leitung als Verrat« (Neuschäfer 2004, S. 83). Vor allem bei weiblichen Führungskräften zeigen sich die Ambivalenz und Problematik des Umgangs mit Macht beim Aufstieg in die Leitungsposition in Form von persönlicher Verunsicherung und der Befürchtung, nun Chefin und nicht mehr Kollegin zu sein. Die hierarchisch höhere Position ist mit einer vergleichsweise größeren Verantwortung verbunden und lässt die Angst vor mangelnder Gruppenzugehörigkeit, Isolation und Einsamkeit manifest werden. Das Gefühl der Isolation wird vor allem dadurch hervorgerufen, dass die selbstverständliche Bezugnahme auf vormals Vertraute nun von dem hierarchischen Machtgefüge geprägt

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ist. Im Coachingprozess können die Auseinandersetzungen zwischen Leitung und Mitarbeitern dann als Rollen- sowie vor allem auch als Interessenkonflikte erkannt und besprochen werden, so dass ein Lernprozess einsetzt, der offenbar werden lässt, dass es sich nicht immer um persönliche Kränkungen handeln muss (vgl. Schiersmann u. Thiel 1996, S. 217f.).

■ Adressaten des Coachings Neben den durch den Wechsel in eine Leitungsstelle verbundenen Verunsicherungen und dem Wunsch nach Personalentwicklung oder einer Kompetenzerweiterung können auch allgemeine Umstrukturierungsmaßnahmen in der Schule, Fragen zur organisatorischen Leitung oder »undurchsichtige interaktive Konstellationen« mit schulischen Akteuren thematische Anlässe für Coaching sein und die mit dem Coach gemeinsam zu erstellende Agenda nachhaltig beeinflussen (vgl. Schreyögg 2000b, S. 4). Meines Erachtens sollte statt von »undurchsichtigen interaktiven Konstellationen« eher von machtpolitisch motivierten Fragestellungen gesprochen werden, die sich durch die Übernahme einer Leitungsstelle ergeben und innerhalb des Coachingprozesses behandelt werden können. Bei der Übertragung des Machtbegriffes auf den schulischen Kontext möchte ich dabei von einer dynamischen Definition ausgehen und auf Ausführungen Michel Foucaults zurückgreifen, der unter »Macht« die Entfaltung eines Kräfteverhältnisses zwischen verschiedenen Akteuren versteht, das sich in Form einer komplexen strategischen Struktur abbildet (vgl. Foucault 1978, S. 70ff.; 1998, S. 114). Coachingmaßnahmen können an dieser Stelle zum Beispiel mit der Erarbeitung und direkten Gegenüberstellung eines Organigramms und eines Soziogramms beginnen, um so die Relation zwischen Funktionsmacht und informeller Macht bzw. den reell verfügbaren Ressourcen zu veranschaulichen; so kann die eigene Position innerhalb des schulischen Gefüges bzw. der konkreten Akteurskonstellationen besser wahrgenommen werden. Um nun dem von neuen Funktionsträgern oft geäußerten Ge-

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fühl der Überlastung und dem gegebenenfalls von den Betroffenen erwogenen Rücktritt von der gerade erst erworbenen Position entgegenzuwirken, sind vorbereitende Coaching-/Beratungsmaßnahmen sinnvoll. Bei der Diskussion um den effizienten Einsatz von Coachingmaßnahmen muss deshalb meiner Ansicht nach auch eine zeitliche Komponente in die Überlegungen miteinbezogen werden, die in der Fachliteratur kaum diskutiert und in der pädagogischen Ausbildung fast gar nicht angewandt wird: Die Nutzung von Coaching kann bei bereits etablierten Führungskräften als begleitende, direkt personenbezogene Maßnahme verstanden werden; diese Maßnahmen könnten jedoch einen präventiven Charakter erhalten, wenn sie vor die individuelle Entscheidung potenzieller Schulleitungskandidaten geschaltet würden, sich auf eine ausgeschriebene Stelle zu bewerben. Dies könnte wiederum bedeuten, dass durch Präventiv-Coaching designierte Funktionsträger oder interessierte Lehrer besser auf ihre zukünftige Rolle und die damit verbundenen Probleme eingestellt würden, so dass sie auf dieser Basis viel bewusster in die neuen Aufgabenbereiche einsteigen könnten. So kristallisieren sich als mögliche Adressaten des Schulleitungscoachings zwei Personengruppen heraus: potenzielle Kandidaten für eine Schulleitung und Schulleiter, die bereits über Berufserfahrung verfügen, hier jedoch noch einmal unterteilt in Coachingmaßnahmen für und Coachingmaßnahmen durch Schulleiter.

■ Potenzielle Kandidaten für eine Schulleitung Geheeb, Scherr und Weich (2003) betonen, dass potenzielle Führungskräfte über aufgabenrelevante Sach- und Fachkompetenzen sowie adäquate Persönlichkeitseigenschaften verfügen müssten, die während der beruflichen Sozialisation als Lehrer nicht unbedingt erworben und erfahren werden. Die Autorinnen plädieren deshalb für vorbereitende Maßnahmen, die bereits im Prozess der Entscheidung für oder gegen eine Planstelle greifen müssten: »Die Besetzung von Schulleitungsstellen mit geeignetem Personal erfordert eine langfristige Planung. Teil einer kontinuierlichen

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Personalentwicklung muss die Rekrutierung, Motivierung, Qualifizierung von Lehrkräften sein. Damit steht ein Personalpool zur Verfügung, der gewillt und geeignet ist, Führungsaufgaben in der Schule zu übernehmen« (Geheeb et al. 2003, S. 256). Durch zeitlich vorgelagerte Personalentwicklungsmaßnahmen – mit den verbundenen Implikationen, dass die Teilnehmer über keine »wirkliche« Funktionsmacht und ausreichende Führungserfahrung verfügen – kann eigentlich nur eingeschränkt von Coaching gesprochen werden. Unterstützt wird der Präventionsgedanke jedoch mit der von Schreyögg (2000b, S. 4) geschilderten Beobachtung, »dass eine jeweilige Gruppierung im Coaching genau das zu verhandeln wünscht, was in ihrer Grundausbildung perspektivisch nicht enthalten war«. Wenn nun die hier genannte Grundausbildung Coachingmaßnahmen enthielte, könnte ein neuer Schulleiter, der bereits mit Coaching oder anderen Beratungsformen vertraut ist und dann auch professionelle Unterstützung anfordert, erstens dem Coach genauere Wünsche für die von ihm als hilfreich angesehenen Unterstützungsmaßnahmen formulieren. Zweitens könnte einer Fehlbesetzung der Funktionsstellen mit ungeeigneten Kandidaten entgegengewirkt werden. Schlamp (2000, S. 55) stützt diese Überlegungen mit der Feststellung, dass es durch die Aufnahme von Coaching- und Supervisionsangeboten in das Curriculum der zentralen Schulleiterausbildung zu erwünschten Streuungseffekten, der Erhöhung der Effizienz und des Bekanntheitsgrades der Maßnahmen kommen könne. Auch die Deutsche Gesellschaft für Supervision fordert eine systematische Integration von kollegialer Beratung und der Beratung von Leitungskräften in Form des Coachings in die Lehrer- bzw. Schulleiter Aus- und Weiterbildung im Sinne der Personalentwicklung (vgl. DGSv 2003, S. 4). Ergebnis der von Geheeb et al. (2003, S. 271) angebotenen Maßnahme war, dass ein Jahr nach Abschluss der Veranstaltungsreihe ein Drittel der Teilnehmer in Leitungsfunktionen wechselte. Zwei Drittel der Teilnehmer hatten sich bereits kurz nach der Seminarreihe bewusst für eine andere berufliche oder außerschulische Schwerpunktsetzung jenseits einer Schulleitungsfunktion entschieden. Diese Maßnahme scheint also einen Selbsteinschätzungsprozess bei den Beteiligten in Gang gesetzt zu haben, der

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nicht überzubewerten, jedoch auch nicht zu unterschätzen ist. Die Kandidaten, die sich nach der Seminarreihe für die Übernahme einer Schulleitung entschieden haben, dürften mit dem zu vollziehenden Rollenwechsel und den damit verbundenen Problemen besser zurecht kommen als diejenigen, die nicht an einer solchen Fortbildungsveranstaltung teilnehmen konnten.

■ Schulleiter, die bereits über Berufserfahrung verfügen Möglichkeit 1 – Coachingmaßnahmen für Schulleiter: Das allgemeine Ziel von Coaching für Schulleiter sollte »die Sicherung eines qualifizierten Standes an Führungskräften und Spezialisten« (Schreyögg 2003, S. 21) sein. Diese kontinuierliche, zusätzliche Unterstützungsform für die Leitungsperson intensiviert die individuellen Lern- und Transferprozesse und stellt unter günstigen Umständen eine Möglichkeit dar, organisationsentwicklungsbezogene Prozesse vor Ort »von innen« her ein- und anzuleiten (vgl. Thiel 1994, S. 208). Im konkreten Vorgehen können dabei das Durcharbeiten eines Rollenkataloges, die Bewusstmachung weltanschaulicher, persönlicher und sozialisationsbedingter Blockaden oder auch die Rolle als Störungsregler bzw. Konfliktmanager mögliche zu behandelnde Themengebiete sein. Der Coach kann zudem bei der Realisierung von Managementaufgaben und schulspezifischen Führungsaufgaben, aber auch bei der Fundierung von Rollensicherheit und damit gegen die positionsbedingte Einsamkeit wichtige Unterstützungsfunktionen wahrnehmen (vgl. Schreyögg 2000c, S. 217ff.). Neuschäfer (2004, S. 81f.) schildert die vor Ort zu erzielenden Veränderungen »von innen« mit Hilfe der von ihm durchgeführten und als erfolgreich eingestuften Maßnahmen der organisationsinternen Beratung der Bezirksregierung Münster. Er beschreibt anhand von fünf Leitungssupervisionsgruppen, an welcher Stelle diese ganz konkret Schwerpunkte der Unterstützung ihrer Arbeit gesehen hätten. Die Befragten schätzten die Bedeutung der Beratung für sich im Hinblick auf die folgenden Punkte als hilfreich ein: − Weiterentwicklung der eigenen Leitungsrolle; − Bearbeitung von Freud- und Leiderfahrungen;

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− Reflexion des eigenen Leitungsverhaltens; − Erweiterung der eigenen Wahrnehmungs-, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit; − kollegialer Austausch über zentrale Leitungsaufgaben; − Verständnis der eigenen Person als wichtige Ressource für souveränes und professionelles Handeln; − Bearbeitung der konkreten Arbeitssituationen, die die betreffende Person als belastend, frustrierend oder wenig effizient erlebt hat. Möglichkeit 2 – Coachingmaßnahmen durch Schulleiter: Eine weitere Möglichkeit für den Einsatz von Coachingmaßnahmen besteht darin, dass der Schulleiter als Coach auftritt und so selbst als Personalentwickler an der eigenen Schule wirkt. König (2001, S. 137) meint hierzu: »Aufgabe einer Führungskraft ist es, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Orientierung und Unterstützung zu geben. Dazu bedarf es anderer Instrumente und Unterstützung als der Fähigkeit ›guten‹ Unterricht durchzuführen. Orientierung für Lehrerinnen und Lehrer in einer Schule wird im Wesentlichen durch Zielvereinbarung und Zielverfolgung gesteuert.« Er unterteilt in seinem Ansatz den Coachingprozess in eine Orientierungs-, Klärungs-, Veränderungs- und Abschlussphase und identifiziert Coaching in diesem Zusammenhang als »das erfolgreichste Führungsinstrument« (König 2001, S. 132f.). Sicherlich ist diese Form des Coachings durch den Schulleiter in das Gesamtsystem Schule eingebettet, jedoch erscheint es mir problematisch, in dieser Konstellation als Coach seine Neutralität wahren zu können, auch wenn König (2001, S. 138) darauf aufmerksam macht, dass sich der betreffende Schulleiter darüber im Klaren sein müsse, ob er als »Vorgesetzter« oder als »Unterstützer« fungiere. Durch die persönliche Involvierung des Schulleiters innerhalb der eigenen Institution kann eine neutrale Position gegenüber den Lehrern nicht (immer) gewährleistet werden. Statt dessen sollten Schulleiter versuchen, ihre institutionelle Autonomie zu nutzen, um einen Lehrkörper zu bilden, der den im pädagogischen Bereich angebotenen Beratungsformen offen gegenübersteht. So könnte der Schulleiter mittelbar Personalentwicklung betreiben, ohne selbst direkt an

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den Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen beteiligt sein zu müssen.

■ Settingformen: Gruppen- oder Einzelcoaching Im vorherigen Abschnitt wurden die beiden möglichen Adressaten von Coachingmaßnahmen vorgestellt. Die in diesem Abschnitt angesprochenen Settingformen beziehen sich nun ausschließlich auf Schulleiter, die selbst gecoacht werden. Schreyögg (2000b, S. 6) beobachtet im Hinblick darauf eine gewisse Variationsbreite: »In früheren Jahren dominierte das Einzelcoaching, in neuerer Zeit finden viele Coaching-Aktivitäten in Kleingruppen statt, bei denen hierarchie- und funktionsgleiche Führungskräfte von fünf bis sieben Personen zusammengefasst werden. Die neueste Variante ist sicher das Teamcoaching, bei dem ein ganzer Führungskader Coaching erhält.« Das Gruppencoaching ist damit eine Form der Leitungsberatung, bei dem sich eine kleine Gruppe von Führungskräften derselben Hierarchieebene unter professioneller Anleitung Fallanalysen aus dem eigenen Schulleiteralltag widmet. Der Einführung dieser Form »liegt neben konzeptuellen Erwägungen vor allem ein durch Schulleitungen artikulierter Bedarf zugrunde. Einerseits taucht in Fortbildungsveranstaltungen immer wieder der Wunsch nach ›konkreten‹, im Einzelfall praktikablen Lösungen auf. Andererseits begrüßen die meisten Kursteilnehmer den Austausch zwischen Schulleitungsmitgliedern unterschiedlicher Schularten. Gruppencoaching versucht, beide Ansprüche zu verbinden, durch Lernen am Einzelfall und Nutzung der Erfahrungshorizonte aller Gruppenteilnehmer […] Gruppencoaching weist Berührungspunkte zum Führungstraining auf, unterscheidet sich jedoch von Fortbildung durch die Betonung der Fallanalyse« (Fabian 2000, S. 252ff.). Joswig (2001, S. 39) beschreibt in diesem Zusammenhang Settings für Schulleiter, die vierzehntägig stattfinden und nach Vereinbarung auch während der unterrichtsfreien Zeit abgehalten werden. Entscheidendes Plus beim Einzelcoaching ist hingegen der hohe Intimitätsgrad in der Beratung. Fabian (2000, S. 259) meint,

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dass sich mitunter einzelne Teilnehmer eines Gruppencoachings sehr bewusst für ein Einzelcoaching entschieden, um so die spezifischen Vorteile von Einzelberatung zu nutzen. Darüber hinaus betont er, dass, vom Standpunkt der Personalentwicklung gesehen, ein Entweder-oder zwischen Gruppen- und Einzelcoaching kaum Sinn mache. Beide Varianten der Schulleitungsberatung seien konzeptuell in ein System sich ergänzender und sich wechselseitig anregender Verfahren der Personalentwicklung für Schulleitungsmitglieder eingebunden. Thiel (1994, S. 208) hält neben der Einzelsupervision und dem Coaching von Leitungskräften die kollegiale Supervision von Leitungskräften als Selbsthilfeform für sinnvoll: »Es sind Modelle denkbar, damit sich diese Führungskräfte – über das offizielle Ende des Fortbildungszeitraums hinaus – weiterhin in qualifizierten Selbsthilfegruppen in einer Großstadt oder Region regelmäßig treffen, um Fallbesprechungen und Projektbearbeitungen fortzuführen und unter Umständen weitere Mitglieder aus ihrem Berufsfeld zu integrieren.« Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Entscheidung zwischen der Teilnahme an Gruppen- oder Einzelcoachingmaßnahmen von den Schulleitern selbst getroffen werden sollte, unter Beachtung der eigenen Zielvorstellungen, Präferenzen und Persönlichkeitsmerkmale. Für »frisch ernannte« Schulleiter könnte sich besonders die Settingform des Gruppencoachings (evtl. durchmischt mit »langgedienten« Leitungskräften) als gezielte Förderung der Leitung als vorteilhaft erweisen, da die Erfahrungen und Einschätzungen der anderen Gruppenmitglieder genutzt werden können und anfängliche Schwierigkeiten im Umgang mit der neuen Rolle besser zuzuordnen sind (vgl. hierzu auch Schreyögg 2000c, S. 216f. und Käppeli 1999, S. 14).

■ Konkrete Umsetzung von Coachingmaßnahmen im Schulbetrieb In puncto Umsetzung von Qualifizierungs- und Schulungsmaßnahmen für Schuleiter im Schulalltag gibt es verschiedene Einschätzungen. So kommen Lohmann und Minderop (2004, S. 102)

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zu dem Schluss, dass die Aufsichtsbehörden alle Maßnahmen ergreifen, um in ihren Augen sinnvolle Personalentwicklungsmaßnahmen in die Wege zu leiten. Schulleiter selbst mit der Aufgabe der Personalentwicklung zu betrauen, erscheint ihnen hingegen problematisch, weil diese dafür bisher nicht ausreichend qualifiziert seien. Schulministerien stünden der Personalentwicklung in der Regel positiv gegenüber und schafften Verfahren und Regelungen, die die Schule in die Lage versetzten, selbstständig Personalentwicklung zu betreiben. Auf der anderen Seite kommt Pühl (2000, S. 234) zu dem Schluss, »dass kaum Schulen institutionelle Beratung in Anspruch nehmen und diese von der Schuladministration auch nur halbherzig bis gar nicht gefördert wird«. Schulleitungen scheinen ihre Mängel in Bezug auf anstehende Personalentwicklungsmaßnahmen an den Schulen zu erkennen, sind sich jedoch – wie die übergeordneten Behörden – bei der Auswahl des optimalen Instrumentariums nicht im Klaren, ob institutionell veranschlagte Coachingangebote ein wichtiger Bestandteil zum Ausgleich der oben angeführten Mängel sein können. Ein weiterer bedenkenswerter Punkt ist zudem die Zuständigkeit der Bundesländer in Bildungsfragen und damit auch in Fragen der Fortbildungsmaßnahmen für Schulleiter. Lehmeier (2003, S. 45) sieht in diesem Zusammenhang die Gefahr, dass durch eine eventuelle Unterschätzung der Personalentwicklungsmaßnahmen ein wichtiger Reformschritt verzögert oder sogar völlig zunichte gemacht werden könne: »Wie umfassend und gründlich Schulleiter/ -innen auf ihre Personalentwicklungsaufgaben vorbereitet und wie sie darin berufsbegleitend unterstützt werden, wird mitentscheidend sein, ob das zarte Pflänzchen PE [Personalentwicklung] im Schulbereich Wurzeln schlagen und Früchte tragen wird.«

■ Schlussfolgerungen Übereinstimmend kommen die meisten Autoren zu dem Schluss, dass sich Coachingmaßnahmen auszahlen: »Supervisionsangebote für Lehrkräfte zusammen mit Leitungssupervision und Coaching für Führungskräfte können einen Beitrag leisten, Schule zu verän-

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dern« (Neuschäfer 2004, S. 81); »für die organisatorische ›Veränderung von innen‹ ist Supervision als ›Personalentwicklung‹ der Lehrkräfte und Coaching als Maßnahme der Personalentwicklung der Schulleitung ganz ausgezeichnet geeignet« (Schreyögg 2000a, S. 24); »in Bezug auf Unterstützung ist Coaching das wichtigste und – wie die Erfahrung in anderen Bereichen, aber auch in Schulleitungsfortbildungen zeigt – auch das erfolgreichste Führungsinstrument. Damit wird Coaching zu einer entscheidenden Aufgabe von Schulleitung und Schulaufsicht« (König 2001, S. 137); »Schulleiter können durch Supervision und Coaching wichtige Impulsgeber/innen und Träger/innen von Veränderungsprozessen sein« (DGSv 2003, S. 4). Jugert (1998, S. 30) spricht dem Coaching als spezieller Form der Supervision eine positive und sinnvolle Funktion zu. Einschränkungen in Bezug auf die Umsetzbarkeit von Coachingmaßnahmen betreffen drei Aspekte, die sich bei der Beschäftigung mit der Thematik herauskristallisiert haben. Hier zeigen sich erstens persönliche Vorbehalte. Die größten Probleme betreffen die noch immer vorhandenen Vorurteile gegenüber der Vorgehensweise und den Inhalten der Coachingmaßnahmen: »Schule und Supervision [sic!] tun sich schwer miteinander« (DGSv 2003, S. 3). Zudem gibt es »auch in Schulen, wie übrigens in anderen Organisationen auch, enormen Widerstand gegen […] Veränderungen« (Behler 2004, S. 56). Um die anstehenden individuellen und sich daran anschließenden kollektiven Veränderungen in Angriff zu nehmen und erfolgreich abzuschließen, müssen Coachees intrinsisch motiviert und von der Maßnahme überzeugt sein. Zwangsmaßnahmen haben wenig Erfolg, da sich die Betroffenen emotional öffnen müssen, um mit den Maßnahmen erreicht zu werden. Den Rubikon von Unsicherheiten bei Schulleitern und den gestaltenden Kräften innerhalb der Organisation/Institution Schule zu überspringen, wäre ein erster wichtiger Schritt in beziehungsweise für eine erfolgreiche Beratung. Lösungswege aus den hier angeführten persönlichen Dilemmata könnten »Aufklärungskampagnen« oder die verstärkte wissenschaftliche Begleitung und Publikation von Coachingmaßnahmen sein, um die persönliche Hemmschwelle von Schulleitungen absenken zu können. Bei den Beratungsprozessen im pädagogischen System geht es schließlich nicht darum, unbewusste Prozesse auszuschalten oder zu verhin-

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dern, sondern sie als zum Menschen und damit zu den zu verändernden Instituionen zugehörend anzuerkennen (vgl. WengelskiStrock 2004, S. 46f.). Aber auch dadurch, dass Coaching eher aus dem Managementbereich kommt, könnten Widerstände abgebaut werden, die durch die gedachte Nähe von Supervision und Therapie entstehen. Denn oft sind »Akzeptanzprobleme der Lehrkräfte gegenüber Supervision […] durch die berufliche Sozialisierung entstanden« (Joswig 2001, S. 45); ähnlich stellt es sich beim Coaching dar. Durch den angesprochenen präventiven Einsatz der Supervision oder des Coachings kann diesen Tendenzen ebenfalls konstruktiv entgegengearbeitet werden. Zudem halte ich auch den Einsatz von hierarchisch flach organisierten Schulleitungsteams an den Schulen für eine interessante Variante der Leitung einer Schule. So fiele den Schulleitern eher die Rolle eines konstruktivprogressiven Moderators zu als die des alleinigen Entscheidungsfinders. Rollenkonflikten wird so auf produktiv-kommunikative Weise entgegengewirkt. Ein zweiter, nicht zu unterschätzender Punkt in der schwierigen Etablierung der beschriebenen Maßnahmen stellt der finanzielle Aufwand dar. Hierzu äußern sich mehrere Autoren: Es »fehlt der politische Wille, die Bedeutung von Supervision ausreichend zu würdigen. Finanzielle Überlegungen spielen hierbei eine wohl nicht unbedeutende Rolle« (Joswig 2001, S. 45); »aus Kosten- und Zeitgründen ist eine solche individuelle Beratung als Regelleistung vermutlich nur von größeren Verbänden zu verkraften« (Thiel 1994, S. 208); »Organisationsentwicklung im Großen durch externe Experten ist für den Bildungsbereich nicht finanzierbar und daher unrealistisch. Man wird also auf Modelle zurückgreifen müssen, die sowohl die Selbsthilfekräfte des Schulsystems mobilisieren, als auch auf begleitende Experten, die die Ausbildung und Beratung übernehmen. Erst diese Kooperation […] verspricht flächendeckende Veränderungen« (Pühl 2000, S. 242). In meinen Augen bietet die Synthese aus den von Pühl angesprochenen Selbsthilfekräften innerhalb des Schulsystems und der von Jugert angedeuteten Empfehlung die geeignetste Lösung an: »Für die Kontrolle und Verbesserung der Interaktionskompetenz als Leiter ist […] die Gruppensupervision (für Leitungspersonen) effektiver und ökonomischer« (Jugert 1998, S. 30).

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Durch einen gezielten Einsatz der finanziellen Ressourcen in Gruppencoachingmaßnahmen und durch die Bereitschaft, diese Qualifizierungsmaßnahmen auch unter dem Gesichtspunkt zu sehen, eine weitaus verbesserte Personalpolitik an Deutschlands Schulen zu praktizieren, kann auch machtpolitisch motivierten Aspekten – als drittem, möglichem Hinderungsgrund – offensiv entgegengetreten werden. Schulleiter verfügen über eine starke Lobby und sollten von dieser auch in ihrem eigenen Interesse mehr Gebrauch machen. Und wieso sollten im Zuge der verstärkten Autonomisierung nicht auch finanzielle Ressourcen von den Schulen selbst in Personalqualifizierungsmaßnahmen umgeleitet werden? Darüber hinaus könnten auch Erfahrungen aus dem Ausland in die Diskussion miteinbezogen werden: »Mentoren- und Coachingsysteme, wie es sie etwa in Frankreich oder England gibt, [sind] nachahmenswert. Dort werden die Berufsanfänger auch von erfahrenen, qualifizierten Schulleitern betreut und fortgebildet« (Fehrmann 2005, S. 8). Stellt nun Coaching einen unverzichtbaren Bestandteil für die persönliche und die schulische Entwicklung dar? Auf Basis der diskutierten Aspekte beantworte ich diese Frage mit einem klaren Ja! Coaching, eingebettet in eine integrative Schulentwicklungsarbeit, ist eine Chance, Prozesse behutsam und reflektierend-begleitend zu gestalten, auch wenn sich das konkrete Vorgehen als »ein schwieriges Unternehmen dar[stellt], da der Mangel an Kooperation, Kommunikation und Reflexionen im System Schule deutlich wird. Deshalb ist Schulentwicklung immer ein Prozess über längere Zeit. Anfänge für Veränderungen gestalten sich schwierig, weil Anfänge auch immer Abschiede sind. In jedem bewussten Versuch, die Institution Schule zu verändern, steckt auch das Bewusstsein für eine Ablösung von bekannten Arbeitsformen und Strukturen« (Joswig 2001, S. 77).

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■ Carola Eunicke-Morell

Coaching zwischen Therapie und Training Fallbericht eines Leitungscoachings im pädagogischen Feld 1

In meiner beruflichen Praxis als gruppenanalytisch ausgebildete Schulpsychologin beobachte ich seit nunmehr vier bis fünf Jahren eine spürbar steigende Nachfrage nach Leitungscoaching im pädagogischen Feld. Kontextübergreifend gilt Coaching als professionelle Beratung und Begleitung einer Person (Coachee) durch einen Coach bei der Ausübung von komplexen Handlungen mit dem Ziel, den Coachee zu befähigen, optimale Arbeitsleistungen hervorzubringen (Rauen 2003). Coaching geht von einer funktionierenden Selbststeuerungsfähigkeit des Klienten aus, ist folglich keine Therapie und erhebt nicht den Anspruch, zugleich Schulung, Fortbildung oder Expertenberatung zu sein. Dies setzt voraus, dass der Coachee ein selbstbewusstes Verständnis seines Leitungsauftrages hat und in gewissem Umfang über Methoden und Kenntnisse verfügt, diesen umzusetzen. Diese Voraussetzungen sind bei Anfragen aus dem Non-Profit-Bereich, hier aus dem Feld der Pädagogik, oft nicht gegeben. Gerade im pädagogischen Bereich werden Führungskräfte meist aus dem Kreis der Kollegen »ernannt«, sie verbleiben oft an derselben Einrichtung und müssen denen vorstehen, die Jahre lang ihre Kollegen waren. Eine spezielle Schulung findet meist nicht statt, eine fachliche Vorbereitung auf die neue Leiterrolle entfällt in der Regel. Stattdessen wird von Schulleitungen erwartet, dass sie für wenig mehr Geld weiterhin teilweise unterrichten und zusätzlich eine Führungsposition ausfüllen: ein Spagat zwischen der frühe1 Mein Dank gilt Frau B. für die Bereitschaft, unsere Arbeit darstellen zu dürfen. Für kritische Kommentierung danke ich Uli Ächtner und Iris Junker.

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ren und der neuen Rolle, der die Identifizierung mit der ohnedies unklar abgegrenzten neuen Aufgabe zusätzlich erschwert.

■ Fallbericht: Schattenregime einer Pädagogischen Leiterin an der Seite mächtig ohnmächtiger Männer Ich schildere nun Ausschnitte aus einem Coaching-Prozess mit einer Pädagogischen Leiterin aus gruppenanalytischer Sicht. Möglichst ungefiltert werde ich versuchen, dabei meine Gegenübertragungsgefühle, Phantasien und Wahrnehmungen einfließen zu lassen und meine Interventionen zu benennen, anhand derer die Gemeinsamkeiten aber auch die Unterschiede von Coaching und Therapie, Coaching und Training deutlich werden sollen. Zunächst stelle ich die Klientin mit einigen biografischen Kerndaten und der Charakterisierung ihres Arbeitsplatzes vor. Frau B. ist Mitte 40, Pädagogische Leiterin einer Gesamtschule, im sechsten Jahr an der Schule und seit zwei Jahren offiziell in ihrer Funktion bestätigt. Die Schule hat circa 900 Schüler und circa 40 Lehrer. Ihre Coachinganfrage hat Frau B. im November 2003 an mich gerichtet, ab 2004 ist sie zu Beratungen gekommen und hat während eines dreiviertel Jahres insgesamt sieben Sitzungen à 50 Minuten wahrgenommen und in dieser Zeit auch telefonisch, brieflich und per E-Mail mit mir korrespondiert. Ich werde den Coaching-Prozess nicht chronologisch, sondern auf vier Reflektionsebenen vorstellen, die für den Beratungsverlauf von Bedeutung sind und zugleich mein methodisches Vorgehen illustrieren: 1. Vom Kontakt zum Auftrag und zur Auftragsklärung, 2. Problematik der Positionierung in der neuen Funktion, 3. Struktur und Dynamik des Leitungsteams, 4. Aspekte der beruflichen und privaten Biografie.

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■ Vom Kontakt zum Auftrag und zur Auftragsklärung Die erste Anfrage: Frau B. ist mir seit vielen Jahren aus unterschiedlichen Beratungsanlässen bekannt. Ende 2003 spricht sie mich im Anschluss an eine Informationsveranstaltung an, ob sie zu mir zur Beratung kommen könne, sie habe einen großen Beratungsbedarf. Es ginge ihr vor allem um ihre Rolle und um die Zusammenarbeit mit dem Schulleiter im Schulleitungsteam. Ihre Anfrage löst in der Folge unterschiedliche Gedanken, Phantasien, Gefühle und Erwartungen bei mir aus. Überraschung: Ich habe Frau B. in der Vergangenheit in verschiedenen, auch durchaus konfliktträchtigen Situationen mit eben diesem Schulleiter eher als bedingungslos loyale Mitarbeiterin erlebt, die weder strukturierend eingreift noch ihren Unmut zeigt und ihre eigene Position nicht erkennbar macht. Offensichtlich ist sie in dieser Rolle keineswegs so etabliert und zufrieden, wie ich bislang vermutet hatte. Neugier/Interesse: Es beeindruckt mich, wie mutig Frau B. die Aufbruchssituation nutzt, in der ich noch für sie greifbar bin, um ihr Anliegen vorzutragen. Dabei bemüht sie sich, bei leicht abgesenkter Stimme, um jenen beiläufigen Ton, der die Umherstehenden nicht aufschrecken soll. Der Inhalt ihrer Anfrage ist gleichwohl brisant und hätte einen geschützteren Rahmen verdient. Frau B. spürt dies vermutlich auch und begründet ihr Vorgehen damit, dass ich telefonisch so schwer für sie erreichbar sei. Anspannung/Befürchtung: Zum damaligen Zeitpunkt habe ich schon eigene, einschlägige Erfahrungen mit dem Schulleiter und seinem Schulleitungsteam. Einerseits verfüge ich als Schulpsychologin über eine profunde Feldkompetenz, in diesem Fall sogar über mehrjährige Beratungserfahrungen mit der Schulleitung, dem Kollegium und der Schüler- und Elternschaft der Schule, an der Frau B. arbeitet. Feldkompetenz gilt für die Personalmanager wie auch für die Coachees selbst zweifelsohne als ein zentrales Auswahlkriterium. Die parallele Beratungstätigkeit an der gleichen Schule stellt hingegen eher ein Handicap schwer zu bemessenden Ausmaßes dar. Ärger: Die Art und Weise der Kontaktaufnahme und die Wahl des Zeitpunktes von Frau B.’s Anfrage machen mich ärgerlich.

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Ich gehe nie ohne Anlass an eine Schule, sondern auftragsgeleitet mit einem spezifischen Beratungs- und/oder Fortbildungsvorhaben, das abgesprochen ist. Natürlich versuchen Lehrerinnen und Lehrer und auch die Schulleitung sehr oft meine Präsenz an ihrer Schule zu nutzen, um schnell einen »Fall« anzusprechen, einen Beratungstermin zu bekommen oder noch besser einen »Tipp«, wie sie mit diesem oder jenem Problem besser umgehen können. Der erste Kontakt mit Frau B. dauert kaum länger als drei Minuten, in denen ich ihre Anfrage grundsätzlich als möglich bejahe und ihr meine telefonische Sprechzeit nenne, um einen Termin für ein Erstgespräch zu vereinbaren. Frau B. wirkt darüber erfreut und erleichtert, offenbar ist ihre Anfrage nach Beratung legitim und ich sage zumindest nicht grundsätzlich Nein. Eine ambivalente Kontaktphase: Frau B. ruft zur nächsten telefonischen Sprechzeit an. In diesem telefonischen Klärungsgespräch frage ich Frau B. nach ihren Motiven, erläutere kurz mein methodisches Verständnis von Coaching für Leitungskräfte und problematisiere die besondere Rolle aufgrund meiner Zuständigkeit für ihre Schule. Unser Telefonat endet mit meinem Vorschlag, sich Gedanken zu machen, ob sie sich mir unter diesen Umständen anvertrauen kann, und der Bitte, die Themen, Fragen und Probleme zusammenzustellen, die sie in eine Beratung führen. Wir beenden das Telefonat mit der Verabredung eines Informations- und Klärungsgesprächs in circa drei Wochen. Im Anschluss erhalte ich ein sehr persönliches und hoch differenziertes Schreiben von Frau B., in dem sie die spezifischen Belastungen ihres Tagesgeschäfts und die zentralen Konflikte, in die sie verwickelt ist, sowie deren Geschichte beschreibt. Ihr gelingt ein bemerkenswerter erster Analyseschritt, der zeigt, wie sie den zentralen Konflikt und ihre Rolle darin reflektiert. Für die Vorbereitung auf unser erstes Gespräch brauche sie Ruhe, die sie zurzeit nicht habe, sondern erst in den Ferien. Sie bittet mich erstaunlicherweise darum, ihr meine Erwartungen an sie zu mitzuteilen, damit sie sich »darauf vorbereiten« und über ihre »Rolle und Versäumnisse nachdenken kann«. Mit dieser Ankündigung überrascht mich Frau B. erneut und

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löst unterschiedliche Fragen, Gefühle und Einstellungen bei mir aus. So frage ich mich, ob am Ende alles doch nicht so schlimm sei und sie durch diese Verzögerung eigentlich schon den Ausstieg vor dem Einstieg in die Beratung vorbereite. Ich erlebe die Verschiebung zugleich als eine, wenn auch nur temporäre Absage. Da Frau B. diese jedoch in viel implizite Wertschätzung einwickelt – sie müsse sich auf das Gespräch vorbereiten, dazu brauche sie Ruhe und Zeit, dies in den Ferien zu machen, et cetera –, fühle ich mich einerseits geschmeichelt, andererseits auf Distanz gehalten. Möglich erscheint auch, dass Frau B. bereits durch das anstehende Beratungsangebot, mein grundsätzliches Ja zur Legitimität ihrer Anfrage, entlastet ist und nun die Probleme noch so lange es geht in der Schwebe halten will. Vielleicht befürchtet sie aber doch im Geheimen, dass ihre Anfrage nicht legitim ist und sie dafür – von wem auch immer – bestraft werden würde. Auch kann dieses Hinausschieben Ausdruck einer tiefgehenden Ambivalenz sein, einerseits Hilfe in Anspruch zu nehmen, anderseits sich nicht anvertrauen zu wollen. Angst vor Kontrollverlust und der Beschämung, vielleicht sogar generell Angst vor Veränderung, vor dem »Neuen«, können mit im Spiel sein. Dass Frau B. meint, sich auf unser erstes Gespräch ausführlich vorbereiten zu müssen, erscheint mir als Ausdruck ihres hohen Selbstanspruches und ihres Wunsches, die Dinge in der Hand zu behalten. Dazu passt auch, dass sie davon ausgeht, dass ich Erwartungen an sie stellen werde und sie über ihre »Versäumnisse« nachdenken will. Hier entspricht ihr Beziehungsangebot wieder dem Bild, dass ich bislang von ihr hatte: dezent, anspruchsvoll, wenig selbstbewusst und – typisch weiblich – bemüht, sich an den Erwartungen anderer auszurichten (Kraus u. Kraus 2002). So fühle ich mich einerseits etwas verwirrt und enttäuscht, dass es nun doch nicht »richtig losgeht«, anderseits entlastet, mich diesen hohen Anforderungen noch nicht stellen zu müssen. Dem ersten Schreiben folgen Telefonate und E-Mails, da der ursprünglich angesetzte Termin aufgrund von Erkrankungen und terminlichen Verpflichtungen verschoben werden muss und erst zwei Monate später zustande kommt. Im zweiten Schreiben formuliert Frau B. auf erschütternde, fast pathetische Weise ihre beiden zentralen Ziele für die Beratung. Sie möchte 1. »ein ehrliches

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Schulprogramm auf den Weg bringen«, trotz des vorherrschenden Machtgefüges und der unterschiedlichen Leitungsvorstellungen, und 2. »für [sich] persönlich eine berufliche Alternative entwickeln«. Beide Anschreiben sind mit dem Briefkopf der Schule versehen, was ich positiv vermerke und als Identifikation mit ihrem, wenngleich belastenden, Arbeitsplatz ansehe, und graphisch mit Absätzen, Aufzählungsmarkierungen und Smileys gestaltet. Diese etwas hilflos und planlos wirkenden Textgestaltungsversuche wirken rührend und stehen zugleich in deutlichem Kontrast zu dem fast intellektuellen, von hoher Introspektionsfähigkeit zeugende Text. Frau B. induziert in mir den Eindruck, in ihr eine hochambitionierte, zuverlässige und engagierte »Partnerin« zu haben und löst in mir das Gefühl aus, mindestens ebensolche Attribute in meiner Beraterinnenfunktion repräsentieren zu müssen. Kontraktphase: Schließlich haben wir nach diesem langen Vorspann unsere erste Sitzung, fast drei Monate nach der ersten kurzen Kontaktaufnahme. Frau B. kommt pünktlich, aufgeräumt, freudig gespannt und nimmt mir schräg gegenüber Platz. Zu meiner eigenen Überraschung kann ich sie in diesem anderen Setting auch ganz neu sehen. Sie ist eine attraktive Frau, äußerst sorgfältig gekleidet und dezent geschminkt. Während sie mir bei unseren bisherigen Begegnungen eher unscheinbar und farblos vorgekommen ist, nehme ich jetzt in der Art und Weise ihres Auftretens, ihrer Kleidung und ihrer ganzen Erscheinung eine Frau wahr, die sich ihrer weiblichen Potenz durchaus bewusst ist. Sie hat etwas Strahlendes und zeigt eine fast heitere, kindliche Neugierde auf das, was nun auf sie zukommt. Inhaltlich hat sie drei schwerwiegende Probleme für diese erste Sitzung mitgebracht, die uns während der gesamten künftigen gemeinsamen Arbeit begleiten werden: − das Scheitern des Schulleitungsteams (auch nach Aussage des Schulleiters, wie sie betont) und verbunden damit eine Neupositionierung ihrer Rolle; − die Vorbereitung eines Gesprächs des Schulleitungsteams mit den Vertretern der vorgesetzten Behörde; − die Schulprogrammarbeit.

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Während ich mir die Bedeutung der ersten beiden Themen und auch Möglichkeiten, diese in einem Coaching-Prozess zu bearbeiten, gut vorstellen kann, scheint mir ihr drittes Problem, die Aufarbeitung der ins Stocken geratenen Schulprogrammarbeit und die Neukonzeption der Schulprogrammarbeit ein eigenes, Zeit und Energie absorbierendes Thema zu sein. Ich spreche jedoch Frau B. zunächst auf die möglichen schwierigen und möglichen positiven Aspekte in der Zusammenarbeit mit mir an und zeige ihr Alternativen auf. Diese bleiben jedoch abstrakt und theoretisch, da Frau B. Vertrauen in meine Person und Kompetenz äußert, sich zudem eine Beratung durch eine Frau wünscht und sich zum derzeitigen Zeitpunkt mit der Suche auf dem freien Markt vollkommen überfordert fühlen würde. Ich schlage ihr also für das kommende Jahr monatliche Treffen von 50 Minuten vor, die durch Telefonate und E-Mails ergänzt und vorbereitet werden können. Unter Zurückstellung des Handicaps meiner Zuständigkeit für ihre Schule werte ich Frau B.’s auf persönliche Erfahrung gegründetes Vertrauen in meine Zuverlässigkeit und Kompetenz wie auch die in ihre Anfrage eingehende positive Übertragung als gute Basis für den Beginn einer gemeinsamen Arbeit. Inhaltlich scheinen der Konflikt mit dem Schulleiter und das Scheitern des Schulleitungsteams vorrangige Themen zu sein. Ich schlage vor, das Thema »Arbeit am Schulprogramm« quasi »outzusourcen«, und biete an, einen Kollegen zur Beratung für die Schulprogrammarbeit anzufragen. Die Probleme, die Frau B. mit in die erste Sitzung bringt, erlebt sie als persönliche und fachliche »Totalniederlagen«, die sie emotional und bis ins Körperliche hinein zutiefst erschüttern, ja, von denen sie sich bedroht fühlt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie einerseits schon seit vielen Jahren bestehen und sich in den unterschiedlichsten Facetten des Schulalltags niederschlagen, ihr aber in ihren wesentlichen Strukturierungsmomenten nicht bekannt sind. Ein Gefühl von Angst und Ausgeliefertsein entsteht, was ich gut nachvollziehen kann, dem ich aber mit Blick auf die spezifischen Aufgabenstellungen eines Coachings im Gegensatz zu einer Therapie nicht allzu viel Raum geben möchte. Ich schlage ihr also vor, diese Probleme in Form von Fragestellungen und handhabbaren Aufgabenstellungen zu reformulieren. Darauf kann sie sich einlassen, so dass wir am

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Ende der Sitzung neben dem organisatorischen Rahmen der künftigen Zusammenarbeit auch die inhaltlichen Zielsetzungen abgesteckt haben: − Aufgaben und Rollenprofil nach innen und außen transparent zu machen und zu schärfen sowie − im Schulleitungsteam, speziell gegenüber dem Schulleiter, handlungsfähig zu werden. Diese zwei Ziele sollen anhand von folgenden Fragen nach dem positionalen und dem informellen Machtgefüge in ihrer Schule, speziell im Leitungsteam, verfolgt werden: − Wie sieht das Organigramm Ihrer Schule aus? Real – ideal? − Wie sieht Ihre Aufgabenbeschreibung aus? – Wie Ihre Praxis? − Wie sieht die Aufgabenbeschreibung des Schulleiters aus? – Wie seine Praxis? − Was können Sie in dem bestehenden personellen Gefüge von Ihrem Wunsch nach einer teamorientierten Schulleitung retten? Nachdem sich kein Kollege zur Begleitung der Schulprogrammentwicklung zeitnah bereit erklären konnte, entscheide ich, entgegen meiner eingangs formulierten Eingrenzung, die Schulprogrammarbeit doch mit in den Arbeitsauftrag aufzunehmen. Weiteres Ziel der gemeinsamen Arbeit ist also eine Restrukturierung der Steuergruppe für die Schulprogrammarbeit, deren Federführung bei Frau B. liegt. Obwohl ich die Erweiterung des Coachingauftrages um die methodische Planung der Schulprogrammentwicklung fachlich legitim finde, bemerke ich ein Gefühl von Überfrachtung und Überforderung. Dieses Gefühl verstärkt sich noch in den folgenden Sitzungen. Frau B. geht offenbar davon aus, mir vorab jegliche Korrespondenz zwischen dem Schulleiter und ihr, dem Schulleitungsteam und ihr, ihre eigenen Protokolle und alle bisherigen und geplanten Konzepte zur Schulprogrammgewinnung an ihrer Schule schicken zu müssen. Freundlich und respektvoll bittet sie mich, die Korrespondenz zu lesen, doch allein die Materialfülle hat etwas Bedrängendes für mich. Ich ertappe mich dabei, die Schriftstücke nur flüchtig vor unseren Sitzungen zu lesen (ganz

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im Gegensatz zu meinen Sitzungsprotokollen, die ich vorab immer sorgfältig und gern lese). Vom Layout über die Gliederung bis zu den Inhalten bleibt mir vieles unklar. Ich nehme mir vor, keinesfalls inhaltlich in die Diskussion um das Schulprogramm einzusteigen, sondern ausschließlich bei der Problematisierung ihres methodischen und kommunikativen Leitungsstils und der Vermittlung von Instrumenten der Organisationsentwicklung zu bleiben. Wie für den Beginn unserer ersten Sitzung beschrieben, ist die Diskussion ihrer Rollenklärung und ihres methodischen Vorgehens grundlegend.

■ Problematik der Positionierung in der neuen Funktion Frau B. ist vor circa sechs Jahren nach erfolgreicher Bewerbung auf die Funktionsstelle einer Pädagogischen Leiterin an diese Schule gekommen. Sowohl die Infrastruktur, in die die Schulgemeinde eingebettet ist, als auch die Schulform, eine Gesamtschule, sowie das Kollegium, die Schulleitung und das Schulleitungsteam waren neu für sie. Nun ist die Rolle einer Pädagogischen Leiterin im Positionsmachtgefüge einer Schule nicht leicht zu bestimmen. Erschwerend kommt hinzu, dass Frau B. zwar ausgewählt worden ist, aufgrund einer Konkurrentenklage aber nicht offiziell ernannt werden konnte. In Hessen stellt dies ab einer bestimmten Höhe der Besoldungsgruppe ein häufiges Verfahren dar, wobei in der Regel dann die Funktionen, die an die ausgeschriebene Stelle geknüpft sind, während des Verfahrens auch nicht wahrgenommen werden können. Im Falle von Frau B. hat dies jedoch dazu geführt, dass sie mehrere Jahre lang sowohl die Pädagogische Leitung inne hatte als auch eine weitere schulformspezifische Abteilung leitete und darüber hinaus die Aufgaben einer Klassenlehrerin erfüllte. In ihrer Leitungsfunktion arbeitete sie also praktisch »under cover«. Materielle Konsequenzen dieses schwebenden Verfahrens waren, dass sie deutlich verzögert die der Funktion angemessene Besoldung erhalten hat und ihr jahrelang nur ein Minimum an so genannten Entlastungsstunden gewährt worden ist. Die Frage nach dem Pro-

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zess des Auswahlverfahrens kann sie nur ungefähr beantworten, vorherrschendes Gefühl ist, in einer Opferrolle gefangen zu sein, still halten zu müssen, sich nicht zeigen zu dürfen. Der Umstand, die Dauer und die besondere Geschichte dieser Konkurrentenklage haben weitreichende materielle und tiefgehende psychische Auswirkungen: Obwohl ausgewählt, musste sie sich nach anderthalb Jahren auf A14 und nach zwei weiteren Jahren auf A15 bewerben. Zum Glück habe sich dann die klagende Partei nicht wieder beworben. Diese spezielle Problematik hat wesentlich dazu beigetragen, dass Frau B. die Rolle der Pädagogischen Leiterin zwar inhaltlich versucht hat auszufüllen, aber nicht darstellen konnte. Durch die Unsicherheit über den Ausgang der Konkurrentenklage verharrte sie wie in einer unendlichen Bewährungs- und Überprüfungssituation, in der sie zu sehr mit sich und ihrem Hadern beschäftigt war, um aktiv gestalten zu können. Darüber hinaus ist sie durch die Dreifach-Aufgabenstellung und die mangelnde Entlastung in einen strukturellen Überforderungszustand geraten, in dem sie ihre Positionsmacht nicht durch den Aufbau informeller Macht abstützen konnte. Sie war sozusagen Königin ohne Krone. In der vierten Sitzung erinnert sich Frau B. mit schmerzlicher Empörung daran, dass »ihr« Schulleiter, der sich und seine Schule immer sehr geschickt repräsentieren kann, sie in den ganzen sechs Jahren ihrer Tätigkeit dort kein einziges Mal in ihrer Funktion als Pädagogischen Leiterin dem Kollegium oder gar der Schulgemeinde vorgestellt hat. In der Fremdwahrnehmung, vor allem durch das Kollegium, aber auch durch die Schulgemeinde, ist sie für diesen langen Zeitraum in gewisser Weise eine nicht legitimierte oder zumindest unsichere Person geblieben, an deren Qualifikation vielleicht doch noch ein Makel gefunden werden würde: eine Person, der man sich nicht anvertrauen möchte, da sie vielleicht bald wieder geht, deren Auswahl beziehungsweise die Richtigkeit dieser Entscheidung noch von höchster Stelle bezweifelt werden kann. Entgegen besseren Wissens über das (Macht-)Instrument der Konkurrentenklage ist Frau B.’s eigenes Kompetenzgefühl und die Kompetenzwahrnehmung durch Dritte dadurch überschattet und nachhaltig geprägt worden. Allein die Tatsache ihrer Neuheit auf dem

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Terrain der Schulform und in der Region sowie die mehrere Jahre dauernde Konkurrentenklage ermöglichen es nachzuvollziehen, dass sie den ohnehin schwierigen Rollenwechsel von der Lehrerin zur Leiterin kaum gestalten konnte. Methoden und Verfahren der Organisationsentwicklung – Terra inkognita im pädagogischen Feld: Neben der Schwierigkeit der formalen Rollenübernahme muss eine weitere, strukturelle Problematik betrachtet werden: die der methodischen und kommunikativen Kompetenz. Frau B. hat offensichtlich weitaus differenziertere Vorstellungen darüber, was sie in ihrer Funktion bewirken will, als über das Wie. Zu Beginn der zweiten Sitzung, formuliert Frau B. vier Anliegen. Unter diesen ist ihr die Vorbereitung der nächsten Sitzung der Steuergruppe (Schulprogrammentwicklung) am wichtigsten. Sie stellt mir die Grundkonzeption der Schulprogrammarbeit in mehreren Teilgruppen vor. Das Konzept trägt eine blumigvollmundige Überschrift und besteht aus relativ zusammenhanglosen Themen und Arbeitsfeldern schulischer Arbeit, deren leitende Fragestellungen und Zielsetzung mir überwiegend unklar bleiben. An diesem Beispiel wird mir zum ersten Mal deutlich, auf welch dünnem Eis Frau B. Organisationsentwicklung betreibt. Zum Schluss der Sitzung erarbeiten wir folgende Fragen für die organisatorische Planung der bevorstehenden Sitzung der Steuergruppe: Was ist das Ziel der Sitzung und woran knüpft sie an? Wer lädt ein? Wer wird die Sitzung leiten? Wer nimmt an der Sitzung teil? Wie lange soll sie dauern? Wo soll sie stattfinden? Wie sollen die Ergebnisse gesichert werden? Frau B. signalisiert, wie sie in der Reflexion und Klärung vieler dieser Fragen zunehmend an Boden gewinnt. Zugleich erschüttern zwei dieser Fragen die neu gewonnene Rollensicherheit: Wer nimmt teil? und: Wer leitet die Sitzung? Frau B. gesteht, dass sich der Schulleiter selbst eingeladen hat. Sie befürchtet, vermutlich zu recht, dass er alle strukturellen Vorgaben ignorieren und in seiner impulsiv autokratischen Art die Leitung an sich reißen oder sie in ihrer Leitungsrolle so attackieren wird, dass sie aus dem Konzept kommt. Angesichts dieses bevorstehenden Szenariums schwankt sie zwischen dem Anspruch, die Sitzung selbst zu leiten, und dem Wunsch, sich krank zu melden.

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Flüchten oder Standhalten?: Ihre Unsicherheit bei der Planung und Steuerung von Gruppenprozessen wird auch in der fünften Sitzung deutlich. Frau B. berichtet von einer Gesamtkonferenz, die inhaltlich im Wesentlichen vom Schulleiter vorgegeben war. Als zweiten Tagesordnungspunkt sollte sie ihr Konzept, den Stand der Teamentwicklung, vortragen, das in der letzten Konferenz mit knapper Mehrheit verabschiedet worden war. Ich kann an diesem Entwurf von Zusammenarbeit, wie ihn mir Frau B. vorstellt, nicht mehr erkennen, als dass die Kollegen zu irgend einer inhaltlich unverbindlichen Form von Teamarbeit verpflichtet werden sollen. Auch aus Sicht von Frau B. stellt dies einen Minimalkonsens über Teamarbeit dar, der Lichtjahre von ihren eigenen Teamkonzeptvorstellungen entfernt ist, aus der Sicht der Kollegen jedoch sie »bis zum Anschlag festlege«. Als ich sie nach den Problemen und Chancen dieses verabredungsgemäß reduzierten Teamkonzepts frage, problematisiert sie, zum Beispiel seien keine langfristigen Gruppenbildungen möglich. Wir erarbeiten gleichwohl auch zwei Chancen: Frau B. kann die Arbeit am Schulprogramm und an den pädagogischen Schwerpunkten aufteilen, was alle entlastet und wovon mittelfristig alle profitieren können. Und sie hat feste Ansprechpartner, zum Beispiel für die Jahrgangspläne. Ich frage nach, wie sie denn diese neu definierten Chancen realisieren könnte: »Wie können die jeweiligen Arbeitsergebnisse der Teams transparent gemacht werden?« Das hat sie noch nicht bedacht, »da fehlen noch Strukturen«. Im Nachdenken fällt ihr auf, dass das eine negative Tradition an ihrer Schule hat. Das Kollegium werde in zig AGs aufgerieben, ohne einen Nutzen von den Ergebnissen der anderen zu haben. Frau B. wird nun die lustlose und verweigernde Haltung des Kollegiums besser einfühlbar, sie glaubt jetzt, Sinn und Notwendigkeit der Teamarbeit besser vertreten und vermitteln zu können. Damit hat Frau B. den ersten Punkt für die Konferenz am nächsten Tag für sich geklärt. Immer wieder führt sie jedoch in dieser und allen weiteren Sitzungen Beispiele dafür an, durch Willkür und Machtmissbrauch des Schulleiters aus dem Konzept zu geraten.

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■ Struktur und Dynamik des Leitungsteams Divide et impera: Frau B. ist Mitglied einer sechsköpfigen Leitungsgruppe. An der Spitze steht der Schulleiter, wenige Jahre älter als sie, von seiner Ausbildung her Haupt- und Realschullehrer. Er verfügt über eine große und vergleichsweise gut definierte Positionsmacht und ist, da er diesen Job schon viele Jahre lang macht, in der Region und in den örtlichen politischen Gremien zuhause. Zudem verfügt er über gute Kontakte zum Ministerium und ist mit breit verankerter informeller Macht ausgestattet. Bezogen auf die formale Seite seiner Anerkennung ist er kaum besser gestellt als Frau B. Als Haupt- und Realschullehrer befindet er sich auf der gleichen Besoldungsstufe und erhält eine Amtszulage. Seine Besoldung ist, wie in Schulen üblich, einerseits eine Funktion seiner Laufbahn, in der er innerhalb der internen Hierarchie niedriger angesiedelt ist als die »Gymnasialen«, und andererseits eine Funktion der Schüler- und Lehrerzahlen seiner Schule. Ein männlicher Kollege, ebenfalls Haupt- und Realschullehrer, nimmt den Platz des Stellvertreters ein. Seine primäre Aufgabe ist traditionell die Stundenplangestaltung, speziell die Vertretungsregelung. Eine Aufgabe, die ihm potenziell viel Macht über das Kollegium gibt. So steuert er nicht nur Freizeit und Entlastung, sondern indirekt die Qualität des Unterrichts Einzelner (z. B. Blockstunden) und die Kooperation von Teams (z. B. jahrgangsübergreifende Bänder). Aufgrund einer persönlichen, den meisten Kollegen bekannten Problematik befindet sich der stellvertretende Schulleiter in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zum Schulleiter, er wird von den übrigen Mitgliedern der Leitungsgruppe als dessen Adlatus angesehen, dem man sich nicht anvertrauen darf und der nicht teambereit ist. Dritte in der Hierarchie ist die Pädagogische Leiterin. Frau B. bildet im Leitungsorganigramm neben dem Schulleiter und seinem Stellvertreter die zweite vertikale Säule der Macht. Als Pädagogische Leiterin befindet sie sich allerdings auch in einer Sandwich-Position zwischen Schulleiter und Kollegium. Sie ist zugleich in einer Schlüsselposition. Frau B.’s Aufgabenspektrum ist groß und reicht von der Organisation von Schulfesten bis zur Leitung der Steuergruppe des Schulprogramms. Eine Stellen- und Aufgaben-

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beschreibung ist in der Dienstordnung festgelegt. Neben eher formalen Aufgaben, wie die der Abwesenheitsvertreterin für den Schulleiter, hat sie ganz wesentliche impulsgebende und prozessbegleitende Aufgaben für die gesamte pädagogische und organisatorische Gestaltung der Schule. Sie hat somit eher die Rolle einer Entwicklungshelferin als die Rolle eines Entscheidungsträgers oder eines Chefs. Ein weiteres weibliches Schulleitungsteammitglied, Frau A., in Frau B.’s Alter, leitet die gymnasiale Abteilung der Schule mit einem vergleichsweise überschaubaren Aufgabenspektrum. Sie ist, wie auch der Leiter der Sekundarstufenabteilung, direkt dem Schulleiter unterstellt. Dieser Kollege hat sich geraume Zeit in einem Coaching-Prozess befunden, der im Wesentlichen von dem erfolglosen Kampf um Anerkennung durch den Schulleiter bestimmt war. Er hat nach mehreren Jahren nun die Konsequenz gezogen und sich auf eine andere Stelle beworben und die Schule verlassen. Die Stelle der Grundstufenleitung ist innerhalb weniger Jahre aus ähnlichen Gründen zweimal vakant geworden. Frau L., eine hoch engagierte, streitbare und methodisch versierte Grundstufenleiterin, hat kürzlich die Schule nach nur einem Jahr verlassen und die Stelle einer Schulleiterin an einer anderen Schule angenommen. Ihre zentralen Motive für den Weggang waren fehlende Unterstützung sowie ein zerrüttetes Vertrauensverhältnis zur Schulleitung und den vorgesetzten Behörden. Auch meine Klientin trägt sich seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, die Schule zu verlassen. Wenn Leiten zum Leiden wird: Frau B.’s Arbeitsfeld im Leitungsteam und in der Schule ist geprägt von einem deutlich autoritativen und nicht partizipativen Leitungsstil. Es herrscht innerhalb der Mitglieder der Schulleitung eine angstgetönte, desolate, verzweifelte und ohnmächtige Stimmung, geprägt von wechselseitigem Misstrauen. Gruppenanalytisch können diese Prozesse als Regression auf eine der Grundannahmen von Bion (1961), »Kampf-Flucht«, verstanden werden, das heißt das Leitungsteam konfiguriert sich zum Zeitpunkt der Beratung nicht als Arbeitsgruppe im Bion’schen Sinne. Wenn sich die Fragen nach der Zugehörigkeit, dem gemeinsamen Arbeitsauftrag und seiner Umsetzung nicht fachlich klären lassen, werden latent vorhandene Wün-

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sche nach Verschmelzung und Ausstoßung mobilisiert ebenso wie die dazu gehörenden Ängste. Organisationspsychologisch gesehen scheint zudem kein Mitglied des Schulleitungsteams über die adäquaten Instrumente zur Steuerung, Begleitung und Evaluation der von den vorgesetzten Behörden vorgegebenen Ziele zu verfügen. Kurz, Frau B. ist Mitglied eines Leitungsteams, das vor allem leidet: 1. an der Unsicherheit über seine eigene Stabilität, 2. an der Zerrissenheit zwischen den von außen vorgegebenen Zielen und der geheimen Vorgabe des Schulleiters, diese nicht zu erfüllen; hier bestehen mehrere Fronten und schließen Teile des Kollegiums oder des Personalrates ein, und 3. am fachlichen Unvermögen, Leitung kompetent wahrzunehmen. Nun ist, was in der Darstellung der Klientin als statisch und unbeeinflussbar erlebt wird, wie in allen Unternehmen und Institutionen eine dynamische Matrix, die aus der Interaktion dreier Gruppen immer wieder neu hergestellt und bestätigt wird: Gleichgestellte, Untergebene und Vorgesetzte (Haubl 2005). Betrachtet man allein den Mikrokosmos der Beziehungen innerhalb des Schulleitungsgremiums, so fällt eine zentrifugale Tendenz auf. Innerhalb des Beobachtungszeitraums werden Mitglieder ausgestoßen und lassen sich ausstoßen. Dies scheint zunächst allein vom Schulleiter auszugehen, umgekehrt phantasiert Frau B. jedoch auch, der Schulleiter selbst habe Abwanderungspläne, wolle zum Kultusministerium. Aus der Perspektive eines gruppenanalytisch orientierten Coachings lassen sich zwei Ebenen des Handelns und Erlebens beschreiben: − Eine archaische, zerstörerische Ebene, auf der es um Herrschaft und Unterwerfung geht. Alles, was nicht vom Schulleiter ausgeht, wird von ihm offenbar als so bedrohlich erlebt, dass er es zerschlagen muss. Die Kollegen verharren in ungeklärten Rollen, in Angst und Paranoia. So muten die vielfältigen Bemühungen von Frau B., vom Schulleitungsteam und von einzelnen Kollegen, unter diesen Bedingungen Schulentwicklung zu machen, bizarr und paradox an. − Da die zweite Ebene des »Wie wir miteinander arbeiten« nicht konsensuell geklärt werden kann oder darf, findet die Arbeit in

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einem instabilen Umfeld statt, das jederzeit zerschlagen werden kann, solange die erste Ebene nicht geklärt ist.

■ Aspekte der privaten und beruflichen Biografie Frau B. ist in den 1960er Jahren geboren; sie ist studierte Gymnasiallehrerin, gern und mit großem Engagement, wie sie beteuert. Für die Übernahme einer Leitungsfunktion habe sie sich gleichwohl schon immer interessiert. Wichtige Orientierungen und Ideen hat sie schon während des Studiums gehabt. In dieser Zeit lernt sie ihren ersten Partner kennen, einen Studienkollegen und der spätere Vater ihres Kindes. Im Jahr der Geburt ihres Kindes kaufen sie gemeinsam ein Haus und nehmen, um wegen der hohen Schulden Geld anzusparen, einige Jahre eine gut dotierte Auslandstelle an. Initiative und Planung gehen von ihr aus, ihr Partner sei eher ein »Mitläufer« gewesen. Wenn auch der Auslandsaufenthalt in erster Linie finanziell motiviert war, ist Frau B. doch auch damals schon an einer leitenden Funktion interessiert, sie wird jedoch als Lehrerin eingestellt. Ihr Beziehungspartner wird Schulleiter, da »die autoritären Herren keine weibliche Leitung« wollten. Ihm haben die Vorgesetzten die Leitung zugetraut, nicht ihr, was sie schon sehr gekränkt hat, zumal ihr Mann selbst nicht unbedingt die Leitung haben wollte. Auffallend ist, dass bereits damals Frau B.’s Wunsch nach Leitung unerfüllt und zugleich abstrakt bleibt, da er zunächst in ihrer Wahrnehmung an der Realität von »autoritären Herren« gescheitert ist, die nicht zuließen und ihr nicht zutrauten, dass sie leiten kann. Dieses Muster wiederholte sich in den nachfolgenden entscheidenden beruflichen Stationen in Form der Konkurrentenklage und der Entmachtung durch den ebenfalls als autoritär erlebten Schulleiter. Weiterreichende Parallelen zu wesentlichen Beziehungsfiguren der frühen Kindheit können hier nur vermutet, nahe liegende Gender-Aspekte nicht vertieft werden. Es manifestiert sich rückblickend wie auch im Prozess des Coachings die erlebte Geschichte eines Scheiterns an der Macht der Männer. So hat Frau B. einen anhaltenden und deutlichen Wunsch nach Leitung aufrechterhalten, ohne ihn in der gelebten Praxis erfolg-

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reich umsetzen zu können. Es ließe sich die These formulieren, dass in Analogie zu einem bestimmten Kommunikationsverhalten auch ein spezifischer Leitungsstil mit lebensgeschichtlichen Beziehungserfahrungen bzw. Interaktionsformen korrespondiert (vgl. Haubl 1997, S. 113).

■ Individuell-biografische, team- und systembezogene Belastungsfaktoren und Grenzen des Coachings Frau B. befindet sich also, wie im Verlauf der Sitzungen deutlich wird, in einem dreifachen Spannungsfeld: 1. ihre verzögerte offizielle Rollenübernahme durch die Konkurrentenklage, 2. der fortdauernde, schwelende Konflikt mit dem Schulleiter, dessen Herrschaftsansprüchen sie sich ungeschützt ausgeliefert fühlt, und 3. die Unmöglichkeit von Solidarisierungsprozessen im chronisch und durch hohe Fluktuation labilisierten Schulleitungsteam. Dazu kommt die Unkenntnis oder zumindest große Unsicherheit in der Anwendung geeigneter Methoden und Strategien zur Steuerung von Entwicklungsprozessen in ihrer Schule. Schließlich werden auch biographisch vermittelte Persönlichkeitszüge in der gemeinsamen Arbeit erfahrbar und thematisierbar, die ein erfolgreiches Leitungshandeln erschweren: eine Neigung zur Kontrolle und eine Vermeidung von Kontakt, die in den Papieren und Protokollen, die sie zwischen sich und die Anderen schiebt, zum Ausdruck kommt. Beides erschwert die Motivation und Einbindung Dritter im Sinne von »Betroffene zu Beteiligten machen« und verhindert eine Delegation von Aufgaben, wodurch sie sich entlasten könnte. Die vielen Jahre, die Frau B. in dieser belastenden Situation eher ausgehalten als sie gestaltet hat, haben Spuren hinterlassen, sie seelisch und körperlich so erschüttert, dass neben einem Coaching zumindest eine begleitende Therapie und zudem weitere Fortbildung im Bereich Schulentwicklung sinnvoll erscheinen. Hinweise auf entsprechende Fortbildungsveranstaltungen im damaligen HeLP (Hessisches Landesinstitut für Pädagogik) greift sie jedoch

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zunächst nicht auf, sondern will sich, wie mir scheint, ganz auf mich verlassen. Zentrale Frage ist, ob sie sich gemeinsam mit anderen Entscheidungsträgern ihrer Schule so formieren kann, dass sie ihre Vorstellungen von Teamarbeit und Schulentwicklung gegenüber einem autoritären und autokratischen Chef gemeinsam durchsetzen können. Andernfalls müsste sie allein handlungsfähig werden, die Schule verlassen und sich ein Tätigkeitsfeld suchen, das ihren Vorstellungen und Fähigkeiten mehr entspricht. Dies thematisiere ich am Ende der vierten Stunde, die sie mit dem Seufzer »Ich glaube, ich bin schon wieder reif für die Insel« begonnen hat. Ich greife die Metapher auf und formuliere als Ziel: Entweder die eigene Insel begrünen oder sich eine neue Insel suchen. »Ist diese Schule und wenn, unter welchen Bedingungen, zu bewirtschaften? Falls nicht, stellt sich die Frage nach einem Wechsel auf ein Terrain, das Sie bewältigen können.«

■ Herausforderungen und Chancen von Coaching im pädagogischen Feld – Eine vorläufige Analyse Am Beispiel von Frau B. lässt sich erkennen, wie die persönliche Prägung der Protagonistin – hier: die Sehnsucht, eine Führungsposition zu bekleiden – mit einem System kollidiert, in dem Rollenstrukturen unscharf sind und Leitungskräfte nicht ausgebildet werden.

■ Überlegungen zu einem gruppenanalytisch orientiertem Coaching Die Methode des Coachings korrespondiert nicht nur mit der viel zitierten »Einsamkeit an der Spitze« einer Führungsrolle, sie trägt zudem dem legitimen Wunsch nach einem geschützten Raum Rechnung. Pühl (2000) empfiehlt zur Abgrenzung von Therapie, den Beratungsprozess auf die Rollenberatung zu fokussieren. Nun ist die Rollenklarheit schulischer Leitungskräfte strukturell nicht gege-

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ben oder erst in den Anfängen einer Entwicklung. In die Rolle und ihre Ausgestaltung geht zudem das Unbewusste der Person ebenso ein wie das Unbewusste der Institution und führt zu einer hoch individuellen Gestaltung. Im Fall von Frau B. wurde eine sehr belastende Verbindung dieser strukturellen und lebensgeschichtlich vermittelten Problematik, Leitungswünsche und Leitungsanforderungen zu konkretisieren, sichtbar. Coaching muss somit immer in einem dynamischen Wechselspiel von individuumszentrierter und systemzentrierter Arbeit stattfinden. Wenngleich der Fokus auf der Entwicklung größerer Rollenklarheit und Rollenpräsenz verbunden mit effizienteren Leitungsinstrumentarien des Einzelnen liegt, ist Coaching immer auch implizit eine Intervention im System. Gruppenanalytisch orientiertes Coaching bedeutet für mich konzeptionell, dass ich versuche, bereits allen Ereignissen im Kontext der Coaching-Anfrage größte Aufmerksamkeit zu widmen. Sie enthalten oft wesentliche Informationen zur Beziehungs- oder Interaktionsform, in der sich die beschriebenen Aufgaben, Probleme und Krisen konfigurieren. Es sind die Figur-Grund-Phänomene, die die institutionellen Bedingungsfaktoren von Gelingen und Scheitern erhellen helfen. Methodisch bedeutet dies, wesentliche Interaktionsformen der Klienten und ihrer Institutionen im Hier und Jetzt der CoachingSitzung wahrzunehmen und anzusprechen. Was Yalom (1970) und Foulkes (1978) als Wirkfaktoren für die Therapie bzw. Gruppenanalyse postuliert haben, 1. die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehung und 2. die Vorstellung von Therapie als sozialem Mikrokosmos, gilt nach meiner Beobachtung auch für das Coaching. So hat mir die möglichst genaue Analyse meiner eigenen Gefühle angesichts des verschobenen Beginns geholfen, einen wesentlichen Aspekt der Ambivalenz Frau B.’s. in der Vertretung ihrer eigenen Interessen aufzuspüren. Aufgrund dieser eigenen Erfahrung konnte ich mir gut vorstellen, wie wenig prägnant sie in ihrem Leitungsverhalten auf andere wirken musste. Es hat sich als viel wirksamer erwiesen, diese gemeinsame Interaktionsszene in der Sitzung anzusprechen und in ihrer Bedeutung für sie erlebbar zu machen, als die Ambivalenz ihres Leitungshandelns nur zu deuten.

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Im Prozess gruppenanalytischen Coachings sind das Ringen um die gruppenanalytische Haltung sensu Foulkes (1978), die Konzeptualisierung der Matrix, die Beachtung von Figur-GrundPhänomen und der sinnverstehende Zugang zu Blockaden und Stagnationen über das Modell der Grundannahmen (Bion 1961) konstitutiv. Gruppenanalytisches Coaching bedeutet, Interventionen und Strategien im Kontext der Institutionsmatrix zu reflektieren, es richtet die Aufmerksamkeit immer auf die Beziehungen und nicht auf Personen. Neben Schwierigkeiten und Widerständen werden so auch Erfolge und gelingende Prozesse als gemeinsam möglich gewordene begriffen.

■ Voraussetzungen von Coaching im pädagogischen Feld Woran misst sich nun ein erfolgreiches schulisches Leitungscoaching? In den gängigen Managementseminaren der Wirtschaft dominieren Themen, die den einfachen Weg zu Erfolg und Karriere suggerieren. Sie werden von Referenten oder Coachs proklamiert, die sich selbst als Experten (miss-)verstehen und die Illusion einer Beratung im Sinne des paternalistischen Modells bedienen (Haubl 2005). Faktisch liegen Erfolg und Misserfolg im Leitungshandeln eng beieinander und sind Resultat eines komplexen Prozesses der Institutionsmatrix, der nicht aus einer Hand gesteuert werden kann. Es fehlt jedoch im Profit- wie im Non-Profit-Bereich eine Kultur des reflektierten Umgangs mit Krisen und Scheitern. Sie sind nach wie vor gesellschaftlich tabuisiert. Gruppenanalytisches Coaching, das auf der Wahrung oder zumindest auf dem Ringen um die gruppenanalytische Haltung (Foulkes 1978) basiert, kann hierfür als Modell dienen. Coaching von pädagogischen Leitungskräften, wie im Fall von Frau B., wird zunehmend nachgefragt. Die Ausgangssituation ist oft geprägt von Bedingungen und Faktoren, die mit den eingangs beschriebenen Unterschieden zwischen der Situation von Leitungskräften im Profit- und Non-Profit-Bereich korrespondieren. Unklarheit des Rollenauftrags, Unmündigkeit und Abhängigkeit unterstützende Auswahlprozesse, fehlende methodische Instru-

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mente und fehlende Grundkenntnisse über die Steuerung von Entwicklungsprozessen in sozialen Systemen verhindern eine selbstbewusste und frühzeitige Inanspruchnahme dieses Angebots. Anders als von den Personalberatern großer und mittlerer Unternehmen wird Coaching in der Schule von den Schulamtsdirektoren und Schulamtsdirektorinnen bislang nicht systematisch nachgefragt. Aufgrund dieser Unterschiede kommen schulische Leitungskräfte oft erst am Ende ihrer physischen und psychischen Reserven in einen Coaching-Prozess. Angesichts dieser strukturellen Problematik stellt sich die Frage nach den je aktuellen Ressourcen für eine Veränderung der zu coachenden Personen, verbunden mit der verantwortungsvollen Aufgabe, deren ich-strukturellen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Fragen, die in besonderem Maß auch in Hinblick auf die Institution gestellt werden müssen, zumal wenn das System, in das die Institution eingebettet ist, keine Kultur der lernenden Organisation entwickelt hat (Pühl 2000). Hinzu kommen Aspekte der Statuskonkurrenz durch die unterschiedlichen Berufsgruppen im pädagogischen Feld, die in der Wahrnehmung der Coachees und auch real hierarchisch sind, beispielsweise wenn die frühere Kollegin nunmehr Dienstvorgesetzte und Leiterin ist – mit den entsprechenden Problemen für beide Seiten. Gruppenanalytisches Coaching bietet Leitungskräften im Profit- und Non-Profit-Bereich im Kontrast zu traditionellen Fortbildungs- und Schulungsangeboten eine professionelle Selbstreflexion der eigenen Effizienz auf drei Ebenen: die der Ziele, der Methoden und der entfalteten Beziehungsdynamik. Trotz seines deutlich erkennbaren großen potenziellen Nutzens leidet das Coaching von schulischen Leitungskräften an strukturellen Problemen. Damit Coaching ein erfolgreiches Entwicklungsinstrument und nicht nur Krisenbewältigung und Ausstiegsbegleitung sein kann, müssen die formalen, inhaltlichen und persönlichen Voraussetzungen von Leitung in Form eines prägnanten Berufsbildes »Schulleitung« deutlich benannt werden. Bereits in der ersten Ausbildungsphase, also im Studium, müssen Angebote für an Leitung interessierte Studentinnen und Studenten bereitgehalten, in der zweiten Phase der Ausbildung, im Referendariat, Methoden und Instrumente der Organisationsentwicklung er-

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probt und frühzeitig persönliche und fachliche Eignungen gefördert werden. Mit anderen Worten, das Management von Schulen als klar umschriebenes eigenständiges Berufsbild müsste in allen Ausbildungsphasen, in den Konzepten der Personalentwicklung, zum Beispiel der Potenzialanalyse, in den Auswahlanforderungen und Auswahlmodi und nicht zuletzt in der Bezahlung, begründet und sichtbar werden. Ebenso wie vor dem Kontrakt der Kontakt und die Auftragsklärung liegen, muss vor der Arbeit an der Positionierung in der Leitungsrolle ein kommunizierbares und überindividuell gültiges Leitungsprofil existieren. Wenn Schulleiterinnen und Schulleiter überwiegend Lehrkräfte bleiben müssen, deren Arbeitszeit in Unterrichtswochenstunden berechnet wird, erscheint das Coaching von pädagogischen Leitungskräften als zumindest schwieriges Unterfangen. Wünschenswert ist eine Erweiterung und Institutionalisierung von Fortbildungsangeboten für Schulleiterinnen und Schulleiter vor und »on-the-job«, damit Coaching nicht mit dem Parallelauftrag der Qualifizierung überfrachtet wird (Hessisches Kultusministerium 1993, 2005). Erfolgreiches Coaching bemisst sich nicht zuletzt an den professionellen und persönlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Coachs. Dazu zählen seine Feldkompetenz und hinreichende Felddistanz, Methoden und Kenntnisse zu Organisationsentwicklung ebenso wie gruppenanalytische oder systemische Ausbildung. Sie bilden die Basis, auf der Reinszenisierungen im Hier und Jetzt der Coachingsitzungen als Übertragungsprozesse verstanden werden können. Sie unterstützen den Prozess, die bewussten und unbewussten Strategien und Techniken aufzuklären, die die verschiedenen Mitglieder einer Organisation entwickelt haben, um Einfluss zu nehmen (Haubl 2005).

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■ Literatur Bion, B. R. (1961): Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart. Eunicke-Morell, C. (1991): Unterrichtsstörungen als Beziehungsstörungen. Bericht und Analyse einer psychoanalytisch orientierten Supervision mit einer Gruppe Lehrerinnen. In: Heyse, H. (Hg): Schule im Spannungsfeld von Beratung. Bonn, S. 169–176. Foulkes, S. H. (1978): Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie. München. Haubl, R. (1997): Gruppenleitung und Selbstorganisation der Gruppe. Zugleich eine Rekonstruktion der gruppenanalytischen Theorie von S. H. Foulkes. In: Jahrbuch für Gruppenanalyse 3: 107–139. Haubl, R. (2005): Mikropolitik für gruppenanalytische Supervisoren und Organisationsberater. In: Haubl, R.; Heltzel, R.; Barthel-Rösing, M. (Hg): Gruppenanalytische Supervision und Organisationsberatung. Gießen, S. 53–78. Kultusministerium (1998): Amtsblatt des hessischen Kultusministeriums Nr. 9, Dienstordnung vom 22.07.1998. Wiesbaden, S. 598–600. Kultusministerium (1993): Amtsblatt des hessischen Kultusministeriums Nr. 11, Erlass vom 15. Oktober 1993: Weiterbildungsmaßnahmen für Schulleiterinnen und Schulleiter zur Wahrnehmung einer Leitungsfunktion. Wiesbaden, S. 1229–1230. Kultusministerium (2005): Presseinformation Nr. 98 vom 9. Dezember. Wiesbaden. Kraus, H.; Kraus, K. (2002): Frauen und Macht. In: Wolf, M. (Hg): Frauen und Männer in Organisationen und Leitungsfunktionen. Unbewusste Prozesse und die Dynamik von Macht und Geschlecht. Frankfurt a. M., S. 37–54. Pühl, H. (2000): Einzelsupervision – Coaching – Leitungsberatung: Drei Begriffe für dieselbe Sache? In: Pühl, H. (Hg.): Handbuch der Supervision. 2. Aufl. Berlin, S. 100–111. Rauen, C. (2003): Coaching. Innovative Konzepte im Vergleich. Göttingen. Yalom, I. D. (1970): Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Ein Lehrbuch. München.

■ Heidi Möller und Claudia Meister-Scheytt

Autonomie Macht Abhängigkeit

■ Zur Dynamik des Wandels Dynamiken des Wandels sind vielfach beschrieben. Der Begriff des Change-Managements hat Hochkonjunktur – so sehr, dass man diese Begrifflichkeiten kaum noch hören mag. Eine wahre Inflation von Büchern ist in den Buchläden zu finden, die Regale sind meterweise mit Literatur zum Wandel gefüllt. Die viele Menschen beim Thema des organisationalen Wandels ereilende Abwehr gilt dabei weniger dem Terminus selbst, als den mit Wandlungsdynamiken einhergehenden psychischen Prozessen. Schon werden Stimmen laut, dass der Begriff des Wandels gar nicht mehr hinreichend ist. Organisatorische Veränderungen können zwei unterschiedliche Qualitäten aufweisen (vgl. Argyris 1996). Von einem Wandel erster Ordnung ist im Falle von Veränderungen von einem internen Zustand zu einem anderen innerhalb eines selbst invariant bleibenden Systems die Rede. Der Wandel erster Ordnung zielt damit auf eine inkrementelle Verbesserung, Effektivierung und Anpassung einer Organisation in Anbetracht zu lösender Probleme oder Aufgaben, ohne dabei die dominanten Bezugsrahmen oder Interpretationsschemata zu verändern. Veränderung hat dabei den Charakter von Handlungs- und Fehlerkorrekturen und trägt zur alltäglichen Reproduktion einer Organisation bei. Die Reichweite des Wandels erster Ordnung erstreckt sich allenfalls auf die Ebene der organisatorischen Reproduktionsdynamik. Von diesem inkrementellen Veränderungstypus unterscheidet sich der Wandel zweiter Ordnung als eine Metaveränderung, die eine Organisation oder ein System selbst qualitativ verändert.

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Moderne Autorinnen1 der Organisationsentwicklung (vgl. Fatzer 2005, S. 17) benutzen den Begriff »Transformation«: »Transformation impliziert radikale Veränderungen in der Art und Weise wie Organisationsmitglieder wahrnehmen, denken und sich bei der Arbeit verhalten. Diese Veränderungen umfassen weit mehr als Verbesserungen der aktuellen Organisation oder die Verfeinerung des Status quo. Sie befassen sich mit fundamentalen Veränderungen der Grundannahmen darüber, wie die Organisation zu ihrer Umgebung und ihren Funktionen in Beziehung steht. Die Veränderung dieser Grundannahmen umfasst signifikante ›shifts‹ oder Paradigmenwechsel in der Unternehmensphilosophie, in den Werten und in den zahlreichen strukturellen Merkmalen, die das Verhalten der Mitarbeiterinnen formt. Es ist nicht nur so, dass der Umfang der Veränderung größer ist, sondern die qualitative Natur der Organisation wird nachhaltig verändert.« Im Unterschied dazu ist ein Wandlungsprozess oder Changemanagement in Organisationen »die Begleitung und Unterstützung von Wandlung oder Veränderung von Menschen und/oder Organisationen und ist auf Wachstum ausgerichtet« (Schöfer 2005, S. 97). Transformation in Organisationen stellt einen Wandel sozialer Systeme dar und ist auf Zukunftsfähigkeit ausgerichtet. Der Wandel sozialer Systeme ist dabei proportional abhängig von der Zukunftsfähigkeit der Organisation. Zukunftsfähig meint in diesem Kontext die dauerhafte Sicherung der Grundbedürfnisse kommender Generationen, die nicht nur auf ausschließlich quantitatives Wachstums ausgerichtet ist, sondern auch die Bereitschaft zur Selbstbegrenzung der gegenwärtigen Generation beinhaltet (Brand 1997, S. 13). Wenn wir uns noch einmal dem Wandel zuwenden, dann weiß ein jedes Mitglied einer Organisation, dass dies Prozesse sind, denen wir uns unterziehen müssen. Wir haben keine Wahl, es sei denn, wir überantworten die Organisation dem Sterben. Das gilt auch für die Beraterinnen, die den Wandel begleiten und sich gleichzeitig in eben einem solchen Prozess befinden, denn das Beraterportfolio selbst will auch stetig überarbeitet werden (vgl. Möl1 Für die Bezeichnung der Geschlechter wurde aus rein stilistischen Gründen durchgehend die weibliche Form gewählt.

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ler 2005). Wir müssen also innovativ und kreativ sein, und auf der anderen Seite wissen wir als Beraterinnen und als Mitglieder von Organisationen, wie viele dieser Re-Engineeringprozesse scheitern und/oder im Sande verlaufen. In der Literatur spricht man von bis zu 70 Prozent dieser Projekte, die scheitern (Gröger 2004). Das Dilemma dem Wandel oder gar der Transformation gegenüber ließe sich in etwa folgendermaßen skizzieren: Wir wissen kognitiv, dass wir uns ständig in einem dynamischen Wandel halten müssen. Wir wissen zudem, wie viele Changemanagementprozesse schief gehen und wir kennen unsere vorbewusste Seite, die eher: »Nein, nicht schon wieder« ruft. Viele Beraterinnen retten sich über ihre eigene Abwehr dadurch hinweg, dass sie sich auf die Seite der Wissenden schlagen und die Fehler der anderen ausmachen: »Schaut man genauer hin, fällt auf, dass bei diesen Change-Management-Desastern in den meisten Fällen wirksame Qualitäts- und Feedbackmechanismen gefehlt haben. Dies hat sicher damit zu tun, dass fast alle Projekte als Expertinnenberatungsprojekte angelegt waren, was die erwarteten und bei Schein (2000) breit dargestellten Probleme schafft. Untersucht man die Projekte genauer, kann man feststellen, dass Gefäße für den Dialog unter allen Beteiligten gefehlt haben, dass stattdessen ›defensive Routinen‹ zwischen Beraterinnen und den Auftraggeberinnen im Gang waren (Argyris 1996) und dass sämtliche Prinzipien guter Prozessberatung (Schein 2000) außer Acht gelassen wurden« (Fatzer 2005, S. 67). Diese Kritik ist berechtigt und sicherlich zutreffend, nur ist keine von uns Beraterinnen davor gefeit, es auch nicht besser machen zu können. Es gibt so vieles, was den Wandlungsprozess unterstützt oder blockiert, auf der bewussten und unbewussten Ebene, was wir einfach (noch?) nicht kennen. Es mag lohnenswert erscheinen, sich an dieser Stelle die ökonomisch/gesellschaftlichen Megatrends vor Augen zu führen, vor deren Hintergrund unsere Beratungsarbeit stattfindet oder von der wir ergriffen sind, wenn wir uns im Status der Organisationsmitgliedschaft befinden: die Globalisierung, die Beschleunigung des Erwerbs- und Privatlebens, der Strukturwandel der Gesellschaft und der demographische Wandel. Globalisierung meint internationale Arbeitsteilung und nahezu grenzenlose Mobilität, eine

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neue Verflechtung von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Beziehungen und eine deutliche Verschärfung des Wettbewerbes – einhergehend mit einer Hilflosigkeit nationaler Politiken, die in keiner Weise so potent regieren können, wie es einst der Fall gewesen ist. Wir haben zudem eine rasant fortschreitende technische Entwicklung, die deutlich werden lässt, dass nicht alle Menschen die erforderlichen Adaptationen im Verhalten und Erleben bewältigen können und diesem Wettbewerb nicht standhalten. Die Liste der Veränderungen, die in allen gesellschaftlichen Subsystemen derzeit stattfinden, ließe sich noch um vieles ergänzen: Vollständigkeit zu erreichen, soll hier aber nicht unser Ziel sein. Vielmehr wollen wir den Blick der Leserinnen darauf richten, dass die oben nur kursorisch beschriebenen Veränderungen selbstredend auch Einfluss auf die Gestaltung und Veränderung öffentlicher Verwaltungen haben. Selbst die neben der Katholischen Kirche am längsten existierende Institution, die europäische Universität, hat sich in den vergangenen Jahren einem dramatischen Gestaltwandel unterziehen müssen. Wie der im Einzelnen aussieht, was diese Veränderung für die in Universität tätigen Führungskräfte, die Professorinnen, das wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Personal bedeuten und wie diese sie empfinden, darauf wollen wir später dezidiert eingehen.

■ Persönlichkeitsmerkmale und Wandlungsprozesse Menschen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Haltung gegenüber Veränderungsprozessen. Wollen wir es dichotom ausdrücken, differenzieren sie sich in die, die rufen: »Hurra, was Neues!«, und die anderen, die schreien: »Oh Gott, schon wieder was Neues!«. Gesichert wissen wir (vgl. Doppler u. Lauterburg 1994), dass ein Wandel, der als Angriff auf die persönliche und organisationale Identität erlebt wird, in der Regel immer zu Blockierungen, zum Widerstand bis hin zur Sabotage führt. Die Unterschiede im Erleben der Organisationsmitglieder speist sich

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zudem aus der individuellen und organisationalen Lerngeschichte und aus der Rolle, die ich in diesem Spiel einnehme (Tabelle 1). Tabelle 1: Rollen im Wandlungsprozess (nach Becker u. Langosch 1995, S. 192) Rollen der Beteiligten aktiv Innovierende

– Notwendigkeit der Veränderung erkannt – setzt Innovationen im Unternehmen durch – beteiligt bei der Entwicklung und der Abstimmung des Innovationsplans – Realisierung und Kontrolle der Innovation – keine Widerstände, wenn Erkenntnis der Veränderungsnotwendigkeit vorhanden – Aufgabe, auch passiv Involvierte zu überzeugen

passiv Involvierte

– ist von der Maßnahme betroffen und muss ihr Verhalten ändern – sollte sich idealtypisch reibungslos an die neue Situation und an die geänderten Rollenanforderungen anpassen – Widerstand je nach Antizipation der Ergebnisse der Veränderung und nach Erleben der Veränderungssituation – Widerstandsform je nach Veränderung, Veränderungsstrategie und Persönlichkeitsstruktur

Als aktiv Innovierende kann ich mich anschlussfähig machen, ich habe es relativ leicht. Sehe ich mich eher als »Opfer« dieser Prozesse, ist klar, dass ich in anderer Weise emotional reagiere. Jedes Organisationsmitglied reagiert vorbewusst auf die Ankündigung einer Veränderung mit einer kognitiv-emotionalen Rechnung, in die auch unbewusste Aspekte einfließen. Dieser Prozess dauert Sekunden: »Welchen Anreiz gibt es, mich hier den neuen Herausforderungen zu stellen?« Die subjektive Einschätzung kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen: − eine interessantere Arbeit, − höherer Verdienst, − die Überzeugung, dass ich den Anforderungen gewachsen bin – im Sinne der Selbstkontrollüberzeugung –, oder − negative Aspekte meiner Tätigkeit fallen weg, es wird leichter, weniger aufwendig oder komplex.

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Dem stehen negative Einschätzungen gegenüber, die dazu führen können, dass keiner mitmachen wollen wird: − diese Herausforderung ist nicht zu bewältigen, − ich muss viel Neues lernen, − sie hat für mich im Wesentlichen negative Konsequenzen, − mir wird Mobilität aufgezwungen, − Sanktionen und Statusverlust sind zu befürchten – bis hin zum Arbeitsplatzverlust. Eine ganze Menge von Reorganisationsprozessen hat die Innovationskraft der Menschen systematisch zerstört. Als Beispiel mag die Umstrukturierung »Arbeitsamt 2000« gelten, an der eine der Autorinnen (Möller) als »Täterin« mitwirkte. Ein sinnvolles Projekt: eine Ansprechpartnerin für jede Arbeitslose, Leistungsberechnung und Beratung in einer Hand. Man bildete Teams und flache Hierarchien, agierte im Sinne des Jobenlargements, jede musste alles können. Dieser Prozess wurde systematisch »durchgeprügelt«, bis der Skandal um die heutige Bundesagentur für Arbeit den Prozess wieder umdrehen ließ. Es ist nur zu verständlich, warum die Mitarbeiterinnen der Bundesagentur für Arbeit heute als reformmüde gelten können. Unterschiedliche Menschen in diesen Veränderungsprozessen brauchen aufgrund ihrer Biographie in unterschiedlichem Maße Sicherheit. Es gibt diejenigen, die die Arbeitsbedingungen gern überschaubar und unveränderlich haben und sich durch Beharrungsvermögen auszeichnen. Und es gibt Menschen, die stabiler in ihrer Identität sind, dementsprechend offener für Veränderungsprozesse sein können und Spannungen und Unsicherheiten aushalten. Für Beraterinnen ist es unabdingbar, Wertschätzung für diese beiden dichotomen Positionen zu schaffen. Es gilt deutlich zu machen, dass diejenigen, die die Beharrerinnen sind, auch eine wertvolle Funktion für den Wandlungsprozess haben, weil sie Veränderungsprozesse in guter Weise regulieren helfen können. Soll heißen, dass wir denken, dass wir bei der Beratung darauf achten müssen, Organisationsmitgliedern ein Bewusstsein der Komplementarität der beiden Pole im Wandel zu vermitteln, so dass viele mitgenommen werden können und auch die Bewahrerinnen eine sinnvolle Funktion in einem Changemanagementprozess haben.

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■ Fallbeispiel: Die Veränderung der österreichischen Universitäten durch das Universitätsgesetz 2002 Wir wollen nun zur beispielhaften Verdeutlichung der oben skizzierten Entwicklungen genauer auf den Veränderungsprozess eingehen, der sich an den österreichischen Universitäten derzeit vollzieht. Dazu wird das Fallbeispiel von der Dekanin als Agentin des Wandels (Möller) und der Hochschulmanagementforscherin (Meister-Scheytt) gemeinsam erzählt. Die als Auswirkung der 1968er Bewegung erkämpfte »revolutionäre« Form der Verankerung demokratischer Prinzipien in den Universitäten hatte – so wissen wir heute – nicht die damals intendierten Folgen, sondern vielmehr im Laufe der Jahre eine verstärkte Bürokratisierung und teilweise massive Inflexibilitäten zur Folge (Laske 2006). Demokratisierung als »Multiplikation der Entscheidungslast« (Luhmann 1992) führte dazu, dass mitunter selbst kleinste Entscheidungen komplexe und aufwendige Prozeduren erforderten (»Sitzungsuniversität«) und auch dadurch bedingt inneruniversitär klare Entscheidungsstrukturen und -verantwortlichkeiten fehlten. Die zunehmende Größe des Systems, die Aufgabenfülle und die Problemferne des Ministeriums waren auch immer heftiger artikulierte Gründe für die Forderung nach einer Verlagerung von Entscheidungskompetenzen und -prozessen vom Zentrum (dem Ministerium) zu den dezentralen Einheiten (den Universitäten). Im Anschluss an diese Forderung und auch vor dem Hintergrund der Standpunkte bestimmter Interessengruppen (z. B. des Professorinnenverbands) nach Abschwächung der »Überdemokratisierung« wurde der Ruf der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik nach einer Reform der Universitäten immer lauter. Auch war es nicht zu übersehen, dass die Universität mittlerweile partiell zu korrumpierten Systemen geworden waren. Für manche Hochschullehrerin war das Beamtinnensalaire mittlerweile zu »pocket money« geworden, die eigentlichen Verdienste wurden in der Dienstzeit, an der Universität vorbei, meist ohne genehmigte Nebentätigkeiten und natürlich für die eigene Rechnung gemacht. Hier findet zurzeit ein begrüßenswerter Abschied im Sinne des Qualitätsmanagements und der Interessen der Steuerzahlerinnen statt.

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Mit der fortschreitenden Reformierung des öffentlichen Sektors – nicht nur in Österreich – und der zunehmenden Einführung von Managementpraktiken, die aus gewinnorientiert arbeitenden Unternehmen stammen, verschwimmen die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen aber zunehmend (Cornforth 2003). Die Reform der österreichischen Hochschulen nach dem Universitätsgesetz 2002 (UG 2002) ist dafür ein gutes Beispiel. Ein Blick in die Regierungsvorlage zum UG 2002 gibt Aufschluss über die Leitgedanken, die der Gesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzes zugrunde gelegt hat (Sebök 2002, S. 23f.): »Die Autonomie der Universitäten erfordert ein effizientes und eigenverantwortliches Universitätsmanagement. Da bürokratische Regeln entfallen, werden die Entscheidungsbefugnisse aller Leiterinnen und Leiter von Organisationseinheiten der Universitäten stark ausgeweitet […] An die Stelle der ministeriellen Kontrolle der Einhaltung von Regeln tritt die Evaluation der erzielten Wirkungen universitärer Tätigkeit. Autonomie bedeutet auch Selbstverantwortung der Universität für den Aufbau der inneren Organisation.« In diesem Licht betrachtet wird das UG 2002 unter den für das Hochschulwesen verantwortlichen Politikerinnen Europas für eines der mutigsten, anspruchsvollsten und modernsten Universitätsgesetze gehalten (vgl. Höllinger u. Titscher 2004). Ob man der politischen Bewertung nun folgen mag oder nicht – jedenfalls ist dies ein Hinweis darauf, welche Bedeutung rechtliche Rahmensetzungen für die Veränderung des Hochschulsystems besitzen. Konkret bedeutet es für die österreichischen Universitäten die Umwandlung von teilrechtsfähigen Anstalten des Bundes in vollrechtsfähige juristische Personen des öffentlichen Rechts. Die Implementierung des UG 2002 war allerdings nur der letzte Schritt in einer vor etwa dreißig Jahren eingeleiteten Reformpolitik. Deren Verlauf war und ist nicht ausschließlich durch Entwicklungen wie die Anpassung an internationale Standards vor dem Hintergrund der europäischen Integration des Hochschulwesens oder der Öffnung der Universitäten hin zu gesellschaftlichen Bedarfen – etwa der Tendenz zur verstärkten Nachfrage nach Hochschulausbildung – zu erklären. Vielmehr sind die einzelnen Schritte der Reform auch durch die jeweils vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen Vorstellungen davon gekennzeichnet, welche Rolle

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Universitäten in der Gesellschaft inne haben, welche Dienstleistungen durch öffentliche Betriebe und Unternehmen zu erbringen sind und wie, nach welchen Maßstäben und mit welchen Mitteln die Bereitstellung dieser Dienstleistungen zu erfolgen hat. Beginnend also mit der Implementierung des UOG 75, vertieft im UOG 93, und quasi »vollendet« im UG 2002 hat sich die Gesetzgebung und die österreichischen Universitäten auf einen langen, kontinuierlich andauernden Weg der Reform begeben, deren Entwicklungslinien kurz skizziert werden sollen. Schaut man sich genauer an, wie die Entscheidungskompetenzen und die Möglichkeiten der autonomen Willensbildung und -durchsetzung in den Hochschulen sich verlagert haben, so stellt man fest, dass im UOG 75 das Ministerium alle Autonomie inne hatte, die Universität und ihre Untergliederungen als Zwischenebene faktisch über keine Autonomie verfügten, während die einzelnen Professorinnen, abgesichert durch ein entsprechendes Beamtinnenendienstrecht, wiederum große Spielräume auf individueller Ebene hatten. Die im UOG 93 eingeleitete und im UG 2002 vollendete und oben beschriebene Entwicklung verändert dieses Verhältnis grundlegend. Die Macht verschiebt sich weg vom Ministerium, das gleichsam Teile seiner Entscheidungskompetenzen abgibt, weg von den Hochschullehrerinnen, die in ihrer individuellen Freiheit beschnitten werden, und hin zur Leitung der Universität, vertreten durch die Rektorin. Das Ministerium zieht sich auf eine Position der Rahmensteuerung über die Leistungsvereinbarungen zurück und die Hochschullehrerinnen unterliegen nun der Dienstgebereigenschaft der Rektorin. »Es [das UG 2002] ist Ausdruck der Fortsetzung der Reformbemühungen der neunziger Jahre, baut auf diesen Gesetzen auf, führt die seinerzeitigen Ideen konsequent fort und wirkt daher viel weniger kompromisshaft als frühere Gesetze« (Höllinger u. Titscher 2004, S. 11). Für die Befürworter des Gesetzes stellt das UG 2002 einen längst überfälligen Schritt in die Autonomie, das heißt in die volle Rechtsfähigkeit der Universitäten, dar, in der klare Entscheidungsstrukturen, Handlungskompetenzen und Verantwortlichkeiten einen wesentlichen Beitrag zu einer effizienten Universität sichern (vgl. u. a. Kieser 2000; Schimank 2000; Höllinger u. Titscher 2004). Für die Gegner bedeutet es die zunehmende Ökonomisierung von universitärer Ausbildung

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und Wissenschaft, das Zurückdrängen von Mitbestimmungsmöglichkeiten von »Mittelbau« und Studierenden, gar den Rückfall in eine überwunden geglaubte Ordinarienuniversität (vgl. Folk 2004; Grünewald u. Gadner 2003). Kennzeichnend für die Steuerungslogik des neuen Gesetzes sind Instrumente, die bis dato in Universitäten des deutschsprachigen Raums eher unbekannt waren. Im Einzelnen sind dies: die Einführung der vollen Autonomie für jede einzelne Universität; die Gewährung eines dreijährigen Globalbudgets auf Basis einer Leistungsvereinbarung mit dem Ministerium; die Einführung einer neuen, aus dem New Public Management entlehnten GovernanceStruktur mit machtvollen Rektorinnen; die Einführung eines aufsichtsratsähnlichen Organs, dem Universitätsrat, der nur mit externen Personen besetzt sein darf; die Neubestimmung der Aufgaben des Senats, dessen Mitbestimmungsmöglichkeiten deutlich reduziert sind und sich nur noch auf akademische Agenden beschränken; die Einführung des kaufmännischen Rechnungswesens und Pflicht zur Rechnungslegung, in Verbindung mit ergänzenden Berichtsformen (Wissensbilanzen); die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen auf Basis prinzipiell privatwirtschaftlicher Dienstverhältnisse sowie die Ausgründung der medizinischen Fakultäten zu eigenständigen medizinischen Universitäten. Die Leistungsvereinbarungen mit dem Ministerium werden in Form von Zielvereinbarungen der Rektorin mit den Dekaninnen weiter gegeben, die dann mit den einzelnen Institutsleiterinnen ihre jeweiligen Zielvereinbarungen treffen. Die Institutsleiterinnen wiederum führen Zielvereinbarungs- und Mitarbeiterinnengespräche mit allen Organisationsmitgliedern der Subsysteme, deren Inhalt auch ein Commitment für die strategischen Ziele der Universität ist. In Hinsicht auf die Veränderungen der Studienprogramme haben die Universitäten simultan zu den oben beschriebenen Veränderungen die Umstellung auf die Bologna-Architektur (BA, MA, Dr./PhD) zu betreiben und umzusetzen. Steuerungsmechanismen, die für Mitarbeiterinnen aus der Wirtschaft selbstverständlich sind, bedeuten an der Universität einen Kulturbruch. Zynisch ausgedrückt heißt dies, dass Menschen, die dagesessen sind und über das Leben nachgedacht haben und meinten, sie haben das Recht, dafür vom Staat alimentiert zu wer-

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den, nun Mitarbeiterinnengespräche führen und Zielvereinbarungen abschließen müssen, die sie jetzt zu bestimmten Leistungen (Kongressbesuche, Lehrveranstaltungen, Veröffentlichungen, Anzahl zu betreuender Diplomarbeiten usw.) verpflichten. Die Zuteilung des Institutsbudgets basiert auf den kollektiven Leistungen der Institutsmitglieder in den verschiedenen Leistungsbereichen. Salopp ausgedrückt gibt es also keinen Bleistift (oder gar einen neuen PC) mehr, wenn man nichts leistet. Einen weiteren Kulturbruch für die Universität stellt auch die zunehmende Bedeutung und Notwendigkeit von Management dar. Führungspositionen wurden bisher maximal für zwei bis drei Jahre nach einem Modus der Rotation vergeben und besetzt und Management schien eher etwas für die Welt jenseits des Elfenbeinturms im »Reich der Notwendigkeiten« zu sein. Nun konstatieren gängige Managementtheorien, dass Management kein Selbstzweck sein kann, sondern als Methode der Koordination von Handlungen zum Zwecke der Zielerreichung dient. Weil Zieldimensionen von Universitäten aber vielfältig sind, müssen Managementkonzepte und -methoden, die zum Einsatz kommen sollen, daher nicht nur darauf ausgerichtet sein, einer rein ökonomischen Effizienzsteigerung zu dienen, sondern – mindestens auch – zum Ziel haben, den oben genannten essenziellen Herausforderungen zu begegnen, denen sich Universitäten gegenüber sehen. So sind es beispielsweise im Bereich der strategischen Organisationsgestaltung von Universitäten vor allem die Ideen des »New Public Management« (vgl. Rhodes 1991), auf deren Grundlage – vereinfachend gesprochen – der übliche Instanzenzug öffentlicher Verwaltungen durch Prinzipien der Delegation ersetzt und Strukturen nach der anzustrebenden Einheit von Aufgaben, Kompetenz und Verantwortlichkeit gebildet werden. In diesem, durch Spannungsfelder und Dilemmata gekennzeichneten Setting kommt dem Management eine bedeutende Rolle zu. Die weitreichenden Folgen der durch den Reformprozess eingeleiteten organisationalen Veränderungen lassen deutlich werden, dass die Qualität des Managements von Universitäten zu einem zunehmend wichtigeren Erfolgsfaktor wird. Dies vor allem, weil das Management doch die vormals vom Ministerium vorgenommene bürokratische Detailsteuerung übernehmen muss.

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Angesichts des geschilderten Bedeutungszuwachses des Managements, sind die neu institutionalisierten Modi der Bestellung von Führungskräften innerhalb der Universität (Rektorinnen, Dekaninnen) von besonderer Relevanz. Für die Positionen der Rektorinnen und der Inhaber anderer Leitungsfunktionen (z. B. Dekaninnen) gilt das Prinzip der »doppelten Legitimation«. Damit ist gemeint, dass die nachgeordnete Ebene einen Vorschlag für die Besetzung macht und dann die übergeordnete Ebene aus diesem Vorschlag eine Person auswählt. Der Senat erstellt beispielsweise eine Liste mit drei Personen für die Funktion der Rektorin und der Universitätsrat wählt daraus eine ihm geeignet erscheinende Person aus. Auf der Fakultätsebene schlagen nur die Professorinnen die bis zu drei potenziellen Kandidatinnen für das Amt der Dekanin vor, aus denen dann die Rektorin eine Person bestimmt. Dabei ist die Reihung auf der Liste in keinem der beschriebenen Fälle bindend. Obwohl das UG 2002 nach dem Willen des Gesetzgebers zu einer weiteren Professionalisierung der Steuerungsmechanismen von Universitäten beitragen soll, ergibt sich allerdings aus verschiedenen Bestimmungen (z. B. der alleinigen Wählbarkeit von Habilitierten in alle Leitungsfunktionen wie etwa das Dekansamt) die Einschätzung, dass wieder die Verstärkung der Bedeutung von Reputationshierarchie und Senioritätsprinzip erfolgt, was an sich der grundsätzlichen Leistungs- und Qualitätsorientierung des Gesetzes widerspricht. So gesehen soll also der neue Geist des UG 2002 »Leistung und Qualitätsorientierung« paradoxerweise durch die jahrhundertealten, die Universität als Expertinnenorganisation kennzeichnenden Prinzipien der Reputationshierarchie und der Seniorität verwirklicht werden. Es kann als unstrittig bezeichnet werden, dass das Einräumen größerer Entscheidungsspielräume für monokratische Organe und die Einschränkung der Kontrollfunktionen kollegialer Strukturen zu einer verstärkten Wirksamkeit individueller Faktoren bei der Leitung von Universitäten und Subeinheiten führt. Insbesondere auf der nach dem UG 2002 sehr machtvollen Ebene des Rektorats und auf der Ebene der Fakultätsleitung durch die Dekaninnen spielen daher die Personen, die in diese Funktionen gewählt werden, eine größere Rolle als jemals zuvor. Dies vor

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allem deshalb, weil der Rahmen, den das UG 2002 vorgibt, von den jeweiligen Führungspersonen konkret auszugestalten ist und hier die jeweiligen Vorprägungen, Sozialisationen, wissenschaftlichen Disziplinen, Fähigkeiten und mentalen Modelle der Führenden äußerst wirksam den organisationalen Zusammenhang prägen. Zentral für die Kernprozesse der Universität – Lehre, Forschung und Selbstverwaltung – sind die Expertinnen, also das wissenschaftliche Personal, für das sich das organisationale Setting durch die Reform dramatisch verändert. Die Hochschullehrerin von heute ist eine »Eier legende Wollmilchsau«: Gleichzeitig soll sie Spitzenleistung in Forschung, Lehre, in der Mitarbeiterinnenführung und natürlich auch in der universitären Selbstverwaltung bringen. Auf der subjektiven Erlebnisebene bedeutet dies ein ständiges Managen von Insuffizienz. Die Arbeitsprofile haben sich komplett verändert. Professorinnen sind jetzt Projektmanagerinnen, die für ihre interne und externe Reputation sorgen und die »richtigen« Allianzen bilden müssen. Daneben sind sie mobil, kooperieren international und gehen regelmäßig zu den für sie relevanten Kongressen. Die Leistungslatte, die früher die »akademischen Superstars« vorlegten, gilt jetzt für alle gleichermaßen. Diese Veränderungen finden vor dem Hintergrund der Abschaffung des Beamtinnenstatus für Hochschullehrerinnen statt: Erfolgreich sein unter Unsicherheit, so lautet das Motto, denn auch Professorinnen haben unter dem neuen Gesetz zunächst nur Vier-, Fünf- oder Sechsjahresverträge. Ob man einen Anschlussvertrag erhält, der dann wieder befristet oder aber auch unbefristet sein kann, hängt ab von der jeweiligen Rektorin, der Performance der Kandidatinnen und davon, ob die Hochschulleitung in dessen Bereich noch finanzielle Mittel investieren will. Kein komfortables Szenario also für eher risikoaverse Persönlichkeitsstrukturen, wie sie bei Hochschullehrerinnen häufig zu finden sind. Alle diese Probleme und Komplexitätsfaktoren doppeln sich auf der Ebene der Dekaninnen. Sie sind nicht nur Professorinnen und müssen in den oben beschriebenen Leistungsbereichen immer auch als »gutes Beispiel vorangehen«, sondern darüber hinaus erleben sie durch die ihnen übertragene Verantwortung eine weitere Steigerung des Leistungsdrucks: Als Dekaninnen haben sie so unterschiedliche Aufgaben zu erledigen wie den Abschluss

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von Zielvereinbarungen, Sicherstellung langfristiger Motivation der Mitarbeiterinnen, Erfüllung der akademischen wie auch betriebswirtschaftlichen Berichtspflichten oder auch nur die Überwachung der Einhaltung von Vorschriften zum Arbeitnehmerinnenschutz und zu Sicherheitsfragen. Die Fülle dieser Aufgaben war in der nicht-autonomen Universität in der Form nicht gegeben. Vieles wurde durch die universitätseigene Administration und die Ministerialbürokratie vorgegeben; anderes stand gar nicht im Gestaltungspielraum der universitären Führungskräfte. Es ist der Ausgangspunkt des Projekts »Dekane Workplace Study«, die intra-personalen Dynamiken, die sich anlässlich der Übernahme einer solchermaßen funktionsüberladenen Position ergeben, in einer Reihe von Fallstudien zu erheben und zu analysieren (vgl. dazu: Clegg u. McAuley 2005; Hotho 2006; Knight u. Trowler 2001). Dass eine angemessene Reaktion auf die Veränderungen keine einfache Aufgabe ist, ergibt sich schon aus den systematischen Organisationsbedingungen von Universitäten. Die Universität als Expertinnenorganisation besitzt Eigenschaften, die ihre Führung und ihr Management nicht einfach erscheinen lassen. Unklare Technologien, ambigue und komplexe Zielstrukturen, wechselnde Mitgliedschaften (vgl. March u. Olsen 1986), ein Personal mit hochgetriebener Spezialisierung (vgl. Pellert 1999), die Wissensbasierung der Organisation (vgl. Nonaka 1994; Nonaka u. Takeuchi 1995) und standesmäßig orientierte Hierarchien (Bourdieu 1988) sind nur einige der Stichworte, mit denen die Besonderheiten universitärer Organisationsrealität beschrieben werden. In Praxi können sich diese Eigenschaften der Organisation Universität so auswirken, dass etwa unterschiedliche Stakeholder jeweils unterschiedliche Erwartungen an die Universität herantragen, dass die Identifikation des wissenschaftlichen Personals in der Regel auf ihre jeweilige »scientific community« ausgerichtet ist – nicht jedoch auf die eigene Universität –, oder dass Expertinnen sich nicht oder nur unwillig »top-down« führen lassen. Das hat für das Mangement zum Beispiel zur Folge, dass die Wünsche und Vorstellungen der Vertreterinnen unterschiedlicher Disziplinenund Fachlogiken simultan gemanagt werden müssen, dass trotz meist stagnierender oder sinkender Budgets die intrinsische Mo-

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tivation des Personals nicht gefährdet werden darf, obwohl dies unmittelbare Folge des Managementhandelns ist. Bei der Handhabung der genannten praktischen Problemstellungen kommt dem »mittleren Management« eine ganz besondere Bedeutung zu. Das mittlere Management stellt gewissermaßen den »Transmissionsriemen« dar, der zwischen strategischen Herausforderungen und der Alltagspraxis des Wissenschaftsbetriebs vermitteln muss. Diese Rolle wird in der einschlägigen betriebswirtschaftlichen Fachliteratur mit dem Begriff der »SandwichPosition« beschrieben. Damit besteht eine der Hauptaufgaben der Dekaninnen –oder des akademischen mittleren Managements – darin, die jeweils von der obersten und der unteren Führungsebene an sie herangetragenen vielschichtigen und widersprüchlichen Erwartungen so zu handhaben, dass trotzdem möglichst viele Erwartungen zur Zufriedenheit der Beteiligten erfüllt werden. Erschwerend kommt zu dieser Aufgabenstellung hinzu, dass bei den Dekaninnen – im Gegensatz zur obersten Führungsebene – in der Regel keine Managementerfahrungen und -qualifikationen vorliegen (müssen); vielmehr erfolgt die Wahl der Dekaninnen oftmals nach dem schon erwähnten Senioritätsprinzip. Das bedeutet, dass viele Prozesse »on-the-job« und mehr oder weniger hemdsärmelig gelernt und ausgeführt werden (müssen). Nichtsdestotrotz ist dieses Führungshandeln aber direkt und unmittelbar mit Konsequenzen verbunden, da es keine Eingewöhnungszeiten in diese Funktionen gibt, wie es zum Beispiel in Unternehmen der Privatwirtschaft der Fall ist, die Aufstiegskandidatinnen für solche Positionen in der Regel durch Personalentwicklungsprogramme vorbereiten (Meister-Scheytt u. Scheytt 2004). Solche PE-Programme sind derzeit – sieht man von vereinzelten Beispielen ab (Thom u. Tholen 2004) – nur im angelsächsischen Raum etabliert und gehören dort zum Standardrepertoire jeder renommierten Universität. Die Bedeutung dieser Thematik begründet sich also darin, dass einer bestimmten Gruppe von Personen innerhalb der universitären Führungshierarchie (den Leiterinnen von Organisationseinheiten) neue, durch das Universitätsgesetz 2002 entweder direkt oder indirekt aus dem Geist des Gesetzes ableitbare Aufgaben zugeordnet werden, für deren Übernahme diese Personengruppe in

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aller Regel nicht systematisch vorbereitet, nicht geschult und trainiert wurde. Auch die Erfahrung als mögliche Quelle von Orientierungswissen stellt angesichts der völlig neuen gesetzlichen wie auch organisatorischen Rahmenbedingungen keine hinreichende Basis gelingenden Führungshandelns dar. Zudem konkurriert diese Personengruppe universitätsintern nun um knappe Ressourcen. Damit wird ein Wettbewerb innerhalb der Universität induziert, der die ehemals gültige kollegiale Solidarität massiv unterminiert. Ausgangsthese ist daher, dass sich die neue Rolle der Dekaninnen erst langsam in dem komplexen Wechselspiel von »rolemaking« und »role-taking« ausformt und die erste Phase der Amtszeit unter dem neuen UG 2002 stilbildend wirken (werden) (Prichard 2000). Weil nach Kurt Lewin insbesondere die Phasen des Wandels und der Instabilität Aufschluss geben über die Funktionsmechanismen von sozialen Systemen, ist es daher von besonderem Interesse, genau diese Phase der ersten Jahre in einer Feldforschung zu begleiten und zu analysieren. Um Interferenzen oder Verzerrungen, die durch personale oder disziplinenbezogene Faktoren bedingt sind, weitestgehend zu eliminieren, wurde ein spezifisches Setting gewählt. Dekaninnen aus vier verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Fachbereichen, die unterschiedliche Erfahrung in Hinsicht auf die Ausübung akademischer Leitungsfunktionen haben, konnten gewonnen werden, sich an dem Projekt zu beteiligen. Um die Veränderungsdynamiken besser abbilden zu können, werden in einem festgelegten regelmäßigen Rhythmus narrative Interviews mit diesen Personen geführt, die Interviews transkribiert und mit Methoden der Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Interviewperiode soll sich bis zum Ende der Amtsperiode der derzeitigen Dekaninnen erstrecken. Bereits im Verlauf der ersten Projektphase zeigte sich, dass die gängigen Analysemethoden sinnvoll durch die Methode der »intersubjektiven Triangulation« ergänzt werden können. In Sitzungen mit mehreren Interviewpartnerinnen (Dekaninnen) werden die bis dorthin erfolgten Beobachtungen hinsichtlich der Entwicklung einer Dekanin von der Forscherin referiert und sodann von einem oder einer Dritten kommentiert und anschließend gemeinsam

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diskutiert. Dieses Setting, welches ein hohes Maß an Vertrauen unter den Beteiligten voraussetzt und gleichzeitig entstehen lässt, ermöglicht eine intensive Reflexion, führt zugleich aber auch zu einer emotionalen Dichte, wie sie die Interviewpartnerinnen nach ihren eigenen Aussagen in ihrer Tätigkeit als Dekaninnen sonst nicht erleben. Dadurch werden jedoch auch neue Analyseebenen erschlossen, denen wir uns im Folgenden im Besonderen widmen möchten.

■ Die Ergebnisse des Forschungsprojekts Wir wollen zunächst solche Schlussfolgerungen zur Psychodynamik im mittleren Management darstellen, die, wenngleich im universitären Kontext gewonnen, jedoch als branchenübergreifend generalisiert werden können. Fritz (1999) spricht von der Gefahr einer strukturellen Oszillation innerhalb von Organisationen. Auf der einen Seite lässt sich ein Veränderungsbedürfnis von Organisationen ausmachen. Immer wieder gibt es die Notwendigkeit zu Reformen, die dann Veränderungsbemühungen in Gang setzt. Das System wird dadurch instabil, es entstehen Diskontinuitäten. Gleichzeitig wird im Wandel das Bedürfnis nach Kontinuität freigesetzt und gerät in die affektive Welt der Organisationsmitglieder. Dieser Prozess geht dann einher mit der Vermeidung von Veränderung. Man versucht sich zu widersetzen, versucht Notwendigkeiten zu ignorieren. Organisationsmitglieder versuchen alles zu umgehen, was an Veränderungsdynamik da ist, bis dann erneut ein Veränderungsbedürfnis entsteht – eine spiralförmige Bewegung. Plötzlich ist da ein neuer Managementansatz und die Organisationsmitglieder springen auf den Trend zur Veränderung auf. Die Pendelbewegung zwischen Wandel und Kontinuität ist zunächst einmal nahezu naturwüchsig. Problematisch ist jedoch, wenn sich die Aktivitäten der Veränderung und des Bewahrens gegenseitig nivellieren. Dies führt zum objektiven Entwicklungsstillstand einer Organisation – bei gleichzeitigem immensen Kräfteverschleiß. Der Eindruck, ständig auf der Stelle zu treten, geht einher mit hohem emotionalem Aufwand. Beides,

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die Stagnation als auch die Veränderung, erzeugt Widerstände (s. Tabelle 2). Tabelle 2: Veränderungsdynamik (nach Becker u. Langosch 1995, S. 196) Grundsätze – Es gibt keine Veränderung ohne Widerstand. – Das Ausbleiben von Widerständen ist eher Anlass zur Beunruhigung als deren Auftreten, da das ein Zeichen dafür sein kann, dass niemand an die Realisierung glaubt. – Widerstand enthält immer eine »verschlüsselte Botschaft«. – Widerstände sind Ausdruck von Bedenken, Befürchtungen oder Ängsten, die im emotionalen Bereich liegen. – Nichtbeachtung von Widerstand führt zu Blockaden. – Verstärkter Druck führt zu verstärktem Gegendruck. – Mit dem Widerstand, nicht gegen ihn. – Die unterschwellige emotionale Energie muss ernst genommen werden, damit sie sinnvoll kanalisiert werden kann.

Diese Prozesse können einer gemeinsamen Reflexion unterzogen werden. Damit eine Organisation aber nicht beginnt zu oszillieren und bei jeder Innovation wieder mit ganz viel Unlust in die Gegenrichtung gezogen wird, braucht es ein übergeordnetes Ordnungsprinzip, auf das man sich einigen kann. Sonst besteht die Gefahr, bei Unlustgefühlen immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, der eben keine Innovation ermöglicht. Sowohl Beraterinnen als auch die Führungskräfte bekommen während des Change Managements oft »kalte Füße«: »Oje! Das ist jetzt zu viel, das schaffen wir nicht, da gehen wir gleich wieder zurück!« Sie machen viel Wirbel, aber die Energie wird durch diese Unentschiedenheit nivelliert und die Organisationsmitglieder sind frustriert und unlustig. Beide Spannungs- und Auflösungssysteme wollen siegen und jedes System sucht nach Gleichgewicht. Um aus der strukturellen Oszillation zu entkommen, darf sich weder die Führungskraft noch die Beraterin auf eine der beiden Seiten zwischen hier Veränderung und da Stagnation schlagen. Wenn die Organisation oszilliert, kann es keine sinnvolle Entwicklungsrichtung geben. Es braucht einen dritten Bezugspunkt bei gleichzeitiger und gleichmäßiger Entfernung vom Entweder und vom Oder. Der dritte Bezugspunkt können die Werte der Organisation sein, ihr Leitbild (unter Einbezug der organisationalen

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Paradoxien) (vgl. Giesecke 1996), aber auch Volitionen des Managements. Nur so kann es gelingen, die konstruktive Spannung zu halten und handlungsfähig unter Nichtauflösung dieser Spannung zu bleiben. Wir können intern oder durch externe Beratung ein Bewusstsein und Anerkenntnis dieser Spannung herstellen und an einem übergeordneten Ordnungssystem arbeiten, mag es eine Entscheidung oder eine Vision sein, an die zu mahnen ist. Sonst verbraucht sich der Veränderungsprozess selbst, frisst sich von innen auf. Kann ein zentralistischer Staat, wie es Österreich historisch war, seine Universitäten in die Autonomie entlassen, ohne strukturell zu oszillieren? Einziger Ausweg ist das übergeordnete Ordnungssystem, das im Augenblick – wie die Forschungsergebnisse zeigen – nicht in einen politischen Dialog zu bringen ist. Deshalb ist zurzeit die doppelten Expertinnenschaft der Dekaninnen besonders gefragt. Neben der wissenschaftlichen Qualifikation braucht es ein Mindestmaß an Kenntnissen über Organisationsentwicklungsdynamiken und interne Beratungskompetenz. Vor allem gilt es, der Trauer der altgedienten Mitglieder der Organisation Universität Platz zu geben für Abschiedsprozesse. Der Abschied von Mitbestimmung, von einer Vielzahl von universitären Privilegien und vieles mehr ist zunächst einmal zu beklagen (vgl. Möller 2001). Dazu braucht es ein Containment, das die Führungskräfte der Organisation bereitstellen müssen. Darüber hinaus müssen sie viel emotionale Arbeit leisten.

■ Die narzisstische Identifikation Eine der Möglichkeiten, auf die Herausforderungen der globalisierten Arbeitswelt zu reagieren, ist der Mechanismus des »HeucheleiManagements«. Es wird versucht, die verschärften Anforderungen der Systemumwelt durch Heuchelei, einem »So-tun-als-ob« zu beantworten. Da das Ministerium mit seiner Gesetzesreform die Hoffnung verknüpfte, dass Österreichs Universitäten bald Weltklasse sein würden, richtete man seitens des Ministeriums eine entsprechende Homepage ein (http://www.weltklasse-uni.at). In

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Tirol wird folglich nun darüber gesprochen, dass Innsbruck eine Weltklasseuniversität sei. Das offizielle Wording lautet: »Wir sind Weltspitze!« Dieses Impression Management ist dabei aber kein einfaches, vielleicht lächerliches Wortspiel, sondern zeitigt massive Auswirkungen auf die Organisationsrealität und vor allem auf die Emotionen der Organisationsmitglieder, die ja vor allem als organisationsbezogen anzusehen sind. So wird zum Beispiel universitären Stipendiaten bei der Verleihung der Dekrete verkündet, sie müssten in einem Jahr fünf Veröffentlichungen bringen, wenn sie eine Verlängerung des Stipendiums um ein weiteres Jahr anstreben. Weinende Doktorandinnen, die schon kündigen wollten, galt es am Tag nach der Feierlichkeit zu trösten. Wenn eine tief empfundene Insuffizienz abgewehrt werden muss und mit narzisstischen Größenvorstellungen kompensiert wird, entfaltet sich eine destruktive Dynamik. Dieser gilt es auf der Ebene des mittleren Managements (und nichts anderes sind Dekaninnen heute im UG 2002) sinnvoll und konstruktiv zu begegnen. Insuffizienzgefühle der Leitung können vielleicht mühsam durch narzisstische Phantasien über sich selbst und die Organisation dürftig kompensiert werden. Dieser Abwehrmechanismus der Organisation führt aber dazu, dass die verleugneten Gefühle an anderer Stelle empfunden werden. Im Sinne einer projektiven Identifikation bieten sich zumeist weibliche Bedienstete und sensible Mitarbeiterinnen gerade in recht narzisstisch anmutenden Unternehmen als Container negativer abgespaltener Affekte an. Narzissmus im Unternehmen wird hier als Kompensationsmechanismus begriffen. Volkan und Ast (1994) sprechen davon, wie das hungrige, entwertete, abgespaltene Selbst im Gewand der Großartigkeit daherkommt. Die zunehmende Anspannung, der Arbeitsdruck in Zeiten knapper werdender materieller Ressourcen tut ihr Übriges dazu, dass Bedürftigkeit, Unsicherheit und Angst in solchen Organisationen von Führungskräften nicht wahrgenommen werden. Sensibilität und Sensitivität von empfänglichen Mitarbeiterinnen in solchen Unternehmen bilden nun eine Art Container dieser abgewehrten Empfindungen. Das Abgewehrte, Unbewusste der Organisation, die wirtschaftliche Bedrohung, der gesteigerte Arbeitsdruck und vieles mehr finden sich in deren Gefühlsleben

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wieder. Qua projektiver Identifikation repräsentiert sich das Abgewehrte der Organisation im Seelenleben der Mitarbeiterinnen als eigene subjektive Insuffizienz, die sich in stetigen Selbstzweifeln und Kompetenzzweifeln äußert. Um diesen destruktiven Auswüchsen zu begegnen, wählte die Dekanin nach den Erfahrungen des Jahres 2005 für das Jahr 2006 nun die Strategie hin zum »good enough«. »Wir machen 2006 überhaupt nichts Neues, wir haben 2005 so viel Veränderung vollzogen, das jetzt die Zeit der Konsolidierung ansteht. Wir werden bei den Zielvereinbarungen lediglich die Kapazität bei 60 Prozent unserer Arbeitskraft festlegen, um den Rest frei verfügbar für eine Reaktion auf die Anforderungen aus der Systemumwelt zu haben.« Die Anspannung der Mitarbeiterinnen war wie weggeblasen und das Zutrauen und die Arbeitsfähigkeit wuchsen deutlich an. Das Motto des »good enough« (vgl. Winnicott 1991) erwies sich als gangbarer Ausweg aus dem Heucheleimanagement. Es zeigte sich als förderliche Haltung, so förderlich wie das Wording von der Weltspitze hinderlich war und die Menschen unglücklich und die Leistung schlechter werden ließ. Fasst man die zuvor geschilderte Entwicklung österreichischer Universitätsreform in den vergangenen dreißig Jahren noch einmal zusammen, so lässt sich eine generelle Schlussfolgerung ziehen: Für die Universität ist mit den verschiedenen Reformschritten ein Weg der »Organisationswerdung« in Gang gesetzt worden. Diese Organisationswerdung geschieht in dem paradox konstruierten Spannungsfeld zwischen Schaffung von Freiheit bei gleichzeitig verstärkter Verantwortlichkeit und Rückbindung von Individuen, insbesondere der Wissenschaftlerinnen, an die Ziele und Vorgaben der Organisation. Auf der Seite der »Freiheit« findet sich die Möglichkeit, der Universität eine eigene Richtung, ein eigenes Profil und eine eigene Strategie zu geben. Dies wird unter anderem ermöglicht durch verschiedene Begleitmaßnahmen: die Flexibilisierung von Strukturen, die in vielen Universitäten für unverrückbar gehalten wurden; die Schaffung von Anreizstrukturen, beispielsweise im Bereich der Personalentwicklung und der Frauenförderung, die die Entwicklung in die gewünschte Richtung auch ökonomisch unterstützen sollen; die Gewährung eines Globalbudgets, das der Universitätsleitung durch umfassende Um-

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widmungen Investitionen in neue Bereiche erlaubt; und die Gewährung umfassender Vertragsgestaltungsfreiheiten, nicht nur im personalen Bereich. Auf der anderen Seite finden sich umfassende und weitreichende Momente der Bindung und Festlegung wie zum Beispiel die interne Organisationssteuerung durch Zielvereinbarungen, Planvorgaben, Budgetverantwortlichkeiten, die für Universitäten als lose gekoppelte Systeme erst langsam erlernt werden müssen. Generell lässt sich festhalten, dass alle Mitglieder der Organisation, vor allem aus dem mittleren Management, für jede Aktivität und Nichtaktivität, die in einem der universitären Kernprozesse im jeweiligen Verantwortungsbereich erbracht oder nicht erbracht werden, verantwortlich sind und gemacht werden können. Dieser Tatbestand ist zwar nicht neu, wird aber durch die »Nähe« der kontrollierenden Einheit – es ist nicht mehr das Ministerium, das über die Verfahren wacht, sondern es sind die unmittelbaren nächsthöheren Einheiten in der Organisation – verstärkt wahrgenommen. Dies geht von den Zielvereinbarungen, die die Rektorinnen mit den Dekaninnen und die Dekaninnen mit den Instituten und dessen Mitarbeiterinnen abschließen, über die oben erwähnten umfassenden Pflichten zur Rechenschaftslegung entlang der Hierarchiekaskade bis hin zur neuen Governance-Struktur, mit der die Universitäten nun »enger« geführt und gesteuert werden. Im Grunde bräuchte eine Reform diesen Ausmaßes wie das UG 2002 Dialogräume, in denen die Greifbarkeit von Zukunftsvisionen erlebbar gemacht wird, wo Innovation und Zuversicht glaubhaft vermittelt wird, damit die Mitglieder an die Sinnhaftigkeit der Reform glauben können und sie gestalten wollen. Es bräuchte das Erlebnis, dass es um wirkliche Bedeutsamkeiten geht, das helfen würde, intrinsische Motivation zu entfalten. Um die Anschlussfähigkeit aller Mitarbeiterinnen zu ermöglichen, brauchen sie Raum, sich auszudrücken, verschiedene Positionen in der Schwebe zu halten, einander in der Verschiedenheit zu respektieren und vor allem, sich jeweils zuzuhören (vgl. Isaacs 1999). Neue Ideen sind immer gegenkulturell (Schein 2005), so dass es nicht ohne sinnvolle Verhandlung mit denjenigen, die diese Leitbilder zu verantworten haben, gehen kann. Das Gesamtsystem muss ein Klima entfalten, in dem es auch um eine Führung von unten gehen kann.

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Die Universität ist eine Expertinnenorganisation (vgl. Pellert 1999). Für alle relevanten Fragen der Welt sitzen dort Menschen, die etwas beizutragen haben, über innovationsfördernde Organisationsstrukturen, die Organisation von Fakultätsklausuren, Personalentwicklungsprozesse, Mitarbeiterinnengespräche oder Didaktik. Dieses Potenzial wird nicht genutzt und damit viel kreative Energie vergeudet. Es ist sicherlich nicht sinnvoll zu klagen, schreckliche Führungskräfte zu denunzieren, sondern zu einem klaren Verhandlungsmanagement aufzurufen: Dies und jenes brauchen wir unhintergehbar, um gut zu arbeiten. Es ist auch an den Mitarbeiterinnen, sich förderliche Bedingungen zu erstreiten. Gute Führungskräfte wissen, dass sie für wissenschaftliche Spitzenleistung Mitarbeiterinnen brauchen, die motiviert bleiben. Sonst treffen sie auf eine Truppe, die von Antriebslosigkeit, Verkrustung, dem Gefühl der Unfähigkeit, Gutes erstreiten zu können, von Konfusion, Unverbundenheit, Angst und Orientierungslosigkeit gekennzeichnet ist. Krisnatis (2005) nennt es den »Versuch, die Blätter im Herbst an den Bäumen zu halten«. Es geht oft mehr an Österreichs Universitäten, als manchmal Institutsteams meinen, wenn dieser Veränderungsprozess in einen unendlichen Kommunikationsprozess eingebettet ist, der das gemeinsame Ringen um die optimale Lösung zum Ziel hat. Die sich wandelnden Organisationen müssen ihren Entwicklungsprozess als eine gemeinsame Problemlöseaufgabe verstehen, bei dem alle Verantwortung tragen, sonst kann das Unterfangen nicht gelingen. Den Herausforderungen mit einfacher Empathieverweigerung für die Führungskräfte zu begegnen, greift wohl zu kurz.

■ Literatur Argyris, C. (1996): Die Lernende Organisation. Stuttgart. Becker, H.; Langosch, I. (1995): Produktivität und Menschlichkeit. Stuttgart. Bourdieu, P. (1988): Homo academicus. Frankfurt a. M. Brand, K. W. (1997): Probleme und Potentiale einer Neubestimmung des Projekts der Moderne unter dem Leitbild »Nachhaltige Entwicklung«. In.: Brand, K. W. (Hg.): Nachhaltige Entwicklung. Eine Herausforderung an die Soziologie. Opladen, S. 9–32.

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Bildungsinstitutionen und Macht

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■ Networking als Machtmittel

■ Felix Reiners

Der Starke ist am mächtigsten allein Theoretische Grundlagen und Fallstudie zum Networking in Organisationen

Die Ausgangslage einer Führungskraft, die in ein neues Unternehmen wechselt, ist kritisch. Zunächst bedeutet ein neues Umfeld Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Die Leitungsperson wird mit anderen Werten, Praktiken, Kompetenzerfordernissen und Perspektiven konfrontiert, als sie es bisher gewöhnt war. Mit den technischen und aufgabenbezogenen Gegebenheiten des neuen Umfeldes ist sie im Detail ebenso wenig vertraut wie mit den sozialen Zusammenhängen (Krackhardt 1996, S. 159ff.). Gleichzeitig sehen sich Führungskräfte häufig bereits von Anfang an mit einer besonderen Erwartungshaltung konfrontiert. Gerade die neuen Vorgesetzten, aber auch Kollegen und Mitarbeitende hegen den Anspruch, dass nach einer kurzen Eingewöhnungsperiode klare Richtlinien vorgegeben, fundierte Entscheidungen getroffen und komplexe Zusammenhänge im Sinne der Unternehmensziele kompetent gestaltet werden. In dieser prekären Situation ist die neue Leitungsperson zunächst allein. Ohne etablierte Kontakte und Beziehungen zu anderen organisationalen Akteuren besteht keine gesicherte Möglichkeit des Rückgriffs zum Beispiel auf deren Insiderwissen, Gefolgschaft, Einschätzungen oder Unterstützung. Im Folgenden geht es um die Frage, wie sich Führungskräfte in beruflichen Anfangssituationen aus dieser ursprünglichen Isolation lösen, mit anderen organisationalen Akteuren in Kontakt kommen und (informelle) Netzwerke knüpfen. Der vorliegende Beitrag verfolgt die Zielsetzung, Networking in Organisationen in theoretischer und empirischer Hinsicht zu thematisieren. Organisationstheoretisch ruht die Studie auf einem mikropolitischen Fundament. Dieser Ansatz verweist auf die Handlungsebene, also

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auf die alltäglichen konkreten Aktivitäten, Taktiken und Strategien, mit denen Networking betrieben wird. Der Fluss der Networkinghandlungen mehrerer Akteure gerinnt mit der Zeit zu sozialen Mustern, die eine relative Stabilität aufweisen und wiederum ihrerseits die Networkinghandlungen der Akteure kanalisieren und beeinflussen. Networking verfestigt sich somit auf der strukturellen Ebene in der Gestalt sozialer Netzwerke. Letztere werden in der sozialwissenschaftlichen Literatur in enger Verbindung mit dem Konzept des Sozialen Kapitals erfasst und erforscht. Diese Forschungsrichtung bildet den zweiten theoretischen Anknüpfungspunkt dieses Beitrags. Networking von Leitungskräften in beruflichen Anfangssituationen wird im folgenden Gliederungspunkt zunächst kurz in Bezug auf die theoretischen Grundlagen Mikropolitik und Soziales Kapital diskutiert. Im Anschluss wird vor dem aufgespannten analytischen Hintergrund eine Einzelfallstudie vorgestellt und ausgewertet, in der Networking in erster Linie als Streben nach Dominanz und extremen Machtpositionen ausgeübt wird. Ausgehend von diesem Fall wird in weiterführenden Ausführungen verdeutlicht, dass der im Fall illustrierte Networkingtypus einen von mehreren theoretisch erwartbaren und empirisch auffindbaren Pfaden beschreibt, mittels derer sich Führungskräfte in Organisationen mit anderen in Kontakt bringen können.

■ Theoretische Voraussetzungen Wie für jede empirische sozialwissenschaftliche Untersuchung gilt auch für die hier vorgestellte Studie, dass sie nicht ohne theoretisch begründete oder zu begründende Voraussetzungen und Vorüberlegungen auskommt, die den empirischen Zugang und den Fokus für die Interpretation der Daten strukturieren und leiten. Die Auswahl des theoretischen Bezugsrahmens soll daher in den folgenden Gliederungspunkten in aller Kürze begründet und in seiner Ausgestaltung knapp umrissen werden.

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■ Mikropolitik: konzeptual betrachtet Die Organisations- und Managementliteratur bietet eine breite Palette unterschiedlicher Perspektiven zur Beleuchtung des Themas der beruflichen Anfangssituation. Je nach wissenschaftlicher Denkschule wird jeweils anderen Faktoren ein hoher Erklärungsbeitrag beigemessen. Eine mikropolitische Sichtweise des Phänomens Networking in Organisationen stellt die Bedeutung von Machtaspekten in den Handlungen individueller Akteure in das Zentrum ihrer Betrachtung (Neuberger 2002, S. 681; Crozier u. Friedberg 1979, S. 14). Das erscheint insofern sinnvoll, als es integraler Bestandteil der Leitungsrolle ist, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, sie zu führen und zu beeinflussen. Dazu benötigen und benutzen Führungskräfte grundsätzlich Macht und müssen zwangsläufig mikropolitisch agieren. Nach Brüggemeier und Felsch (1992) lässt sich eine konzeptuale von einer aspektualen Betrachtungsweise von Mikropolitik unterscheiden, die beide für den vorliegenden Beitrag von Bedeutung sind. Eine »konzeptuale« Sichtweise von Mikropolitik bezeichnet eine organisationstheoretische Perspektive, die das handlungspotente Individuum in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt (Brüggemeier u. Felsch 1992, S. 134). Eine konzeptual mikropolitische Perspektive organisationalen Geschehens beruht auf drei Annahmen, die hier knapp skizziert werden sollen: 1. Im Gegensatz zur reibungslosen tayloristischen Logik geht eine mikropolitische Betrachtung davon aus, dass wegen der Widersprüchlichkeit, Interpretationsbedürftigkeit und Lückenhaftigkeit organisationaler Handlungsvorgaben das Verhalten des Einzelnen niemals exakt zu steuern ist. Es bleiben stets Handlungsspielräume (Neuberger 1995, S. 5ff.). Strukturen determinieren also das Handeln der Akteure nicht (vollständig), stecken allerdings sehr wohl einen Rahmen ab (Handeln reproduziert Strukturen). Im Rückgriff auf die Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1995) wird im mikropolitischen Diskurs gleichzeitig davon ausgegangen, dass die sozialen Strukturen einer Organisation Ergebnis und Folge der Handlungen der Akteure sind (Handeln produziert Strukturen). Soziale Strukturen sind demnach das stets kon-

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tingente Ergebnis der (wiederholten) Interaktionsprozesse der Akteure. 2. Die Akteure orientieren sich in ihren Handlungen ferner an ihren persönlichen Zielen und (Eigen-)Interessen und bedienen gegebenenfalls erst in zweiter Instanz die Ansprüche der Organisation. Letztere lässt sich daher nicht als ein straff an Sachzwängen ausgerichteter monolithischer Block beschreiben, sondern vielmehr als ein flexibler und lediglich lose gekoppelter Zusammenhang der jeweiligen Einzelhandlungen von Akteuren, die aufgrund ihrer beschränkt rationalen individuellen Handlungslogik miteinander interagieren. 3. Eine letzte mikropolitische Grundannahme verweist darauf, dass Mikropolitik zur Wahrung des Anscheins von Legitimität zwar oft im Verborgenen abläuft, ihr Einfluss auf die Geschehnisse in Organisation sich aber gar nicht hoch genug einschätzen lässt. In den Machtkämpfen der Akteure entscheidet sich, wer sich und seine Interessen behaupten kann, und damit, was in Organisationen insgesamt passiert – und was nicht. Bezogen auf das Thema des vorliegenden Beitrags bedeutet das eben Dargelegte, dass Führungskräfte (in besonders ausgeprägtem Maße) über mikropolitische Handlungsspielräume verfügen, die sie gemäß ihrer persönlichen Interessenlage nutzen können, müssen und werden. Für Leitungskräfte in beruflichen Anfangssituationen besitzt der Aufbau (in)formeller Beziehungen zu anderen Akteuren innerhalb der Organisation hohe Priorität. Die Einbettung in ein Netzwerk von Unterstützern und Förderern bietet dem Einzelnen ein schwer verzichtbares Machtpotenzial: Soziale Netze können ihre Mitglieder mit Informationen, Reputation, Legitimität und weiteren für die mikropolitische Interaktion mit anderen Akteuren maßgeblichen Ressourcen versorgen (Adler u. Kwon 2002, S. 20f.).

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■ Mikropolitik: aspektual betrachtet Die zweite – von Brüggemeier und Felsch (1992, S. 133) als »aspektual« bezeichnete – Begriffskonnotation von Mikropolitik verweist auf die praktische Seite der Mikropolitik. Sie bezeichnet das vielfältige Arsenal mikropolitischer Taktiken, mit denen die Akteure in der mikropolitischen Organisationsarena ihre persönlichen Interessen verfolgen und ihre Macht aufbauen, erweitern und umsetzen (Neuberger 1995, S. 120f.; Steyrer u. Schiffinger 2004).

■ Macht und Machthandlungen Macht ist der »Rohstoff« mikropolitischen Handelns (vgl. Crozier u. Friedberg 1979, S. 14). Die Wissenschaft befasst sich seit langem und in vielen Disziplinen mit dem Phänomen Macht und hat eine Reihe unterschiedlicher theoretischer Entwürfe und Differenzierungen entwickelt. Für die vorliegende Untersuchung erscheint es sinnvoll, eine klassische Unterteilung aufzugreifen und eine Arbeitsdefinition zu wählen, die Macht als strukturelles Potenzial konzeptionalisiert und damit von der konkreten Machthandlung differenziert, die auf den Aufbau oder die Nutzung des Machtpotenzials des Akteurs rekurriert (Brass u. Burkhardt 1993, S. 442f.). Macht kann in diesem Sinne verstanden werden als das (strukturelle) Potenzial eines organisationalen Akteurs, seine Interessen verwirklichen zu können, auch wenn deren Realisierung vom Handeln anderer Organisationsmitglieder abhängt. Die Umsetzung dieses Potenzials erfolgt stets situationsbezogen durch konkrete mikropolitische Machthandlungen, welche die bestehenden Machtverhältnisse (re)produzieren. Mikropolitische Machthandlungen werden von den Akteuren in Erwartung von Widerstand strategisch-planvoll, bewusst-intentional sowie zur Realisation eigener Interessen durchgeführt. Die strukturelle Ebene rahmt diese politischen Handlungen der Akteure ermöglichend oder hemmend, indem es zum Beispiel durch etablierte formale Berichtswege strukturell erleichtert oder erschwert wird, Beziehungen zu anderen Unternehmensangehörigen aufzunehmen.

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Networking als Machtmittel

■ Networking Networkingaktivitäten sollen im Rahmen der vorliegenden Studie verstanden werden als mikropolitisch intendierte und interpretierte Machthandlungen, die Akteure mit anderen Organisationsmitgliedern in Kontakt bringen und halten. Es handelt sich damit um eine Klasse politischer Taktiken, die in empirischen Studien wiederholt als eine der grundlegenden und wichtigsten Kategorien mikropolitischen Handelns ermittelt wurde (vgl. Neuberger 1995, S. 120f.; Steyrer u. Schiffinger 2004, S. 138f.). Aber auch (macht-) theoretisch ist Networking als generisch relationale Taktik von besonderer Bedeutung. Die Ergebnisse der wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Macht deuten insgesamt eindeutig darauf hin, dass Macht nur als Beziehungsphänomen existieren kann. Machtprozesse sind in Verlauf und Ergebnis nur im Kontext der jeweiligen Positionierung der handelnden Personen in der Beziehungsmatrix der Organisation nachvollziehbar und erklärbar. Es kommt daher für die mikropolitischen Akteure wesentlich darauf an, sich innerhalb der bestehenden sozialen Strukturen der Organisation geschickt zu positionieren und diese zum eigenen Vorteil zu gestalten. Führungskräfte in beruflichen Anfangssituationen sind als Neulinge im Unternehmen in besonderem Maße aufgerufen, strategisch wertvolle Beziehungen zu anderen relevanten Personen aufzubauen, zu pflegen und zu nützen (vgl. Krackhardt 1992, S. 216 und 1996, S. 160).

■ Soziales Kapital Das auf Pierre Bourdieu (1983) zurückgehende Konzept des Sozialen Kapitals bietet sich als strukturelles Pendant zum handlungsfokussierten Machtgebrauch durch Networking an. Das Soziale Kapital einer Person bezeichnet nach allgemeinem Verständnis das Potenzial eines Akteurs, sich über sein Beziehungsnetzwerk Ressourcen verfügbar machen zu können (Adler u. Kwon 2002, S. 18f.). Die weithin anerkannte Grundidee Bourdieus wird aktuell in

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diversen Forschungszusammenhängen intensiv rezipiert und in zahlreiche soziale Kontexte übertragen (vgl. Portes u. Landolt 1996). Dabei wurden umfassende konzeptionelle Weiterentwicklungen und Präzisierungen erreicht. In ihrem Überblicksartikel tragen Adler und Kwon (2002) diese Erkenntnisse speziell für den Organisationskontext hinsichtlich der Quellen sowie der zu erwartenden positiven und negativen Effekte Sozialen Kapitals für den fokalen Akteur zusammen. Strukturelle und relationale Quellen Sozialen Kapitals: Während bezüglich der Grundidee Sozialen Kapitals im laufenden wissenschaftlichen Diskurs überwiegend Einigkeit herrscht, zerfällt die Forschungswelt bei der Beantwortung der Frage nach den Quellen Sozialen Kapitals in zwei Lager. Unterschieden werden eine strukturelle und eine relationale Sichtweise (Nahapiet u. Ghoshal 1998; Gargiulo u. Benassi 2000). Die strukturelle Dimension Sozialen Kapitals bezieht sich auf die personenunabhängige Konfiguration der Verbindungen zwischen Akteuren und manifestiert sich in den Attributen der Netzwerkposition eines Akteurs (Maurer 2003, S. 23). Als günstig für die Entstehung Sozialen Kapitals gilt (neben einem möglichst großen Netzwerk mit vielen Kontakten) eine Struktur, die den Akteur in die Lage versetzt, strukturelle Löcher (Burt 1992) zu überbrücken (»bridging«), also Kontakt zwischen Akteuren herzustellen, die ansonsten nicht miteinander in Verbindung stehen würden (Burt 2000, S. 8f.). Diese Position im Netzwerk wird für den Einzelnen deshalb als wertvoll angesehen, weil sie ihn in die Lage versetzt, die nur über seine Person vernetzten anderen Parteien zu seinen Bedingungen und seinem Vorteil zusammenzubringen – oder nicht. Gilt aus struktureller Sicht eine eher lockere Netzwerkkonfiguration mit einer großen Zahl loser, heterogener und eher unverbindlicher (Außen-)Kontakte (schwache Beziehungen – »weak ties«) als besonders attraktiv und chancenreich, trifft das bei einer relationalen Betrachtung der Quellen Sozialen Kapitals nicht zu. Diese Denkrichtung fokussiert statt der Struktur die Qualität der Beziehungen zwischen den Akteuren. Soziales Kapital erwächst bei relationaler Betrachtung primär aus der engen Interaktion

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der Akteure (»bonding«). Besonders förderlich ist es, wenn die Interaktionspartner innerhalb eines tendenziell abgeschlossenen Netzwerks wiederholt miteinander kooperieren und wechselseitig starke Beziehungen (»strong ties«) zueinander entwickeln. Als solche gelten enge (Binnen-)Kontakte auf der Basis von Verlässlichkeit, Vertrauen und respektierten sozialen Normen. Verbindungen dieser Qualität gelten im relationalen Ansatz als wertvoller als eine Vielzahl lockerer und weit verzweigter Außenkontakte (vgl. Burt 2000, S. 6f.). Eine zusätzliche Differenzierung zur inhaltlichen Qualifizierung von Netzwerkbeziehungen in relationaler Hinsicht bezieht sich auf die Differenzierung instrumenteller von emotionalen Kontakten (vgl. Brass 1984, S. 519f.). Instrumentelle Kontakte reflektieren eine eher ökonomisch-transaktionale Perspektive auf der Grundlage von Reziprozität, während emotionale Beziehungen getragen sind von Vertrauen ohne Kontrolle, Wertschätzung, Sympathie und Offenheit. Effekte Sozialen Kapitals: Soziales Kapital befördert die generellen Lebenschancen des Besitzers, indem es allgemein zusätzliche Handlungsoptionen eröffnet, motivierend wirkt und dem fokalen Akteur die ansonsten unerreichbaren oder unbezahlbaren Fähigkeiten und Ressourcen seiner Netzwerkpartner verfügbar machen kann. Neben positiven Effekten (»social capital«) kann Soziales Kapital für den betreffenden Akteur allerdings als auch negative Effekte (»social liability«) haben (vgl. Adler u. Kwon 2002, S. 30ff, Portes u. Landolt 1996). Die erwarteten positiven Effekte Sozialen Kapitals unterteilen Adler und Kwon (2002, S. 28f.) in die Kategorien Information, Solidarität und Macht. Soziale Vernetzung verbessert nach Ansicht der Autoren die Informationslage der fokalen Person. Das gilt sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Qualität (z. B. gesteigerte Relevanz, schnellerer Informationsfluss, höhere Verlässlichkeit) der an die Person herangetragenen Informationen. Daneben lässt Soziales Kapital Solidaritätsgewinne erwarten. Dadurch steigert sich die Berechenbarkeit des Verhaltens der Netzwerkpartner ebenso wie der gemeinsame, unterstützende Einsatz füreinander. Zudem fließen unter Bedingungen gegenseitiger Solidarität ver-

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traulichere Informationen. Als letzte Vorteilskategorie nennen die Autoren Macht. Die Verbindung mit Anderen zu Koalitionen erweitert den Optionsraum, vergrößert damit das (strukturelle) Potenzial eines organisationalen Akteurs, seine Interessen verwirklichen zu können, auch wenn deren Realisierung vom Handeln anderer Organisationsmitglieder abhängt. Als mögliche negative Effekte Sozialen Kapitals für den einzelnen Akteur nennen Adler und Kwon (2002, S. 30f.) an erster Stelle den hohen Investitionsaufwand für Aufbau und Pflege sozialer Beziehungsnetze (z. B. Zeit und Energie). Bleibt man in diesem ökonomisch geprägten Bild, so birgt Soziales Kapital nicht nur angesichts seiner geringen Stabilität die Gefahr einer Fehlinvestition für den Akteur. Auch die Undurchsichtigkeit in Funktion und Wirkung sowie die unvermeidlichen Zielkonflikte, zum Beispiel zwischen struktureller und relationaler Sichtweise, erhöhen das Risiko für den Einzelnen. Letzteres besteht auch darin, eine Balance finden zu müssen zwischen eher unverbindlichen, schwachen Kontakten, die beispielsweise exklusiven Zugang zu neuen Informationen eröffnen, und verbindlichen, starken Kontakten, auf die man zählen kann. Überzogenes »bridging« isoliert die fokale Person, die zwar jeden kennt, aber von niemandem etwas erfährt. Im Falle eines zu engen »bondings« mit zu strikten sozialen Normen entsteht dagegen die Gefahr der Übereinbettung (»overembeddedness«) des Akteurs in soziale Beziehungen. Damit ist gemeint, dass besonders intensive Austauschbeziehungen mit den immer gleichen Interaktionspartnern mit der Zeit dazu führen können, die Netzwerkbeteiligten von der Außenwelt abzuschließen, so dass sie den Bezug zur Realität verlieren, wodurch ihr Denken und Handeln statisch wird. Portes (1998, S. 8) argumentiert ähnlich, wenn er auf eine Studie verweist, in der gezeigt wurde, dass die Zugehörigkeit zu einem solchen über-solidarischen Netzwerk den sozialen Aufstieg von benachteiligten Minderheiten be- und letztlich auch verhindern kann: Das Netzwerk konfrontiert und bremst den einzelnen Akteur mit zu vielen Erwartungen und Ansprüchen. So lässt es keinen Raum mehr für unternehmerisch erfolgreiches Handeln (vgl. Portes u. Landolt 1996).

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■ Empirische Fallstudie ■ Methodologische Vorbemerkungen Die in der Folge vorgestellte Einzelfallstudie ist Teil eines umfangreicheren empirischen Forschungsprojekts zum Networking in Organisationen. Dabei wurden mit Führungskräften in beruflichen Anfangssituationen aus unterschiedlichen Unternehmen in zeitlichem Abstand von etwa einem Jahr zwei themenzentrierte leitfadengestützte Interviews geführt. Das anonymisierte Material der Interviews wurde entsprechend der Erhebungs- und Auswertungsmethodologie der empirisch begründeten Theoriebildung (»grounded theory«) nach Strauss und Corbin (1996) mit den Teilschritten offenes, axiales und selektives Kodieren interpretiert. Im Laufe des dreistufigen Kodierprozesses werden die Daten begrifflich-konzeptuell immer weiter verdichtet, um am Ende der Analyse empirisch begründete theoretische Aussagen über den untersuchten Gegenstand zu treffen. Die Auswertung reduziert sich nicht allein auf die gerade angesprochenen rational-logischen Aspekte des Materials. Vielmehr fließen während der Interviews und der Interpretation entstehende Emotionen mit in die Auswertung ein. Das Beziehungserleben des Interviewenden beziehungsweise der Interpretierenden gerinnt (auch) zu einer »psychologischen Gestalt« (Jaeggi, Faas u. Mruck 1998, S. 15) des jeweiligen Falles. Sie spielt gerade bei der ersten Entfaltung des Materials und für die Validierung der Interpretation der im Verlauf der Interpretation gewonnenen Aussagen eine wichtige Rolle. Zentraler Gegenstand der Datenauswertung sind die Networkinghandlungen und -taktiken der befragten Führungskräfte. Sie formieren die handlungsbezogene Kernkategorie im paradigmatischen Modell von Strauss und Corbin (1996, S. 76f.). Um diese Kernkategorie herum gruppieren sich weitere (Achsen-)Kategorien, deren wichtigste die Konsequenzen der Networkinghandlungen konzeptualisiert (vgl. auch Kelle 1994, S. 328): Die Networkingaktivitäten der neu in die Unternehmen eintretenden Führungskräfte verfestigen sich allmählich in dauerhafteren sozialen Netzwerkstrukturen und lassen sich damit als Konsequenz (und Bedingung) des Networkings der Akteure auffassen.

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■ Einführung in den Fall Anton Andreas Anton ist promovierter Chemiker und zum Zeitpunkt der Interviews 35 Jahre alt. Nachdem er während seiner Ausbildung und in seiner ersten Karrierestation bei dem hier als Firma Davor bezeichneten Unternehmen »sehr viel, sehr schnell« erreicht hat, ist er auf seine Initiative hin zur Firma Aktuell, einem pharmazeutischen Unternehmen, gewechselt. Bei der Firma Aktuell bekleidet er eine Stelle als Marketingmanager, die dem Vertriebsbereich zugeordnet ist. Seine Aufgabe besteht darin, die Zusammenarbeit des Vertriebsbereichs mit der Abteilung Produktion und Entwicklung zu gestalten. So muss er beispielsweise dafür sorgen, dass die vom Vertrieb gewünschten Produkteigenschaften in Entwicklung und Herstellung nicht zu teuer werden (Entwicklungskostenkontrolle). Der Abteilung, in der Herr Anton tätig ist, steht sein direkter Vorgesetzter, Herr Görike, vor. Dessen Chef wiederum, Herr Weber, leitet den gesamten Vertriebsbereichs und ist Mitglied des Vorstandes der Firma Aktuell. Einen Überblick über die formalen Zusammenhänge im Fall Anton bietet der folgende Ausschnitt eines Organigramms der Firma Aktuell (Abbildung 1). Vorstandsvorsitzender

Vorstand Produktion/Entwicklung Herr Bünning

Vorstand Vertrieb Herr Weber

Leiter Produktentwicklung Herr Mager

Leiter Produktmanagement Herr Görike

Marketingmanager Herr Anton

Abbildung 1: Organigramm

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Herr Anton hat seine ersten Arbeitswochen dazu genutzt, »viele Interviews« zu führen, zwei Wochen in der Produktion mitzuarbeiten und die Leitung eines Projektes zur Entwicklungskostenkontrolle zu übernehmen. Mit diesem Projekt greift er auf Wunsch und mit Billigung seiner beiden Vorgesetzten direkt in den Verantwortungsbereich von Herrn Mager ein, der bei der Firma Aktuell als Entwicklungsleiter im Produktions- und Entwicklungsbereich arbeitet. Aufgrund dieses Eingriffs in den Entwicklungsbereich entstehen Spannungen zwischen Herrn Anton und Herrn Mager. Als charakteristisch für seine Arbeitsweise bezeichnet Herr Anton, sich selbst intensiv um technische Details zu kümmern und den »Löwenanteil der Arbeit« selbst einzubringen. Herrn Antons Schilderungen von der Firma Aktuell sind an mehreren Stellen durchbrochen von Rückgriffen auf seine Tätigkeit bei der Firma Davor. Er beschreibt, wie er dort in kurzer Zeit zu einer Führungskraft und in vielen zentralen Themen zum wichtigsten und oftmals alleinigen Wissensträger des Unternehmens wurde. Zu diesem Zweck beschäftigte er bis zu zwanzig Studierende, die für ihn in unterschiedlichen Themengebieten und Projekten tätig waren und ihn unterstützten. Seine ehemaligen Praktikanten und Praktikantinnen konnte er nach den gemeinsamen Projekten regelmäßig in die unterschiedlichen Abteilungen des Unternehmens vermitteln und dadurch die Basis für ein weit verzweigtes Beziehungsgeflecht innerhalb der Firma Davor legen.

■ Networking zur Okkupation extremer Macht- und Druckpositionen Die im Lauf der Auswertung des Falles immer weiter ausgestaltete Kernkategorie erstreckt sich auf die Networkingaktivitäten von Herrn Anton. Die Interpretation des Materials stellt darauf ab, in erster Linie die finalen Aspekte seiner mikropolitischen Maßnahmen herauszuarbeiten, wohingegen andere handlungskonstituierende Aspekte (wie z. B. Kontext, Ursache) vernachlässigt werden (vgl. Rescher 1977). Im Fokus der Betrachtung der Fallstudie steht daher in der Folge die Frage nach den Zielen, die Herr Anton mit seinem Networkingansatz verfolgt.

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Die Analyse der beiden Interviews mit Herrn Anton ergibt, dass sein Networkingansatz final auf die Okkupation organisationaler Handlungsfelder gerichtet ist. Herr Anton bezweckt mit seinem Beziehungshandeln einen Netzwerkaufbau, der ihn in eine »extreme Machtposition« versetzt, aus der heraus er andere organisationale Akteure massiv unter Druck setzen und kontrollieren kann. Die »psychologische Gestalt« (Jaeggi et al. 1998, S. 15) des Networkings und in der Konsequenz des Netzwerks von Herrn Anton lässt sich als die eines expansiven Eroberers benennen, der auf die Okkupation – also Eroberung inklusive nachfolgende Kontrolle – immer neuer und größerer organisationaler Reviere hinarbeitet, in denen er sozial und inhaltlich dominiert. Als Beherrscher seines Territoriums strebt er an, alle Abläufe persönlich zu regeln und engmaschig zu kontrollieren sowie sein Revier gegen Eingriffe von außen zu verteidigen. Der Networkingansatz von Herrn Anton weist je nach hierarchischer Zielrichtung zwei unterschiedliche Zuschnitte auf. Die erste Form betrifft das vor allem nach unten und lateral gerichtete Bestreben von Herrn Anton, seine Einflusszone im Unternehmen ständig auszuweiten, und die damit in Verbindung stehenden (Networking-)Strategien zur Erweiterung seines Reviers in der Organisation. Der zweite Networkingtyp (Kampf um Anerkennung in der Bezugsgruppe) verweist auf (Networking-)Aktivitäten mittels derer er die Anerkennung seiner beiden direkten Vorgesetzten zu erreichen sucht. Networking nach unten und lateral – Erweiterung des Reviers: Die Networkingstrategie von Herrn Anton ist auf Expansion ausgelegt. Er beabsichtigt, sukzessive immer weitere organisationale Handlungsfelder thematisch und personell unter seine Kontrolle zu bringen und gegen den Zugriff anderer abzuschirmen. Seine Vorgehensweise zur Reviererweiterung lässt sich idealtypisch in die vier Schritte (1) Themen- und Projektwahl, (2) Partnerwahl zur Themenbesetzung, (3) Konfrontation und (4) Abschirmung einteilen und anhand des von ihm geleiteten Projektes zur Entwicklungskostenkontrolle exemplarisch nachvollziehen.

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(1) Themen- und Projektwahl: Die Entscheidung, welches Handlungsfeld Herr Anton für seine Reviererweiterung wählt, ist von zwei Faktoren abhängig. Neben seiner eigenen professionellen Spezialisierung besteht das zweite wichtige Kriterium für ihn in der Frage, ob es ihm seiner Einschätzung nach möglich sein wird, in dem fraglichen Handlungsfeld in kurzer Zeit deutliche Fortschritte erreichen zu können (»low hanging fruits«). Zur Identifikation und Bewertung möglicher Handlungsfelder für die Reviererweiterung baut Herr Anton möglichst viele Erstkontakte in unterschiedliche Teilbereichen der Firma Aktuell auf. Dabei erweist sich die Art seiner Stelle in doppelter Hinsicht als bedeutsam: Es wirkt sich zum einen begünstigend aus, dass die Position neu für Herrn Anton geschaffen wurde. Dementsprechend existiert noch keine informelle oder gar offiziell festgeschriebene Stellenbeschreibung. Das versetzt ihn in die Lage, die Grenzen seiner Aufgaben selbst zu definieren. Zum zweiten ist seine Stelle in der Organisationsstruktur hybriden Charakters und im Marketingmanagement an der Nahtstelle zwischen den Bereichen Produktion, Vertrieb, Produktentwicklung und Marketing angesiedelt: »Das ist als Marketingmanager schön, weil man so zwischen den Stühlen sitzt.« Obwohl ihm aufgrund einer solchen Schnittstellenpositionierung bereits viele Handlungs- und Kontaktoptionen offen stehen, überschreitet er diese vagen Begrenzungen bei weitem. Bereits in der Firma Davor hat er es sich »zur Angewohnheit gemacht«, auch dort anzusetzen, wo andere Personen im Unternehmen zuständig und verantwortlich sind. Er greift dabei über formale Beschränkungen (Strukturen, Prozesse, Anweisungen etc.) hinaus und entscheidet weitgehend selbst, in welchen Feldern er tätig werden möchte. So hat Herr Anton beispielsweise auf eigenen Wunsch einige Wochen in der Frühschicht in der Produktion mitgearbeitet, um einerseits die Angestellten in der Fertigung kennen zu lernen und um andererseits zu erfahren, an welchen Stellen es »dort hakt«. Auf diese Weise verschafft er sich schnell Einblick in die Problemfelder verschiedener Unternehmensbereiche. In der Folge lenkt er seine Aufmerksamkeit und expansive Energie genau auf die organisationalen Aspekte, die er für noch »nicht so optimal«

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gelöst hält. Sein Zugang in die Handlungsfelder erfolgt über Projekte, in denen er sich mit den bestehenden Schwächen und möglichen Optimierungen auseinandersetzt: »Da schaue ich mir jetzt alles an, schaue, wie das jetzt funktioniert. Und dann überlege ich mir, was fehlt.« Diese Strategie der Themenwahl findet auch bei dem Projekt zur Kontrolle der Entwicklungskosten Anwendung. Dieses Handlungsfeld ist gerade aus Sicht des Vorstands des Unternehmens besonders unbefriedigend gestaltet. Die vorangegangenen Anläufe zur notwendigen Zusammenführung mehrerer organisatorischer Einheiten im Projekt sind sämtlich gescheitert: »Und so kann man da jetzt mit recht wenig Aufwand recht viel erreichen, weil die Ausgangssituation natürlich war mit viel Potenzial.« Herr Anton übernimmt die Leitung der Arbeitsgruppe. Über seine bereits bestehenden Erstkontakte findet er rasch persönlichen und inhaltlichen Zugang zum Projektthema, zu dem er im Übrigen bereits seine Dissertation verfasst hat. (2) Partnerwahl zur Themenbesetzung: Kennzeichnend für diese frühe Phase seiner Expansionsstrategie ist weiterhin noch, dass Herr Anton gleichzeitig zahlreiche Parallelprojekte startet. Die Erweiterung des Reviers soll simultan in viele Richtungen vorangetrieben werden. Dazu sucht er sich mehrere Praktikanten und Praktikantinnen, denen die Rolle zukommt, sich intensiv in die Details der jeweiligen Projektmaterie einzuarbeiten. Für die Erfüllung dieser Funktion sind die Studierenden Herrn Anton gleichermaßen persönlich zugeordnet: Er übernimmt persönlich die Auswahl (»stelle ich ein«), deren Kriterien (»einen Guten«) er selbst bestimmt, ohne dass eine andere Instanz im Unternehmen (Personalabteilung, eigene Abteilung, Vorgesetzter) an diesem Prozess beteiligt wird. Unter seiner Schirmherrschaft verläuft in der Folge die gesamte betriebliche Sozialisation der Studierenden. Herr Anton weist die Aufgaben zu und durch die häufig am gemeinsamen Schreibtisch erfolgende Arbeit kann er sicher stellen, dass er erstens selbst inhaltlich stets auf dem Laufenden bleibt, zweitens eng und unmittelbar kontrollieren kann sowie drittens erster und wichtigster (einziger?) Ansprechpartner für die Studierenden bleibt.

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Während seine Studierenden im Hintergrund arbeiten, bringt Herr Anton als Projektleiter die für die Bearbeitung des Entwicklungskostenprojektes relevanten Akteure aus der Organisation zusammen. Dabei handelt es sich um Mitarbeitende verschiedener Abteilungen. Herr Anton befasst sich selbst so lange mit den inhaltlichen Einzelheiten der Aufgaben der anderen Projektgruppenmitglieder, bis er diese im Detail durchdrungen hat. Dabei wendet er ebenfalls die bereits erwähnte Technik der gemeinsamen Arbeit an einem Schreibtisch an, um Fachwissen aufzubauen: »Und da setze ich mich dann wirklich hin mit ihm und ich als Projektleiter steige so tief ab, dass ich genau weiß, wie die Software funktioniert. Und welche Merkmale es für die Produkte es gibt und welche Ausprägungen.« »Und ich selber bringe am Anfang auch einen Löwenanteil der Arbeit mit ein und frage das Wissen ab.«

Als Besonderheit der Zusammenarbeit im Team ist weiterhin zu beachten, dass Herr Anton großen Wert darauf legt, möglichst selten gemeinsame Projektgruppensitzungen mit allen Beteiligten durchzuführen. Vielmehr wird die meiste Arbeit von den Projektmitgliedern einzeln oder aber in enger, direkter Kooperation mit Herrn Anton erbracht. Das führt dazu, dass die relevanten Informationen nur bei ihm vollständig zusammenlaufen, nur er dazu befähigt wird, das gesamte Bild zu überblicken. Diese Vorgehensweise ist zwar auf der einen Seite mit einem extrem hohen Arbeitspensum verbunden; auf der anderen Seite ergeben sich schnell deutliche Lerneffekte, die Herrn Anton das Projektthema regelrecht besetzen lassen. Er monopolisiert in seiner Person das in der Organisation vorhandene Wissen zum betreffenden Handlungsfeld. Darauf aufbauend strebt er dann mit der inhaltlichen Unterstützung der Studierenden die Entwicklung einer Problemlösung an, die der bisher in der Organisation realisierten eindeutig überlegen ist. So entwirft er für sein Einstiegsprojekt in der Firma Aktuell einen bis ins letzte Detail durchdachten und optimierten Prozess für die Kontrolle der Entwicklungskosten.

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(3) Konfrontation: Sobald er sich inhaltlich »fest im Sattel« fühlt, tritt er mit dem neu entwickelten Ansatz an die Unternehmensöffentlichkeit. Mit seiner perfektionierten Lösung konfrontiert Herr Anton sowohl die für diesen Bereich in der Firma formal Zuständigen als auch diejenigen, die von der Neufassung eines Prozesses betroffen sein werden. Nach diesem Muster verläuft es auch bei dem Entwicklungskostenprojekt, das er als »U-Boot« durchgeführt hat. »U-Boot« bedeutet, dass die Mitarbeitenden anderer Abteilungen bereits im Projekt involviert sind, ohne dass die verantwortlichen Abteilungsleiter davon wissen. Taucht das »U-Boot« als wasserdichte Problemlösung aus dem Untergrund auf, bewirkt Herr Anton einen Überraschungseffekt. Dadurch geraten die anderen Führungskräfte unter massiven Druck, die von ihm erarbeiteten Ergebnisse gemäß seinen Vorarbeiten zu implementieren. Er versucht, Fakten zu schaffen und die anderen vor vollendete Tatsachen zu stellen: »[Es] gibt […] dann eine Vorstellungsrunde, wo wir das Konzept, was wir machen wollen, dann den anderen auch vorstellen. Dass es kein U-Boot mehr ist. Allerdings sitze ich dann inhaltlich schon so fest im Sattel, dass die da nichts mehr dran rütteln können.« »Kraft des Faktischen. Wenn man es schafft, was einzuführen, was funktioniert, dann ist das so.«

Erfolgt die Umsetzung entsprechend seiner Vorüberlegungen und Vorstellungen, ist die Okkupation des Themas durch Herrn Anton erfolgreich abgeschlossen. Er ist dann derjenige im Untenehmen, der sich am besten in der Materie auskennt. So wird er im fraglichen Handlungsfeld zum unvermeidlichen Faktor. Weigert sich die betreffende Person, wird die Intensität des Drucks weiter erhöht, indem – wie im Falle des Entwicklungskostenprojektes – die offene Konfrontation gesucht wird: »Also den [Herrn Mager, Leiter Produktentwicklung] habe ich dann zum Feind, wenn er mir wie bei den anderen Entwicklungskostenprojekten mir das zerschießt. Weil er sich nicht fügen will oder sich nicht … keine Einmischung erlaubt. Dann, dann ist die Front.«

Die Okkupation des Reviers Entwicklungskostenkontrolle erweist

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sich tatsächlich als nicht konfliktfrei, denn der Leiter der Produktentwicklung, Herr Mager, stemmt sich gegen die Vorgaben von Herrn Anton und möchte keine Eingriffe in seinen Zuständigkeitsbereich hinnehmen: »Drum ähm… kommt ihm [Herrn Mager] das irgendwie quer, dass einer in seinen Entwicklungsbereich hineinsteuert in Hinblick auf Weiterentwicklung und Kostenbewusstsein […] Das hat ihn gestört. Auch dass da einer von außerhalb von seinem Bereich kommt und dann da die ganzen Schwächen aufzeigt, die gerade in seinem Bereich vonstatten gehen.«

Die Schwächen im Bereich des Entwicklungsleiters markieren die Stelle, an der Herr Anton ansetzt. Er befasst sich nochmals detailliert mit den Konstruktionsplänen mehrerer Baugruppen im Entwicklungsbereich, berechnet mögliche Einsparungen und macht schließlich Herrn Bünning (vgl. Organigramm) auf das Verbesserungspotenzial in diesem Bereich aufmerksam. Durch seine akribische Vorbereitung und Analyse kann er den Vorstand für Produktion und Entwicklung, der direkter Vorgesetzter des Entwicklungsleiters ist, für seinen Ansatz gewinnen. Herr Bünning hat Herrn Mager im Anschluss an die Intervention durch Herrn Anton »so oft eins vor den Deckel gegeben, dass er [Herr Mager] sich jetzt nicht mehr traut, Widerstand zu leisten.« Der Entwicklungsleiter muss sich Herrn Anton »fügen«. »Der tut so, also würde er mit mir können und wehrt sich nicht mehr.« (4) Abschirmung: Für alle Fragen in Zusammenhang mit den von ihm okkupierten Handlungsfeldern ist Herr Anton selbst der kompetenteste Wissensträger im Unternehmen. Damit gehören das entsprechende Thema und die damit befassten Personen und Organisationseinheiten zu seinem Revier. Letzteres kontrolliert Herr Anton persönlich und engmaschig. Durch die Maßnahmen zur Rekrutierung, Weiterbeschäftigung oder internen Vermittlung Studierender stellt Herr Anton revierintern eine kognitive und personelle Homogenität sicher. In seinem engeren Umfeld arbeiten ausschließlich Personen, die sich aus seiner Sicht in der Zusammenarbeit mit ihm bewährt haben. Er hat sie selbst eingestellt und sie in die Firma hinein sozia-

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lisiert. Allein aufgrund der Zusammenarbeit mit ihm oder seiner Weiterempfehlung bleiben die betroffenen Personen »einem was schuldig letztlich«. Er sieht sie als seiner Person zu- und untergeordnet an. Damit erreicht Herr Anton mittelfristig in seinem Revier eine Position absoluter Überlegenheit. Es gelten seine Regeln. Ihre Einhaltung überwacht er penibel. Nach außen gerichtet arbeitet er darauf hin, seinen Machtbereich abzuschirmen und insbesondere gegen Zugriffe anderer zu immunisieren. So ignoriert er beispielsweise in der Firma Davor die formalen Vorgaben der Personalabteilung zur Beschäftigung von Studierenden so lange, bis diese ihm in seinem Bereich entnervt freie Hand gibt: »Machen Sie doch, was Sie wollen, aber lassen Sie uns in Ruhe!« Durch die Ausschaltung der Personalabteilung verhindert er, dass andere als von ihm persönlich ausgewählte Personen in seinem Bereich tätig werden. Das erleichtert ihm die Kontrolle seiner Reviere und er kann sich der weiteren thematischen und personellen Expansion zuwenden. Networking nach oben – Kampf um Anerkennung in der Bezugsgruppe: Erstreckt sich die soeben beschriebene Strategie der Reviererweiterung und -absicherung in erster Linie auf hierarchisch untergeordnete Personen (v. a. Studierende) oder lateral positionierte Führungskräfte anderer Abteilungen, beschreibt die Vorgehensweise des Kampfs um Anerkennung in der Bezugsgruppe Kontaktstrategien in der Beziehung zu seinen beiden direkten Chefs, also seinem Abteilungsleiter (Herrn Görike) und dessen Vorgesetzten (Herrn Weber). Die Beziehungsetablierung zu den genannten Personen besitzt eine hohe Dringlichkeit und Wichtigkeit für Herrn Anton: »Das sind die Prio-Themen. Das heißt, momentan ist mir wichtig, mich bei den beiden gut zu positionieren.« Herr Anton strebt in diesem Zusammenhang eine »Positionierung durch Leistung« bei den Vorgesetzten an, das heißt er möchte deutlich und schnell signalisieren, dass seine Arbeit im Unternehmen tatsächlich »wertschöpfend« wirkt. Er selbst sucht sich als jemand zu präsentieren, der »was schafft« und bereit ist, sich beispielsweise in der Produktion die »Hände schmutzig« zu machen: »Und ich will zeigen: ›Mhm, das war gut, dass wir

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den Anton eingestellt haben, der performt. Da kommt was bei raus.‹« Es geht ihm, wie er es übereinstimmend an mehreren Stellen in den Interviews nennt, um »Anerkennung« von Seiten der Vorgesetzten, wobei drei Facetten von Anerkennung gleichermaßen bedeutsam sind: Zunächst soll seine Leistung gewürdigt werden. Das bedeutet, dass die Bezugsgruppe, bestehend aus seinen Chefs, die Resultate seiner Arbeit wahrnehmen und positiv beurteilen soll, »dass man Anerkennung kriegt für das, was man tut«. Die Anerkennung soll allerdings nicht auf die Ergebnisse seiner Aktivitäten beschränkt bleiben, sondern auch den Prozess und die Wahl seiner Mittel betreffen. Er sucht damit auch Rückendeckung und aktive Unterstützung für seine expansive Strategie der Reviererweiterung, die seine Vorgesetzten zum Beispiel durch die Bereitstellung von Ressourcen (Räume, Computer, Budget etc.) fördern sollen. In dritter Konsequenz bedeutet Anerkennung, dass ihm von seinen Vorgesetzten ein hoher Status innerhalb der Bezugsgruppe attestiert wird, der sich vor allem daraus ableitet, dass er für das Unternehmen wichtige Funktionen erfüllt (Reviere kontrolliert) und in dieser Rolle kaum zu ersetzen ist: »Es ist halt wichtig, dass die der Meinung sind, dass es wichtig ist, dass ich da bin.« Die Eroberung einer für die Organisation bedeutsamen Position dient Herrn Anton als Droh- und Druckpotenzial auch gegenüber seinen direkten Vorgesetzten, wenn es zum Beispiel darum geht, weitere Unterstützung einzufordern oder auch Gehaltsverhandlungen zu führen. Daran wird deutlich, dass es Herr Anton (in Analogie zur Außenwelt) auch innerhalb der Bezugsgruppe letztlich darauf anlegt, andere Personen von sich abhängig zu machen, um Druck ausüben zu können. Dabei gilt aus seiner Sicht: Je größer das von ihm besetzte Revier, umso höher sein Status bei seinen Vorgesetzten. »Weil umso mehr rauskommt, umso mehr kriege ich auch wieder und umso mehr kann ich auch fordern.« Der eingeschlagene Weg zur Anerkennung innerhalb der Bezugsgruppe ist somit kein integrierend-kooperativer, sondern wiederum ein im wesentlichen kämpferischer Pfad. Über weite Strecken verläuft er im Konkurrenzmodus und soll aus Sicht von Herrn Anton in einen Waffenstillstand auf Basis wechselseitig respektierter Machtpotenziale münden.

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Wenn sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis die Beziehungsgestaltung über Druck und die Herstellung von Abhängigkeiten zu erfolgen scheint, stellt sich die Frage, worin der Unterschied zwischen den Networkingstrategien innerhalb der Bezugsgruppe und in den von Herrn Anton beherrschten Revieren besteht. Eine Differenzierung ist mit der Akzentuierung wechselseitig anerkannter und sich gegenseitig austarierender Abhängigkeiten bereits getroffen. Im Außenverhältnis strebt Herr Anton eine dominante, bestimmende Rolle an, während er bei seinen Chefs zunächst die Anerkennung sucht, die ihm zeigt, einer von ihnen zu sein. Darüber hinaus betont Herr Anton nur in Bezug auf seine Vorgesetzten eine bestehende und sich abzeichnende Zielharmonie zwischen ihm und den Herren Görike (»mein Chef ist der Gleiche«) und Weber, mit denen er auf Augenhöhe agieren möchte. Hinsichtlich der Beziehungen innerhalb der Bezugsgruppe ist außerdem bemerkenswert, dass Herr Anton mit seinem Vorgehen gegen den bereits erwähnten Herrn Mager einen Eintrittspreis für die Aufnahme in diesen Kreis entrichtet. Unmittelbar nach seinem Wechsel in die Firma Aktuell vermutet er einen latenten Konflikt zwischen seinem Vorstand Herrn Weber und Herrn Mager (»Die haben Schwierigkeiten.«). Herr Mager hat sich bei den vergangenen Versuchen der Einführung eines Entwicklungskostenkontrollprozesses, die seinen Verantwortungsbereich tangiert, quer gestellt und die Implementierung neuer Lösungen verhindert. Herr Anton greift die Idee und das Angebot Webers und Görikes direkt auf, das Projekt im Geheimen und ohne Mitwissen von Herrn Mager, aber unter Einbeziehung von dessen Mitarbeitern, vorzubereiten (»U-Boot«). Herr Anton lässt sich damit von seinen Vorgesetzten bewusst dazu instrumentalisieren, gegen Herrn Mager vorzugehen, ohne diesen bereits persönlich näher zu kennen. Gleichzeitig riskiert er damit unmittelbar einen Konflikt mit dem anderen Vorstand, Herrn Bünning. Letztlich handelt es sich nämlich auch um einen Übergriff in dessen Verantwortungsbereich. Herr Anton übernimmt somit ohne zu Zögern die Sichtweise der anderen Mitglieder der Bezugsgruppe, um sich als loyal und zur Gemeinschaft gehörig zu erweisen. Von seiner Bereitschaft, sich an einer solchen geheimen Operation zu beteiligen und sich

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in diesem Sinne mitschuldig zu machen, erwartet Herr Anton für sich eine Verbesserung seines Status in der Bezugsgruppe. Das Vorgehen gegen Herrn Mager ist aus seiner Sicht dabei nur mit geringen Risiken behaftet, denn es ist von seinen Vorgesetzten initiiert und gedeckt.

■ Die Netzwerkarchitektur von Herrn Anton Während sich die vorausgegangenen Abschnitte mit den Networkingaktivitäten Herrn Antons befassten, geht es in der Folge mit dem entstehenden Beziehungsnetzwerk um die Auswirkungen seiner mikropolitischen Handlungen. Das sich herauskristallisierende Netzwerk weist eine Zweiteilung auf, welche die zuvor beschriebene Differenzierung der beiden handlungsorientierten Achsenkategorien reflektiert. Beide Netzwerkteile entspringen jeweils unterschiedlichen Handlungslogiken und weisen in den zum Vergleich von Netzwerken als besonders wesentlich erachteten Dimensionen unterschiedliche Merkmalsausprägungen auf.

■ Außerhalb der Bezugsgruppe: Strukturelle Netzwerkdimension Die Strategie der Reviererweiterung führt dazu, dass Herr Anton bereits nach drei Wochen über 20 bis 25 Erstkontakte verfügt, welche die Basis für ein sehr ausgedehntes Netzwerk legen. Die Kontaktpartner stammen zudem aus sehr unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens und beschränken sich keineswegs nur auf den Kreis seiner unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen. Erste Projekte und Eigeninitiativen (wie seine Mitarbeit in der Produktion) kann er dazu nutzen, eine sehr heterogene Beziehungsstruktur zu etablieren und sich Zugang zu vielfältigen Organisationsbereichen zu sichern (z. B. Produktion, Entwicklung, Personalwesen, Marketing). Für das Entwicklungskostenprojekt gilt in diesem Zusammenhang, dass auf sein aktives Betreiben hin die anderen am Projekt Beteiligten nur über ihn oder in seiner Gegenwart miteinander

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Kontakt haben. Damit wird er auf der strukturellen Ebene zum einzigen Bindeglied zwischen ansonsten unverbundenen Einheiten und profitiert von den Vorteilen der Überbrückung struktureller Löcher (»bridging«). Als Folge erlangt er eine privilegierte Stellung, die sich vor allem daraus ableitet, dass er als Einziger dazu in der Lage ist, die in ihrer Gesamtheit nur ihm zugänglichen (Sach-)Informationen aus den unterschiedlichen Unternehmensbereichen zu bündeln und zu kombinieren. Mit dieser Strategie gelingt es ihm, in seiner Person nicht nur reichhaltige Fachkenntnisse, sondern »auch das Wissen, das die Bereichsleiter haben, das strategische« zu vereinigen. Diese Kombination versetzt ihn in seiner Einschätzung nach »natürlich in eine Position, die extrem [!] interessant ist«. Im Netzwerk der Organisation sieht er sich vor allem in Zusammenhang mit dem Entwicklungskostenprojekt als »bereichsneutrale« Stelle, die über Abteilungsgrenzen hinweg »moderiert«, »das Sinnvolle vom Unsinnvollen trennt und aber auch jedem ein bisschen auf die Finger schaut«. Seine Vorstellungen kann er wie geplant umsetzen, die betroffenen Abteilungen und Personen verhalten sich »alle sehr diszipliniert«. Er hat also die angestrebte Kontrollposition eingenommen und dominiert dieses organisationale Handlungsfeld. In den von ihm erfolgreich okkupierten Handlungsfeldern regiert Herr Anton als Alleinherrscher. Er selbst hat die in seinem Revier geltenden Strukturen im Detail entworfen und ist mithin als Einziger mit ihnen vollständig vertraut. Nur Herr Anton ist damit in der Lage, sich in diesem Feld kompetent und sicher zu bewegen. Durch sein Exklusivwissen und seinen Einfluss auf die Auswahl und Ausbildung der in seinem Bereich tätigen Personen wird es ihm möglich, sein Revier nach außen hin abzuschließen und abzusichern. Er kann den Zugang zum Handlungsfeld entsprechend seiner Interessenlage gestalten und regeln, da er die einzige Schnittstelle zur Außenwelt bildet.

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■ Außerhalb der Bezugsgruppe: Relationale Netzwerkdimension Auf der relationalen Ebene des Netzwerks lassen sich die bisher entstandenen Beziehungen nicht eindeutig als starke oder schwache Beziehungen einordnen. Für die erstgenannte Charakterisierung würde sprechen, dass gerade die Verbindungen zu den Akteuren, mit denen Herr Anton aktuell im Arbeitskontext zu tun hat, eine hohe Interaktionsfrequenz aufweisen. Sie sind geprägt von ausführlichen persönlichen (Fach-)Diskussionen und scheinen aus der Sicht von Herrn Anton auch in dem Sinne verlässlich zu sein, als sich seine Kollegen und Koleginnen an der Projektarbeit beteiligen und insbesondere ihr Fachwissen zur Verfügung stellen. Allerdings entwickelt Herr Anton keine prototypischen »strong ties«, da die Basis der Relation eben nicht – wie in der netzwerktheoretischen Literatur für starke Beziehungen implizit oder explizit angenommen – aus emotionaler Intensität, Nähe und gegenseitigem Vertrauen besteht. Vielmehr strebt Herr Anton an, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit auf anderem Wege herzustellen: Die sozialen Beziehungen im Revier von Herrn Anton sind geprägt von engmaschiger Kontrolle, Druck, (negativen) Sanktionen, Verpflichtung und persönlicher Schuld und insgesamt deutlich transaktional-hierarchischer Natur. Exemplarisch für diese transaktionale Beziehungsgestaltung sei an dieser Stelle ein Zitat Herrn Antons in Zusammenhang mit der Forderung nach einem höheren Gehalt durch einen seiner Studierenden angeführt: »Mir kann nichts Besseres passieren, wie wenn ein Student zu mir kommt und sagt, er will mehr Geld. Dann sage ich: ›Dann darfst du aber auch mehr performen. Dann bekommst du mehr.‹ Und das ist dann so ein Kreislauf, der unheimlich gut ist. Weil umso mehr ich bezahle, umso mehr kann ich auch wieder verlangen. Und er fühlt sich durch das bisschen Geld wesentlich geschätzter auch wieder. Das ist eine Anerkennung.«

Das euphemistische Dürfen in der voranstehenden Sequenz kaschiert ein Müssen, denn wenn sich andere Akteure nicht an seine Vorgaben halten oder sich gar offen widersetzen, entsteht eine »Front«. Damit meint er den Kampf um die Klärung der Vorherr-

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schaft im Revier, der mit großer Härte und Aggressivität ausgefochten wird. Als Illustration dafür können zwei Episoden dienen, die Herr Anton aus der Firma Davor berichtet, an deren Beginn jeweils der Widerstand anderer Führungskräfte gegen von Herrn Anton erarbeitete Konzepte stand: »Das war so ein Vertriebsleiter, den sie neu eingestellt hatten bei der Firma Davor. Das war halt einfach ein Trottel. Und der wollte nichts machen. Und wir haben ein neues Vertriebskonzept für Pflegeprodukte vorgestellt. Und da hat er gesagt: ›Das wird der Kunde nie akzeptieren!‹ Und hat nur bombardiert. War sogar dagegen. Dann, dann bin ich halt selber nach A-Stadt gefahren […] Unser größter Kunde für Pflegeprodukte. Und der hat gesagt: ›Bitte macht mir doch diese Pflegeprodukte! Bitte! Bitte!‹ Und damit habe ich den praktisch dann wieder voll ausgehoben. War aber auch so, dass ich den von allen Seiten bombardiert. Das heißt, ich habe eine Präsentation gemacht, da stand drin, wie die Performance bei uns im Bereich Pflegeprodukte ist. Richtig so krass mit vielen extremen Beispielen und habe die an den Chef von dem – wie hieß denn der gleich wieder – ist egal, von dem Chef von dem Vertriebsleiter für Pflegeprodukte von dem geschickt, der auch wieder einer war, mit dem ich besser konnte […] Genau und so wurde der halt unter Beschuss genommen […] [Der] hätte der das nie verhindern können, dass so etwas eingeführt wird, weil ich am Hebel saß […] Und das war oft so, dass wir Sachen durchgesetzt haben mit dem Rücken zur Wand.« »›Du kriegst jetzt noch sechs Stück von den alten [Produkten]. Die reichen dir noch drei Monate. Und danach liefern wir endlich das Neue oder gar nichts mehr (lacht). Und es werden einfach keine neuen bestellt. Und jetzt bring das dem Kunden bitte bei.‹ So auf die Art haben wir recht viel umgesetzt.«

Es muss für weite Teile des Reviernetzwerks als sehr zweifelhaft angesehen werden, ob sich unter diesen Bedingungen wirkliche Vertrauensverhältnisse ausbilden, die dazu führen würden, dass die Netzwerkpartner von Herrn Anton auch ohne dessen permanenten Antrieb, Druck und Kontrolle – gerne und freiwillig – etwas für ihn tun.

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■ Außerhalb der Bezugsgruppe: Netzwerkeffekte Legt man zur Einschätzung der Netzwerkeffekte die Dreiertypologie von Adler und Kwon (2002) an, so wird im Fall Anton der Aspekt des direkten Machtgewinns besonders betont. Sofern es Herrn Anton in der von ihm intendierten Weise gelingt, die Abhängigkeiten seiner Netzwerkpartner und Netzwerkpartnerinnen herzustellen, nimmt er schnell zu verschiedenen, für das Unternehmen zentralen Themen eine Hauptrolle ein, die ihm nur schwer streitig zu machen sein wird. Innerhalb seines Reviers verfügt er als dominierender organisationaler Akteur über das größte strukturelle Potenzial, seine Interessen verwirklichen zu können, selbst wenn deren Realisierung vom Handeln anderer Organisationsmitglieder abhängt. Daran wird bereits ersichtlich, dass der zweite positive Effekt sozialer Netzwerke bei Adler und Kwon (2002), nämlich gemeinschaftliche Solidarität, in dieser Art von Netzwerkstruktur und wegen der aggressiv-druckvollen Herangehensweise von Herrn Anton kaum zur Geltung kommen kann. Er wird von Herrn Anton als verzichtbar erachtet und daher von ihm auch gar nicht angestrebt. Er fühlt sich allein am mächtigsten. Herr Anton bleibt auf diese Weise frei von möglichen Solidarisierungs- und Solidaritätskosten und – losgelöst von langfristigen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Verpflichtungen – in seiner Expansionsstrategie (Partnerwahl, Themenwahl etc.) vollkommen flexibel. Eine wichtige Machtbasis stellt für Herrn Anton die Ressource Information dar, die dritte von Adler und Kwon (2002) eingeführte Kategorie positiver Effekte Sozialen Kapitals. Der Informationsgewinn aus dem Außennetzwerk für Herrn Anton muss jedoch differenziert betrachtet werden. Einerseits ist er hinsichtlich der sachlich-fachlichen Details sicherlich immens, baut Herr Anton bei Eroberung und Okkupation seines Reviers doch genau auf diese eine Komponente. Andererseits verhindert wiederum seine transaktional-hierarchische Beziehungsgestaltung den Fluss nichtfachlicher Informationen (wie z. B. offenes persönliches Feedback). Damit erfährt er beispielsweise auch wenig dazu, wie er im Unternehmen von anderen gesehen wird. Auf entsprechende Nachfragen in den Interviews reagiert er ausweichend

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oder äußert Selbsteinschätzungen, die vor dem Hintergrund seiner Beziehungsgestaltung als unplausibel erscheinen: Innerhalb des okkupierten Handlungsfeldes ist er alles andere als eine »neutrale Instanz« oder ein Moderator. Vielmehr ist Herr Anton die dominante Figur in diesem Feld. Auf der Kostenseite dieses Netzwerkteils von Herrn Anton schlägt neben den gerade erwähnten Verlusten von Solidaritätsund bestimmten Informationseffekten zu Buche, dass der gewählte Mechanismus zur Errichtung und Kontrolle seiner Machtbereiche sehr aufwendig ist und bleiben wird. Vor allem die erforderliche tief gehende fachliche Expertise in mehreren relevanten Themenfeldern, das permanente Aufbauen und Aufrechterhalten von Druck und persönlicher Kontrolle auch kleinster Details, dürften im Zuge der weiter fortgesetzten Revierexpansion noch umfangreicher und anstrengender werden. Es ist davon auszugehen, dass dieser Form der Expansionsstrategie durch seine persönliche Belastbarkeit klare Grenzen gesetzt sein werden. Seine (Kontakt-) Strategie erlaubt insgesamt kaum Unaufmerksamkeiten oder gar Schwächen, denn Herr Anton kann nicht mit der Nachsicht seiner Netzwerkpartner rechnen.

■ Innerhalb der Bezugsgruppe: Strukturelle Netzwerkdimension Die in den Außenbeziehungen fehlende Solidarität innerhalb der Bezugsgruppe zu etablieren, benennt Herr Anton (neben der Reviererweiterung) als zweite Hauptzielsetzung seiner Networkingaktivitäten. Die Netzwerkstruktur innerhalb der Bezugsgruppe mit seinen beiden Vorgesetzten soll gemäß seiner Planung in vielen zentralen Charakteristiken eine Gestalt annehmen, die jener der Außenkontakte gegensätzlich ist. Im Gegensatz zu den zahlreichen (Erst-)Kontakten außerhalb der Bezugsgruppe besteht letztere aus lediglich zwei weiteren Personen. Dieser Netzwerkteil ist also wesentlich kleiner. Ein weiteres strukturelles Merkmal beschreibt die geltende Networkinglogik, die aus Sicht von Herrn Anton nicht der Überbrückung ansonsten nicht verbundener, heterogener Unternehmensbereiche (»bridging«) folgt, sondern viel-

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mehr die exklusive Abgeschlossenheit einer eng kooperierenden Gruppe (»bonding«) herstellen soll.

■ Innerhalb der Bezugsgruppe: Relationale Netzwerkdimension Verbal strebt Herr Anton zwar »enge und vertrauliche Beziehungen« im Sinne eines »bondings« innerhalb der Bezugsgruppe an; allerdings wählt er auch in diesem Kontext auf der relationalen Ebene letztlich wiederum einen instrumental-transaktionalen Zugang. Dieser ist wesentlich geprägt von seinem Bestreben, für seine beiden Vorgesetzten aufgrund der Größe des von ihm beherrschten Reviers schwer ersetzbar zu werden, sie also von ihm abhängig zu machen. Dadurch wird die Entstehung wahrhaftig solidarischer Relationen, die über die verbindende Wirkung einer rational begründeten Zweckgemeinschaft hinausgehen, deutlich erschwert, wenn nicht ausgeschlossen. Das gilt insbesondere dann, wenn man sich seine im Interview geäußerte Absicht vor Augen führt, auch weiterhin transaktional akzentuierte Beziehungsangebote zu machen: »Wenn ich noch einen Raum kriege, mache ich dir die Projekte noch.« Daran wird der Charakter der Bezugsgruppe als Interessengemeinschaft sehr deutlich. Es handelt sich um einen Zusammenschluss kalkulierender Akteure, die sich, ihre jeweiligen Machtpotenziale respektierend, zur gemeinschaftlichen Zielerreichung verbünden, ohne dass diese Gemeinschaft auch auf affektiven Beziehungsmomenten (»strong ties«) beruhen würde. Es entsteht das Bild eines instrumentellen Pseudo-Bondings, das nur so lange erfolgreich und relativ stabil sein wird, wie jeder der Beteiligten für sich annimmt, dass sich seine Loyalität zur und seine Investitionen in die Gruppe rentieren und an keiner anderen Stelle im Unternehmen höhere Erträge versprechen. Herrn Antons Beitrag zur Gruppe besteht in der Eroberung organisationaler Reviere. Er zeigt sich bereit, Gegner der Gruppe zu attackieren, um sich bei seinen Vorgesetzten interessant zu machen. Die Unterstützung, die ihm von Seiten Herrn Webers in der angesprochenen Auseinandersetzung mit dem Entwicklungsleiter

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entgegengebracht wird, wertet Herr Anton als ein wichtiges Indiz dafür, dass er vom Vorstand, Herrn Weber, geschätzt und akzeptiert wird. Auf ähnliche Weise entwickelt sich auch die Beziehung zum zweiten Partner in der Bezugsgruppe, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Herrn Görike. Dieser lässt Herrn Anton viel Freiraum für seine aggressive Expansionsstrategie. Er spornt Herrn Anton direkt zu einer Fortsetzung seiner aggressiven Vorgehensweise an: »Hauen Sie ruhig drauf! Ich kehre hinter Ihnen die Scherben schon zusammen.« Die zitierte Passage markiert eine Schlüsselstelle für das Verständnis der Rolle von Herrn Anton für die Bezugsgruppe. Während sich Herr Görike und Herr Weber in der Unternehmensöffentlichkeit zurückhalten, arbeitet Herr Anton an der »Front«, legt sich mit den Leuten an und schafft »Problem[e] aus der Welt«. Wohlwollend billigen, steuern und unterstützen die Vorgesetzten sein Tun. Aus dem Hintergrund treiben sie ihn an, ohne selbst tatsächlich (und für Dritte sichtbar) einzugreifen. Damit borgen und benutzen sie seine Aggressivität, verfügen aber zu jeder Zeit über die Option, ihre Gunst zurückzuziehen und sich (dann öffentlich) von den Vorgehensweisen Herrn Antons zu distanzieren. Die Bezugsgruppe ist eine von instrumentellem Kalkül gefärbte Zweckgemeinschaft, deren Zusammenhalt sich aus einem (fragilen) Gleichgewicht der Kräfte speist. Solange Herr Anton mit seiner Strategie erfolgreich ist und solange es den Vorgesetzten opportun erscheint, dulden und befördern sie seine Expansion in der Organisation.

■ Innerhalb der Bezugsgruppe: Netzwerkeffekte Die positiven Effekte, die sich für Herrn Anton aus seiner Mitgliedschaft in der Bezugsgruppe ergeben, sind im Schema von Adler und Kwon (2002) ganz überwiegend auf der Ebene des direkten Machtgewinns anzusiedeln. Solange sich die drei Akteure einig sind und gegenseitig tolerieren, scheint ihre Koalition trotz einer eher kurzen Betriebszugehörigkeit ihrer drei Mitglieder einen bedeutsamen Machtfaktor im Gefüge der Organisation darzustellen. Klar im Hintergrund der zu erwartenden Auswirkungen stehen

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dagegen diejenigen, die sich mit dem Konzept der Solidarität im Sinne von Adler und Kwon (2002) verbinden. Zwischen den Akteuren der fokalen Koalition wird keine tiefer gehende emotionale Verbundenheit entstehen. Die Akteure werden nicht füreinander einstehen und beispielsweise die Schwächen des anderen auffangen ohne die Erwartung eines (unmittelbaren) persönlichen Vorteils. Es handelt sich damit nicht um jene selbstverständlich-unbedingte Solidarität, wie sie zum Beispiel für Freundschaften oder in gesteigerter Form für Familien prägend ist. Vielmehr bleibt der Gruppenzusammenhalt dem Primat des taktischen Kalküls der Akteure unterworfen und dadurch limitiert. Die Gruppe wird sich gerade angesichts der von Herrn Anton stets individualistisch formulierten Ziele und Strategien mutmaßlich auch nicht in diese Richtung weiterentwickeln. Diese Prognose wird unter anderem gestützt von der Gleichgültigkeit, mit der Herr Anton auf die Tatsache reagiert, dass mit Herrn Weber ein Mitglied seiner Bezugsgruppe (und nicht einer von zwei anderen möglichen Kandidaten) voraussichtlich neuer Vorsitzender des Vorstands werden wird: »Das wäre wurscht, wer von den dreien Vorsitzender wird. Ich weiß, wie man mit solchen Leuten spricht und was die hören wollen.« Die Mitglieder der Koalition sind und bleiben somit letztlich austauschbar. Echte Solidarität kann sich unter diesen Umständen nicht entwickeln.

■ Typenbildung Aufbauend auf die Vorstellung und die Analyse des Falls Anton sollen in der Folge weiterführende Überlegungen angestellt werden, die über diesen Einzelfall hinausweisen und ihn in einen weiteren Kontext stellen. Die systematische Hinzuziehung und Auswertung weiterer Fälle aus dem Forschungsprojekt, dem die Gespräche mit Herrn Anton entnommen sind, lässt eine Networkingtypologie erkennen. Die Differenzierung der Networkingmodi erfolgt anhand der Finalität der mikropolitischen Kontakthandlungen der Individuen. Die einzelnen Networkingtypen finden unterschied-

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liche Antworten auf die Fragen, was die Akteure im Kontakt mit anderen Menschen erreichen wollen und auf welche der erwartbaren positiven Effekte Sozialen Kapitals sie ihr Hauptaugenmerk lenken.

■ Networkingmodus der direkten Dominanz Herr Anton fokussiert in seinem Networking von Anfang an und unmittelbar die mit sozialen Netzwerken verbundenen Machteffekte. Die in dieser Kategorie subsumierten Fälle haben das Bestreben der fokalen Akteure gemein, in ihren jeweiligen sozialen Zusammenhängen Herrschaft und Dominanz über andere ausüben und ihre Interessen sehr direkt und machtvoll durchsetzen zu wollen. Der Networkingmodus weckt Assoziationen zum machttheoretischen Konzept der »Sanktionsmacht« (Baumann 1995, S. 1). In dieser Machtlogik gelingt es dem Mächtigen, sich durchzusetzen, weil er in der direkten, typischerweise offenen Auseinandersetzung mit anderen über überlegene Möglichkeiten verfügt, Sanktionen zu verhängen und ihn dadurch auf seine Linie zu zwingen. Die Beziehungsgestaltung Herrn Antons lässt sich dem Networkingtypus der direkten Dominanz zurechnen. Durch die Koalition mit zwei anderen mächtigen Akteuren der Organisation erlangt Herr Anton mehr Sanktionsmacht: Die beiden Vorgesetzten lassen ihm weitgehend freie Hand bei seinen Eroberungszügen im Unternehmen und greifen nicht in die von ihm okkupierten Reviere ein. In diesen wird Herr Anton vor allem gegenüber seinen früheren Studierenden zumindest informell zur obersten und alleinigen Instanz, welche die Regeln vorgibt, überwacht und ihre Missachtung hart sanktioniert. Die Einordnung des Falles als dominanzorientierte Vorgehensweise beruht nicht allein auf der Interpretation der von Herrn Anton geschilderten manifesten Handlungsweisen. Die Grundtendenz der Dominanz wird darüber hinaus auch im Erleben seiner Person während der Interviews sowie in den Auswertungsgruppen deutlich und bei hoher intersubjektiver Übereinstimmung spürbar. Seine Ausstrahlung ist die eines mit allen Wassern ge-

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waschenen, teilweise als skrupellos empfundenen Managers, der anderen seine überlegene (Karriere-)Kompetenz demonstriert. In den Gesprächen wirkt er in weiten Passagen wie ein Dozent, der dem Zuhörenden eine Lektion in den Geheimnissen seines beruflichen Erfolgs erteilt. Insofern spiegelt die Interviewbeziehung seine Kontaktstrategie gegenüber den Studierenden wider und unterstreicht dadurch seine vom Streben nach der Unterordnung anderer geprägten Herangehensweise. Vergleicht und analysiert man diejenigen Fälle, welche dem Networkingmodus der direkten Dominanz zuzuordnen sind, lassen sich neben der soeben skizzierten kongruenten Finalität weitere gemeinsame Merkmale erkennen. An mehreren Stellen finden sich hinsichtlich des Networkings und des Netzwerks Parallelen zum von Maccoby (1977, S. 64f.) eingeführten Managertypus des »Dschungelkämpfers«. Letzteren beschreibt Maccoby als Erbauer eines organisationsinternen »Imperiums«. In Analogie zum Fall Anton soll das Imperium des Dschungelkämpfers erstens immer weiter expandieren und zweitens gegenüber dem Zugriff anderer abgeschirmt sein. Der Prozess der Erweiterung weist typischerweise eine starke Eigendynamik auf, die keinen Endpunkt zu finden oder auch nur zu kennen scheint. Im dominanzorientierten Networkingmodus begegnen die Führungskräfte ihren Kontaktpartnern und Kontaktpartnerinnen mit großer Härte und Druck. Ähnlich wie Herr Anton berichten die betreffenden Leitungskräfte häufig von Situationen, in denen sie mittels Drohungen und Ultimaten vorgehen und in der offenen Auseinandersetzung stehen. Ihre sozialen Antennen sind sehr empfindlich für mögliche Opposition und Anzeichen von Widerständen. Es werden typischerweise deutlich mehr potenzielle Gegner als Verbündete wahrgenommen und benannt. Die Leitungskräfte aus dieser Gruppe erleben, beschreiben und befördern gleichzeitig einen organisationalen Kontext, den Kets de Vries und Miller (1984, S. 17f.) als »paranoid« kennzeichnen: Es herrscht allgemein großes Misstrauen und im Kontakt mit anderen wird viel Zeit und Energie darauf verwandt, mögliche Gefahren und Risiken, die von tatsächlichen und imaginierten Konkurrenten und Konkurentinnen ausgehen, zu identifizieren und zu bekämpfen (vgl. auch Haubl 2005, S. 14f.). Dazu passend weisen ihre Aus-

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drucksweise und ihre Gedankenwelt immer wieder enge Bezüge zum militärischen Umfeld auf. Die betreffenden Leitungspersonen richten die dem Networkingmodus der Dominanz inhärente Härte nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst. Sie nehmen sich selbst als unter großem Druck stehend war, als Getriebene, die kaum Alternativen für ihre Vorgehensweise sehen. Ihr Tun beschreiben sie als Reaktion auf die als übergroß empfundenen Sachzwänge. Die Härte gegen sich selbst äußert sich darüber hinaus auch darin, dass die Manager in dieser Kategorie besonders viel arbeiten und sich in der Konsequenz als äußerst angestrengt und erschöpft bezeichnen. Das permanente Verstricktsein in Widerstände und Kämpfe zermürbt und laugt aus. Als verallgemeinerbar für den Networkingmodus hat sich die bereits für Herrn Anton aufgezeigte Tendenz herausgestellt, im Kontakt unmittelbar ein Beziehungsgefälle herzustellen. Selten begegnen die Leitungspersonen im Networkingmodus der direkten Dominanz ihren Interaktionspartnern innerlich auf Augenhöhe, das heißt ohne die latente Tendenz, die Beziehung zu hierarchisieren und in ein Oben oder Unten zu kategorisieren. Gefragt nach den wichtigsten Ansprech- und Kontaktpartnern berichten dominanzorientierte Führungskräfte detailreich über (konkurrierende) Leitungspersonen im Unternehmen. Dagegen werden die Mitarbeitenden typischerweise als Kollektiv und zumeist ohne Namen vorgestellt. Sie stehen nicht im Zentrum der Wahrnehmung und bleiben anonym. Ein letztes gemeinsames Networkingmerkmal besteht in einer häufig als abwertend-kritisch zu bezeichnenden Haltung gegenüber einzelnen Personen, Abteilungen oder der Organisation insgesamt. Die aufmerksam registrierten Schwächen und Defizite bieten nicht nur wie im Fall von Herrn Anton den Anlass für ihr Streben nach Dominanz, sondern dienen darüber hinaus auch als Legitimation für Aggressivität. Dadurch entstehen wieder Bezüge zu Maccoby (1977, S. 65), der Dschungelkämpfer als Persönlichkeiten beschreibt, die »die Ausbeutung von Menschen […] mit der Ideologie des Sozialdarwinismus und des Fortschritts« rechtfertigen. Die typischen Merkmale des Networkings im Dominanzmo-

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Networking als Machtmittel

dus finden ihren Niederschlag auf der Netzwerkebene. Strukturell entstehen viele, aber ganz überwiegend lose, unverbindliche Kontakte (»weak ties«), die vor allem der Generierung von »bridging«Effekten dienen sollen. Die Anzahl tiefer gehender Vernetzungen (»strong ties«) bleibt gering. Die betreffenden Leitungskräfte empfinden geringe Freude an der Verbindung mit anderen Menschen. Der Aufbau Sozialen Kapitals wird primär ökonomisch beurteilt und als eine Investitionsoption neben anderen betrachtet. Sie wird nur dann tatsächlich realisiert, wenn sie im Vergleich mit alternativen Investitionsmöglichkeiten als gewinnträchtiger eingeschätzt wird. Das geschieht selten, denn die mit Networking einhergehenden Kosten werden als sehr hoch bewertet, weshalb gerade auf wechselseitig verbindliche Kontakte so weit wie möglich verzichtet wird. Die entstehenden Beziehungen sind überwiegend anlassbezogen und instrumentellen Charakters, das heißt, nicht von starken Gefühlen begleitet. Ist der äußere Beziehungsanlass vorbei (das Projekt, die gemeinsame Organisationszugehörigkeit), löst sich der Kontakt sofort wieder, da abgesehen von der Verbindung über die Aufgabe keine emotional tiefer gehende Bindung entsteht. Es findet auch keine Vermischung privater und beruflicher Kontakte statt. Um dominanzorientierte Führungskräfte herum wächst mithin keine echte Gemeinschaft. In ihren Netzwerken finden sich »keine Gefährten, nur Komplizen und Diener« (Maccoby 1977, S. 65). Der Networkingmodus unterminiert letztlich Solidarität und schürt den Fortbestand der Konkurrenz zwischen den Akteuren. Maccoby (1977, S. 67) kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass eine solche mikropolitische Strategie langfristig nicht tragbar ist und mit der Zeit »für das Unternehmen zu einer Belastung« wird. Eine Organisation wäre damit gut beraten, sich rechtzeitig von der fraglichen Person zu trennen. Folgt man diesem Gedanken, wäre der Modus der Dominanz aus Sicht des Unternehmens nur vorübergehend oder in spezifischen Kontexten, wie zum Beispiel in einer Krisen- oder Restrukturierungsphase, sinnvoll und akzeptabel.

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■ Schluss Der exemplarisch am Fall von Herrn Anton illustrierte Networkingmodus einer dominanzorientierten Beziehungsgestaltung repräsentiert nur eine von prinzipiell unendlich vielen möglichen Lösungen für die Herausforderungen, denen sich Leitungskräfte in beruflichen Anfangssituationen gegenüber sehen. Mittels der beschriebenen Vorgehensweise zur Okkupation extremer Machtund Druckpositionen im Gefüge der Organisation realisiert Herr Anton lediglich einen kleinen Ausschnitt des Spektrums der in der theoretischen Literatur mit dem Konzept des Sozialen Kapitals assoziierten Vorteile. So erzielt Herr Anton beispielsweise kaum Solidaritätseffekte und bleibt weitgehend abgeschnitten von emotionalem sozialen Rückhalt oder auch offenem Feedback zu seiner Person. Herr Anton ist davon überzeugt, auf diese positiven Aspekte Sozialen Kapitals verzichten zu können, weil er die okkupierten Handlungsfelder in einer Weise umgestaltet, die ihn weitgehend unabhängig von anderen Personen macht. Aus diesem Grund gehen ihm die im vorliegenden Beitrag dargestellten und während der Interviews explizit thematisierten möglichen unintendierten Nebeneffekte und Risiken seines Networkings und seines Netzwerks nicht nahe. Herr Anton ist sich seiner Sache absolut sicher. Er fühlt sich stark genug, den beschriebenen Pfad als Einzelkämpfer zu gehen. Andere Führungskräfte wählen in der gleichen Ausgangssituation davon abweichende Pfade. Anhand der weiteren im Rahmen des Forschungsprojektes erhobenen empirischen Daten lassen sich neben dem Typus der Dominanz weitere Networkingmodi differenzieren. In Erweiterung und Präzisierung des Schemas von Adler und Kwon (2002) zielen diese Kontaktstrategien final auf jeweils andere erwartbare positive Effekte Sozialen Kapitals. In der Konsequenz führen diese Networkingmodi zu anderen Netzwerkkonfigurationen. Zu ihrer Identifikation, Beschreibung und Bewertung muss an dieser Stelle allerdings noch auf die weitere Forschung verwiesen werden.

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Networking als Machtmittel

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■ Outsourcing als Machtmittel

■ Bettina Daser

Zeitbewusstsein und Kontrolle der Zeit im Outsourcingprozess

Wie selbstverständlich gingen die Sozialwissenschaften lange Zeit davon aus, dass das originäre unternehmerische Ziel der Erhalt des Unternehmens ist. Unternehmen sichern ihr Überleben über das Erwirtschaften von Gewinnen und demonstrieren ihre Stärke durch eine wachsende oder stabile Belegschaft. Nur wenn das Unternehmen in seiner Existenz durch Verluste gefährdet ist, so die Annahme, zieht das Management den Abbau von Arbeitsplätzen in Betracht. Diese langfristige Orientierung kommt auch in der Form der Finanzierung zum Ausdruck: die häufig gewählte Form der Kreditfinanzierung ist eine langfristige finanzielle Beziehung, die durch eine institutionelle Verflechtung mit anderen Unternehmen ergänzt wird (Kühl 2005, S. 119f.). Seit Beginn der 1990er Jahre scheint die Finanzierung durch Fremdkapital jedoch gegenüber der Beteiligungsfinanzierung in den Hintergrund zu treten (Becker 2001). Dominiert die Kapitalbeschaffung über die Börse die anderen Finanzierungsformen von Großunternehmen, so wirkt sich das auf den Zeithorizont des Managements aus: Die langfristige Orientierung an Stabilitätskriterien weicht einer kurzfristigen Gewinnorientierung. Das hängt mit der Beziehung der Kapitalgeber zum Unternehmen zusammen, die Einfluss auf das Management üben. Denn im Gegensatz zu einem Kredit impliziert die Beteiligung an einem Unternehmen in Form von Aktien keine langfristige Bindung. Versprechen sich Shareholder über die Beteiligung an einem anderen Unternehmen eine höhere Dividende, können sie jederzeit ihre Unternehmensanteile abstoßen. Durch die schwache Bindung der Shareholder an das Unternehmen sieht sich das Management gezwungen, mit Erfolgsmeldungen um die Finanzmärkte zu werben. Als Erfolgsmel-

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Outsourcing als Machtmittel

dung gilt alles, was kurzfristigen Profit verspricht. Daher wird eine Kostenreduktion nicht nur dann angestrebt, wenn die Existenz des Unternehmens gefährdet ist, sondern auch dann, wenn dadurch eine Gewinnsteigerung möglich scheint. Verschiebt sich der Fokus vom langfristigen Überleben auf eine kurzfristige Attraktivität für den Finanzmarkt, verändert sich auch die Wertigkeit von Arbeitskraft. Arbeitskraft ist dann wertvoll, wenn über sie kurzfristig und flexibel verfügt werden kann (Hendrix, Abendroth u. Wachtler 2003). In der ökonomischen Verwertungslogik gesprochen, lohnen sich Investitionen in eigenes Humankapital aus Sicht der Unternehmen nicht mehr. Denn Personal verursacht fixe Kosten, die sich aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht kurzfristig einer schwankenden Nachfrage anpassen lassen. Daraus folgt, dass Unternehmen zunehmend fremdes Humankapital präferieren, das sie kurzfristig einsetzen können, ohne langfristig gebunden zu sein. Konsequent gedacht, müssten sich Unternehmen, die dieser Logik folgen, von ihrem Personal trennen. Tatsächlich suchen Unternehmen derzeit nach Instrumenten, die Flexibilisierung der Verfügbarkeit über Arbeitskraft voranzutreiben. Als ein solches Instrument kann Outsourcing verstanden werden (vgl. Wüstner 2006). Mit Outsourcing ist entweder die Ausgliederung von Unternehmensteilen gemeint, verbunden mit dem Rückkauf der außerhalb erbrachten Leistungen durch das Ursprungsunternehmen. Oder die Vergabe bis dahin selbst erbrachter Leistungen an ein anderes, bereits bestehendes Unternehmen, um diese dann dauerhaft von diesem Unternehmen zu beziehen (Hendrix et al. 2003). Das andere Unternehmen erbringt die übertragene Tätigkeit entweder mit eigenem Personal oder übernimmt das Personal des Ursprungsunternehmens, das diese Tätigkeiten bisher ausgeführt hat. Im zweiten Fall ist mit Outsourcing ein Personaltransfer verbunden, das heißt den Beschäftigten wird ein Arbeitsvertrag im neuen Unternehmen angeboten, verbunden mit der Kündigung des bisherigen Arbeitsverhältnisses mit dem Ursprungsunternehmen. Diese Form von Outsourcing möchte ich in meinem Beitrag beleuchten. Dabei werde ich die ökonomische Perspektive vernachlässigen und die Perspektive derer einnehmen, die vom Personaltransfer betroffen sind.

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Bisher wird diese Perspektive in der Outsourcing-Literatur kaum beachtet (Hendrix et al. 2003). Ich möchte der Frage nachgehen, wie Beschäftigte eine Verlagerung ihres Arbeitsplatzes vom Ursprungsunternehmen zu einem anderen Unternehmen erleben und bewältigen. Dabei spielt Zeit eine wichtige Rolle: Erstens wird durch Outsourcing die Beschäftigungskontinuität unterbrochen, zweitens verändert sich die Struktur des Arbeitsalltags der Beschäftigten, drittens ist Outsourcing ein Prozess, der eigenen zeitlichen Gesetzen folgt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts habe ich hierzu qualitative Interviews mit Beschäftigten aus dem EDV-Bereich geführt, die im Rahmen von Outsourcing von einer Bank zu einem Tochterunternehmen eines Beratungsunternehmens transferiert wurden. Zum Zeitpunkt der Interviews lag der Personaltransfer ein Jahr zurück. Zunächst werde ich unterschiedliche Auslagerungsformen, die unter dem Begriff Outsourcing zusammengefasst werden, darstellen. Anschließend gehe ich auf die Fragestellung meines Forschungsprojekts ein und stelle dar, anhand welcher Methoden ich die Interviews geführt und ausgewertet habe. Anhand eines exemplarischen Interviews aus meinem Material werde ich anschließend genauer den Personaltransfer im Rahmen von Outsourcing aus Sicht einer Betroffenen beschreiben.

■ New Outsourcing: (k)ein alter Hut? In Anlehnung an Scholtissek (2004) möchte ich drei Phasen von Outsourcing skizzieren. New Outsourcing, um das es hier im Text gehen soll, knüpft an frühere Formen von Outsourcing an, die in der Industrie seit den 1980er Jahren praktiziert werden. Das Neue an New Outsourcing ist, dass es sich auf administrative Bereiche bezieht und über die Industrie hinaus auch in anderen Branchen praktiziert wird. Neu ist auch die Selbstverständlichkeit, mit der nicht nur Tätigkeiten sondern auch die ausführenden Beschäftigten Teil von Outsourcing werden. Sie sind gezwungen, ihren bisherigen Arbeitsplatz aufzugeben und für ein anderes Unternehmen zu arbeiten, von dem das Ursprungsunternehmen

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künftig die Leistung beziehen wird, die die Beschäftigten bisher im Ursprungsunternehmen ausführten, wobei im Fall von New Outsourcing hauptsächlich Angestellte von einem Personaltransfer betroffen sind, in früheren Outsourcing Konzepten hingegen Beschäftigte der Produktion. Die Frage, warum es überhaupt notwendig ist, Tätigkeiten und Beschäftigte auszulagern und nicht im Unternehmen zu belassen, wurde in der Einleitung mit dem Hinweis auf die Verschiebung von einer langfristigen Perspektive des Überlebens auf eine kurzfristige Gewinnorientierung beantwortet. Diese kurzfristige Perspektive nehmen Befürworter von New Outsourcing ein, wenn sie argumentieren, dass die Flexibilisierung der Verfügung über Arbeitskraft in der zunehmenden Weltmarktkonkurrenz erforderlich ist, um sich an wechselnde Marktbedingungen anzupassen. Aus den wechselnden Marktbedingungen folgt eine schwankende Nachfrage, auf die, so die Argumentation, mit der Reduzierung von Kosten, insbesondere der Verwaltungskosten, reagiert werden muss. Einer Reduzierung von Verwaltungskosten steht jedoch der hohe Anteil an Personalkosten entgegen, die aus arbeitsrechtlichen Gründen kurzfristig weder gesenkt noch flexibilisiert werden können. Vertreter einer kurzfristigen Gewinnorientierung plädieren daher für die Nutzung von fremdem Humankapital, da Personalkosten dann nur indirekt und variabel in Form der Leistungsvergütung anfallen. Die Strategie besteht also darin, das Personal im Ursprungsunternehmen sukzessiv durch Leistungsbezug von anderen Unternehmen zu ersetzen und dadurch die Verwaltungskosten zu flexibilisieren. Die Outsourcing-Literatur besteht zu einem großen Teil aus Ratgebern, die der dargestellten Logik folgen. Bis auf wenige Ausnahmen stehen auch in wissenschaftlichen Studien über Outsourcing betriebswirtschaftliche Fragen im Zentrum (Hendrix et al. 2003). Zunächst möchte ich der beschriebenen Logik folgen und die Vorformen von New Outsourcing darstellen, um anschließend auf die Perspektive der Beschäftigten einzugehen. Befürworter von Outsourcing haben die Optimierung der Wertschöpfung im Blick. Die Wertschöpfung gilt es, soweit möglich, zu »revolutionieren«, das heißt durch einschneidende Rationalisierungen für Einsparungen zu sorgen, die den Unternehmern

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eine erhebliche Steigerung der Gewinne bescheren. Die erste Revolution der Wertschöpfung führt Scholtissek (2004, S. 11) auf Rationalisierungen zurück, die gemeinhin mit dem Namen Taylor verbunden sind. Zu ihnen gehören eine hochgradige Arbeitsteilung, Motivation über positive Lohnanreize und die Trennung von ausführenden und dispositiven Tätigkeiten. Diese Ideen der Produktionsgestaltung wurden später von Ford aufgegriffen und weiter entwickelt. Zudem wusste Ford den »Zusammenhang zwischen Lohnerhöhung, der Produktionssteigerung und dem Anstieg des Konsums« zur Steigerung der Gewinne zu nutzen (Castel 2000, S. 294). Diese Rationalisierungspraxis basiert auf der Vorstellung eines stetigen Wirtschaftswachstums und erweist sich als funktional, solange die Unternehmen Rentabilitätssteigerungen durch Kostensenkungen und Produktionsausweitungen erzielen können. Aufgrund des nachlassenden Wirtschaftswachstums Mitte der 1980er Jahre verlor die Massenproduktion jedoch ihre Erfolgsgarantie. Als neue Rationalisierungsstrategie wurde die Reduzierung der Fertigungstiefe favorisiert. Diese Rationalisierungsstrategie bezeichnet Scholtissek (2004, S. 11) als zweite Revolution der Wertschöpfung. Sie impliziert die Konzentration auf das Kerngeschäft, auf den Teil, der den größten Profit verspricht. Leistungen, die bislang selbst erbracht werden, jedoch nur wenig zum Gewinn beitragen, werden an andere Unternehmen vergeben und von diesen dauerhaft bezogen. Die Entscheidung großer Unternehmen der Industrie, sich nur auf das Kerngeschäft zu konzentrieren, verschiebt einen großen Teil der Wertschöpfungskette an die Zulieferindustrie, deren Bedeutung für das Endprodukt dadurch zunimmt. Je weniger einzelne Schritte der Produktion für die Konzerne profitabel erscheinen, umso größer wird der Anteil der Zulieferer am Endprodukt. Im Extremfall bedeutet das die Abschaffung der konzerneigenen Produktion und die Beschränkung auf den Vertrieb der Produkte. Beispiele für die Vergabe der vollständigen Produktion von Modellen finden sich bei DaimlerChrysler: Die Mercedes-Limousine CLK wird von Karmann produziert und auch die Produktion der Allrad-Version der E-Klasse hat DaimlerChrysler fremd vergeben (manager-magazin.de, 06.10.2005). Die Reduzierung der

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Fertigungstiefe führt zu einem Personalabbau seitens der Großunternehmen, der nur teilweise durch einen gestiegenen Personalbedarf auf der Seite der Zulieferer aufgefangen wird. Als dritte und damit vorläufig letzte Revolution der Wertschöpfung bezeichnet Scholtissek (2004, S. 11) die bereits erwähnte Auslagerung von administrativen Geschäftsprozessen, die der Flexibilisierung von Verwaltungskosten dienen soll. New Outsourcing wird in der Personalverwaltung, im Rechnungswesen, in Call-Centern oder Funktionen des EDV-Bereichs angewandt. Damit treiben die Unternehmen die Konzentration auf das Kerngeschäft weiter voran, streng nach dem Motto: »Fokus on what gives your company its competitive edge, outsource the rest« (Hofmann 2001, S. 41). Zu diesem Zweck werden die Dienste eines OutsourcingAnbieters in Anspruch genommen, der die auszulagernden Tätigkeiten übernimmt und das Ursprungsunternehmen durch die Ausführung unterstützender Prozesse bedient. Der Transfer ist mit dem Versprechen des Outsourcing-Anbieters verbunden, die übernommenen Aufgaben effizienter und damit billiger zu erfüllen, als es dem auslagernden Unternehmen möglich ist. Die Outsourcing-Ratgeber-Literatur empfiehlt eine enge Beziehung zwischen Outsourcing-Anbieter und Nachfrager, damit die Zusammenarbeit Wirkung über das Outsourcing-Projekt hinaus für die Verwaltung des Nachfragers hat. Alle Verwaltungsabläufe, -strukturen und -systeme des auslagernden Unternehmens sollen nach dem Vorbild der ausgelagerten Prozesse mit Hilfe des Outsourcing-Anbieters optimiert werden (Scholtissek 2004, S. 13). Die Ziele von New Outsourcing sind damit ambitionierter als die ihrer Vorformen. In früheren Outsourcing-Konzepten geht es im Wesentlichen darum, Mitarbeiter einzusetzen, die kostengünstiger arbeiten als die Beschäftigten des Ursprungsunternehmens. Die Prozesse werden allerdings unverändert mit der gleichen Systemunterstützung weiterbetrieben (Scholtissek 2004, S. 12, S. 156f.). Mit New Outsourcing scheint es nun möglich, Verwaltungsprozesse zu digitalisieren sowie zu automatisieren und die Prozesse und Systeme zu vereinheitlichen, worin der Ratgeberliteratur zufolge das größte Wertschöpfungspotenzial liegt. Anders formuliert: Eigentlich ist die Flexibilisierung von Verwaltungs-

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kosten nur ein Baustein eines größeren Vorhabens. Tatsächlich soll menschliche Arbeitskraft, soweit möglich, durch technische Innovationen ersetzt werden. Daher wird Outsourcing von kritischen Stimmen auch häufig als eine Downsizing-Maßnahme bezeichnet (vgl. Wüstner 2006). Zunächst möchte ich jedoch von den Beschäftigungseffekten absehen und den Ablauf von New Outsourcing kurz skizzieren. In einem ersten Schritt legt der Kunde intern fest, welche Prozesse ausgelagert werden sollen. Dazu gehört die klare Abgrenzung zu den Tätigkeiten, die weiterhin im Ursprungsunternehmen verbleiben. Anschließend wird in einem Servicevertrag mit dem Outsourcing-Anbieter detailliert aufgeschlüsselt, welche Leistungen von der Fremdfirma erbracht werden, auf welche Daten er zu diesem Zweck zugreifen und in welcher Höhe er Gebühren für die vereinbarten Leistungen erheben darf. New Outsourcing stellt eine Kooperationsbeziehung dar, die Unternehmensgrenzen überschreitet. Das auslagernde Unternehmen muss daher die bisherigen Grenzen genau überdenken und gegebenenfalls neu ziehen (vgl. Hendrix et al. 2003). Eine dieser neu gezogenen Grenzen verläuft zwischen den Mitarbeitern, die zuvor die unterstützenden Prozesse intern durchgeführt haben, und ihrem alten Arbeitgeber bzw. ihren ehemaligen Kollegen. Wird nicht ein ganzer Bereich, sondern nur ein Teil davon ausgelagert, begegnen sich ehemals gleichberechtigte Kollegen nach dem Outsourcing in der Rolle des Dienstleisters oder Kunden (Küchler 2004, S. 66). Diese Grenzziehung zwischen zukünftigen Dienstleistern und Kunden beginnt sehr früh im Outsourcingprozess, da nur feste Betriebseinheiten mit Hilfe eines Betriebs(teils)übergangs nach § 613a BGB ausgelagert werden dürfen. In den meisten Fällen besteht eine solche Betriebseinheit vor der Outsourcing-Entscheidung noch nicht oder muss noch klar vom Rest des Unternehmens abgegrenzt werden, um den gesetzlichen Anforderungen zu genügen. Ein Betriebsteil im Sinne des § 613a BGB ist »eine organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen […], die eine wirtschaftliche Tätigkeit mit bestimmter Zielsetzung verfolgt«. Wird diese Tätigkeit fremd vergeben und der zugehörige Betriebsteil an ein anderes Unternehmen ausgelagert, ist die Folge, »dass sämtliche Arbeitsverhältnisse, die diesem Betrieb(steil) angehören, auto-

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matisch mit allen Rechten und Pflichten auf den Erwerber übergehen« (Mahr 2004, S. 371f.). In die Vorbereitung des Übergangs ist die Arbeitnehmervertretung eingebunden. Sie sorgt dafür, dass die Beschäftigungsverhältnisse möglichst unverändert transferiert werden. Damit ist gemeint, dass die Betriebszugehörigkeit, die Kündigungsfristen sowie die Urlaubs- und Gehaltsansprüche auch nach dem Transfer erhalten bleiben. Der institutionalisierten Gegenmacht sind jedoch Grenzen gesetzt: Den Transfer an sich kann eine Arbeitnehmervertretung nicht verhindern. Dieser ist individualrechtlich, im Sinne eines Widerspruchsrechts für den einzelnen Beschäftigten gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses geregelt. Für den Fall eines Widerspruchs sollte der Beschäftigte allerdings über berufliche Alternativen verfügen. Denn er muss damit rechnen, von seinem bisherigen Arbeitgeber betriebsbedingt gekündigt zu werden (Mahr 2004, S. 379), da die Betriebseinheit, für die er gearbeitet hat, nicht mehr existiert.

■ Der neue Arbeitgeber – Freund oder Feind? Den Beschäftigten bleibt also keine andere Wahl, als sich auf den Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber einzustellen. Die erste Annäherung zwischen dem neuen Arbeitgeber und den betroffenen Beschäftigten beginnt etwa drei Monate vor dem eigentlichen Transfer. Bis zu diesem Zeitpunkt hält das Management des Ursprungsunternehmens die Information zurück, welches Unternehmen mit dem Outsourcing beauftragt ist. Danach stellt sich der neue Arbeitgeber den betroffenen Beschäftigten durch Präsentationen und Gesprächsmöglichkeiten mit dem neuen Management vor. Einen Monat vor dem Transfer finden die Personalgespräche mit den Beschäftigten statt, die im Rahmen von Outsourcing das Ursprungsunternehmen verlassen und für das andere Unternehmen arbeiten sollen. Unter Berücksichtigung der einmonatigen Widerspruchsfrist der Beschäftigten hat das Management den spätestmöglichen Zeitpunkt für ein solches Gespräch gewählt. Die Kriterien, die dabei genannt werden, um die Auswahl ei-

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nes Beschäftigten zu begründen, können von den Interviewten im Interview nicht vollständig rekonstruiert werden. Weiter unten werde ich versuchen, die Kriterien aus meiner Sicht darzustellen. Alle Befragten scheinen dennoch ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Gefühl dafür zu haben, dass nicht nur organisatorische Kriterien für ihre Zugehörigkeit zu der auszulagernden Einheit ausschlaggebend waren. Einer der Befragten drückt das folgendermaßen aus: »[…] es war meine subjektive Einstellung, dass der Herr X, der eben da diese Gespräche führte, sich schon seine Leute entsprechend ausgesucht hat, die er brauchte, die er sich wünschte.« Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Befragte selbst nicht zu den Arbeitnehmern gehört, die aus Sicht des Managements gebraucht werden und in der Abteilung erwünscht sind, was von ihm und von anderen Befragten als Kränkung aufgefasst wird. In dieser Phase, wenige Monate vor dem Übergang, ist es nicht mehr möglich, die Tatsache zu ignorieren, dass der Arbeitsplatz im Ursprungsunternehmen verloren ist. Der Arbeitsplatzverlust wird im Fall von Outsourcing zwar durch ein Beschäftigungsverhältnis mit einem neuen Arbeitgeber aufgefangen, die Beschäftigten befürchten jedoch »eine langfristige Verschlechterung ihrer sozialen Absicherung in der ausgegliederten Gesellschaft« (Heinzl 1993, S. 72). In der Phase kurz vor dem Personaltransfer vermischt sich die Enttäuschung über den Arbeitsplatzverlust im Ursprungsunternehmen mit der begründeten Angst, auch den Arbeitsplatz im neuen Unternehmen zu verlieren. Zunächst sind zwar keine Entlassungen zu befürchten, da der neue Arbeitgeber für einige Jahre vertraglich Bestandsschutz gewährt und das Ursprungsunternehmen ein festes Auftragsvolumen garantiert. Wie sicher die Arbeitsplätze der Beschäftigten nach der Phase des Bestandsschutzes sind, hängt davon ab, ob der neue Arbeitgeber auch ohne die Aufträge des Ursprungsunternehmens existieren kann, was zum Zeitpunkt der Befragung ungewiss ist. Ein Personaltransfer im Rahmen von Outsourcing belastet die Beschäftigten und kann als kritisches Lebensereignis verstanden werden, denn er stellt eine äußere Veränderung dar, die »die Person zu bestimmten Umorientierungen, Bewältigungen, Wiederanpassungen« (Ulich, Haußer u. Mayring 1985, S. 35) herausfor-

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dert und eine Krise auslösen kann (vgl. auch Kieselbach u. Mader 2005). In der Outsourcing-Ratgeberliteratur wird zwar auf die Befürchtungen der Beschäftigten Bezug genommen, deren Situation aber nicht angemessen theoretisch gefasst und kritisch diskutiert. Stattdessen wird angenommen, dass die Risiken des Personaltransfers durch berufliche Chancen beim neuen Arbeitgeber für die Beschäftigten aufgewogen werden. Daher findet es Küchler (2004, S. 74) bemerkenswert, dass Zentraleuropäer der Auslagerung ihres eigenen Arbeitsplatzes skeptisch gegenüber stehen: »Im Gegensatz zu den anglo-amerikanischen Kulturkreisen – wo ein Outsourcing von den beteiligten Mitarbeitern begrüßt wird, da sie in ein Unternehmen kommen, das ihre Profession im Leistungsfokus hat – wird in Zentraleuropa ein solches Vorhaben zunächst meistens mit Skepsis aufgenommen, da die Mitarbeiter um den Bestand ihrer erworbenen sozialen Rechte und Gewohnheiten fürchten.« Tatsächlich stellte bereits die Ankündigung des Outsourcings einen Bruch der Beschäftigungskontinuität dar. Als langjährige Mitarbeiter einer Bank konnten sich die von mir Befragten nicht vorstellen, dass ihr Arbeitgeber zu einem Machtmittel wie Outsourcing greifen würde. Die emotionale Belastung durch dieses Ereignis variiert jedoch unter den Befragten. Das wird unter anderem durch Unterschiede in der retrospektiven zeitlichen Verortung der Geschehnisse deutlich. Diejenigen, die das Outsourcing emotional stark belastet, nennen einen kürzeren zeitlichen Abstand zwischen Ankündigung und Umsetzung des Personaltransfers als die Befragten, die mir im Interview als stabil und zuversichtlich erschienen. Die zuversichtlichen Interviewten datieren die Ankündigung etwa ein Jahr vor dem eigentlichen Transfer, während die stark verunsicherten Befragten einen Abstand von einem halben Jahr nennen. Es ist möglich, dass Letztere retrospektiv die Zeit vor der Ankündigung, in der ihre berufliche Welt noch in Ordnung war, unbewusst verlängern (Hinz 2000). Daran wird deutlich, wie schwierig es ist, eine neue berufliche Lebensperspektive aufzubauen, wenn die alte nicht freiwillig aufgegeben wird. Das hängt damit zusammen, dass die neue Beschäftigung den Verlust der vorigen Beschäftigung nicht aufheben kann, wenn die Bedingungen, unter der sie stattfindet, negativ bewertet werden und die Beschäf-

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tigten mit ihrer neuen Aufgabe nicht ohne Weiteres Sinn verbinden können (vgl. Ulich et al. 1985, S. 149). Die durch den Personaltransfer ausgelöste Unsicherheit führt dazu, dass einige der Befragten die Gegenwart, in der es zu handeln gilt, kaum wahrnehmen und sich stattdessen auf die Vergangenheit konzentrieren. Diesen Effekt hätte das Management des Ursprungsunternehmens durch eine Einbindung der Betroffenen in den Wandel mindern können, da Partizipation den Betroffenen das Gefühl gibt, »die Kontrolle über den Prozess zu behalten, was entscheidend zur Reduzierung von Stress beiträgt« (Kets de Vries u. Balazs 2000, S. 177; vgl. auch Weidenfeller 1986, S. 46f.; Kieselbach u. Mader 2005, S. 99). Als etwa ein Jahr vor der geplanten Auslagerung das Vorhaben kommuniziert wird, werden die Beschäftigten jedoch auch deshalb nicht am Wandel beteiligt, weil eine Beteiligung eine Preisgabe von Informationen implizieren würde, mit deren Hilfe Widerstand gegen die geplante Auslagerung denkbar gewesen wäre. Um Gegenmacht zu verhindern, werden weder der genaue Umfang der geplanten Auslagerung noch der konkrete Ablauf kommuniziert. Welche Arbeitnehmer von der Maßnahme konkret betroffen sein könnten, deutet sich daher erst durch die anschließende Umstrukturierung an, die zum Ziel hat, die auszulagernde Einheit deutlich von den anderen Bereichen des Unternehmens abzugrenzen. Nur so kann den Anforderungen an einen Betriebsteil im Sinne des § 613a BGB entsprochen werden. Diejenigen, die Outsourcing am stärksten ablehnen, nehmen die Veränderung der Zuordnung ihres Arbeitsplatzes allerdings kaum wahr und können sie auch retrospektiv im Interview nicht benennen. Nach dem Übergang zum neuen Arbeitgeber sehen sich die Befragten mit veränderten Arbeitsanforderungen konfrontiert. So steht nun eigenverantwortliches Handeln im Vordergrund, wohingegen die Vorgesetzten der Bank für ihre Mitarbeiter viel Verantwortung übernehmen, was die meisten Befragten schätzen. Ein Befragter beschreibt den Unterschied zum neuen Arbeitgeber folgendermaßen: »Man fühlt sich bei der Bank eher an die Hand genommen, während man bei [Name Unternehmen] eher frei schwimmen muss.« Es ist auffällig, dass sich unter den Interviewten zwar die Mehr-

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heit explizit gegen zu große Eigenverantwortung ausspricht, während etwa ein Drittel der Befragten über den Verantwortungszuwachs im neuen Unternehmen erfreut ist. Es ist zunächst verwunderlich, dass Beschäftigte einer Abteilung diese Frage so unterschiedlich beurteilen. Betrachtet man die beiden Gruppen jedoch etwas genauer, so gewinnt man den Eindruck, dass sie bewusst gewählt wurden: Die eine Gruppe besteht aus eher angepassten, weniger ehrgeizigen Arbeitnehmern, während die andere Gruppe Arbeitnehmer enthält, die zwar motiviert sind, auf eine bestimmte Art und Weise aber nicht in eine Bank passen. Überspitzt formuliert führt dies zu der Annahme, dass das Management für die Auslagerung Arbeitnehmer gewählt hat, die sie entweder für unmotiviert hält oder die nicht der Vorstellung eines typischen Bankmitarbeiters entsprechen. Trotz der gegensätzlichen Bewertung der Chancen und Risiken durch den Unternehmenswechsel sind sich die Befragten in einem Punkt weitgehend einig. Keiner von ihnen stellt sich nur als Opfer der Geschehnisse dar. Vielmehr suchen sie, mehr oder weniger bewusst, nach einem Weg, ihr Erwerbsleben weiterhin als selbstbestimmt wahrzunehmen. Dazu gehört, positive Aspekte am veränderten Arbeitskontext zu betonen und sich so zumindest ein ambivalentes Bild der Situation zu erhalten.

■ Methodische Überlegungen Die Datenbasis der empirischen Untersuchung, auf die sich mein Beitrag stützt, bezieht sich auf eine Gruppe von ehemaligen Beschäftigten des EDV-Bereichs einer Bank, deren Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen von Outsourcing an ein für diesen Zweck gegründetes Tochterunternehmen eines Beratungsunternehmens transferiert wurden. Aus dieser Gruppe wurden dreißig Personen angeschrieben, von denen sich zehn Personen zum Interview bereit erklärten. In halbstrukturierten Interviews gaben die ehemaligen Bankmitarbeiter Auskunft über ihre Erwerbsbiographie. Nach einleitenden Fragen zur Ausbildung und beruflichen Erfahrungen vor dem Eintritt in die Bank enthielt der Interviewleitfaden Fra-

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gen zu den Arbeitsbedingungen in der Bank, zum Transfer zum neuen Arbeitgeber sowie zu den Arbeitsbedingungen im neuen Unternehmen. Anschließend wurden die Unternehmenskultur der Bank im Vergleich zu der des Beratungsunternehmens und die daraus resultierenden Integrationsschwierigkeiten im neuen Unternehmen thematisiert (vgl. Heinzl 1993, S. 72f.). Der Großteil der Fragen hatte einen Bezug zum Umgang mit der Zeit, worauf ich später noch eingehen werde. Die Interviews wurden anhand folgender Kategorien ausgewertet: Arbeitsbedingungen des neuen und alten Arbeitgebers, Selbstökonomisierung als Anforderung des neuen Arbeitgebers, die Fähigkeit der Interviewten zur Selbstökonomisierung und Selbstkontrolle sowie das Bewältigungsverhalten der Interviewten. Die Auswertung der Interviews hat zum Ziel, die Arbeitsbedingungen des alten und neuen Arbeitgebers unter dem Fokus der Zeit zu vergleichen. Zudem soll die Analyse der Interviews Aufschluss darüber geben, wie gut es den Interviewten gelingt, im neuen Arbeitsumfeld zu bestehen und welche Faktoren für die Bewältigung förderlich oder hinderlich sind. Insbesondere für die Fragen zu Erleben und Bewältigung des Transfers ist die Berücksichtigung latenter Sinngehalte bei der Auswertung wichtig (vgl. Leithäuser u. Volmerg 1988). Sie entstehen im narrativen Interview auf mehreren Ebenen: die aktive Erinnerung und Schilderung der Ereignisse löst Gefühle in den Interviewten aus, die sich weniger sprachlich als vielmehr in nonverbalen Äußerungen sowie in der Beziehungsdynamik zwischen Interviewerin und Interviewten manifestiert. Auch die Fragende ist emotional involviert: Sie reagiert auf das, was sie hört und auf den emotionalen Ausdruck des Gegenübers. Der verbale und der emotionale Gehalt im Interview können durchaus divergieren und die Interviewerin irritieren. Eine solche Irritation entsteht beispielsweise, wenn ein Interviewter während der Äußerung eines sehr bedrückenden Erlebnisses lacht, wodurch er seine Ambivalenz gegenüber dem Geschilderten zum Ausdruck bringt. Auch die Angst, den Anforderungen des neuen Arbeitgebers nicht entsprechen zu können, wird von allen Interviewten geteilt und häufig eher nonverbal als verbal geäußert. Die Angst zu versagen wird von einer Anforderung ausgelöst,

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die in Beratungsunternehmen, nicht jedoch in Banken üblich ist. Es handelt sich um die Anforderung, »buchbar« zu sein. Gemeint ist damit, dass die Arbeitszeit der Beschäftigten zu 100 Prozent mit Tätigkeiten gefüllt sein soll, die sich einem Kunden in Rechnung stellen lassen. Das Management begründet diese Anforderung mit der Notwendigkeit, Beschäftige vollständig auslasten zu müssen, damit sich die Investition in Mitarbeiter, die das zentrale Produktionsmittel eines Dienstleistungsunternehmens darstellen, rentiert. Dass für Mitarbeiter ein Auslastungsgrad errechnet wird, der ihren Marktwert darstellen soll, irritiert die meisten Interviewten und wird von ihnen auf unterschiedliche Weise bewältigt. Diese Beispiele sollen zeigen, dass es in der Interpretation der Interviews nicht um die reine Darstellung des Gesagten, sondern auch um eine Annäherung an den intentionalen Gehalt der Aussagen gehen soll, der wichtige Hinweise auf die soziale Wirklichkeit der Befragten geben kann (vgl. Leithäuser u. Volmerg 1988). Diese Informationen sind zum einen in den Interviewtranskripten enthalten sowie in Beobachtungs-Protokollen einer Praktikantin, die an den Interviews teilnahm (vgl. Haubl 1986, S. 171; Breuer 1996, S. 101; Muckel 1996, S. 73f.).

■ Zeit als analytische Kategorie Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass ich Zeit als analytische Kategorie gewählt habe. Folgt man jedoch der Darstellung eines Fallbeispiels von Koppe (2004, S. 253), bietet sich Zeit an, um zu analysieren, weshalb die Integration von Mitarbeitern einer Bank in ein Unternehmen der EDV-Branche nicht ganz unproblematisch ist: »[Man sah] sich mit der Herausforderung konfrontiert, zwei unterschiedliche Unternehmenskulturen mit über 800 Mitarbeitern aus den Bereichen Customer Care & Support der Deutschen Bank in das Unternehmen GFIM mit 200 Mitarbeitern zu integrieren: Die Unternehmenskultur auf Seiten GFIM bestand aus eher kreativ und spontan geprägten jungen IT-Spezialisten, die das Arbeiten in flachen Hierarchien gewohnt waren. Auf Seiten CC&S fand sich hingegen eine tendenziell hierarchische, auf Si-

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cherheit bedachte und konservative Unternehmenskultur, dominiert von einer Belegschaft aus ausgebildeten Bankern mit Expertenwissen.« Aus diesem Zitat geht hervor, dass sich die Beschäftigten der Bank von denen des EDV-Unternehmens unter anderem im Hinblick auf den Zeithorizont unterscheiden. Bankmitarbeiter sind »gut ausgebildet« und »auf Sicherheit bedacht«, was für eine langfristige berufliche Orientierung unter Berücksichtigung der Vergangenheit spricht. Im Gegensatz dazu werden die Mitarbeiter des EDV-Unternehmens als »kreativ« und »spontan«, also an der Gegenwart orientiert, beschrieben. Da ich im Vorfeld von ähnlichen Unterschieden zwischen Beratern und Bankmitarbeitern ausging, schien mir der Zugang über den Fokus »Zeit« fruchtbar. Zeit verstehe ich mit Elias (1984, S. IX) als ein im Prozess der Zivilisation entwickeltes »Mittel der Orientierung in der sozialen Welt«, das »der Regulierung im Zusammenleben der Menschen« dient. Durch die Formierung gesellschaftlich verbindlicher Zeitordnungen wird die Koordination und Synchronisation sozialen Lebens unterstützt. Dieser Prozess der Formierung von Zeitordnungen hält bis heute an, da die Anforderungen an Zeit als Orientierungs- und Regulierungsmittel immer höher werden. Diese Entwicklung bringt Zeitinstitutionen wie die Arbeitszeit hervor, die uns objektiviert gegenüber treten. Als weitere temporale Errungenschaften können Uhren und Kalender gelten, die uns helfen, unser Handeln zeitlich zu verorten. Sie stellen als »sozial standardisierte Geschehensabläufe« Bezugsrahmen dar, deren »gleichmäßig wiederkehrende Ablaufmuster« uns ermöglichen, individuelle und soziale Geschehensabläufe zu vergleichen und einzuordnen (Elias 1984, S. VII, XII). Zeit ist nach diesem Verständnis nicht natürlich gegeben, sondern erfüllt eine soziale Funktion und entwickelt sich entsprechend der Anforderungen und Werthaltungen einer Gesellschaft (vgl. Eberling u. Henckel 2000, S. 233; Kasten 2001, S. 123f.). Unterscheiden sich Kulturen hinsichtlich der Anforderungen an ein solches Orientierungsmittel, ist von einem jeweils anderen Verständnis von Zeit auszugehen, das zu einem spezifischen Umgang mit der Zeit führt. Vergleicht man diese Unterschiede im Umgang mit der Zeit, sind Rückschlüsse auf andere Aspekte einer

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Kultur möglich. Davon geht Levine (2003) aus, als er eine Landkarte der Zeit erstellt. Er untersucht das Lebenstempo in 31 Ländern anhand der Gehgeschwindigkeit eines Fußgängers, der Dauer des Kaufs einer Briefmarke und der Genauigkeit der öffentlichen Uhren. Seine Studie ergibt, dass das Lebenstempo umso schneller ist, je höher der Wohlstand, der Grad der Industrialisierung und je ausgeprägter die Individualisierung eines Landes ist. Brislin und Kim (2003) nehmen die Idee der Zeitkultur auf und übertragen sie auf die Arbeitswelt. Ihrer Ansicht nach ist es bei interkulturellen Geschäftskooperationen unerlässlich, die Zeitkultur des Geschäftspartners zu verstehen und im eigenen Handeln zu berücksichtigen. Zu einer Zeitkultur gehört ein spezifisches Verhältnis von »clock time« und »event time«. Dominieren formale Termine und vereinbarte Dauern, so hat die clock time Vorrang. Liegt eine Orientierung am spontanen Beginn eines Ereignisses vor, dessen Dauer sich aus dem Kontext heraus ergibt, spricht man von »event time«. Ist in einer Kultur die »clock time« vorherrschend, ist dies mit einem hohen Grad an Pünktlichkeit verbunden, während Pünktlichkeit in der »event time« wenig Bedeutung hat und deshalb mit mehr Spielraum gehandhabt wird. Ein weiterer Unterschied besteht darin, wie viel Zeit auf die eigentliche Aufgabe verwendet wird und wie groß der Anteil der Sozialzeit an der Arbeitszeit ist, die mit gemeinsamem Kaffeetrinken oder Ähnlichem verbracht wird. Zeitkulturen unterscheiden sich auch darin, ob es üblich ist, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, im Sinne eines »monochronic time use«, oder ob mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigt werden. Einen weiteren Unterschied kann man über das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit ausmachen. Die beiden Bereiche sind entweder streng voneinander getrennt oder es wird aufgrund eher fließender Grenzen auch am Abend oder Wochenende gearbeitet. Weitere Dimensionen stellen die Lebensgeschwindigkeit, der Umgang mit längeren Phasen des Schweigens, die Orientierung in Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, der symbolische Gehalt von Zeit und der Stellenwert von Effizienz in einer Kultur dar. Diese Dimensionen, auf deren Basis Zeitkulturen verschiedener Länder verglichen werden können, sind meiner Ansicht nach auf den Vergleich von Unternehmenskulturen desselben Landes

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übertragbar. Auch Unternehmen, die im gleichen Land angesiedelt sind, unterscheiden sich im Umgang mit der Zeit. Für den Vergleich der Zeitkultur einer Bank und der eines Beratungsunternehmens gehe ich davon aus, dass sich beispielsweise die temporalen Grenzen von Arbeit und Leben in einem Beratungsunternehmen als flexibler erweisen als in einer Bank und Effizienz in einem Beratungsunternehmen einen höheren Stellenwert hat. Der Unterschied in Bezug auf die Bedeutung von Effizienz zwischen einer Bank und dem Tochterunternehmen, das im Rahmen von Outsourcing neu gegründet wurde, dürfte noch größer sein. Das ist dem Umstand geschuldet, dass dieses Tochterunternehmen mit der Auflage gegründet wurde, mit der Übernahme von Personal von der Bank zur Senkung der bankinternen Verwaltungskosten beizutragen. Dazu muss es dem Management des neu gegründeten Tochterunternehmens gelingen, die übernommenen Beschäftigten dazu zu motivieren, pro Zeiteinheit mehr zu leisten als es der frühere Arbeitgeber von ihnen gefordert hat.

■ Empirische Befunde Um meinen Ansatz zu verdeutlichen, habe ich aus meinem Interviewmaterial das Interview mit Frau D. ausgewählt, anhand dessen ich exemplarisch die angewandten Auswertungsdimensionen darstellen möchte. Es handelt sich um das Ankerinterview meiner Arbeit, da es zahlreiche interessante Aspekte zum Thema Outsourcing enthält, die von der Interviewten anschaulich geschildert werden. Im Vergleich zu anderen Befragten kann sie den Transfer gut bewältigen und findet sich auch im neuen Unternehmen zurecht. Frau D. verfügt über gute Ressourcen zur Bewältigung kritischer Ereignisse und ist bereit, sich auf die neue Situation einzulassen. Ihr Wille, sich den Herausforderungen zu stellen, mit denen sie durch den Transfer von der Bank zu einem EDV-Anbieter konfrontiert wird, ist aus meiner Sicht beeindruckend. Sie ist hoch motiviert und will im neuen Unternehmen erfolgreich sein. Dass sie trotz ihrer beachtlichen Ressourcen unter dem Transfer leidet, macht deutlich,

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wie belastend ein solcher Bruch in der Erwerbsbiographie für die Betroffenen ist. Nicht alle Passagen des Interviews sind selbstexplikativ, zum besseren Verständnis habe ich diese Stellen durch Äußerungen aus anderen Interviews ergänzt. Zunächst möchte ich darstellen, wie die Befragte die Phase des Übergangs erlebt. Danach gehe ich auf ihre momentane Arbeitssituation bei dem EDV-Dienstleister ein, der sie im Rahmen des Outsourcings übernommen hat.

■ Outsourcing– ein Bruch in der Erwerbsbiographie Die Erwerbsbiographie von Frau D. weist auch vor der Auslagerung einige Diskontinuitäten auf. Sie hat nicht wie andere Interviewte den größten Teil ihres Erwerbslebens in der Bank verbracht, sondern mehrere Male den Arbeitgeber gewechselt. Daher ängstigt sie ein erneuter Wechsel nicht in gleicher Weise wie diejenigen Kollegen, die für die Bank seit über zwanzig Jahren tätig sind. Im Vorfeld des eigentlichen Transfers erlebt sie den neuen Arbeitgeber auf der Basis seiner Selbstdarstellung als positiv, obwohl es sich um ein Beratungsunternehmen handelt. Mit solchen Unternehmen verbindet sie die Vorstellung von Männern in Grau, die alle gleich aussehen und andere Menschen ausbeuten. Positiv stimmt sie, dass es ein großes Unternehmen mit mehreren Geschäftsbereichen ist. Frau D. glaubt, dort gute Chancen zu haben, sich beruflich weiterzuentwickeln. Sie geht davon aus, dass sie die Fähigkeiten besitzt, die im neuen Unternehmen geschätzt werden. Enttäuscht ist sie von der Kommunikationspolitik der Bank. Noch einen Monat vor der offiziellen Verkündigung des Personaltransfers gibt ihr Vorgesetzter auf Nachfrage an, dass ihm keine Outsourcing-Bestrebungen bekannt seien. Sein Verhalten entspricht zwar den arbeitsrechtlichen Geheimhaltungspflichten während der Vorbereitung eines Personaltransfers. Da diese Bestimmungen der Interviewten jedoch nicht bekannt sind, wertet sie die Aussage des Vorgesetzten retrospektiv als bewusste Fehlinformation. Die meisten Beschäftigten fühlen sich Kieselbach und Mader (2005, S. 92) zufolge in Phasen, in denen sie um ihren

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Arbeitsplatz fürchten müssen, ungerecht behandelt und beklagen die »unzureichende Kommunikation und mangelnde Offenheit seitens des Unternehmens«. Erst nach der unternehmensinternen Bekanntgabe des Outsourcings gewinnt der Personaltransfer für die betroffenen Arbeitnehmer an Kontur. Sukzessiv erfahren sie, welchen Umfang die auszulagernde Einheit hat und wer ihr konkret angehört. Die Atmosphäre in dieser Phase beschreibt Frau D. als angespannt, da jeder in der Abteilung abzuschätzen versucht, ob sie oder er zu der auszulagernden Einheit gehört oder im Unternehmen verbleiben kann. Wie in der Studie zum Thema Arbeitsplatzunsicherheit von Kieselbach und Mader (2005, S. 93) dargestellt, neigen die Befragten nicht dazu, ihre Interessen gemeinsam zu vertreten, »vielmehr führen Gerüchte und Unsicherheiten zu einer starken Individualisierung«. Frau D. trifft die Entscheidung, gegen den Transfer ihres Arbeitsplatzes keinen Widerspruch einzulegen, unabhängig von ihren Kollegen. Sie ist sich sicher, dass man sie in der Bank nicht halten will und dass der Wechsel zu einem anderen Unternehmen daher sinnvoll ist. Bemerkenswert ist, dass sie das Verhalten ihrer Vorgesetzten trotz aller Enttäuschung sehr differenziert beurteilt. So nimmt sie beispielsweise Bemühungen seitens ihres Bereichsleiters wahr, beim neuen Arbeitgeber für gute Arbeitsbedingungen nach dem Transfer zu sorgen. Auch den Betriebsrat beschreibt sie als hilfreich in der Phase vor dem Übergang. Trotz der Ambivalenz überwiegt jedoch die Enttäuschung. Frau D. vergleicht die Gefühle, die von einer möglichen Auslagerung des eigenen Arbeitsplatzes ausgelöst werden, mit den Gefühlen, die damit verbunden sind, von einem Lebenspartner verlassen zu werden. Es ist der Bruch einer Beziehung, die man bis zu diesem Zeitpunkt für gefestigt gehalten hat. Da ihre Arbeitsbeziehung erst seit drei Jahren besteht, verkraftet sie den Verlust jedoch relativ gut. Zudem ist sie durch frühere Unternehmenswechsel zu einer distanzierten Haltung gegenüber ihrem Arbeitgeber gelangt. Diese Distanz ermöglicht ihr, sich selbst und dem Unternehmen zuzugestehen, die Arbeitsbeziehung gegebenenfalls zu lösen, sollten sich die Bedingungen zum Negativen ändern. Da ihr die Arbeitsatmosphäre nicht mehr zusagt und sie be-

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züglich einer positiven Wendung der Situation eher pessimistisch ist, möchte sie nicht weiterhin für die Bank arbeiten. Sie glaubt, dass das Commitment einiger Kollegen, die bisher sehr engagiert waren, als Folge des Outsourcings nachlassen wird. Das nachlassende Engagement erklärt sich aus ihrer Sicht dadurch, dass auch die Verbliebenen in der Bank vom Verhalten ihres Arbeitgebers enttäuscht sind und dennoch den Personaltransfer nach außen hin vertreten müssen, da sie dem auslagernden Unternehmen angehören. Ausgelagert zu werden empfindet sie daher insofern als Entlastung, als sie diese Maßnahme als ehemalige Mitarbeiterin der Bank nicht rechtfertigen muss. Sie schließt mit ihrem alten Arbeitgeber ab und hofft auf bessere berufliche Chancen sowie ein angenehmeres Arbeitsklima beim neuen Arbeitgeber. Nach dem Transfer nimmt Frau D. bei sich selbst sowie bei ihrem neuen Arbeitgeber eine anfängliche Unsicherheit im Umgang miteinander wahr. Sie verwendet das Bild von der »Katze im Sack«, da weder sie noch das Unternehmen abschätzen können, was sie von der jeweils anderen Seite zu erwarten haben. Um sich dem neuen Unternehmen anzunähern, versucht sie die Firmenkultur, die Strukturen des Unternehmens sowie die an sie gestellten Erwartungen als Mitarbeiterin zu erfassen. Dabei achtet sie insbesondere auf den im Unternehmen verwendeten Wortschatz. Wenn sie sich diesen aneignet, so ihre Annahme, nimmt sie ein Stück Firmenkultur auf und versteht sie besser. Sie grenzt sich von denjenigen Kollegen ab, die nicht proaktiv versuchen, auf ihre neue Situation einzugehen. Sie selbst möchte sich möglichst schnell der neuen Organisation zugehörig fühlen und eine entsprechende Identität aufbauen. Sie sieht sich auch nach einem Jahr noch in der Übergangsphase, noch immer versteht sie nicht alles und fühlt sich in einigen Situationen wie eine Berufsanfängerin, trotz ihrer Berufserfahrung. Frau D. hält kaum Kontakt zu ihren ehemaligen Kollegen, die noch bei der Bank beschäftigt sind. Sie beschreibt die Trennung durch das Outsourcing als sehr stark. Es ist anzunehmen, dass die Interviewte nicht nur mit ihrem alten Arbeitgeber, sondern auch mit den dort verbliebenen ehemaligen Kollegen abschließen will.

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■ Die temporalen Arbeitsbedingungen des alten und des neuen Arbeitgebers im Vergleich Aus anderen Interviews geht hervor, dass die Arbeitsbedingungen im Sinne der vertraglichen Arbeitszeit durch den Transfer nicht verändert wurden. Nach wie vor haben die Beschäftigten eine 39Stunden-Woche. Damit sind weniger als acht Stunden Arbeitszeit pro Tag vertraglich festgelegt. Die tatsächliche Arbeitszeit beträgt jedoch häufig bis zu zehn Stunden täglich. Vergleicht man die vereinbarte und die tatsächliche Arbeitszeit in Bezug auf das vereinbarte Volumen, stellen Kratzer und Fuchs (2005) fest, dass bei Arbeitsverträgen mit mehr als 30 Stunden pro Woche die tatsächliche Arbeitszeit meistens länger als die vereinbarte Arbeitszeit ist. Im Gegensatz hierzu wünschen sich viele Arbeitnehmer einen kürzeren Arbeitstag, um Arbeit und Privatleben besser vereinbaren zu können. Kratzer und Fuchs (2005, S. 384) verstehen unter der Vereinbarkeit von Arbeit und Leben die Möglichkeit, »beide Sphären auf individueller oder Haushaltsebene so in Einklang zu bringen, dass die verschiedenen – zum Teil widersprüchlichen – Anforderungen aus der Arbeitswelt einerseits und der privaten Lebenswelt andererseits weitestmöglich erfüllbar sind.« Diese Vorstellung von Vereinbarkeit von Arbeit und Leben bringen die Autoren mit den Konzepten des Zeitwohlstands und der Zeitsouveränität in Verbindung. Zeitwohlstand definieren sie als die quantitative Bedingung der Vereinbarkeit im Sinne eines Zeitvolumens, über das frei verfügt werden kann. Unter Zeitsouveränität verstehen sie die Differenz von tatsächlicher und erwünschter Arbeitszeit. Rinderspacher (2000, S. 47) definiert den Begriff der Zeitsouveränität insofern enger, als er seiner Auffassung nach nicht nur eine eigenständige Entscheidung der Beschäftigten in Bezug auf das Arbeitsvolumen impliziert. Freie Zeit ist demnach nicht per se wertvoll, sie gewinnt ihren Wert über die Lage in der Woche. So wird freie Zeit am Wochenende gemeinhin als wertvoller angesehen als freie Zeit unter der Woche. Auch die Verlässlichkeit der Arbeitszeit hat für Beschäftigte einen hohen Stellenwert. Eine starre, aber vorhersehbare Arbeitszeit kann sich »als vorteilhafter erweisen als eine flexible, aber wiederholt auszuhandelnde Arbeitszeit« (Jürgens 2003, S. 44). Mit Rinderspacher (2000, S. 47)

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bin ich der Ansicht, dass nur derjenige wirklich zeitsouverän ist, der über alle Dimensionen der Arbeitszeit, also über Dauer, Lage und Verteilung »der eigenen Lebenszeit für den Zweck der Erwerbstätigkeit« entscheiden kann. Zeitsouveränität nach dieser Definition wird beispielsweise von sogenannten Zeitpionieren (Hörning 1990) gelebt, die jedoch nur einen kleinen Teil der Arbeitnehmer ausmachen. Daraus folgt, dass der selbstbestimmte Umgang mit der Zeit für den Großteil der Arbeitnehmer »weithin ein Mythos geblieben« ist (Rinderspacher 2000, S. 91f.). Denn die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitszeit wird von den Unternehmen forciert, um die Arbeitszeit betrieblichen Anforderungen anzupassen. Die Zeitbedürfnisse der Beschäftigten stehen dabei nicht im Vordergrund. Auch die Arbeitszeit von Frau D. richtet sich nach den betrieblichen Anforderungen. Das tägliche Volumen schwankt dabei zwischen acht und zehn Stunden. Dass der Arbeitstag nicht länger ist, liegt an den arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Arbeitnehmer (Schmid u. Trenk-Hinterberger 1994, S. 61). Bei einem großen Arbeitsvolumen ist es im neuen Unternehmen allerdings üblich, mehr als zehn Stunden zu arbeiten und die zusätzlichen Stunden an einem anderen Tag im Zeiterfassungsprogramm einzutragen. Durch diese Spielräume in der Zeiterfassung wird die Vergütung der geleisteten Arbeitszeit gesichert und damit ein Anreiz für die Beschäftigten geschaffen, den gesetzlichen Arbeitsschutz zu umgehen. So können die Vorgesetzten auf den freiwilligen Einsatz der Beschäftigten über das gesetzlich geschützte Maß hinaus vertrauen. Das ist für das Management von großer Bedeutung, da Arbeitnehmer aus rechtlicher Sicht freiwillig mehr als acht oder zehn Stunden am Tag arbeiten dürfen, die Anweisung von Mehrarbeit kann dagegen strafrechtlich verfolgt werden (Schaub 1994, S. 92). Das bedeutet, dass das Management arbeitsrechtlich betrachtet die Arbeitnehmer zur Selbstausbeutung verführen, jedoch nicht dazu zwingen kann. Denn ein Arbeitnehmer ist »nur zu der Arbeitsleistung verpflichtet, die er auf Dauer ohne Schädigung seiner physischen und psychischen Gesundheit erbringen kann« (Schmid u. Trenk-Hinterberger 1994, S. 60). Da sich diese Handhabung von Mehrarbeit im neuen Unter-

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nehmen etabliert hat, wird auch von Frau D. erwartet, dass sie hinsichtlich der Arbeitsdauer flexibel ist. Darüber hinaus impliziert die Betonung der Freiwilligkeit, dass ihre Vorgesetzten keine Verantwortung für sie übernehmen, sondern davon ausgehen, dass sie sich selbst vor Überlastung und Ermüdung schützt und gegebenenfalls nicht zur Mehrarbeit bereit ist. Sie verlässt sich jedoch darauf, dass sich das Arbeitspensum wie bei ihrem früheren Arbeitgeber nach einer Weile verringert oder der Vorgesetzte sie vor Überlastung schützt (vgl. Ulich 2005). Seit einem Schlüsselerlebnis, bei dem ihre Belastungsgrenze erreicht wurde, weiß sie, dass sie sich selbst schützen muss. Zunächst arbeitete sie jedoch über Monate bis zu vierzehn Stunden täglich, um ihre Leistungsbereitschaft unter Beweis zu stellen: »Da bin ich gerne flexibel in dem, dass ich sag, okay, ich bleib länger und wir lösen das, aber dann als Ausgleich krieg ich dann Zeit. Es gab ’ne Zeit am Anfang, wo mir das sehr, sehr schwer war zu machen, und irgendwann mal war ich in Tränen [lacht], was nicht üblich bei mir ist in der Arbeit. Und, ähm, da wurde Einiges bewegt, damit ich zumindest drei zusammenhängende freie Tage hatte [lacht], um mal ein bisschen abzuspannen, also fünf mit dem Wochenende.«

Das Zitat lässt vermuten, dass Frau D. den notwendigen Selbstschutz als Eingeständnis mangelnder Belastbarkeit empfindet und sich dafür schämt, den Erwartungen ihrer Vorgesetzten nicht gerecht zu werden. Nur die Tatsache, dass sie die Arbeitsbelastung nicht länger aushält, kann sie dazu bewegen, die notwendige freie Zeit für Regeneration einzufordern. Dass sie mit ihrer Forderung nach Freizeit keine Ablehnung erfährt, sondern »Einiges bewegt« wurde, erfüllt sie mit Stolz. Frau D. berichtet von Kollegen, denen es im Vergleich zu ihr noch schlechter gelingt, sich mit ihrem Vorgesetzten hinsichtlich des Arbeitsvolumens zu arrangieren. Der Vorgesetzte dieser Kollegen kommuniziert, dass das Arbeitspensum nur dadurch zu bewältigen ist, dass das Team dauerhaft etwa zwölf Stunden am Tag arbeitet. Als gutes Vorbild arbeitet er zusätzlich am Wochenende, um seine Mitarbeiter zu Mehrarbeit anzuregen. Frau D. bedauert, dass seine Motivationsstrategie, das Team durch eigene Mehrar-

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beit zu disziplinieren, aufgeht. Ihrer Ansicht nach sollten berufliche Sachzwänge nicht dauerhaft das Privatleben dominieren, obwohl sie sich selbst leicht von Sachzwängen zu Mehrarbeit verführen lässt. In diesem Fall hält sie den Druck jedoch für künstlich und glaubt, dass weder das höhere Management noch der Kunde diesen Druck erzeugen. Es erscheint ihr wahrscheinlicher, dass die Ansprüche des Vorgesetzten an sich selbst für den Druck verantwortlich sind. Es wäre denkbar, dass er als ehemaliger Bankangestellter beweisen möchte, dass er ebenso leistungsfähig wie die anderen Vorgesetzten im neuen Unternehmen ist. Vielleicht möchte er sie sogar übertrumpfen, indem er noch mehr Einsatz zeigt und in der Lage ist, sein Team zu einer größeren Arbeitsleistung zu motivieren, als es den anderen Vorgesetzten gelingt. Mit diesem Ehrgeiz könnte er seine Mitarbeiter überfordern, die nach Ansicht von Frau D. nicht wagen, für ein paar freie Tage zu kämpfen. Selbst wenn sie sich wie Frau D. für einen Freizeitausgleich der geleisteten Mehrarbeit einsetzen würden, bleibt das Grundproblem einer generellen Überforderung erhalten. Aufgrund ihrer Schilderung ist davon auszugehen, dass der Leistungsstandard nach dem Transfer über der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der transferierten Beschäftigten liegt. Neben dem Ehrgeiz mancher Vorgesetzter ist allerdings auch der Servicevertrag zwischen der Bank und dem Dienstleister als Ursache erhöhter Leistungsstandards zu nennen. In diesem Vertrag ist unter anderem festgelegt, dass Nichterfüllung oder verspätete Lieferung seitens des Dienstleisters vom Kunden mit Vertragsstrafen belegt werden können. Formale Termine sind den Befragten zwar auch aus ihrer Zeit bei der Bank bekannt, die Handhabung hat in ihrer Strenge jedoch eine neue Qualität erreicht. Abweichungen der EDV-Abteilung von einem vereinbarten Termin sind in der Bank meldepflichtig und erzeugen Unmut bei der Abteilung, die Empfänger der Dienstleistung ist. Mangelnde Termintreue ist jedoch bei der internen Entwicklung von Anwendungssystemen nicht ungewöhnlich (vgl. Heinzl 1993, S. 26) und führt normalerweise nicht zu Konsequenzen für die Beschäftigten. Durch die im Servicevertrag vereinbarten finanziellen Sanktionen hat sich die Situation für Frau D. nun dahingehend verschärft, dass

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sie fürchtet, zur Verantwortung gezogen zu werden, sollte sie ihre Arbeit nicht im vorgesehenen Zeitraum erledigen können. Eine weitere Belastung in zeitlicher Hinsicht stellt die variable Arbeitszeitstruktur im neuen Unternehmen dar. Die Arbeitszeit wird immer wieder neu strukturiert, da sie den Erfordernissen der Projektarbeit angepasst wird. Jeder Projektwechsel hat für Frau D. zur Folge, dass sie sich nicht nur auf neue Kollegen und Vorgesetzte, sondern auch auf andere Arbeitszeiten einstellen muss. Dies betrifft die Dauer, die Lage im Tag sowie die Verteilung über die Woche. Auch deshalb beschreibt Frau D. den Beginn eines neuen Projekts wie den Beginn einer Achterbahnfahrt. Freude mischt sich mit Angst, überwiegt dabei die Freude, wirkt der Projektbeginn vitalisierend. Insbesondere bei Kollegen erlebt sie jedoch häufig, dass die Angst überwiegt, was Ohnmachtsgefühle und Orientierungslosigkeit erzeugen kann. Vom Fremdzwang zum Selbstzwang: »Eigentlich solltest du ja acht Stunden ausgelastet sein.« Wie eingangs ausgeführt, ist es für das Management aus betriebswirtschaftlicher Sicht wünschenswert, den »Faktor Arbeit« ebenso steuern und kontrollieren zu können wie Maschinen, die beim Kauf vollständig in die Verfügungsgewalt des Unternehmens übergehen. Durch die Anstellung von Mitarbeitern erwirbt der Arbeitgeber jedoch nur das Recht, »für eine definierte Zeit deren Potenzial von Arbeitsfähigkeit zu nutzen« (Pongratz u. Voß 2004, S. 10). Die Investition in Humankapital lohnt sich daher für einen Arbeitgeber nicht zwangsläufig, da das erworbene Arbeitsvermögen erst in die gewünschte Arbeitsleistung transformiert werden muss. Das Transformationsproblem besteht nun darin, dass die Transformation an ein Einverständnis des Eigentümers des Arbeitsvermögens gebunden ist, der sich fügen, allerdings auch eigenwillig zeigen kann (Neuberger 1994, S. 9f.). Lange Zeit galten rigide Formen von technischer und organisatorischer Kontrolle als optimale Transformationsstrategien. Solche Strategien sind allerdings mit sehr großem Aufwand verbunden, zumal sich der Arbeitnehmer dem kontrollierenden Zugriff des Arbeitgebers entziehen kann. Die optimale Lösung des Transformationsproblems besteht darin, dass Arbeitnehmer freiwillig wollen, was sie sollen (vgl. Haubl 2005b, S. 57). So gibt es Strategien, Arbeitnehmer an der Transfor-

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mation ihres Arbeitsvermögens in Arbeitsleistung zu beteiligen: Sie selbst sollen sich für unternehmerische Ziele einsetzen und verantwortlich fühlen. Ziel ist der Wandel von einem eher reaktiv handelnden Anbieter von Arbeitsvermögen zu einem in ökonomischer Hinsicht umfassend strategisch handelnden Akteur: »[einem] Akteur, der sein einziges zur Subsistenzsicherung nutzbares Vermögen (das Vermögen zu arbeiten) kontinuierlich und gezielt auf eine potentielle wirtschaftliche Nutzung hin entwickelt und aktiv verwertet« (Jurczyk u. Voß 2000, S. 175). Um den Anschein der Freiwilligkeit zu wahren, reduziert das Management die direkte Arbeitskontrolle zu Gunsten einer Ausweitung indirekter Steuerungen. Eine Möglichkeit der indirekten Steuerung besteht in der Vorgabe von Leistungszielen. Kontrollmöglichkeiten bietet zudem der Umstand, dass die Arbeitsergebnisse von Angestellten aufgrund ihrer computergestützten Tätigkeit nahezu vollständig erfasst werden. Die neuen Informationstechnologien ermöglichen die Auswertung der erfassten Daten in Bezug auf Qualität und Arbeitstempo, was den Beschäftigten bewusst ist. Sie wissen jedoch nicht, ob die Informationstechnologien zu diesem Zweck genutzt werden. Trotzdem, vielleicht aber auch gerade deswegen, fühlen sie sich stets überwacht und kontrollieren sich selbst, wodurch Fremdzwang zu Selbstzwang und Angst zum Machtmittel wird (vgl. Haubl 2005a, S. 13). Frau D. hat die Anforderung, ihre Arbeitszeit stets im Sinne des Arbeitgebers zu nutzen, bereits verinnerlicht. Sie berichtet, dass sie nicht mehr so entspannt wie früher Kollegen an deren Arbeitsplatz besuchen und mit ihnen plaudern kann, wenn sie einmal nichts zu tun hat. Inzwischen bekommt sie in Ruhephasen ein schlechtes Gewissen und fürchtet, dass ein Ausruhen zu einer schlechten Beurteilung führt. Sie will auf jeden Fall vermeiden, dass sie längere Zeit kein Projekt hat. Bisher ist ihr das gelungen. Zur Sicherheit macht sie sich mit dem computergestützten internen Arbeitsmarkt vertraut, um sich gegebenenfalls anderen Projekten im Unternehmen anzubieten und ihre Bereitschaft zu demonstrieren, »flexibel zwischen unterschiedlichsten Aufgaben und Positionen zu wechseln« (Deutschmann 2002, S. 252). Denn wie bei jedem anderen Mitarbeiter wird auch ihr Auslastungsgrad erfasst, also der Prozentsatz, zu dem ihre Anwe-

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senheitszeit am Arbeitsplatz einem Kunden in Rechnung gestellt werden kann. Dieser Auslastungsgrad liegt im Idealfall bei 100 Prozent, was bedeutet, immer ein Projekt und selten eine Ruhephase zu haben. Wenn Frau D. für ein Projekt tätig ist, muss sie sich dem engen Zeitrahmen beugen, der für die Projektarbeit im neuen Unternehmen typisch ist. Dadurch sieht sie sich in ihrer Experimentierfreude eingeengt. Rigide Zeitvorgaben hindern die Interviewte daran, von den gewohnten Pfaden abzuweichen und neue Lösungsmethoden zu probieren. Das kann sie nur, wenn sie sich sicher ist, dass diese Methoden genauso zielführend sind wie die bereits bekannten. Eine andere Herausforderung, die auch unter zeitlichen Aspekten relevant ist, stellt sich ihr durch die Internationalität des neuen Unternehmens. An den Standorten in anderen Ländern gelten andere Regeln im Umgang mit der Zeit, was Einfluss auf die länderübergreifende Kommunikation hat (vgl. Levine 2003). Sie arbeitet beispielsweise mit Kollegen zusammen, die für asiatische Zweigstellen tätig sind. Im Unterschied zu deutschen oder amerikanischen Kollegen fassen ihre asiatischen Kollegen eine direkte Kommunikation nicht als effektiv, sondern als unhöflich auf. Um die Kooperation nicht zu gefährden, gilt es, die Kommunikation zu entschleunigen, was mit der Anforderung ihrer deutschen Vorgesetzten, schnell zu arbeiten, nicht immer gut vereinbar ist. Dennoch betont sie, dass sie sich trotz des Zeitdrucks und den genauen Vorgaben als eine mündige Mitarbeiterin empfindet, deren Mitdenken von ihren Vorgesetzten als wertvoll erachtet wird. Sie kann jederzeit an ihnen Kritik üben und beschreibt diese als zugänglich und lösungsorientiert. Sie erinnert eine Situation, in der ein Vorgesetzter sie bei Seite nimmt, da ein Fehler aufgetreten ist. Er beginnt das Gespräch mit einer Schuldzuweisung, bricht den begonnen Satz jedoch ab, um mit ihr gemeinsam über eine Lösung nachzudenken. Das hat sie sehr beeindruckt. Von ihren Vorgesetzten als kompetent und entwicklungsfähig wahrgenommen zu werden, ist für sie von großer Bedeutung, da es ihr ermöglicht, die Erwerbstätigkeit als sinnstiftend zu erleben. Nach Baethge (1991) ist das für immer mehr Beschäftigte von Bedeutung. Auf das Bedürfnis, in Entscheidungen eingebunden zu werden, sind ihre ehe-

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maligen Vorgesetzten in der Bank nicht eingegangen und haben auf ihre Vorschläge eher ablehnend reagiert.

■ Selbstzwang an der Grenze zur Überforderung Herausforderung ist ein Begriff, den das Management im neuen Unternehmen häufig verwendet und als positiv darstellt. Betont werden die individuellen Erfolgsaussichten, die Möglichkeit des Scheiterns wird ausgeblendet. Dabei ist das Scheitern für die transferierten Beschäftigten nicht unwahrscheinlich, da die Leistungsanforderungen wesentlich höher sind als in ihrem früheren Arbeitsverhältnis. Auf längere Sicht ist daher zu bezweifeln, dass das, was die Beschäftigten als Herausforderung wahrnehmen sollen, tatsächlich »neben der Antizipation eines möglichen Scheiterns vor allem die subjektiv wahrgenommene Chance der erfolgreichen Bewältigung und damit verbunden eine Steigerung von Kompetenz, Selbstwertgefühl und Selbstständigkeit [impliziert]« (Rüger, Blomert u. Förster 1990, S. 20). Frau D. ist mit der Herausforderung konfrontiert, selbst für die Nutzung der eigenen Arbeitszeit verantwortlich zu sein. Damit hat sie große Schwierigkeiten. Im Interview kommt sie mehrmals von sich aus auf ihren Auslastungsgrad zu sprechen, der als Synonym für eine gelungene Selbst-Ökonomisierung (vgl. Pongratz und Voß 2004) verstanden werden kann. Allein die Möglichkeit, nicht immer ausgelastet zu sein, löst bei ihr Versagensängste aus. Bisher verfügt sie noch über keine konkrete Erfahrung mit einer niedrigen Auslastung. Wahrscheinlich wirkt diese Situation gerade deshalb so bedrohlich, weil sie sich einer konkreten Validierung entzieht. Ihr bleibt nur die Spekulation darüber, wie lange es ihr Arbeitgeber dulden würde, wenn sie nicht »buchbar« wäre. Sollte sie jemals kein Projekt haben, plant sie, ihre Arbeitskraft umgehend über den internen Arbeitsmarkt anzubieten. Nach zwei Wochen erfolgloser Suche, so vermutet sie, würde sie selbst unruhig werden, da sie weiß, dass sie jeden Tag beschäftigt sein sollte. Frau D. nimmt an, dass ihre Vorgesetzten nach circa vier Wochen auf ihre mangelnde Auslastung aufmerksam würden und Konsequenzen folgen könnten. Als vorbeugende Maßnahme versucht sie,

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Mängel im EDV-System des Kunden auszumachen, die sie durch einen bezahlten Auftrag füllen könnte. Sie kann allerdings nicht einschätzen, wie viel Verantwortung sie selbst in Bezug auf ihre Auslastung tatsächlich trägt. Ist es eine Managementaufgabe, sie zu beschäftigen, oder liegt diese Aufgabe in ihrem eigenen Verantwortungsbereich? Sie ist sich in dieser Frage nicht sicher: »Das ist –, glaub ich, geht hin und her. Manchmal wird’s dargestellt oder das Gefühl kommt auf, dass ich allein verantwortlich bin, was eigentlich nicht wahr ist. Und, ähm, es ist aber auch klar, dass nicht unbedingt [Name Vorgesetzter] ausschließlich dafür verantwortlich ist, nämlich ich kann auch Verantwortung übernehmen und sagen, da sehe ich ’ne Chance, hallo, alle [Name Bank], ihr könnt ja mal da das und das, ich seh da ’ne Lücke. Oh ja! Und dann hab ich noch was zu tun und bin somit mehr chargeable [Englisch für »dem Kunden verrechenbar].«

Trotz leichter Zweifel fühlt sie sich zumindest mitverantwortlich, wenn es um die Nutzbarkeit ihres Arbeitsvermögens geht. Das spricht dafür, dass sie, wie vom Management gewünscht, die Verpflichtung zur Selbst-Ökonomisierung akzeptiert. Damit steht sie unter dem Druck, sich ständig beweisen zu müssen. Dies ist mit der Situation des Arbeitskraftunternehmers vergleichbar, die Jurczyk und Voß (2000, S. 176) folgendermaßen beschreiben: »Nur wenn Arbeitskräfte regelmäßig in eigener Regie ihr gesamtes Fähigkeitspotenzial gezielt aufbauen und kontinuierlich systematisch kultivieren sowie durchgehend mit aufwendigem Selbstmarketing dafür sorgen, dass die eigene Arbeitskraft von betrieblichen Nutzern nachgefragt, gekauft sowie dann betrieblich möglichst ökonomisch im Sinne der Betriebsziele genutzt wird, können sie zukünftig ihren Erwerb und damit ihre Existenz angemessen sichern.« Ein weiterer Antrieb für Frau D., Selbstmarketing zu betreiben, ist das Risiko, bei einer passiven Haltung in anderen Städten Deutschlands oder gar im Ausland auf Projekten eingesetzt zu werden. Sie weiß von Kollegen, die nicht durch Aufträge des früheren Arbeitgebers ausgelastet sind und auf Projekten arbeiten müssen, die nicht in der Nähe ihres Wohnortes liegen. Ihr missfällt die Vorstellung, nur am Wochenende zu Hause zu sein. Trotz ihrer eindeutigen Präferenzen hat sie jedoch Hemmungen, ein

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Projektangebot in einer fremden Stadt abzulehnen, da sie glaubt, dass die Anzahl der vom Management tolerierten Ablehnungen begrenzt ist: »Und da ist ein bisschen das Gefühl –, ich schildere mal jetzt einfach, ich hab jetzt keinen Auftrag, ich bin nicht chargeable, da krieg ich angeboten, du, du könntest mal nach [Ausland]. Und ich sag, nee, das ist mir zu weit für drei Monate und dann nur am Wochenende heim. ’Ne Woche später krieg ich ’n Angebot, na ja, du könntest nach H-Stadt. Und ich so: puh, eigentlich will ich nicht so weit weg von zu Hause. Und ich bin immer noch nicht chargeable. Was passiert? Krieg ich ein drittes Angebot oder – ?«

Das Management kommuniziert zwar, dass die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben respektiert und kein Mitarbeiter gegen seinen Willen an einen weit entfernten Arbeitsort gesendet wird. Frau D. fürchtet dennoch, dass die Ablehnung mehrerer Projektangebote nicht zu einem weiteren Angebot, sondern letztendlich zur Kündigung führt. Diese Unsicherheit führt zu ambivalenten Gefühlen gegenüber ihrem neuen Arbeitgeber. Sie wird wie eine Beraterin eingesetzt und fühlt sich dabei »missbraucht, gefördert, geschickt, gesendet, gekürt«. Sie lacht bei dieser Äußerung, was den Eindruck verstärkt, dass sie sich von einem Erwerbsleben als Beraterin überfordert fühlt.

■ Beschäftigte als flexible Zeitmanager Im neuen Unternehmen setzt das Management voraus, dass sich die Mitarbeiter hinsichtlich zeitlicher Vorgaben selbst kontrollieren. Diese Erwartungshaltung führt zu einer Erosion der gewohnten Zeitstruktur und erhöht die Anforderungen der Selbstregulation. Die Beschäftigten können sich nicht mehr ohne Weiteres auf ein festes Arbeitsende beziehen, wenn die fristgerechte Erfüllung einer Aufgabe Mehrarbeit erfordert (vgl. Jurczyk u. Voß 2000, S. 170f.; Böhle 1999, S. 22). Entscheidend für die Gestaltung des Arbeitstages ist das Abgabedatum einer vereinbarten Leistung, was theoretisch mehr Freiheitsgrade als eine rigide Detailsteuerung impliziert. Denn wie die Leistungserbringung zeitlich organisiert wird, liegt im Ermessen der Beschäftigten und wird nicht

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direkt vom Vorgesetzten bestimmt. In der Praxis verliert der Autonomiegewinn jedoch seinen Reiz, da der Verantwortungszuwachs üblicherweise die psychische und physische Belastung erhöht. Seit dem Outsourcing ist die individuelle Verantwortung für formale Termine gestiegen. Sie werden zwischen dem Vorgesetzten von Frau D. und dem Kunden vereinbart, bevor er ihre Leistung in Anspruch nimmt. Mit Vereinbarung des Zeitbudgets wird gleichzeitig die Vergütung festgelegt, da der Stundensatz durch den Servicevertrag vorgegeben ist. Das Management kontrolliert die Einhaltung der Zeitvorgaben streng, damit intern nicht mehr Zeitaufwand entsteht, als an den Kunden verrechnet werden kann. Dies ist ein mächtiger Kontrollmechanismus, der die Beschäftigten dazu zwingt, die zeitlichen Vorgaben einzuhalten oder gar zu unterbieten. Nur wenn sie in der Planung nicht berücksichtigte Unwägbarkeiten durch Arbeitsintensivierungen und Improvisationsgeschick selbst ausgleichen, können sie vermeiden, sich für Abweichungen von der Zeitvorgabe rechtfertigen zu müssen (vgl. Böhle 1999 S. 21). Häufig wird auch verlangt, dass der Mitarbeiter mit Hilfe eines Schätzinstruments selbst eine Schätzung über die Dauer einer Tätigkeit abgibt. Frau D. rät ihren Kollegen in diesem Fall, die Tätigkeit genau aufzuschlüsseln und sorgfältig zu bedenken, was zu ihrer Erledigung alles notwendig ist. So muss bei der Aufwandsschätzung einer Programmerstellung nicht nur die notwendige Zeit für die Programmierung berücksichtigt werden, sondern auch der Zeitaufwand für eventuell notwendige Rücksprachen mit dem Kunden oder für die Dokumentation des Programms. Arbeitgeberseitig wird prinzipiell davon ausgegangen, dass jeder Mitarbeiter verlässliche Angaben über die Dauer seiner Tätigkeit machen kann – selbst dann, wenn er mit dieser Tätigkeit noch keine Erfahrungen sammeln konnte. Bei neuen Aufgaben ist es daher wichtig, einen entsprechenden Puffer in die Schätzung einzubauen, zum Beispiel die doppelte Zeit im Vergleich zu einem erfahrenen Kollegen anzusetzen. Bei routinierten Tätigkeiten hält Frau D. einen Puffer von 10 Prozent für angemessen. Bisher hat sie sich in ihren Zeitvorgaben noch nicht signifikant verschätzt, den Gedanken daran, dass dies geschehen könnte, findet sie allerdings sehr unangenehm. Sollte sie doch einmal in die Situation kommen, mehr Zeit

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als vorgesehen zu benötigen, würde sie sich an ihren Vorgesetzten wenden und ihn um Hilfe bitten. Sie vertraut darauf, dass auch ihre Vorgesetzten in der Kommunikation mit dem Kunden zusätzlich zu ihrer Schätzung einen kleinen Puffer einbauen. Zu großzügig schätzen will sie jedoch auch nicht, um von ihren Vorgesetzten nicht als langsam oder inkompetent wahrgenommen zu werden. Da Frau D. die Meinung ihrer Vorgesetzten sehr wichtig ist, trennt sie häufig nicht zwischen der Erwartungshaltung der Vorgesetzten und ihrem eigenen Anspruch an sich. Das wird deutlich, wenn sie von der »Inflexibilität des Gesetzgebers« spricht. Sie nimmt die Arbeitsschutzgesetze, die sie vor zu langen Arbeitszeiten schützen sollen, nicht als Entlastung wahr. Stattdessen empfindet sie diesen Schutz als Einschränkung und argumentiert damit aus der Perspektive ihres Arbeitgebers. Spricht Frau D. von Zeitdruck, so wird dieser nicht von den Vorgesetzten erzeugt, es ist vielmehr eine externe Krisensituation, die Mehrarbeit erfordert. Sie bedenkt dabei nicht, dass eine solche Krisensituation eventuell daraus entsteht, dass ihre Vorgesetzten aufgrund ihrer Profitorientierung bewusst sehr enge Zeitvorgaben setzen. Ihr scheint auch nicht bewusst zu sein, dass Zeitdruck ein probates Mittel des Managements darstellt, Widerstand und Kritik seitens der Beschäftigten zu verhindern (Weidenfeller 1986, S. 75). Aufgrund der Identifizierung mit dem Management findet sie es berechtigt, wenn auch unangenehm, dass jeder Abgabetermin sehr strikt verfolgt und sie selbst kontrolliert und sanktioniert wird. Auf die Frage, wie es ihren Vorgesetzten gelingt, sie zu steuern, hat Frau D. zwei Antworten. Zum einen fürchtet sie die Konsequenzen einer mangelnden Auslastung. Zum anderen hat sie den Anspruch an sich selbst, sich der neuen Umgebung möglichst schnell anzupassen. Dazu gehört auch, die Rahmenbedingungen zu akzeptieren und den Erwartungen ihres neuen Arbeitgebers zu entsprechen. Je besser ihr das gelingt, desto größer ist ihre Hoffnung, dauerhaft im Unternehmen Fuß zu fassen und Karriere zu machen, da sie sich selbst als ehrgeizig beschreibt.

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■ Aktives Zeithandeln als Vorraussetzung einer zeitlichen Selbst-Kontrolle Jurczyk und Voß (2000, S. 153f.) zufolge bedeutet »Zeithandeln […] die Vielfalt natürlicher, gesellschaftlicher und subjektiver (d.h. auch psychischer und körperlicher) Zeiten in einer je eigenen Zeitordnung zu integrieren«. Die individuelle Gestaltungsleistung einer eigenen Zeitordnung gewinnt umso mehr an Bedeutung, je weiter die Erosion zeitlicher Strukturen durch Flexibilisierungsund Deregulierungsprozesse fortgeschritten ist. Zeithandeln ist daher nicht unbedingt strategisch angelegt, es kann sich auch um eine Strukturierungsleistung handeln, die als Reaktion darauf zu verstehen ist, dass zeitliche Institutionen ihre prägende Kraft verlieren. Jürgens (2003, S. 47) grenzt Zeithandeln deshalb von Zeitmanagement ab, das im Sinne eines strategischen Gestaltungswillens voraussetzungsvoller ist. Eine individuelle Zeitordnung reguliert das Verhältnis von privaten und beruflichen Zeitanforderungen. Die Gestaltung dieser Zeitordnung wird durch flexible Arbeitszeiten, wie sie bei Projektarbeit üblich ist, erschwert. Die Flexibilisierung wirkt sich allerdings nicht nur auf die Abgrenzung von Arbeit und Leben aus, sie beeinflusst auch die Zeitstruktur des Arbeitshandelns. Je flexibler auf wechselnde Arbeitsanforderungen mit spontan-intuitivem Handeln reagiert werden muss, desto weniger bietet sich Fremdkontrolle durch die zeitliche Vorstrukturierung einzelner Arbeitsvollzüge an. Entfällt die Zeitvorgabe durch den Vorgesetzten, erhöht sich der Anspruch an die individuelle Gestaltungsleistung des Arbeitstages, wodurch sich eine neue Dimension sozialer Ungleichheit andeutet. Nicht alle Beschäftigten verfügen gleichermaßen über die Fähigkeit zeitlicher Selbst-Kontrolle und können Arbeitsabläufe eigenständig planen sowie sich mit unvorhergesehenen Veränderungen arrangieren (Jürgens 2003, S. 52; Eberling u. Henckel 2000, S. 236). Diese Fähigkeit könnte jedoch, wie oben bereits angedeutet, zu einer Qualifikation werden, die nicht nur für einen beruflichen Aufstieg, sondern auch dafür entscheidend ist, ob Beschäftigte trotz zunehmender Flexibilisierung eine Balance von Arbeit und Leben halten können. Diejenigen, die über diese Fähigkeit verfügen und ausreichend Verhandlungsmacht besitzen, um private Zeitinter-

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essen durchzusetzen, werden zu Gewinnern der Flexibilisierung. Sie leben eine „kunstvolle Zeitkultur« und werden von Jurczyk und Voß (2000, S. 195ff.) als »Turboarbeitskräfte des Turbokapitalismus« bezeichnet. Die Verlierer der Flexibilisierung, so die Annahme der Autoren, betreiben eine „hilflose Zeitbastelei« in Reaktion auf eine sich ständig »unerwartet umschichtende Gegenwart« und befinden sich immer an der Grenze der Überforderung. Frau D. ist keinem der beiden Typen eindeutig zuzuordnen. Auf der einen Seite scheint sie flexibel auf die betrieblichen Erfordernisse reagieren zu können. Das liegt unter anderem daran, dass weder ihr Partner noch andere Personen aus ihrem privaten Umfeld umfangreiche zeitliche Ansprüche an sie stellen. Auf der anderen Seite fehlt ihr doch einiges zur »kunstvollen Zeitkultur«. So ist es ihr nicht ohne Weiteres möglich, eigene zeitliche Interessen durchzusetzen, zum Beispiel im Sinne einer Regenerationszeit, die ihren Bedürfnissen angemessen ist. Diese Situation könnte sich verschärfen, sollte sie tatsächlich für ein Projekt arbeiten müssen, das nicht in der Nähe ihres Wohnortes ist. Sie kann allerdings auch nicht den »hilflosen Zeitbastlern« zugeordnet werden, da es ihr durchaus gelingt, den Arbeitstag sinnvoll zu strukturieren. Sie kann einschätzen, wie lange sie für eine Aufgabe braucht, und hat auch einen Überblick über den Gesamtfortschritt des Projekts, an dem sie beteiligt ist.

■ Die Zeitperspektive der Interviewten seit dem Transfer Die individuelle Zeitperspektive stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen sich eine Person zeitlich orientiert und in dem Geschehnisse als zusammenhängend wahrgenommen werden. Dieser Zeitrahmen ist nach Kasten (2001, S. 48) maßgeblich dafür, inwieweit sich kognitive Prozesse auf Ereignisse der Vergangenheit, der Gegenwart sowie antizipierte Ereignisse der Zukunft beziehen. Die Spanne des zukunftsbezogenen Zeithorizonts, das heißt die Vorhersehbarkeit der Zukunft, ist nach Heinemann und Ludes (1978) vom »Erwartungshorizont« und vom »Möglichkeitshorizont« einer Person abhängig. Stehen nur wenige Optionen zur Wahl, er-

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leichtert das die Antizipation der Zukunft, wodurch sie sicher und vorhersehbar erscheint. Die Autoren sprechen bei diesen Bedingungen von einem kleinen Möglichkeitshorizont, der auch als Einschränkung empfunden werden kann, der Erwartungshorizont ist hingegen groß. Auf Beschäftigungsverhältnisse übertragen, ermöglicht ein kontinuierliches Normalerwerbsverhältnis einen großen Erwartungshorizont und ist gemeinhin positiv konnotiert. Wegen der zunehmenden Flexibilisierung und Deregulierung in der Arbeitswelt verliert das Normalerwerbsverhältnis jedoch zunehmend an Bedeutung und wird »von einer Vielzahl unterschiedlicher, teilweise prekärer Beschäftigungsverhältnisse abgelöst« (Brose 2000 S. 14). Deshalb erweitert sich der Möglichkeitshorizont der Beschäftigten in Form von beruflichen Chancen und Risiken, was von den Beschäftigten nur dann als positiv aufgefasst wird, wenn die berufliche Situation entsprechend eigener Wünsche und Vorstellungen beeinflusst und aus eigener Kraft geändert werden kann (vgl. Ulich et al. 1985). Die berufliche Situation von Frau D. hängt im Wesentlichen davon ab, ob der größte Kunde, ihr ehemaliger Arbeitgeber, ihren jetzigen Arbeitgeber mit einer ausreichenden Anzahl an Aufträgen versorgt. Da diese Aufträge einen Tag oder aber Wochen und Monate füllen können, ist das Sicherheitsgefühl der Interviewten auch von der Reichweite des Projekts, an dem sie gerade beteiligt ist, abhängig. Sie fürchtet, dass die Bank das neue Unternehmen »aushungern« lässt. Wenn dies geschieht, ist entscheidend, ob bis dahin genügend neue Aufträge von anderen Kunden eingehen. Obwohl sie sich mit ihrem neuen Arbeitgeber identifiziert, zweifelt sie daran, dass dieser sie auch ohne die Aufträge der Bank weiter beschäftigt. Frau D. geht davon aus, dass für diesen Fall die ganze Betriebseinheit, so wie sie von der Bank übernommen wurde, aufgegeben und die transferierten Beschäftigten entlassen werden. Diese Befürchtung erscheint plausibel, da die Bank bereits zuvor einem ausgegliederten Tochterunternehmen nach circa einem Jahr sukzessiv die Aufträge entzogen hat. Zum Zeitpunkt des Interviews ist seit der Auslagerung ein Jahr vergangen, Frau D. sagt, dass die Aufträge an ihre Einheit bereits spürbar weniger werden. Bleicher, Fischer, Gensior und Steiner (2002, S. 405) stellen fest,

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dass der Personaltransfer im Rahmen von Outsourcing für die betroffenen Beschäftigten häufig einen »Drehtür«-Effekt hat: Der Dienstleister übernimmt die Beschäftigten nur deshalb, weil daran die Auftragsvergabe – und damit sein geschäftliches Überleben – geknüpft ist. Für einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahren garantiert das auslagernde Unternehmen ein bestimmtes Auftragsvolumen. Im Gegenzug bietet der Dienstleister für diesen Zeitraum Beschäftigungssicherheit. Nach Ablauf des Outsourcing-Vertrages übernimmt der Dienstleister zur Sicherung seiner Existenz einen neuen Outsourcing-Auftrag, der wiederum die Übernahme transferierter Beschäftigter impliziert. Das führt zur betriebsbedingten Entlassung der übernommenen Beschäftigten des früheren Outsourcing-Vertrags, deren Beschäftigungsgarantie nun keinen Bestand mehr hat. Es ist nicht leicht einzuschätzen, wie bedeutsam ein großer Erwartungshorizont für Frau D. ist. Auf der einen Seite zeigt sie sich flexibel, was die Art der Aufgabenstellung betrifft, und sie ist lernbegierig und ehrgeizig. Auf der anderen Seite ist sie nicht sehr mobil und möchte dauerhaft in der Nähe ihres Wohnortes arbeiten. Zudem nehme ich an, dass ihr Bedürfnis nach einem sicheren Arbeitsplatz mit dem Alter zunimmt. Auch wenn sie hinsichtlich ihrer Karrieremöglichkeiten viel Zuversicht ausstrahlt, klingt doch an, dass sie um ihre begrenzten beruflichen Chancen aufgrund ihres Alters weiß. Dennoch will sie versuchen, sich über ihre Leistung bemerkbar zu machen. Sie hofft, innerhalb eines halben Jahres etwas mehr Projektverantwortung zu bekommen und sich für eine Beförderung zu empfehlen. Bis diese eintritt, können allerdings Jahre vergehen. Das liegt unter anderem daran, dass für sie, im Unterschied zu den Beratern im Unternehmen, kein konkreter Entwicklungspfad vorgesehen ist. Auf der einen Seite hat das für sie auch entlastende Wirkung, da sie weiß, dass ein solcher Entwicklungspfad an Erwartungen gegenüber den Beratern geknüpft ist, aus deren Nichterfüllung Konsequenzen folgen. Der Berater, der eine bestimmte Karrierestufe in einer vorgegebenen Zeitspanne nicht erreicht, muss das Unternehmen verlassen. Auf der anderen Seite hat ein nicht klar vorgezeichneter Karriereweg den Nachteil, dass sie diesen für sich selbst nur erahnen kann. Ein großer Erwartungshorizont dürfte

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für sie daher ambivalent besetzt sein. Er minimiert zwar die Risiken, jedoch auch die erhofften Chancen. Dann könnten sich ihre Karrierehoffnungen auch deswegen als wenig realistisch herausstellen, weil ihr Arbeitsplatz bedroht ist, sobald das Ursprungsunternehmen ihren jetzigen Arbeitgeber nicht mehr mit Aufträgen versorgt.

■ Das Bewältigungsverhalten der Interviewten Bewältigungsverhalten wird in den Situationen relevant, in denen gewohnte Verhaltensweisen versagen und Unsicherheit über die angemessene Reaktion sowie über das Vorhandensein der dazu notwendigen Ressourcen besteht (vgl. van Dick 1999). Eine solche herausfordernde oder gar bedrohliche Situation kann durch belastende Bedingungen am Arbeitsplatz entstehen, wenn zum Beispiel Leistungsanforderungen das gewohnte Maß deutlich übersteigen oder Zeitdruck dauerhaft die angemessene Bearbeitung einer Aufgabe erschwert. In belastenden Situationen kann Bewältigungsverhalten folgende Funktionen erfüllen: Veränderung der belastenden Situation, Veränderung der Bedeutung der belastenden Erfahrung sowie Kontrolle der ausgelösten negativen Emotionen (vgl. Rüger et al. 1990; Schumacher. u. Reschke 1994). Belastungen sind zunächst äußerlich und führen nicht bei jedem Menschen in jedem Fall zu Beeinträchtigungen. Nur dann, wenn sie auch als belastend empfunden werden, spricht man von Beanspruchung (vgl. Ulich 2005). Folglich führt eine Art von Belastung bei einem Menschen zu einer Beanspruchung, während sie bei anderen zum Alltag gehört und nicht als beeinträchtigend wahrgenommen wird. Einer Beanspruchung kann sowohl aktiv durch Flucht oder Inanspruchnahme instrumenteller und emotionaler Unterstützung sowie mit kognitiver Verarbeitung durch Bagatellisierung oder Resignation begegnet werden. Üblicherweise setzt sich Bewältigungsverhalten aus problembezogenen und selbstbezogenen Komponenten zusammen. Bewältigungsverhalten kann als ein Prozess verstanden werden, in dem sich Person und Situation und damit Beanspruchung und Belastung wechselseitig durch Vermittlungs- und

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Rückkopplungsprozesse beeinflussen. Des Weiteren verändern sich Einschätzungen, Emotionen und Verhalten im Laufe des Prozesses; es findet ein Kräftespiel zwischen Anforderung und Bewältigungsressourcen statt (Jerusalem 1990, S. 15; Ulich 2005, S. 459). Bewältigung ist nicht notwendigerweise zielorientiert oder zweckmäßig, sondern kann durchaus auch unbewusst, rigide und realitätsverzerrend sein. Inwiefern eher problembezogenes oder selbstbezogenes Bewältigungsverhalten Erfolg verspricht, hängt von der Kontrollierbarkeit der jeweiligen Situation ab. So ist Resignation bei lösbaren Problemen, die Aktivität erfordern, unangebracht, während selbstbezogene Bewältigungsversuche, die dem emotionalen Gleichgewicht dienen, in bestimmten Konstellationen der objektiven Lebenssituation günstiger sind (vgl. Ulich et al. 1985; S. 244; van Dick 1999). Ob eine Situation als herausfordernd oder gar als bedrohlich wahrgenommen und Bewältigung notwendig wird, hängt von der Bewertung der Situation ab. Dabei spielen in Bezug auf Belastungen im Arbeitskontext neben der situationsspezifischen Kontrollerwartung auch die Höhe materieller und sozio-emotionaler Gratifikationen, Motive und Einstellungen eine Rolle (vgl. Kaluza 2005; Lindenberger 2002). Ulich et al. (1985, S. 174) nennen in ihrer Studie über Krisenbewältigung arbeitsloser Lehrer mehrere Faktoren, die Einfluss darauf haben, ob Belastungen zu einer Krise führen. Die extrem belasteten Probanden in ihrer Studie schätzen die Beeinflussbarkeit und die Vorhersehbarkeit ihrer Arbeitssituation als wesentlich geringer ein als die Probanden, die die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit besser bewältigen können. Zudem ist ihr Selbstvertrauen geringer und sie können auf weniger soziale Unterstützung zurückgreifen. Kaluza (2005) betont, dass es für eine erfolgreiche Bewältigung von Belastungen hilfreich ist, die Auseinandersetzung mit der belastenden Situation als sinnvoll zu erleben, zum Beispiel als Teil einer größeren Prüfung, deren Bestehen eine Verbesserung der Lebensumstände verspricht. Frau D. verfügt über einige Ressourcen, die sie zur Bewältigung kritischer Lebensereignisse wie Outsourcing sowie täglicher Alltagsbelastungen befähigen. Zum einen ist sie sehr optimistisch und versucht bewusst, sich auf die positiven Aspekte ihrer veränderten Situation zu konzentrieren. Sie beschreibt sich selbst als

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»blauäugig«, als jemanden, der sich auf das Positive konzentriert, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass ihre Betriebseinheit im neuen Unternehmen eine Chance hat. Ihre Annahme ist, dass das Gute wahr wird, wenn sie daran glaubt. So stellt sich ihr Optimismus eher als eine Bewältigungsstrategie denn als mangelnde Reflektiertheit dar. Zum anderen sucht sie aber auch immer wieder die Auseinandersetzung mit dem Erlebten und konfrontiert sich mit dem, was sie bisher noch nicht verarbeiten konnte. Diese Bereitschaft, sich auch mit den negativen Aspekten ihrer Situation auseinanderzusetzen, äußert sich im Forschungsgespräch dadurch, dass sie sehr offen auf die Fragen und Thesen der Interviewerin eingeht. Sie ist an der Sichtweise der Interviewerin interessiert, auch wenn diese ihre positive Einschätzung in Frage stellen könnte. Sie kann gut mit Ambivalenz umgehen und beschreibt sich selbst als realistisch, optimistisch und pessimistisch zugleich. Des Weiteren ist ihre Neugierde sehr hilfreich dabei, den Anfangsschwierigkeiten zu begegnen, mit denen sie durch die Unternehmenskultur des neuen Arbeitgebers konfrontiert wird. Sie befasst sich aktiv mit den Strukturen des Unternehmens sowie mit den an sie gestellten Erwartungen und eruiert ihre beruflichen Chancen und Risiken. Sie pflegt ihre Beziehungen zu Kollegen, was ihr leicht fällt, da sie als freundliche und fröhliche Person wahrgenommen wird. In diesen Beziehungen fällt es ihr auch relativ leicht, Grenzen zu ziehen, um sich selbst zu schützen. Grenzziehung gelingt ihr im Verhältnis zu ihren Vorgesetzten nicht so gut, da deren Anerkennung für ihr Selbstwertgefühl von großer Bedeutung ist. Ihre Hoffnung, von ihren Vorgesetzten gefördert zu werden, erfüllt sich. Allerdings stellt sich ihr Wunsch, von ihnen vor zu hoher Arbeitsbelastung geschützt zu werden, als unrealistisch heraus. Daher sucht sie selbst nach der richtigen Balance von Arbeit und Leben. Für die Frage, weshalb ihre Enttäuschung, von ihren Vorgesetzten nicht in gewünschtem Maße vor Überforderung geschützt zu werden, nicht zu mehr Rollendistanz führt, ist das Konzept von Parin (1978) hilfreich. Der Autor bezeichnet die Identifikation mit einer Rolle als Anpassungsmechanismus. Die Anpassung erfolgt weitgehend unbewusst, durch sie werden Rolle und Ich nahezu ununterscheidbar. Frau D. handelt dann nicht als Mitarbeiterin des

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Unternehmens, sondern sie ist die ideale Mitarbeiterin des Unternehmens. Daher kann sie keine kritische Distanz zu den an ihre Rolle gerichteten Leistungsanforderungen einnehmen, da diese Teil von ihr sind. Die Identifikation mit der Rolle lässt Fremd- und Selbstzwang ineinander übergehen, was sie davon entlastet, sich selbst als ohnmächtig wahrzunehmen. Sie empfindet ihr Handeln als selbstbestimmt, da sie die Rollenerwartungen internalisiert. Als Vorraussetzung für eine Identifikation mit der Rolle nennt Parin (1978, S. 100f.) die »aktive Anpassung an die übernehmenden sozialen Rollen und libidinöse und aggressive Erlebnisse, die von den Rollenzuschreibungen und Rollenerwartungen der Umwelt im Individuum ausgelöst werden«. Mit ihrem Blick nach vorne, der auf ihre Karriere gerichtet ist, lässt Frau D. sich nicht von den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit beirren. Sollte sich jedoch ihr Karrierewunsch als unrealistisch herausstellen, könnte sich das destabilisierend auf sie auswirken.

■ Schlussbemerkung Eingangs wurden Veränderungen in der Wirtschaft beschrieben, die sich auf die Situation von Beschäftigten auswirken. Ich habe dargestellt, weshalb der Personalabbau in einer wirtschaftlich guten Situation nicht mehr als Tabu-Bruch verstanden wird. Immer mehr Großunternehmen nutzen diese Situation, um mit weniger Personal flexibler auf Nachfrageschwankungen zu reagieren. Als eine Möglichkeit, die Nutzung von Arbeitskraft zu flexibilisieren, habe ich Outsourcing dargestellt. Diese Veränderungen stellen für meinen Beitrag jedoch nur den Rahmen dar, um sich intensiv einer Beschäftigungsform zu widmen, die bisher in keine arbeitssoziologische Kategorie passt. Beschäftigte, die im Rahmen von Outsourcing das Ursprungsunternehmen verlassen und für ein mit dem Outsourcing beauftragten Unternehmen arbeiten, gehören nicht mehr zur Stammbelegschaft des Ursprungsunternehmens. Als Leiharbeiter können sie auch nicht bezeichnet werden, da das Verhältnis der Leistungs-

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erbringung zwischen Ursprungsunternehmen und beauftragtem Unternehmen nicht an konkrete Personen gebunden ist. Ihre Position beim neuen Arbeitgeber entspricht auch nicht der der Stammbelegschaft. In den meisten Fällen von Outsourcing werden Tochterunternehmen gegründet, für die andere Regeln als für den Mutterkonzern gelten. Wie sich der Arbeitsalltag in dieser neuen Arbeitssituation gestaltet, habe ich anhand eines Fallbeispiels mit dem Fokus Zeitkontrolle veranschaulicht. Zu betonen bleibt, dass ein Personaltransfer im Rahmen von Outsourcing für die betroffenen Beschäftigen ein kritisches Lebensereignis darstellt, das bewältigt werden muss. Ohne die Perspektive der Beschäftigen kritisch einzubeziehen, besteht die Gefahr, Outsourcing-Prozesse schönzureden.

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■ Institutionalisierte Gegenmacht

■ Erhard Tietel

Betriebsratsvorsitzende als paradoxe Führungskräfte

Auf den ersten Blick wird die Bezeichnung des Betriebsratsvorsitzenden als »Führungskraft« vielleicht Verwunderung auslösen, denken doch viele, zumal in der Zunft der Psychologen, beim Betriebsrat nach wie vor eher an einen Verzögerer oder gar Verhinderer in den betrieblichen Reorganisations- und Innovationsprozessen als an eine strategisch denkende, zielorientierte, strukturierende und zupackende Führungspersönlichkeit. Dabei hat sich, wie empirische Studien klar belegen (Kotthoff 1994; Müller-Jentsch u. Seitz 1998; Rudolph u. Wassermann 1996; Wassermann 2002), der überwiegende Teil von Betriebsräten von einer Gegenmacht- und Blockadeposition längst gelöst und – wie es seiner rechtlichen Stellung als Interessenvertreter der Arbeitnehmer unter Beachtung der wirtschaftlichen Betriebsziele von jeher entspricht – auf beiden Seiten des Interessengegensatzes Platz genommen (Tietel 2005). In der wissenschaftlichen Literatur über die betrieblichen Arbeitsbeziehungen wird dementsprechend seit den 1990er Jahren ein »tiefgreifender Wandel der Verhandlungsbeziehungen und der ›Interaktionskultur‹ zwischen Betriebsrat und Management« konstatiert (Müller-Jentsch u. Seitz 1998, S. 367). Umschrieben werden die veränderten Beziehungen mit Begriffen wie »Versachlichung, Rationalität und Professionalisierung«; sie basieren den Autoren zufolge »auf dem Konsens der betrieblichen Akteure über betriebswirtschaftliche Erfordernisse und der Reziprozität von Zugeständnissen und Gegenleistungen« (Müller-Jentsch u. Seitz 1998; siehe auch Bosch 1997). In der in den 1990er Jahren aufgekommenen Diskussion über den Betriebsrat als »Co-Manager« sehen ihn manche gar die Interessenschranke überwinden und rela-

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Institutionalisierte Gegenmacht

tiv einvernehmlich neben dem Management Platz nehmen (Hartz 2000; Klöcker 2003) – eine Positionierung, die zwar wie keine andere seine Bedeutung als betriebliche Führungskraft unterstreicht, sich jedoch angesichts des gegenwärtigen arbeitspolitischen Rollback, das Betriebsräte vermehrt wieder zu Abwehrkämpfen und zu schmerzlichen Zugeständnissen zwingt, zunehmend als illusionär erweist. Im vorliegenden Beitrag, der im Kontext eines Forschungsprojektes über »Subjektive Erfahrung und Bewältigungsstrategien von Betriebsrätinnen und Betriebsräten«1 entstand, geht es ein Stück weit unabhängig von diesen historischen Wandlungen der Betriebsratsrolle um die prinzipiell paradoxe Stellung der oder des Betriebsratsvorsitzenden, sowohl betriebliche Führungskraft und Vorsitzende oder Vorsitzender des Betriebsratsgremiums, zugleich jedoch innerhalb dieses Gremiums formal Gleiche oder Gleicher unter Gleichen zu sein. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz (§ 26, Abs. 2 BetrVG) vertritt die oder der Vorsitzende den Betriebsrat »im Rahmen der von ihm gefassten Beschlüsse«, womit die »Geführten« (das Gremium, in dem jedes Mitglied gleiches Stimmrecht hat) und nicht die »Führungskraft« (die oder der Vorsitzende) »Souverän« der Betriebsratsarbeit sind. Gleichzeitig hat die oder der Vorsitzende jedoch aufgrund ihrer oder seiner Stellung auf der Grenze des Betriebsratsgremiums eine deutlich hervorgehobene Position. Sie oder er vertritt laut Gesetz zum einen den Betriebsrat nach außen, ist Ansprechpartner oder Ansprechpartnerin und Verhandlungsgegenüber für die Geschäftsleitung und verantwortet die Beschlüsse des Betriebsrats nach außen – und sie oder er organisiert und verantwortet zum anderen auch die Arbeit 1 Das Forschungsprojekt wurde in den Jahren 2002–2004 mit finanzieller Förderung durch die Hans Böckler-Stiftung an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen durchgeführt. Empirische Grundlage sind die Betriebsräte von sechs Betrieben (2 Groß-, 2 Mittel- und 2 Kleinbetriebe), mit denen wir nach einer Phase der teilnehmenden Beobachtung Interviews, Gruppendiskussionen und zum Teil Teambildungsworkshops durchgeführt haben. Weitere Mitarbeiter waren Renate Sonnenberg und Andre Kobus, methodische Beratung erhielt das Projekt durch Thomas Leithäuser. Der vorliegende Text basiert zudem auf meiner Beratungsarbeit (Teambildung, Supervision, Coaching, Weiterbildung) mit Betriebsratsgremien und mit Betriebsrats- und Personalratsvorsitzenden.

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innerhalb des Gremiums. Dies stellt an die Person der oder des Betriebsratsvorsitzenden ausgesprochen heterogene und widersprüchliche Anforderungen, deren jeweils situationsgerechte und rollenadäquate Bewältigung ein hohes Maß an triadischer Kompetenz (Tietel 2003, 2006) erfordert.

■ Die Position des Betriebsratsvorsitzenden als betriebliche Führungskraft Die Stellung des Betriebsrats als betrieblicher Führungskraft belegt zunächst einmal eine in den 1990er Jahren durchgeführte Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft, der zufolge 67 Prozent der befragten Unternehmer im Betriebsrat eine »betriebliche Führungskraft« und 48 Prozent ein »Mitentscheidungsorgan« (Niedenhoff 1994, S. 19) sehen, das die meisten von ihnen nicht mehr missen möchten. Immerhin noch 45 Prozent der Unternehmer sehen in ihm gar einen »wichtigen Produktionsfaktor« (Niedenhoff 1994), so dass Müller-Jentsch (2003, S. 657f.) zu Recht bilanzieren kann, dass sich der Betriebsrat »im Laufe seiner wechselvollen Geschichte zu einem veritablen Organ der Betriebswirtschaft entwickelt« hat und zu einer »unumstritten kompetente[n] Institution der deutschen industriellen Beziehungen« geworden ist. Im Gegensatz zu den gar nicht so lange zurückliegenden Vorhersagen über die neuen wissensbasierten Wirtschaftszweige als tendenziell mitbestimmungsfreie Zonen wächst Brödner (2000, S. 59f.) zufolge gerade in »wissensintensiven Unternehmen« die Bedeutung der betrieblichen Interessenvertretung als Teil des Führungssystems des Unternehmens. Kotthoff (2003a) zeigt in seiner Studie über die »Aufstiegsqualifizierung von Betriebsräten«, dass sich die Betriebsratsvorsitzenden (und deren Stellvertreter) von großen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen mittlerweile selbstverständlich als Spitzenund Führungskräfte verstehen und auch von ihren Gegenübern auf Arbeitgeberseite als solche angesehen werden. Bekräftigt wird diese Einschätzung dadurch, dass nicht wenige von ihnen, so sie vor der Rente den Betriebsrat wieder verlassen, in strategische

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Institutionalisierte Gegenmacht

Spitzenpositionen im Unternehmen auf- oder umsteigen: »Arbeitsdirektor, Personalleiter, Hauptabteilungsleiter, Geschäftsführer eines Tochterunternehmens usw.« (Kotthoff 2003a, S. 14). Für Freigestellte der »zweiten Linie«, stehen im Falle des Umstiegs in der Regel »mittlere Führungspositionen« mit Leitungsverantwortung zur Verfügung. Auch für die meisten der von uns befragten Geschäftsleiter und Personalverantwortlichen (zumindest der großen und mittleren Betriebe) ist unstrittig, dass der oder die Betriebsratsvorsitzende – wenn auch in anderer Form als Leitungskräfte der Linienorganisation – eine Führungskraft darstellt, mit der sie weite Bereiche der betrieblichen Arbeits- und Lebenswelt besprechen und gestalten (müssen). Um die Frage, an welchem Ort der Betriebsrat in der sozialen Topographie des Betriebs angesiedelt ist, zu erkunden, haben wir unsere Forschungspartner gebeten, sich vorzustellen, sie würden ihren Betrieb als ein Haus malen und dann gefragt, wo in diesem Haus die Geschäftsleitung und wo der Betriebsrat sitzen würde? Während die Geschäftsleitung, wie zu erwarten, oben angesiedelt wird – oft in einem ziemlich komfortablen Oben von Penthäusern oder Loggien –, verorten die allermeisten Befragten den Betriebsrat deutlich tiefer. Der Vorstandsvorsitzende eines Chemieunternehmens äußerte sich auf die Frage nach dem Ort des Betriebsrats in seinem »Haus« allerdings folgendermaßen: »Der [freigestellte Vorsitzende] säße auf dem gleichen Stockwerk neben dran. Und zwar deshalb, weil ich ihn als Arm in der Verbindung zum Betrieb gerne da sehen würde […] Er hat einen anderen Rückhalt, aber er sitzt oben. Ich will damit signalisieren, ich rede Themen mit meiner Geschäftsleitung durch und wir müssen zu Entscheidungen kommen […] Aber ich muss genauso offen reden können mit dem Betriebsrat und der hat auch den Raum, der dahin gehört. Und wenn ich ihn auf einer anderen Ebene diskutiere, dann sag ich ihm, er ist für mich unwichtig in der Gestaltung der Zukunft der Firma – und das ist er nicht.«

Für die Beschäftigten, die zweite relevante Gruppierung im betrieblichen Beziehungsspektrum des Betriebsrats, ist der oder die Betriebsratsvorsitzende zweifelsohne auch eine betriebliche Führungskraft. Für gewerbliche Beschäftigte ist dies überhaupt keine Frage (Betriebsratsvorsitzender zu werden, ist für gewerbliche Be-

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schäftigte in der Regel die höchste Aufstiegsposition in einem Betrieb), doch auch in Angestelltenbetrieben mit einem hohen Anteil an hochqualifizierten Beschäftigten besteht trotz aller Reserviertheit gegenüber der Institution Betriebsrat kaum ein Zweifel daran, dass Betriebsratsvorsitzende bezüglich der Rahmenbedingungen ihrer Arbeit ein gewichtiges Wort mitzureden haben – auch wenn sie inhaltlich damit nicht immer einverstanden sind. Eine besondere Dynamik ergibt sich daraus, dass Beschäftigte nicht selten beträchtliche, häufig idealisierte Vorstellungen und Phantasien über die Macht und den Einfluss ihres Betriebsrats(vorsitzenden) haben, die in kritischen Situationen, wenn sie ihre hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllt sehen, abrupt in dessen Entwertung münden können. In der Formulierung einer Betriebsrätin: »Die Beschäftigten denken, der Betriebsrat hat die Macht und wenn denn das Ergebnis, das aus Verhandlungen oder Gesprächen herauskommt, negative Auswirkungen für die Mitarbeiter hat, dann wird das als Versagen des Betriebsrats gesehen.«

Gilt für Kleinbetriebe (und zum Teil noch für Betriebe mittlerer Größe), dass die meisten Beschäftigten ihre(n) Betriebsratsvorsitzende(n) persönlich kennen und diese(r) von daher keine distanzierte Autoritätsperson darstellt, erleben die Beschäftigten der Großbetriebe ihre Betriebsratsspitze vor allem auf dem öffentlichen Parkett, zum Beispiel auf Betriebsversammlungen oder Jubiläumsveranstaltungen, bei denen diese neben der Geschäftsführung vorne auf dem Podium ihre gewichtige Rolle als Spitzenkraft des Unternehmens sinnfällig demonstriert. In Großbetrieben sind generell die Anforderungen an die Person und Persönlichkeit des Betriebsratsvorsitzenden und dessen Führungsstärke sehr viel höher als in der überschaubaren Sozialwelt kleiner oder mittlerer Betriebe. So ist der ehemalige BR-Vorsitzende eines Metallgroßbetriebs unter anderem daran gescheitert, dass er dem gewünschten oder erwarteten Bild eines starken und charismatischen »Wortführers« der Belegschaft nicht genug entsprochen hat. Das ist auch die Schwierigkeit des gegenwärtigen Vorsitzenden eines großen Chemiewerkes. In den meisten Interviews (nicht nur mit Betriebsrä-

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ten, sondern auch mit dem Vorstand und dem Personalleiter) wird darauf hingewiesen, dass dieser bei aller fachlichen und politischen Qualifikation für das Amt des Vorsitzenden zu wenig für sein persönliches Standing und seine Performanz als Führungspersönlichkeit tut. Selbst einer seiner Vertrauten in der Betriebsratsspitze räumt ein, dass er, »auch wenn er nicht der Chef ist, zumindest die Figur ein bisschen mehr darstellen« und in diesem Sinne »ein bisschen mehr an seiner Persönlichkeit arbeiten müsste«. Für die zuständige Gewerkschaft schließlich, die dritte für den Betriebsrat relevante Akteursgruppe, sind die Betriebsratsvorsitzenden immer schon ihre einflussreichsten Partner im Betrieb. Sie werden durch den Bedeutungsverlust von Vertrauenskörpern mehr denn je auch zu ihren zentralen Repräsentanten im Betrieb und zum Ansprechpartner in Sachen Gewerkschaftspolitik, ganz abgesehen davon, dass viele Vorsitzende (bzw. Stellvertreter) ihrerseits einflussreiche Mitglieder in den lokalen (und zum Teil überregionalen) Gewerkschaftsgremien sind und damit hier wie da Spitzenpositionen einnehmen.

■ Auf dem Weg zum Co-Manager? Seit den 1990er Jahren wandelt sich auf dem Hintergrund von Veränderungsprozessen in den Belegschaften auch die soziale Zusammensetzung von Betriebsräten. War früher der Betriebsratsvorsitzende meist ein Facharbeiter, so finden sich Rudolph und Wassermann (1996, S. 173) zufolge schon Mitte der 1990er Jahre an der Betriebsratsspitze zunehmend »Koalitionen zwischen jüngeren Facharbeitern und qualifizierten Angestellten«. Wassermann (2002, S. 50) formuliert in diesem Zusammenhang, dass sich »das Ende eines bestimmten Sozialtyps des Betriebsratsvorsitzenden an(deutet). Die Gruppe der gewerkschaftlich engagierten Facharbeiter, die sich in ihrer zum Beruf gewordenen langjährigen Betriebsratstätigkeit zu hochqualifizierten und erfahrenen Profis der Interessenvertretung entwickelt haben, verlässt langsam die Bühne«. Häufig trifft man heute Personen in den Spitzengruppen der Betriebsräte, die »über einen innerbetrieblichen Karriereweg

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in verantwortliche Positionen der mittleren Betriebshierarchie gelangt sind«. Diese Tendenz hat sich Rudolph und Wassermann (2002) zufolge bei den Wahlen im Jahr 2002 fortgesetzt. Auch in den von uns untersuchten Betrieben hat sich in den letzten Jahren sowohl in den Betriebsratsgremien als auch in der Betriebsratsspitze der Anteil von hochqualifizierten, zum Teil aus unteren Führungsebenen stammenden Angestellten deutlich erhöht. Mit diesem, wie sie es nennen, »Generationswechsel« an der Spitze der Betriebsräte, zieht Rudolph und Wassermann (1996, S. 173) zufolge ein »neuer Arbeitsstil in die Betriebsratsarbeit ein«. Sie haben den Autoren zufolge keine »Berührungsängste« mehr gegenüber Managern und Experten aus dem technisch-organisatorischen Bereich und sie greifen selbst, wo sie es für sinnvoll erachten, auf Beratung durch unterschiedlichste Experten zurück. Auch Schmidt und Trinczek (1999, S. 123) zufolge tragen die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung von Betriebsräten wesentlich zu einer Professionalisierung der Arbeitsbeziehungen bei. Betriebsräte sind ihnen zufolge »nicht nur sachlich-aufgeklärter und argumentativer« geworden, sondern öffnen »sich auch neuen Themen«, vor allem »übergreifende[n] betriebsstrategische[n] Fragen«, womit auch von ihrer Seite her »die traditionelle Grenzziehung zwischen typisch managerialen und typisch betriebsrätlichen Themenfeldern tendenziell eingeebnet werden« dürfte. Damit komme ich noch einmal auf das Stichwort »Co-Management« zurück, das in den letzten zehn Jahren die Phantasien nicht weniger Geschäftsführer, Betriebsräte, Berater und Forscher beflügelt. Mit dem Begriff des Co-Managements wird zunächst einmal der Sachverhalt gefasst, dass Betriebsräte in vielen Unternehmen Aufgaben übernehmen, die im Betriebsverfassungsgesetz nicht vorgesehen sind. Die von der Bertelsmann Stiftung und der Hans Böckler Stiftung eingesetzte »Kommission Mitbestimmung« kommt zu dem Schluss, dass insbesondere durch die »direkte Einbeziehung der betrieblichen Interessenvertretung in die Vorbereitung und Umsetzung von Entscheidungen […] die Unterschiede zwischen Interessenvertretung einerseits und Beteiligung an den Leitungsfunktionen des Unternehmens andererseits verschwimmen« (Kommission Mitbestimmung 1998, Punkt 18). Es trifft zu,

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Institutionalisierte Gegenmacht

so die Kommission weiter, »dass Betriebsräte heute in zahlreichen Unternehmen zumindest in bezug auf ihren Zugang zu Informationen oft wie Mitglieder der Unternehmensleitung behandelt werden und dass von ihnen im Gegenzug verlangt wird, selbst unternehmerisch zu denken« (Kommission Mitbestimmung, Punkt 20). Sie sitzen stärker als früher »auf oberster Politikebene im Betrieb mit am Tisch der Spitzenmanager« (Wassermann 2002, S. 60). Hartz (2000, S. 175) bringt die als Co-Management bezeichneten neuen Anforderungen an Betriebsräte prägnant auf den Punkt: »Strategisches Denken, unternehmerisches Verhalten, Anerkenntnis des Standes im Wettbewerb, Ergebnisorientierung und Identifizierung von neuen Produktchancen – wer dies alles als Betriebsrat vorbringt und als Voraussetzung für neue und sichere Arbeitsplätze erklärt, betreibt im besten Sinne Co-Management. Für diese Betriebsräte steht der Kampf um Märkte und Produkte vor dem Verteilungskampf. Sie fordern häufiger Managerqualitäten als Managerzugeständnisse ein.« Etwas zurückhaltender formuliert dies Schneider (2003, S. 82), ebenfalls Manager bei VW, wenn er hinsichtlich des Co-Managements – in Abhebung von den finanz-, prozess- und marktbezogenen Unternehmenszielen – vor allem die Bedeutung des Betriebsrats als »Care-Verantwortlichem« für die vierte Dimension der Balanced Scorecard betont: die mitarbeiterbezogenen Ziele des Unternehmens, die ohne den Betriebsrat nicht so recht ein Sprachrohr hätten. Von den von uns befragten Betriebsratsvorsitzenden wird der Begriff des Co-Managements eher kritisch gesehen. Von manchen, wie dem Mitglied der Betriebsratsspitze eines Metallgroßbetriebs, wird er rundum abgelehnt: »Wenn ich den Interessengegensatz nicht im Kopf habe, dann komm ich ganz schnell in diese Rolle rein, Co-Manager oder noch schlimmer, Vermittler zwischen Geschäftsführung und Belegschaft und dann gerate ich als Betriebsrat leicht zwischen die Mühlsteine und werde ganz klein gemacht.«

Die meisten der befragten Betriebsräte empfinden den Begriff des Co-Managements als zu hoch aufgehängt, sie haben schlechterdings nicht das Gefühl, dass sie an den unternehmensbezogenen Entscheidungsprozessen – im Unterschied zu den Regelungen der

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Arbeitsbeziehungen – auch nur annähernd auf gleicher Augenhöhe beteiligt sind. So äußert sich der stellvertretende BR-Vorsitzende eines Chemie-Unternehmens, in dem der Betriebsrat eine ausgesprochen kooperative Zusammenarbeit mit der Unternehmensspitze betreibt: »Dieser Begriff ›Co-Management‹ gefällt mir nicht so richtig, weil er eigentlich impliziert, man würde die Entscheidungen mittreffen, aber im günstigsten Fall würde man sie mittragen, getroffen werden sie von anderen. Das ist der Unterschied: Ich bin nicht derjenige, der entscheidet, so oder so ist es, sondern ich kann höchstens sagen, diese Entscheidung kann ich mittragen, weil sie irgendwo vernünftig ist und manchmal sag ich denn auch, diese Entscheidung kann ich nicht mittragen.«

Sein tatkräftiger und im Betrieb ausgesprochen anerkannter Vorsitzender sagt zu diesem Thema: »Also ich sehe mich nicht als wirtschaftlicher Co-Manager. Ich bin kein BWL’er. Ich hab auch offiziell für nichts, was in diesem Laden schief geht oder gut geht, die finanzielle Verantwortung. Aber ich denke, wenn ich mich da einmischen würde und das auch möchte, dann würde ich die Verantwortung auch mit übernehmen wollen.«

Die Grenzen der Macht und des Einflusses von Betriebsräten zeigen sich also nach wie vor spätestens da, wo es um wirtschaftliche Entscheidungen geht. Hier haben sie im Vergleich mit sozialen und personellen Angelegenheiten auch vom Gesetz her die geringsten Mitwirkungsrechte. Im Fehlen diesbezüglicher Machtmöglichkeiten sehen einige Autoren denn auch die größte Einschränkung des Betriebsrats als betriebliche Führungskraft.

■ Führungskräfte mit beschränkter Macht Hinsichtlich der Macht – oder wie es auch heißt, der »bargaining power« – unterscheidet man zwischen der Primär- und der Sekundärmacht des Betriebsrats (Jürgens 1983). Ergibt sich die Primärmacht aus der »Artikulation von ›Gegenmacht‹ durch die Belegschaft«, so ergibt sich die Sekundärmacht aus den Bestimmungen

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Institutionalisierte Gegenmacht

des Betriebsverfassungsgesetzes (Hirsch-Kreinsen 1995, S. 373). Dabei spiegeln die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes die »Asymmetrie des betrieblichen Herrschaftsverhältnisses« recht eindeutig wider: »Denn die darin festgelegten Mitbestimmungsrechte der Interessenvertretung wirken nicht automatisch; das Management braucht sie so lange nicht zu berücksichtigen, wie sie der Betriebsrat nicht aktiv nutzt.« Klöcker (2003, S. 78) zufolge ist »die fehlende Macht« des Betriebsrats das »eingebaute Problem« dieser Institution. Aufgrund ihrer fehlenden Weisungsmacht haben es Betriebsräte schwer, die Ziele, die sie sich gesteckt haben, zu erreichen und die Aufgaben umzusetzen, die sie sich vorgenommen haben. Horst Knigge, technischer Geschäftsführer eines Büromöbelherstellers, der viele Jahre als BR-Vorsitzender dieses Betriebs gewirkt hatte, beschreibt das Machtvakuum des Betriebsrats aus seiner heutigen Position heraus wie folgt: »Nach dem Betriebsverfassungsgesetz hat man als Betriebsrat keine operativen Durchsetzungs- und Umsetzungsmöglichkeiten. Das hat sich mit meiner Geschäftsführungsposition total geändert. Durchsetzen und Umsetzung von Entscheidungen sind Teil meiner täglichen Arbeit geworden. Daraus resultiert eine völlig andere Denkweise und damit auch eine Veränderung der Denkprozesse« (Fiedler-Winter 2003, S. 16).

Verschärft wird dieses prinzipielle Machtdefizit dadurch, dass die Machtpotenziale des Betriebsrates bei jedem zweiten der von uns untersuchten Betriebe durch den Wegfall von gewerblichen Belegschaften (als einer besonders »kampfbereiten« Beschäftigtengruppe) gesunken sind und den betreffenden Betriebsräten in Gestalt neuer Angestelltenbelegschaften statt der gewohnten Rückendeckung durch die Belegschaft ein zuweilen schwer einzuschätzender zusätzlicher dritter Akteur in den betrieblichen Aushandlungsprozessen zur Seite (oder gegenüber) steht (zu dieser triadischen Perspektive siehe Tietel 2006). Eine zentrale Machtquelle, auf die Betriebsräte letztlich zurückgreifen können, ist die mit dem Betriebsverfassungsgesetz gegebene Weisungsmacht des Arbeitsgerichts. Doch auch hier zeichnet sich in den von uns untersuchten Betrieben die deutliche Tendenz zur größeren Zurückhaltung ab, im Konfliktfall gegen den »eigenen Arbeitgeber« zu

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klagen. Zu sehr scheuen Betriebsräte die mit diesem Schritt verbundenen Konfliktkosten: den Abbruch informeller Beziehungen und die Verschlechterung der betrieblichen Aushandlungskultur. So konzentriert sich die Macht des Betriebsrats vor allem auf seine »Vetomacht«, also darauf, die auf verschiedenen rechtlichen und organisatorischen Ebenen bestehende Abhängigkeit des Arbeitgebers von der Zustimmung des Betriebsrats zu nutzen, zum Beispiel indem sie ihre Zustimmung zu Vorhaben des Arbeitgebers verzögern oder – in Sachen Überstunden – verweigern und im Betrieb entsprechend Stimmung machen. Das bedeutet, dass Betriebsräte den Arbeitgeber, wie es häufig heißt, »ärgern können«, wenn er den Aspekt seiner Abhängigkeit vom Betriebsrat zu sehr ignoriert und sie auch dort nicht hinreichend einbezieht, wo sie entweder den rechtlichen Anspruch darauf haben oder aber Anspruch darauf erheben. Eng mit dem Machtthema verknüpft ist die Frage der Anerkennung. Die Erforschung der subjektiven Erfahrungen von Anerkennung – und vor allem der erlebten Nicht-Anerkennung – erlaubt es, noch einmal einen genaueren Blick darauf zu werfen, in welcher spezifischen Weise Betriebsräte heute als Führungskräfte anerkannt werden möchten.

■ Der Betriebsrat als Repräsentant des Betriebs als Ganzes Bestätigt meine Studie einerseits die Tendenz zur wachsenden Bedeutung des Betriebsrats als betrieblicher Führungskraft, fühlen sich auf der anderen Seite fast alle Befragten gleichwohl von ihrer Geschäftsleitung weniger anerkannt als es ihre Erwartung, ihr Wunsch oder ihr Anspruch ist. Diese Gleichzeitigkeit von erheblich gestiegener institutioneller Bedeutung und Beteiligung des Betriebsrats auf der einen und dem subjektiven Erleben eines beträchtlichen Anerkennungsdefizits bei Betriebsräten auf der anderen Seite ist ein zentrales Ergebnis meiner Studie. Es weist darauf hin, dass Betriebsräte im Zuge der zunehmenden Selbstverständlichkeit ihrer Einbeziehung, also der stabilisierten rechtlichen An-

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erkennung und institutionellen Bedeutung, eine gehörige Portion an Selbstbewusstsein und ein neues Selbstverständnis entwickelt haben, aus dem wiederum erneute Anerkennungsansprüche erwachsen sind, die ihrer Erfüllung nach wie vor harren. Diese Anerkennungsansprüche zielen auf die soziale Wertschätzung des Betriebsrats als besonderer betrieblicher Führungskraft mit dem spezifischen Selbstverständnis, Repräsentant des Betriebs als Ganzem und damit zugleich sowohl (eine Art von) Co-Manager als auch Interessenvertreter der Beschäftigten sowie – drittens – Hüter der betrieblichen Sozialordnung (Kotthoff 1995) bzw. in einem umfassenden Sinne der betrieblichen Lebenswelt (Volmerg, Senghaas-Knobloch u. Leithäuser 1986) zu sein. Vor allem die Betriebsorientierung ist es, die den Betriebsrat (der den Bezug auf den Betrieb ja schon im Namen trägt) von den anderen Akteuren unterscheidet – ein Aspekt, auf den Kotthoff seit seinen frühen Studien nicht müde wird hinzuweisen. Betrieb nicht nur als Arbeitsstätte, als Produktions- und Verwertungsort, sondern auch als etwas, das für die Beschäftigten (und nicht zuletzt auch den Betriebsräten selbst) auf sozio-emotionaler Ebene in einem ganz basalen Sinne Zugehörigkeit stiftet und ihnen ein Gefühl von Sicherheit gibt. Holtgrewe und Voswinkel (2002, S. 4) zufolge war es in den deutschen Arbeitsbeziehungen »vor allem der Betrieb«, der »Gemeinsamkeit« und »Zugehörigkeit« und damit eine bestimmte »moralische reziprozitätsbezogene Form der Anerkennung« vermittelte. Die Autoren wählen die Vergangenheitsform, weil sie davon ausgehen, dass sich in den betrieblichen Anerkennungsbeziehungen gegenwärtig ein grundlegender Wandel dergestalt vollzieht, dass die von ihnen »Würdigung« genannte Form der Anerkennung, die sich durch Zugehörigkeit, Opfer, Bemühungen, Engagement und die Erwartung an Dankbarkeit auszeichnet, gegenüber der Form der Anerkennung, die sie »Bewunderung« nennen und die auf Kapitale, Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge rekurriert (Voswinkel 2000), im Schwinden begriffen ist. In diesem Zusammenhang verändert sich auch die Bedeutung, die dem Bezug auf den »Betrieb« für die beiden institutionalisierten Hauptakteure der betrieblichen Arbeitsbeziehungen – Betriebsrat und Geschäftsleitung – zukommt.

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Meine These ist, dass der Bezug auf den »Betrieb« – neben der Regulierung der Arbeitsbeziehungen (»Interessenvertretung der Beschäftigten«) und neben der Orientierung am wirtschaftlichen Betriebsergebnis (»Betriebswohl«), den beiden Dimensionen, die Müller-Jentsch (1997) zu der Formulierung des »intermediären Charakters« der Institution des Betriebsrats führten – eine eigenständige dritte Dimension darstellt. Eine dritte Dimension, die auch im psychologischen Sinne einen »intermediären Raum« (Tietel 2003) eröffnen kann, in dem die Beteiligten auf der Basis eines gemeinsamen Betriebsbezugs über das Interesse an etwas hinaus ein Interesse aneinander entwickeln und erleben. Der Bezug von Betriebsrat und Management auf den Betrieb als »Gemeinschaftsaufgabe«, wie dies Kotthoff (2003b, S. 493) so treffend nennt, kann zwischen den Akteuren einen Spielraum eröffnen, den man mit einem der Psychoanalyse entlehnten Begriff deshalb einen »intermediären Raum« (Winnicott 1987) nennen kann, weil ihm eine spezifische, (organisations-)kulturell ausgesprochen produktive Illusionsüberschneidung (Neubaur 1987, 2002) inhärent ist. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Beteiligten einander implizit unterstellen, jenseits aller Interessen- und Perspektivenunterschiede durch den Bezug auf ein gemeinsames Drittes, hier: den Betrieb, miteinander verbunden zu sein. Der für das vorliegende Thema entscheidende Aspekt dieser Illusionsüberschneidung besteht darin, dass bezüglich der Fokussierung auf den Betrieb als Gemeinschaftsaufgabe bestimmte differenzierende und distanzierende Fragen nicht gestellt und nicht beantwortet werden müssen. Fragen wie: Sind wir Mitglieder unterschiedlicher Interessengruppen mit verschiedenen Perspektiven und Präferenzen, die vorrangig anzuerkennen und zu berücksichtigen sind, oder sind wir Mitglieder eines betrieblichen Gemeinwesens, die Hand in Hand an einer gemeinsamen Sache arbeiten und ihre Aktivitäten in den Erhalt und die Entwicklung des Betriebs fließen lassen? Der intermediäre Raum zeichnet sich dadurch aus, dass die diese Illusionsüberschneidung teilenden Akteure miteinander Schritte gehen können, die sich unter den alltäglichen Bedingungen ihrer differenten Identitäten und organisatorischen Verortungen eigentlich ausschließen würden. Auch wenn im wechselhaften Alltag der betrieblichen Arbeits-

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beziehungen die Perspektive des Betriebes als Gemeinschaftsaufgabe und damit das kreative Potenzial des intermediären Raumes nicht gänzlich verschwunden ist, kann man sagen, dass die Ausgangsbedingungen für derartige Illusionsüberschneidungen deutlich schwieriger geworden sind. Denn während sich in der Vergangenheit eine gewisse Umsicht für die betriebliche Sozialwelt auf die Schultern beider betriebspolitischer Akteure verteilte und nicht selten auch bei Eigentümern und Geschäftsleitungen eine Art von »patriarchalischer Fürsorgehaltung« (Schmidt u. Trinczek 1999, S. 103) vorhanden war, wird diese gemeinschaftliche Betriebsorientierung spätestens seit den 1990er Jahren von jenem neuen Typus von Managern, die sich nicht mehr als Mensch an der Spitze eines sozialen Verbundes begreifen, sondern sich der »Leitidee der profitorientiert vermarktlichten Sozialordnung« (Boes 2004, S. 10) verschrieben haben, kaum noch mitgetragen. Es spricht viel für die Annahme, dass der Aspekt von »Zugehörigkeit« und damit auch die entsprechende »Sorge« und »Fürsorge« gegenwärtig weniger öffentliche und betriebliche Wertschätzung erfährt. Sozio-emotional gesehen geht es bei dieser Dimension des »Sorge-Tragens« um die Bereitstellung einer im Hintergrund wirksamen »haltenden Umwelt«, die eine basale Sicherheit bietet, eine ursprünglich mütterliche Funktion, die von Winnicott (1984) ausgearbeitet und von verschiedenen Autoren in die Organisationsforschung eingeführt wurde: »Mitarbeiter erleben die eigene Organisation – teils bewusst, teils unbewusst – als entsprechenden Halt: einerseits in ihren formalen Aufgabenstellungen, Strukturen, Regeln, Strategien, Rollen und verfügbaren Kompetenzen, andererseits in der Art, wie sie sich im Sinne innerer, phantasierter Objektbeziehungen mit der Organisation als Ganzer sowie ihren wesentlichen Repräsentanten in Beziehung setzen« (Heltzel 2003, S. 5).

Diese Funktion der Organisation als »haltende Umwelt« oder, wie ich es genannt habe, als »soziale Haut« für die Mitarbeiter (Tietel 2003), wird gegenwärtig im Zuge von Dezentralisierungs- und Entgrenzungsprozessen, der Internalisierung des Marktes sowie der Flexibilisierung und Subjektivierung der Arbeit (Kratzer 2003) brüchig und kann bei den Beschäftigten mit tiefen Ängsten und

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dem Gefühl einhergehen, nicht nur jeglichen sozialen Halt, sondern auch die eigene Begrenzung und den eigenen Zusammenhalt zu verlieren. Kets de Vries (2001, S. 103) spricht diesbezüglich davon, dass der »psychologische Vertrag« zwischen Beschäftigten und Organisation zerbrochen ist, der in einer starken emotionalen Bindung von Beschäftigten an ihre Organisation, in einem tiefverwurzelten Gefühl von Zugehörigkeit bestanden hat. Mit dem tendenziellen Schwinden einer »patriarchalisch bzw. paternalistisch gemeinschaftlichen Sozialordnung«, die Kotthoff (1994, S. 321) zufolge auch der Mitbestimmung ihre Wirksamkeit verlieh und ihr den lange Zeit vorherrschenden »kooperativpragmatischen« Zug gab, geht die Orientierung an den kulturellen, sozialen, lebensweltlichen und persönlichen Dimensionen der betrieblichen Sozialordnung fast gänzlich auf den Betriebsrat über. So äußert die Betriebsratsvorsitzende eines IT-Dienstleisters im Interview: »Ich hab ja schon gesagt: ›Geschäftsführer kommen, Geschäftsführer gehen, der Betriebsrat bleibt.‹« In ein familialistisches – und damit in der Übertragung auf betriebliche Vorgänge immer auch ein Stück weit problematisches – Bild gebracht, kann man sagen, dass der Betriebsrat bei den neuen, ihrer »Väterlichkeit« entledigten »Hausherren« – vermutlich relativ unabhängig davon, ob es sich hierbei um einen Manager oder eine Managerin handelt – kaum noch ein Ohr für die »väterlich-fürsorglichen« und »mütterlich-sorgenden« Aspekte findet.

■ Die Ortlosigkeit des Betriebsrats in der sozialen Topographie des Betriebs Wie weit Betriebsräte davon entfernt sind, sich trotz ihrer betrieblichen Führungsrolle auf annähernd gleicher Augenhöhe mit der Geschäftsleitung zu erleben, illustrieren die Antworten der befragten Betriebsräte auf die oben bereits erwähnte Frage nach dem Ort des Betriebsrats im Unternehmen (siehe hierzu ausführlich Tietel 2007). Nicht immer klafft es so weit auseinander wie bei folgender Betriebsrätin eines Großbetriebs der chemischen Industrie, der zufolge es »sogar so ist, es gibt die Vorstandsebene, die ist oben,

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sehr weit oben und den Betriebsrat, der hier ganz unten sitzt. Und leider würde ich mir das auch in der Praxis immer so vorstellen«. Weniger Betriebsräte, als ich erwartet hätte, situieren den Betriebsrat nahe bei der Geschäftsleitung. Doch auch in den Bildern, in denen sie ihre Position im Betrieb in der Nähe der Geschäftsleitung sehen, zeigt sich, dass sie einen zutiefst gegensätzlichen Eindruck nicht wegbekommen: oben dazu und zugleich auch nicht dazuzugehören. Um es zugespitzt zu sagen: Geht man als Betriebsratsvorsitzender auch bei der Geschäftsleitung ein und aus, bleibt man da oben doch immer Betriebsrat und befindet sich damit in einem hierarchischen und sozialen Zwischen, das der Identität als Betriebsrat keinen rechten Halt gibt. Dass diese soziale Distanz mit dem subjektiven Gefühl eines inneren Abstandes einhergehen kann, zeigt die folgende Äußerung eines Vorsitzenden, der die Geschäftsleitung in seinem Bild nur zwei Stockwerke höher verortet, also gar nicht so weit weg, gleichzeitig aber hinzufügt, dass »der Weg nach oben hin irre weit und irre lang [ist]«. Nur zwei Stockwerke und doch etwas nahezu Unüberwindliches – Ausdruck davon, dass es immer wieder große psychische Kraft kosten kann, sich auf diesen »irre weiten und irre langen Weg nach oben« zu begeben. Nur angedeutet sei, dass es nach unten zu den Beschäftigten hin nicht wesentlich anders ist. Auch dort gehört man gefühlsmäßig sowohl dazu als auch nicht dazu. Diese tendenzielle Ortlosigkeit in der sozialen Topographie des Betriebs bedeutet für die Rollenfindung und die Identität eine bisher wenig thematisierte Zumutung. Diese Ungewissheit des eigenen Ortes kommt in folgender Schilderung des Betriebsrats eines IT-Betriebs sehr bildlich zum Ausdruck: »Und wo sitzt der Betriebsrat? Also nicht im Erdgeschoss. Also nicht so ganz an der Basis. Also im ersten Geschoss oder im Übergang zum Dach, irgendwo so. Ja, irgendwo so dazwischen.« In eine völlig andere Richtung weisen nun die Schilderungen des Ortes, den man eigentlich anstrebt. Hierzu ein paar Zitate. Ein Betriebsrat aus der Chemiebranche: »Also ich persönlich sehe uns noch nicht da, wo wir eigentlich hingehörten. Ich hab den Anspruch, dass unser Gremium deutlich eigentlich auf der gleichen Ebene sitzen müsste wie der Vorstand, das ist mein Ziel. Als gleichberechtigter Partner.« Die Vorsitzende eines Finanzdienstleisters:

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»Ich würde da gerne mehr eine Gleichberechtigung sehen. Mein Wunsch wäre, dass es doch ein bisschen gleich gewichteter ist.« Eine Betriebsrätin aus der Metallbranche: »Meine Vision wäre, zumindest unterhalb der Geschäftsführung im Obergeschoss mit angesiedelt zu sein.« Diese Zitate legen nahe, dass der Begriff des Co-Managements bei vielen Betriebsräten auch deshalb so attraktiv ist, weil in ihm der Anspruch auf Anerkennung auf gleicher Augenhöhe einen begrifflichen Ort findet. Meines Erachtens weisen die Schwierigkeiten, die viele Autoren damit haben, den Betriebsrat zu verorten – und nicht zuletzt auch die Schwierigkeiten von Betriebsräten selbst, eine tragende Rollenidentität aufzubauen –, auf dessen konstitutive Zwittergestalt hin, auf seinen »paradoxen« Ort im hierarchischen Gefüge eines Betriebes. Es ist in Organisationen nicht klar, zu welcher Statusebene – oder, wie ich noch erörtern werde: zu welcher »GenerationenEbene« – er gehört. Einerseits ist der Betriebsrat Repräsentant der Beschäftigten, andererseits gehört er jenen nicht mehr einfach zu, sondern steigt, wie es ein Vorsitzender im Interview formulierte, in eine »andere Liga« auf. Gestern noch Schlosser, Laborant, Einkäufer oder Krankenpfleger, verkehrt er heute relativ umstandslos mit Vorstandsvorsitzenden, Personalchefs, Verwaltungsleitern und Chefärzten. Er gehört jedoch – und dies ist die zuweilen schmerzliche Kehrseite – da »oben« auch nicht so richtig dazu und bleibt aus dieser Perspektive eben »nur Betriebsrat«.

■ Vorsitzender, nicht Vorgesetzter – Die Stellung des Betriebsratsvorsitzenden im Gremium Haben Betriebsratsvorsitzende in der Interessenvertretung und in der Repräsentation des Betriebsrats nach »außen« – trotz der eben angesprochenen Einschränkungen – eine relativ starke Position und werden von allen Seiten als dessen Leitungsperson angesehen, ist ihre Stellung innerhalb des Gremiums strukturell widersprüchlich und damit auch auf der Beziehungsebene kompliziert. Hier ist der Vorsitzende (zumindest formal) Primus inter Pares, Erster in einer Gruppe von Gleichen und doch zugleich Leitungsperson;

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Vor-sitzender zwar, aber kein Vor-Gesetzter, denn er hat – zumindest im rechtlichen Sinne – keine Fach- und Dienstaufsicht. In dieser Doppelstruktur liegt ein Grund dafür, dass er auch in seinem Gremium vielfältige Ambivalenzen und Paradoxien auszuhalten und zu managen hat. Wir stoßen auch hier wieder auf das Zugleich eines (horizontalen) Neben und eines (vertikalen bzw. hierarchischen) Über und Unter, das sich bereits als Schlüssel zur Untersuchung des Orts des Betriebsrats in der sozialen Topographie des Betriebs erwiesen hat. Derartige Feinheiten scheinen nicht immer eine große Rolle gespielt zu haben: In nahezu allen untersuchten Betrieben wurden uns nämlich die Betriebsratsvorsitzenden der Vergangenheit (bis in die 1980er oder 1990er Jahre hinein) durchweg als Patriarchen beschrieben, die das Pendant zum ebenfalls patriarchalisch regierenden Eigentümer, Vorstand oder Geschäftsführer waren und das Geschehen im Gremium ziemlich »im Griff hatten«. Kotthoff (2003b, S. 494f.) schildert, dass in den betriebsrätlichen Gremienbeziehungen bis heute Norm und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen: »Obwohl im Gesetz nicht vorgesehen, ist es die Regel, dass der Vorsitzende […] eine dominierende Position einnimmt, die manchmal durch entsprechendes autokratisches und dominantes Verhalten noch ausgebaut wird.« Dies hat sich, das können wir klar sagen, in allen von uns untersuchten Betrieben im Laufe der letzten zehn Jahre sehr verändert: Die heutigen Betriebsratsvorsitzenden dieser Firmen zeichnen sich (und zwar zunächst einmal ganz unabhängig von der Betriebsgröße und vom Geschlecht) ausnahmslos durch ein demokratisches, dialogisches und professionell-arbeitsteiliges Selbstverständnis aus (und akzeptieren dadurch erstmals überhaupt ein Stück weit den Aspekt des »Gleichen unter Gleichen«). Dadurch ist die Rolle des Betriebsratsvorsitzenden im Gremium komplexer und widersprüchlicher geworden, denn im Unterschied zu den vormaligen »Hierarchen« an der Betriebsratsspitze müssen die »neuen« Vorsitzenden nicht nur ihr eigenes teamförmiges Selbstverständnis organisieren, sie haben es auch mit einem mündiger gewordenen Gremium, sprich: mit einem größeren Anteil an selbstbewussten und eigensinnigen Gremienmitgliedern zu tun, wodurch sie gar nicht umhin kommen, einen relativ demokrati-

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schen und das heißt, diskursiven Führungsstil zu pflegen. Doch selbst – und darin würde ich Kotthoff (2003b, S. 495) zustimmen –, wenn »heute viele Vorsitzende zurückhaltender, kommunikativer und sozial kompetenter auftreten, so ändert das wenig an ihrer faktischen Vormachtstellung, die strukturell vorgeprägt ist durch ihre Profi-Rolle und ihre häufigen und sehr engen Kontakte zum Management«. Die Sonderstellung der oder des Betriebsratsvorsitzenden innerhalb des Gremiums ergibt sich schon allein daraus, dass sich mit dieser Position mannigfache Erwartungen und Anforderungen verknüpfen, die weit über das hinausgehen, was »einfache« Betriebsratsmitglieder von sich und ihren Kollegen und Kolleginnen erwarten. So weist ihr oder ihm das Betriebsverfassungsgesetz auch innerhalb des Gremiums besondere Aufgaben und damit eine hervorgehobene Rolle zu: Sie oder er hat zu den Betriebsratssitzungen einzuladen, eine Tagesordnung zu erstellen, die Sitzung zu leiten, zu Beschlüssen hinzuführen, das Protokoll der Sitzung zu unterzeichnen und die dort gefassten Beschlüsse zu gewährleisten (vgl. Rehbock u. Helms 2000). Wenngleich sich diese Erwartungen zwar aus der sozialen Rolle des oder der Vorsitzenden ergeben, werden sie von der Person, die den Vorsitz inne hat, doch in starkem Maße als auf sie als Person zielende Erwartungen und Ansprüche erlebt. Bei Weitem nicht alle Vorsitzenden identifizieren sich jedoch so ungebrochen mit ihrer hervorgehobenen Position an der Spitze des Gremiums wie die folgende Vorsitzende des Betriebsrats eines Finanzdienstleisters: »Ich nehme sozusagen meinen Job als Betriebsratsvorsitzende komplett wahr. Also das ist für mich gar keine Frage, […] ich bin die Betriebsratsvorsitzende, fertig. Für mich ist klar, das bin ich, und sonst keiner, wenn ich da bin jedenfalls, so fertig. Und wenn ich nicht da bin, dann vertritt mich mein Stellvertreter […] Aber wenn ich da bin, lass ich mir da überhaupt nicht die Butter vom Brot nehmen. Das versucht aber auch keiner.«

So gerne Gremien einen Vorsitzenden haben, der ihnen einen guten Teil der Arbeit abnimmt – im Falle von freigestellten Vorsitzenden allemal –, legen die Gremienmitglieder dennoch großen Wert darauf, dass dieser nichts unabgestimmt tut, dass er das Gremium einbezieht oder zumindest rechtzeitig informiert und

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befragt. Dies wiederum gestaltet sich im Alltag des Betriebsratshandelns, in dem der Vorsitzende tagtäglich auf Anfragen von Seiten der Geschäftsleitung, der Personalabteilung oder auf Probleme von Beschäftigten reagieren muss, nicht immer ganz einfach. Freigestellte Vorsitzende machen hauptberuflich Betriebspolitik und brauchen einen gewissen Spielraum, um sich in der Zeit zwischen den Betriebsratssitzungen zu der einen oder anderen Anfrage oder zu dem einen oder anderen Problem verhalten zu können. Meist gibt es eine ganze Reihe von Dingen, bei denen sie glauben, gut einschätzen zu können, wie der betreffende Sachverhalt vom Gremium gesehen wird und bei denen sie sich dann damit begnügen, mit ihrem Stellvertreter oder – so es ihn gibt – dem zuständigen Ausschussvorsitzenden Rücksprache zu halten. Es depotenziert sie auch anderen betrieblichen Akteuren gegenüber, wenn sie immer nur sagen können (und sagen sollen), dass sie alleine nicht entscheidungsberechtigt sind. Manchmal entscheiden sie Dinge auch allein, weil es sie schlichtweg nervt, wenn sich Diskussions- und Entscheidungsprozesse im Gremium über Wochen hinziehen und sie in ihrer Handlungs- und Politikfähigkeit über die Maßen eingeschränkt bleiben. So schildert der Vorsitzende eines Chemieunternehmens, dass man »denn als Vorsitzender doch oftmals dazu neigt, seine Macht einfach ganz beinhart auszunutzen und zu sagen: Ihr ganzes Gremium könnt mich jetzt mal, jetzt mach ich das, was ich hier für richtig halte und werde da gar nicht erst vier Stunden drüber diskutieren und drei Workshops zu abhalten!« Nicht-freigestellte Betriebsratsmitglieder bleiben durch ihr (nicht selten dominantes) Standbein in der Berufsarbeit aus dem Alltagsgeschäft des Betriebsrats und aus den Gesprächen mit Geschäftsführung und Personalleitung in mehr oder minder großem Maße ausgeschlossen und befinden sich von daher hinsichtlich der Aktivitäten ihrer Betriebsratsspitze in einer Zuschauerposition. Diese Ausschlussposition nährt die Psychologie des Verdachts und Verrats; sie führt leicht dazu, dass die Betriebsratsbasis alle möglichen Phantasien entwickelt, was ihre Hauptamtlichen (quasi hinter ihrem Rücken) die ganze Woche über tun, wie sie sich in den Gesprächen und Abstimmungen mit der Geschäftsleitung verhalten. Sie entwickeln von daher nicht selten ein Misstrauen und im

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Zusammenhang damit eine Art von Kontrollmentalität ihren Vorsitzenden (und Freigestellten) gegenüber, die von den Vorsitzenden wiederum als Angriff auf ihre Rolle (und meist dann auch auf ihre Person) verstanden werden (können). Kurzum: Betriebsratsvorsitzende geraten immer wieder in Situationen, in denen ihnen ihr »eigenmächtiges Handeln«, zugleich aber auch ihr Nichthandeln zum Vorwurf gemacht wird. Ein Vorsitzender beschreibt diese widersprüchliche Situation, die er im Gremium häufig erlebt und die bei ihm zu dem Gefühl geführt hat, es den Kollegen einfach nicht recht machen zu können. Auch wenn seine Ausführungen sicher sehr zugespitzt sind, bringen sie das strukturelle Dilemma der Vorsitzendenrolle gut auf den Punkt: »Wenn du ihnen sagst: ›Passt mal auf, so machen wir das!‹, dann sagen sie: ›Nee, machen wir nicht so! Du kannst uns hier nicht, du bist nicht unser Chef, du bist nicht unser Vorgesetzter, ist nicht! Wir entscheiden das selbst!‹ Wenn du das aber nicht machst, kommt das andere: Der entscheidet nicht, der fragt immer nur und weiß selbst nicht, was er will.«

Und entscheidet man dann doch etwas stellvertretend für die Gruppe, muss man den Worten dieses BR-Vorsitzenden gemäß zusehen, dass das Gremium möglichst das Gefühl behält, Souverän dieser Entscheidung gewesen zu sein. Auch das entbehrt, wie man seinen leidgeprüften Worten entnehmen kann, nicht einer gewissen Paradoxie: »Sie wollen jemanden haben, der eigentlich alles für sie macht, der auch die Entscheidungen fällt, aber du musst die Entscheidungen so fällen, dass sie nicht merken, dass du sie gefällt hast, sondern dass sie selbst diese Entscheidung machen. Das ist so diese Gratwanderung.«

Fühlt man sich als nicht freigestellter Betriebsrat und »einfaches« Gremienmitglied angesichts globalisierter Märkte und der damit zusammenhängenden schwierigen ökonomischen, sozialen und personellen Problemlagen im Betrieb und angesichts der in diesem Zusammenhang gestiegenen Macht des Managements gegenwärtig ziemlich ohnmächtig, so kann man zumindest an einem Ort spürbar seine Selbstwirksamkeits- und Anerkennungswünsche befriedigen und seine Macht in Szene setzen: im Gremium. Hier

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kann man die erfahrene Ohnmacht den »Vorturner« an der Spitze auch mal spüren lassen, indem man ihn ausbremst oder auflaufen lässt. Hier fällt die eigene Ratlosigkeit, das Gefühl der Nichtanerkennung, das immer auch mit einer gewissen Beschämung einhergeht, ein Stück weit von einem ab, hier hat man eine Stimme, die man erheben kann, ohne allzu große Konsequenzen fürchten zu müssen – denn welche Macht hat der Vorsitzende wirklich (außer vielleicht der, immer mal wieder die Drohung auszusprechen, den ganzen Krempel hinzuschmeißen)? In mehreren der von uns untersuchten Gremien muss sich der Vorsitzende obendrein in Anwesenheit von Kollegen, die sich offen oder heimlich als die besseren Vorsitzenden phantasieren und gerieren, als Führungsperson erweisen. Es gibt auch den Fall, dass niemand den Vorsitz übernehmen will und alle einen aus ihrer Mitte dazu drängen, das zu tun. Kaum aber hat er den Vorsitz übernommen, steht er unter kritischer Beäugung, bekommt ständig seine Grenzen vorgehalten und bezieht in regelmäßigem Abstand von der Gruppe »Prügel«: alles Phänomene, die auch mit der widersprüchlichen und institutionell unzureichend definierten Position und Rolle des Betriebsratsvorsitzenden zusammenhängen. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch der Fakt, dass sich Betriebsratsvorsitzende alle vier Jahre neu zur Wahl stellen müssen: nicht nur in der Belegschaft im Kontext der Betriebsratswahlen, sondern anschließend auch im Gremium, das ebenso, wie es sich einen Vorsitzenden gibt, diesen auch wieder abwählen kann. Die Konstruktion des Vorsitzes als Wahlamt hält den Betriebsratsvorsitzenden zumindest dann, wenn er gerne in diesem Amt bleiben möchte, in einer prekären Abhängigkeit von der gegenwärtigen und künftigen Zugeneigtheit der Belegschafts- und Gremienmitglieder und kann – wie aus politischen Repräsentationsverhältnissen im öffentlichen Raum nur zu gut bekannt – zu einer Anpassung des Repräsentanten an die Gewogenheit seiner Wähler führen. Ein Aspekt dieser widersprüchlichen Position des BR-Vorsitzenden ist in den bisherigen Ausführungen schon mehrmals angeklungen: Er ist als Vorsitzender weder anweisungs- noch sanktionsberechtigt, sprich: Er verfügt über wenig institutionelle Macht. Das macht ein nicht freigestellter Betriebsrat seinem Vorsitzenden

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in einer Gruppendiskussion auch sehr deutlich klar, indem er unverblümt formuliert: »Zu sagen hast du uns nichts!« Ein BR-Vorsitzender äußert zu diesem Thema: »Ein Abteilungsleiter kann per Order de Mufti sagen, da geht’s lang. Und hier hast du 21 Chaoten, die alle von sozialer Kompetenz reden« – letztendlich aber, das erschließt sich leicht aus dem Kontext seiner Worte, doch das tun, was sie wollen. Es ist nicht zufällig, dass wir über die Frage des Unterschieds zwischen Betriebsratsvorsitz und Abteilungsleitung am ausführlichsten mit der Betriebsratsvorsitzenden eines Hightech-Metallbetriebes gesprochen haben, die als Frau in einem männerdominierten Unternehmen (und Betriebsrat) sehr darum kämpfen musste, an der Spitze der betrieblichen Interessenvertretung anerkannt zu werden und die im Vergleich mit den anderen Betriebsratsvorsitzenden einem »chaotischen« und ausgesprochen konfliktreichen Gremium vorsitzt: »[Es gibt] hier keinen Vorgesetzten […], der einem sagt, wie man seine Arbeit zu erledigen hat. Es gibt hier erst mal keine Sanktionsmaßnahmen, wenn sich einer hier nur hinsetzt und gar nichts macht. Ich sage ›erst mal‹ – weil irgendwann kriegst du die Quittung wahrscheinlich doch. Es gibt hier manchmal 21 kleine Chefs […] Jeder will es anders, und keiner will sich was sagen lassen. Wobei es schon so ist, und dann wird’s eben etwas schwierig, es gibt sehr wohl die, die ein Interesse daran haben, ein Team zu bilden. Und es gibt aber auch immer die, die sich in keinster Weise in irgendeiner Form festlegen lassen wollen. Die sich auch nicht kontrollieren lassen wollen.«

Manche Betriebsräte (und zwar Freigestellte wie Nichtfreigestellte), so diese BR-Vorsitzende weiter, nehmen Freiheiten in Anspruch, die in einer Fachabteilung undenkbar wären. Angefangen damit, wann man zur Arbeit kommt und wann man geht, über die Frage, wie man sich in die Arbeit einbinden lässt, an Absprachen hält, Verpflichtungen eingeht und Verantwortung übernimmt bis hin zu Fragen der Arbeitsmoral und der Effektivität der Arbeit. Bezüglich all dieser Dinge fällt es einem als Vorsitzenden manchmal nicht leicht, sich mit seinen Vorstellungen über eine strukturierte und verlässliche – sprich: professionelle – Organisation der Zusammenarbeit durchzusetzen. Sicher ist das auch eine Frage des

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persönlichen Standings und Durchsetzungsvermögens; es wird jedoch strukturell dadurch erschwert, dass man als Vorsitzende(r) nicht die Anweisungs-, Kontroll- und Sanktionsbefugnisse eines Vorgesetzten hat und es von daher sehr stark von der Struktur, Kultur und Dynamik im Gremium abhängt, ob einem Gremienmitglied notfalls auch mal Konsequenzen angedroht werden. Die Betriebsratsvorsitzende von eben formuliert diese Problematik wie folgt: »Also wenn ich in der Fachabteilung wäre, würde ich sagen: ›Guck dir das mal an. Kann ja wohl nicht sein!‹ […] Ich hab als Betriebsratsvorsitzende, ich will ja keine, ich bin ja keine Vorsitzende in dem Sinne wie eine Führungskraft […] Also da könnte ich, wenn ich jetzt in einer Fachabteilung wäre und das wären alles meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, dann würde ich zu dem einen oder anderen hingehen und würde klare Verabredungen treffen, wie kommen wir da voreinander.«

Das Dilemma ihrer Position zeigt sich noch daran, wie sie nach Worten ringt: Als Abteilungsleiterin würde sie mit dem einen oder anderen mal ein ernstes Wort reden und ihm auch mal sagen: »Das kann ja wohl nicht sein!« Doch als BR-Vorsitzende ist sie in diesem Sinne eben keine »Führungskraft«. Ist es nicht und will es aber auch gar nicht sein. Denn ihr Ideal ist das einer demokratischen und solidarischen Gruppe, die anders funktioniert und geführt wird, als es in der leistungsdominierten Welt der Arbeit der Fall ist. Und doch möchte sie mehr, als ihr das im Gremium gelingt und als ihr das Gremium es erlaubt, »klare Verabredungen treffen«. Was einem Abteilungs- oder Gruppenleiter, wenn nötig, qua Anweisung möglich wäre, steht ihr nicht zur Verfügung – und doch trägt sie die Verantwortung für die Professionalität und Effektivität der Betriebsratsarbeit und für das Erscheinungsbild des Gremiums nach außen. Es ist jedoch nicht so, dass sie nicht immer mal wieder versuchen würde, das eine oder andere Gremienmitglied auf das gemeinsame Ziel zu verpflichten: »Und da kann ich nur immer wieder mit dem einen oder anderen, also mit den Kollegen reden. Aber es kommt auch oft vor, dass man nach dem Gespräch die Tür aufmacht und man steht wieder draußen – und das war’s dann. Dann wird trotzdem wie zuvor weitergemacht.«

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Das führt dann irgendwann zu der selbstverstärkenden Spiralbewegung, dass sie diejenigen, die sich nicht gut in die Arbeit und Zusammenarbeit einbinden lassen, von sich aus in Ruhe und damit außen vor lässt und sich als Vorsitzende mehr und mehr auf die beschränkt, die die Betriebsratsarbeit verlässlich mittragen und sie bei ihrer Tätigkeit unterstützen: »Da kristallisiert sich für mich eben schon irgendwann heraus, wer diejenigen sind, die hier überwiegend die Arbeit tragen. Und das sind die, wo man denn immer auch aufpassen muss […], dass man nicht immer wieder nur auf die selben Leute zurückgreift, weil man weiß, auf die kann man sich verlassen, da läuft das schon. Sondern dass man immer auch guckt, wie kriegt man auch die anderen eingebunden.«

Das geschilderte Dilemma des Betriebsratsvorsitzes hängt nun aber nicht nur mit der fehlenden Macht zusammen, mit der diese Rolle strukturell ausgestattet ist und auch nicht nur mit der Fähigkeit der oder des jeweiligen Vorsitzenden, diesen Mangel mit persönlicher Autorität auszugleichen. Unter psychodynamischer Perspektive spielt in Gruppierungen, die über eine relativ diffuse Struktur und eine unklare Rahmung verfügen, die Ebene der Beziehungen und damit die sozio-emotionale Dynamik in der Gruppe eine ausgesprochen große Rolle. Auf einige Aspekte dieser »Tiefenstruktur« von Betriebsratsgremien soll im Folgenden eingegangen werden.

■ Psychodynamische Überlegungen zur Rolle der oder des Betriebsratsvorsitzenden als Führungskraft An erster Stelle stehen hier die unbewussten Gruppenprozesse, die einer der Pioniere der Gruppenanalyse, Wilfred R. Bion (1971), mit dem Konzept der »Grundannahmen« dem Verständnis zugänglich gemacht hat. Dass sich ein Gremium auf der manifesten Ebene dagegen wehrt, dass sein Vorsitzender oder seine Vorsitzende allzu sehr eine Führungsrolle einnimmt, heißt nämlich noch lange nicht, dass nicht doch auf der latenten (bzw. unbewussten)

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Ebene derartige Erwartungen in starkem Maße vorhanden sind. Bion hat dies als Dynamik zwischen der Ebene der bewussten »Arbeitsgruppe« (d. h. der Existenz eines strukturierten, effektiven »realitätstüchtigen« und damit im psychologischen Sinne »reifen« Teams) und der Ebene der »Grundannahmengruppe« (eines unbewussten psychischen »Zustands« der Gruppe) analysiert und beschrieben (siehe Tietel 2003, S. 83ff.). Befindet sich eine Gruppe – und so auch ein Betriebsratsgremium – beispielsweise unter dem Einfluss der »Grundannahme der Abhängigkeit«, erwartet sie von ihrem Vorsitzenden, dass dieser sie umfassend »versorgt«. Die Abhängigkeitsgruppe verhält sich Heltzel (1998, S. 12f.) zufolge unbewusst so, als sei es ihre primäre Aufgabe, vorrangig die Interessen und Bedürfnisse der Gruppenmitglieder, hier: der Gremienmitglieder, zu befriedigen. Dieses Phänomen ist Betriebsratsteams nicht fremd. Der oder die Vorsitzende soll dafür sorgen, dass sich die Mitglieder des Gremiums wohlfühlen und zufrieden sind – die eher realitätsorientierten Fragen, ob die Ziele klar, die Entscheidungsprozesse transparent, die Aufgaben sinnvoll verteilt und die Verantwortlichkeiten geregelt sind, spielen demgegenüber dann eine untergeordnete Rolle. Unter der »Grundannahme KampfFlucht«, der zweiten von Bion analysierten Grundannahme, teilen die Gremienmitglieder – trotz einer möglicherweise auf der bewussten Ebene stark ausgeprägten Forderung nach Gleichheit und Demokratie im Gremium – die unbewusste Vorstellung, dass es einen Gegner gibt, gegen den ihr Vorsitzender sie im betriebspolitischen Kampf kraft- und machtvoll anführen soll. Bezogen auf das soziale Feld von Organisationen formuliert Heltzel (1998, S. 13), dass bei Vorherrschaft der unbewussten Tendenz zur KampfFlucht-Gruppe die Mitglieder eines Teams »anstatt darüber nachzudenken, wie die Arbeit am besten zu organisieren ist, die meiste Zeit damit verbringen, um anstehende oder möglicherweise anstehende Veränderungen in der Organisation zu beklagen«. Damit schafft sich die Gruppe auf einer affektiven Ebene ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das sie identitäts- und gefühlsmäßig stabilisiert, was wiederum die beunruhigenden Veränderungen, die es eigentlich anzugehen gälte, besser ertragen lässt. Die dritte von Bion beschriebene Grundannahme, die »Grundannahme der Paarbildung« ist in ihrer Bedeutung für Betriebs-

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ratsgremien nicht so offensichtlich wie die beiden erstgenannten. Sie geht davon aus, dass sich eine Gruppe von der Existenz eines »Paares« eine Rettung in der Zukunft erhofft. Ein derartiges Paar kann beispielsweise eine latente Allianz zwischen dem oder der Betriebsratsvorsitzenden und dem Vorstandsvorsitzenden sein (eine Phantasie, die vielleicht zur emotionalen Attraktivität des Co-Management-Gedankens beiträgt), von deren »Verkehr« die »Rettung« des Betriebes erwartet wird. Die Paarbildungsgruppe wehrt unerträgliche Aspekte der gegenwärtigen schwierigen Realität dadurch ab, dass sie auf eine Art Erlösung in der Zukunft baut. Der Preis dieser hoffnungsvollen, aber illusionären Zukunftsausrichtung besteht Heltzel (1998, S. 13) zufolge allerdings darin, dass sie das Gremium davon abhält, die anstehenden Gegenwartsaufgaben wirklich und wirkungsvoll ins Auge zu fassen. Erfüllt der (oder die) Vorsitzende die aus den Grundannahmen resultierenden Erwartungen nicht, kann er oder sie unversehens zu einer enttäuschenden Figur werden und die Gruppe sucht sich aus ihren eigenen Reihen einen anderen informellen »Leiter«, von dem sie sich eher Versorgung, Führung oder Rettung erwartet – eine Hoffnung, der es natürlich sehr entgegenkommt, wenn sich ein Gremienmitglied offen oder untergründig als besserer Leiter oder »Anführer« anbietet. Diese Grundannahmendynamik, die in allen Gruppen mal mehr und mal weniger zum Zuge kommt und die Atmosphäre und Arbeitsfähigkeit des Gremiums nachhaltig beeinflussen kann, stellt an den Vorsitzenden die sozio-emotionale Anforderung, seinen Betriebsrat, auch wenn dieser sich zuweilen als ein recht chaotischer »Haufen« darstellt, immer wieder zusammenzuführen und zusammenzuhalten. Diese Aufgabe von Leitungskräften, stellvertretend für die Gruppe deren Widersprüche, Spannungen und Konflikte in sich aufzunehmen und auch auszuhalten, dafür zu sorgen, dass Nicht-Verbundenes verbunden und Nicht-Integriertes integriert wird, hat Liesel Hearst mit dem treffenden Begriff der »Holding-Together-Funktion« gefasst (siehe Heltzel 2005). Bion (1990) thematisiert mit dem Konzept des »Containment« etwas Ähnliches, betont hierbei jedoch stärker die »innere« Leistung der Führungsperson, die Fähigkeit, unverarbeitete – und damit unreflektierte – affektive Elemente wie Ängste, Konflikte, Ambiva-

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lenzen, Abneigungen und Neidgefühle in sich aufzunehmen und ein Stück weit stellvertretend für die Gruppe zu verarbeiten. Bion spricht hier auch vom »Entgiften«, was angesichts der giftigen oder gar vergifteten Atmosphäre in manchem Betriebsratsgremium als überaus sinnfällige Metapher erscheint. Es zeichnet eine Führungskraft aus, dass sie sich in diesem psychodynamischen Sinne »verwenden« (Tietel 2000) lassen kann. Lohmer (2000, S. 33) zufolge erleben Führungskräfte diese »Verwendung« – er selbst gebraucht den negativ konnotierten Begriff des »Benutztwerdens« – oft »widerstrebend und ärgerlich als ›Verkanntwerden‹«. Davon können nicht nur Führungskräfte der Linienorganisation, sondern durchaus auch BR-Vorsitzende ein Lied singen.

■ Vom Patriarchen zum »großen Bruder«: Betriebsratsvorsitzende zwischen Elternfigur und Geschwisterimago Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass auf der sozio-emotionalen Ebene zwei Achsen eine zentrale Rolle spielen: die Generationenschranke und die Differenz der Geschlechter. Den Anfang machen Gedanken zum Ort des Betriebsratsvorsitzenden auf der Generationenschranke: seine paradoxe Stellung zwischen Eltern- und Geschwisterfigur. Sowohl systemisch-psychologische (z. B. Haley 1980) als auch psychoanalytische Ansätze (z. B. Lohmer 2000) sehen auf der Ebene des subjektiven Erlebens, der Übertragungsbeziehung und latenter und impliziter Beziehungsmuster eine Analogie zwischen der Generationendifferenz in der Familie und der vertikalen beziehungsweise hierarchischen Status- oder Positionendifferenz in Organisationen. Das heißt nichts anderes, als dass sich in der Beziehung zwischen Leitungspersonen und Mitarbeitern mehr oder weniger ausgeprägt Aspekte des Eltern-Kind-Verhältnisses widerspiegeln. Vorgesetzte werden von ihren Mitarbeitern intrapsychisch als Elternrepräsentanzen erlebt, das heißt, dass im Kontakt mit ihnen Beziehungsmuster reproduziert werden, die aus vergangenen biografischen Epochen stammen. So taucht die Metapher

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des Vorstandes als »Vater des Unternehmens« selbst noch in den Interviews und Gesprächen mit Betriebsräten auf. Am latenten Elternbild von Führungspersonen partizipieren in gewissem Umfang auch Betriebsratsvorsitzende, und zwar nicht nur da, wo die Vorsitzenden vergangener Wahlperioden als alles beherrschende und kontrollierende Patriarchen und deren Umgang mit dem betriebsrätlichen Nachwuchs rückblickend als väterlich-larmoyante Haltung beschrieben werden: »Und auch, na ich sag mal, das Umgehen mit Frauen, das Umgehen mit jungen Leuten, das war alles teilweise so patriarchalisch und väterlich, so etwa: ›Mädchen wir machen das schon und kümmer dich man nicht drum‹.«

In den biografischen Schilderungen der einen oder anderen heutigen Spitzenkraft im Betriebsrat scheint zwischen den Zeilen immer wieder auf, dass ihre ehemaligen Vorsitzenden eine Art von väterlichem Förderer, zuweilen auch eine strenge, verbietende und strafende Vaterfigur gewesen sind. Vereinzelt werden frühere Betriebsratsvorsitzende als »mein politischer Ziehvater« bezeichnet. Auch wenn sich die heutigen Betriebsratsvorsitzenden der von uns untersuchten Betriebe von diesen, vom Alters- und Erfahrungsunterschied und vor allem auch von ihrer inszenierten Autorität her »grauen Eminenzen« unterscheiden (ein BR-Vorsitzender betont ausdrücklich, dass er nicht so eine »Vaterfigur« wie seine Vorgänger sein möchte), kommt ihnen aufgrund ihrer herausgehobenen und verantwortlichen Stellung im Betrieb und in gewissem Ausmaß auch als Vorsitzende des Gremiums auf psychodynamischer Ebene im Sinne der Generations-Positions-Schranke nach wie vor ein ganzes Stück weit elterliche Autorität zu – angesichts der weiblichen Vorsitzenden unseres Samples mittlerweile auch mütterliche Autorität. So empfindet sich die BR-Vorsitzende eines ITBetriebs zuweilen als »Mutter des Gremiums« und ihre Kollegin bei einem Hightech-Metallunternehmen äußert gar, dass sie sich manchmal wie die »Glucke des ganzen Betriebs« vorkommt. Während sich im Führungsverhältnis die Generationendifferenz spiegelt, lehnt sich die Gestalt des Primus inter Pares, des Ersten in einer Gruppe von Gleichen, an die soziale Form der Geschwistergruppe an. Unter Geschwistern existiert, wie Wellendorf

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(1995) luzide herausgearbeitet hat, kein prinzipielles Über und Unter, ein Altersunterschied zwar, aber kein elementarer Abstand wie zwischen den Generationen; das grundlegende Prinzip ist hier das der Reihung, die eigene Verortung hängt wesentlich ab vom Platz in der Geschwisterreihe. Zwischen Geschwistern kann es Wellendorf (1995, S. 305) zufolge zu etwas kommen, was Freud den »Narzissmus der kleinen Differenz« genannt hat, ein Kampf um das, was einen bei aller Gemeinsamkeit doch hervorhebt und vom anderen unterscheidet. Auf der anderen Seite stehen dem – und dieses Spannungsfeld macht die Beziehungen zwischen Geschwistern so sensibel und krisenanfällig – tiefe »Verschmelzungswünsche« gegenüber, eine große Sehnsucht nach Einheit und Gemeinsamkeit, was sich in vielen Gremien in dem Wunsch, »ein Gremium« zu sein, Ausdruck verschafft. Vom Alter, von ihrem Selbstverständnis und vom konkreten Beziehungsmodus her sind die heutigen Betriebsratsvorsitzenden (und ihre Stellvertreter und Stellvertreterinnen) in den von uns untersuchten Betrieben durchgängig tatsächlich eher große Brüder und Schwestern als Elternfiguren (die auch da, wo sie vom Lebensalter her »kleine« Schwestern sind, nichtsdestotrotz ihre Geschwisterhorde gut im Griff haben können!). Als Führungsperson Anteil an der Generationendifferenz zu haben und als Erster in einer Reihe von Gleichen eingeordnet in die Geschwistergruppe zu sein, stellt psychodynamisch gesehen für alle Beteiligten eine durchaus komplizierte Anforderung dar. Diese Struktur ist psychologisch gesehen geradezu prädestiniert für die Erzeugung von Geschwisterneid, ein Phänomen, das in Betriebsratsgremien eine große Rolle spielt. Die Gremienmitglieder müssen damit umgehen, dass eine oder einer aus ihrer Mitte, noch dazu ein von ihnen selbst Ausgewählter, in eine bevorrechtigte Position kommt: Vorsitzender im Gremium, Verhandlungspartner der Geschäftsleitung, Zentralfigur in der betrieblichen Öffentlichkeit und häufig selbst noch Ansprechpartner der Gewerkschaft. Wird jemand aus ihrer Mitte neu zum Vorsitzenden gewählt, wechselt er quasi aus der Geschwisterposition partiell in eine elterliche Position über, was (wie man es als Berater aus Teams oder Arbeitsgruppen gut kennt) für alle Beteiligten keine leicht zu bewältigende Aufgabe ist. Dies verschärft sich dann, wenn, wie es

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immer wieder der Fall ist, der neue Vorsitzende von seinem Vorgänger aus der Gruppe der potenziellen Nachfolger auserwählt, den anderen (Geschwistern) also vorgezogen, von diesem sozusagen inthronisiert wurde. Gruppendynamisch gesehen ist er in so einem Fall so etwas wie der »Thronfolger« oder – etwas tiefer gehängt – der »Hoferbe«, mit allen Erscheinungen, die das mit sich bringt. Auch dies ist ein ausgesprochen exquisites Thema für Geschwisterneid, wobei in diesem Fall die Betriebsratsgeschwister nicht nur in ihrer Phantasie neidisch sein können, sondern einen realen Grund für ihren Neid besitzen.

■ Eine These zu Geschlechterrollen und zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Betriebsrat Hinsichtlich des Geschlechts beschränke ich mich im vorliegenden Text auf einige Überlegungen zu den Geschlechterrollen im Kontext des Betriebsratshandelns, wobei die Geschlechterrollen nicht im Sinne einer differenzierten wissenschaftlichen Rollendefinition aufgefasst werden, sondern im Sinne der Vorstellungen und Phantasien über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, wie sie traditionell in unserer Kultur (letztlich als Geschlechterklischees) wurzeln, meines Erachtens jedoch (nicht nur) in Organisationen auf der Ebene manifester Rollenzuschreibungen, latenter Rollenmuster und unbewusster Übertragungen nach wie vor eine große faktische Bedeutung und narrative Wirkung besitzen. Dies deutet sich beispielsweise an, wenn die BR-Vorsitzende eines ITDienstleisters die folgende Szene schildert: »Natürlich gab’s manchmal auch Situationen, die ein bisschen schwierig waren. Also sozusagen der Geschäftsleiter zog mit seiner weiblichen Personalabteilung ein und ich zog mit meinen männlichen Betriebsräten ein. Das ist für Männer nicht immer nur komisch. Also ich würde behaupten, sie haben alle dazu gestanden, also ich war nicht umstritten. Und trotzdem, denk ich, ist das für sie manchmal nicht leicht auszuhalten.«

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Geht man heuristisch von einem Koordinatensystem aus und definiert die horizontale Achse als Generationenschranke, die – wie im Abschnitt zuvor beschrieben – ein elterliches Oben von einem kindlich-adoleszenten Unten trennt, und die vertikale Achse als Trennungslinie der Geschlechterrollen (Frau/weiblich – Mann/ männlich), so gewinnt man die folgenden vier Quadranten (Abbildung 1): weiblich/ mütterlich

männlich/ väterlich Generationenschranke

Position der Tochter

Position des Sohns

Geschlechterrolle

Abbildung 1: Generationenschranken und Geschlechterrollen

Meiner Ansicht nach teilen sich Management und Betriebsrat zunächst einmal die oberen beiden Quadranten. Ich gehe davon aus, dass das Management auf der elterlichen Ebene angesiedelt ist und – wie oben bereits ausgeführt – tendenziell männlich-konnotierte Funktionen ausübt und entsprechende Bilder und Vorstellungen evoziert und besetzt (der Geschäftsführer zieht hinaus ins feindliche Leben und stellt sich den Märkten und der Konkurrenz und trifft sachlich-funktionale, nicht selten schmerzhafte und unliebsame Entscheidungen). Der Betriebsrat in seiner Funktion als Co-Manager, oder, wie Kühn, Kluba und Wörner (2003, S. 76) ihn bezeichnen, als »arbeitnehmerorientierter Standortmanager«, hat ein Stück weit teil am männlich-elterlichen Quadranten, besetzt aber auch (und inzwischen nicht selten ziemlich allein) den weiblich-elterlichen Quadranten der sozialen und persönlichen Fürsorge. Mein Untersuchungsmaterial legt nahe, dass dem Betriebsrat diese mütterlich-sorgende Qualität nicht nur gegenüber den Beschäftigten zukommt, sondern die Betriebsratsvorsitzenden im betriebspolitischen Konflikt- und Aushandlungsgeschehen in deutlich stärkerem Maße als die Geschäftsleitungen auch für die Aufrechterhaltung und Pflege eines produktiven und atmosphä-

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risch erträglichen »Verhandlungssystems« (Kunkel 2004) mit der Geschäftsleitung zuständig sind – sprich: auch hier für die (eher weiblich-konnotierte) Beziehungsarbeit. Unterhalb der Generationen- respektive Positions- und Hierarchieschranke gibt es zwei weitere Quadranten: den Ort der Söhne und Töchter sozusagen. Hier besetzt die Institution Betriebsrat psychologisch gesehen ein Stück weit – und nicht wenige Betriebsräte identifizieren sich in ihrer Person in starkem Maße mit diesem Part – die Position des aufsässigen Sohnes (oder der aufsässigen Tochter), der (die) mit dem »Alten« als Repräsentanten des Kapitals und der Macht ringt (gegen den Vater rebelliert bzw. psychodynamisch formuliert: mit diesem narzisstisch oder ödipal rivalisiert). Hier stoßen wir noch einmal auf die hinsichtlich des Betriebsrats charakteristische Doppelstruktur, sowohl oben mitzumanagen als auch gleichzeitig von unten dagegen zu opponieren – eine Doppelstruktur, die in vielen Gremien als Konflikt um die Frage der (kooperativen) Nähe oder (kämpferischen) Distanz zur Geschäftsleitung ausgetragen, um nicht zu sagen: ausgefochten wird. Weibliche Betriebsräte – und damit möchte ich eine These bezüglich des Unterschieds von Männern und Frauen in Betriebsräten zur Diskussion stellen – sind tendenziell eher als ihre männlichen Kollegen in der Lage, alle vier Quadranten zu besetzen: − den männlich-elterlichen, weil auch sie »Co-Management« betreiben (und in den von uns untersuchten Betrieben teilweise strukturierter, zielstrebiger und organisierter als ihre männliche Kollegen); − den weiblich-elterlichen, weil sie nicht nur die prinzipiell mütterlichen Funktionen der Institution Betriebsrat übernehmen, sondern diese, stärker als ihre männlichen Kollegen, mit Empathie und »weiblichen Interaktionsformen« ausfüllen. Ihnen gelingt es meines Erachtens besser als ihren männlichen Kollegen, sich angesichts der vielfältigen, emotional belastenden sozialen und persönlichen Probleme im Betrieb als »Container« anzubieten. Hinzu kommt, dass sie – so mein Eindruck – eher für Beziehungsarbeit zuständig sind (bzw. als dafür zuständig gehalten werden) als ihre männlichen Kollegen und auch im Gremium mütterliche Projektionen und Übertragungen auf sich ziehen;

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− den Sohn-Quadranten, insofern sie sich mit der adoleszentrivalisierenden Position identifizieren, die den Vater im betriebspolitischen Kampf wenn schon nicht stürzen, dann aber zumindest »ans Bein pinkeln« und über ihn triumphieren will; − und last but not least den töchterlichen Quadranten, weil sie gegenüber Geschäftsführungen auch in das kulturell nach wie vor verbreitete Mädchenschema (älterer Mann – junges Mädchen) schlüpfen können: mal in Gestalt des kleinen und hilflosen Mädchens, das gerne geholfen bekommen möchte; mal in Gestalt des kokett-verführerischen Mädchens, das den Vater mit kessem Augenaufschlag zu betören versucht; dann in Gestalt des unschuldigen Mädchens, dem man einfach nicht böse sein kann; und schließlich in Gestalt des kleinen dummen Mädchens, das dieses Schema als »Waffe« in der Aushandlung oder als Instrument der Informationsbeschaffung einsetzt. So zum Beispiel die hochprofessionell arbeitende stellvertretende BR-Vorsitzende eines Großbetriebs der chemischen Industrie, die – mit einem Hauch von Ironie – feststellt: »Wenn ich ein bisschen mehr erfahren will, dann frage ich so, wie ein kleines Kind fragt. Also das tu ich auch, dass ich damit spiele. Und dann ist es so, weil ich es ja mit Männern zu tun habe, die erklären mir das dann auch wie für ein kleines Kind. Und ich kann das gut, dass ich dann sage: Hab ich das richtig verstanden? Und ich hab da natürlich nicht so das Problem mit, ich gebe mir damit keine Blöße, denn ich bin ja sowieso nur die Frau. Ein Mann hat da ja eher ein Problem.«

Männliche Betriebsräte, so meine vorläufige These, haben es – sowohl von ihrem eigenen (latenten) geschlechtlichen Selbstbild her als auch von der geschlechterrollenspezifischen Zuschreibung durch Dritte – schwerer als Frauen, die beiden von mir als weiblich bezeichneten Quadranten (und sei es strategisch oder spielerisch) zu besetzen (vor allem – wie die obige Äußerung der Betriebsrätin nahe legt – den mädchenhaften). Vielleicht kränkt es sie stärker als ihre Kolleginnen, dass sie – vereinfacht gesagt – als Betriebsrat häufig eher Betriebsmutter (oder vielleicht eine Art moderner fürsorglicher und »feminin-weicher« Vater) sind (oder sein sollen) als ein harter Managementvater, während es Frauen kulturell einfacher haben, auch männliche Rollenbilder positiv zu besetzen.

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Zugegeben: Mich befällt selbst immer wieder ein Unbehagen angesichts dieser klischeehaften Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit – und doch habe ich den Eindruck, dass diese Geschlechterrollentypik im Untersuchungsmaterial eine große empirische Evidenz hat. Eine Relektüre und Interpretation dieser kulturellen Rollenbilder und -phantasien auf dem Hintergrund einer entfalteten Gender-Theorie steht jedoch noch aus. Geht man nicht, wie ich es hier mache, von kulturellen und sozialen Rollenzuschreibungen aus, sondern von dem einzelnen Betriebsrat als Mann oder Frau, dann müsste man sich, wie es die Psychoanalyse tut, damit beschäftigen, wie sich der oder die Einzelne – jenseits seines oder ihres biologischen oder sozialen Geschlechts – (unbewusst) geschlechtlich identifiziert. Zu fragen wäre dann auch, wie die Identifizierung mit der sozialen Geschlechterrolle mit der persönlichen Geschlechtsidentität der einzelnen Betriebsrätinnen und Betriebsräte zusammenhängt.

■ Betriebsratsvorsitzende als Grenzgänger Es sollte durch den Aufweis des widersprüchlichen, paradoxen und teilweise gar dilemmatischen Charakters der Rolle von Betriebsratsvorsitzenden mitnichten nahegelegt werden, dass es sinnvoller wäre, dieses Spannungsfeld aufzulösen und den Betriebsratsvorsitzenden im formalen Sinne in die Position eines betrieblichen Vorgesetzten zu erheben, beispielsweise als »Abteilungsleiter« des Gremiums oder in Form einer von der Eingebundenheit in ein Gremium losgelösten Art von Arbeitsdirektor auf Arbeitnehmerseite. Die geschilderten Paradoxien sind und bleiben der Interessenvertretung da, wo sie wie in Deutschland und in Skandinavien als Mitbestimmung (und nicht nur als Gegenmacht) gedacht wird, inhärent. Hier sind Betriebsratsvorsitzende in doppelter Weise Führungskraft: Sie sind »Anführer« der Belegschaft und des Gremiums und sie sind Führungskräfte in der betrieblichen Hierarchie. Insofern resultiert die paradoxe Rolle des Betriebsratsvorsitzenden letztlich aus dem System Mitbestimmung selbst. Doch aus dieser paradoxen Führungsrolle ergeben sich nicht

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nur die geschilderten Problemfelder, sie ist auch die Basis für die Potenzialität und Kreativität von Betriebsratsgremien, die sich nicht zuletzt von der unauflöslichen Spannung zwischen Demokratie und Hierarchie speisen. Denn mehr als den anderen Gremienmitgliedern kommt Betriebsratsvorsitzenden die Aufgabe zu, zwei unterschiedliche, ja widersprüchliche Strukturen zu verbinden und sie miteinander kommunikationsfähig zu halten: zum einen die hierarchische Struktur des Betriebs mit ihren Über- und Unterordnungen sowie ihren Top-down-Entscheidungs- und Anweisungsverhältnissen und zum anderen die demokratische Struktur der Willensbildung und Entscheidungsfindung im Inneren eines gleichberechtigten Gremiums – ein utopischer Vorgriff auf die Idee der »Anerkennung des Arbeitsbürgers im demokratischen Betrieb« (Müller-Jentsch 1994, S. 659; siehe auch Voswinkel 2000, S. 43). Durch seinen Ort auf der Grenze des Gremiums, als Schaltund Umschlagsstelle zwischen Innen und Außen, ist der Betriebsratsvorsitzende ein Grenzgänger (Tietel 2006). Die Chance des Grenzgängers besteht Wellendorf (1996, S. 86) zufolge darin, die Differenzen zwischen den verschiedenen betrieblichen Akteuren, Strukturen und Kulturen in sich wahrzunehmen und zu akzeptieren – auch wenn der Grenzgänger, so er verschiedene Perspektiven einzunehmen in der Lage ist und sich mit verschiedenen Interessen und Perspektiven identifizieren kann, sich mit den Begrenzungen seiner Herkunftsidentität konfrontiert sieht und ein Stück weit seinen klaren Standpunkt und damit seinen gesicherten organisatorischen Halt verliert. Betriebsratsvorsitz bedeutet dann vor allem, die Grenzen zwischen den verschiedenen betrieblichen Subsystemen und Subkulturen (Tietel 2003, S. 39ff.) zu »managen«, das heißt die strukturell gegebenen triadischen Beziehungen auch triangulär zu gestalten und um einen eigenen – dritten – Ort zu ringen: gegenüber der Geschäftsleitung, mit der man sowohl vertrauensvoll zusammenarbeiten kann als auch differente Interessen (konflikthaft) aushandeln muss; gegenüber den Beschäftigten, zu denen die Beziehungen von jeher vielschichtiger und ambivalenter sind, als dies das Stellvertretungsverhältnis unterstellt; gegenüber den Gewerkschaften, wo es darum gehen wird, im Zuge des Bedeutungszuwachses des Betriebsrats und des Bedeutungs-

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verlustes der Gewerkschaftsbewegung die eigenen politischen Wurzeln nicht zu kappen – und nicht zuletzt auch gegenüber seinen Kolleginnen und Kollegen im Gremium, wo es darum geht, dass Vorsitzende ihre widersprüchliche Rolle als Erste unter Gleichen in einem demokratischen und solidarischen Gremium und als Führungsperson dieses Gremiums verstehen, annehmen und handhaben lernen. Die triadische Anforderung, zwischen den verschiedenen Interessen-, Erwartungs- und Anforderungsbündeln »den Winkel zu halten« (Bauriedl 1994, S. 235f.), den von allen Seiten auf einen einströmenden Verführungen und Drohungen einseitiger Identifizierungen standhalten zu können und eine innere Beweglichkeit im Umgang mit heterogenen und häufig widerstreitenden Bestrebungen hinzubekommen, setzt im psychischen Binnenraum von BR-Vorsitzenden etwas voraus, was Honneth (2000, S. 1106f.) die »Entschränkung der inneren Dialogfähigkeit« genannt hat, das heißt die Fähigkeit von Personen, ihr »Potential an innerer Dialogfähigkeit«, an »kommunikativer Verflüssigung« ihrer Selbstbeziehung dadurch zur Entfaltung zu bringen, dass sie »möglichst vielen Stimmen der unterschiedlichsten Interaktionsbeziehungen in […] [ihrem] eigenen Inneren Gehör« verschaffen. Der Betriebsratsvorsitzende als Grenzgänger kann in seiner Zwischenposition versuchen, die Spannung auszuhalten, die diejenigen, zwischen denen er sich befindet, auszuhalten nicht bereit – oder (noch) nicht in der Lage sind. Er kann in seiner Beziehung zu den verschiedenen Seiten »einen Raum schaffen, in dem all das, was jenseits der Grenzen des Tolerierbaren und Erträglichen zu liegen scheint, seinen Platz finden und gehalten werden kann« (Wellendorf 1996, S. 80). Er hat damit in den verschiedenen betrieblichen Subsystemen und Subkulturen sowohl eine desintegrierende als auch eine integrierende Wirkung: Er desintegriert, indem er die Andersheit im jeweiligen Kontext repräsentiert. Und er integriert, indem er zeigt, dass das scheinbar Unvereinbare doch vereinbar, dass die scheinbar schlecht auszuhaltende Spannung doch gehalten und ausgehalten werden kann. Aus der Grenzgängerrolle der Betriebsratsvorsitzenden zwischen den hierarchischen und funktionalen Substrukturen des Betriebs kann dann ein organisatorischer Lernprozess erwachsen, wenn sie in der Lage sind, ihren

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Lernprozess den durch sie verbundenen Akteuren zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne beinhaltet seine Position die Chance, zwischen den verschiedenen Kulturen und organisationellen Subsystemen »Übersetzungsarbeit« zu leisten und da, wo diese nicht oder unzureichend bestehen, Verbindungen herzustellen. Für diese ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe, nicht nur die eigene Rolle als paradoxe Führungskraft zu managen, sondern in der Rolle als Grenzgänger im Dienste der Entwicklung und Stabilisierung einer produktiven betrieblichen Aushandlungskultur komplexes Grenzmanagement zu betreiben, benötigen Betriebsratsvorsitzende, die dies alles ja nicht grundständig »gelernt« haben, kontinuierliche professionelle Unterstützung in Gestalt entsprechender (gewerkschaftlicher) Bildungsveranstaltungen und eines speziell auf ihre Rolle als arbeitnehmerorientierte Manager zugeschnittenen Supervisions- und Coachingsangebots. Das von mir an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen durchgeführte Teamcoaching bietet Betriebsrats- und Personalratsvorsitzenden sowie Vorsitzenden von Mitarbeitervertretungen (aus dem kirchlichen Bereich) einen geschützten Raum, im Kreis von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen und unter Begleitung durch einen Berater über kritische Situationen in der Interessenvertretung und ihre spezifischen Erfahrungen in der Vorsitzendenrolle zu reflektieren, eigene »blinde Flecken« und Verstrickungen zu erkennen, »Misserfolge« ohne Gesichtsverlust zu analysieren, Lösungsansätze zu entwickeln und neue Denkanstöße zu gewinnen.

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■ Heike Westenberger-Breuer und Dietlef Breuer

Zur Handlungskompetenz des Betriebsrats – ein Beispiel aus der Beratungspraxis

Wesentlich für den Bestand und die Entwicklung von Demokratien westlicher Prägung ist die Frage, inwieweit betriebliche Veränderungsprozesse gemeinschaftlich von den Sozialpartnern gestaltet werden können. Die sich beschleunigende Dynamik der Globalisierung und Technisierung produziert zunehmend intransparente und schwer beeinflussbare Entscheidungsabläufe, die sich sowohl auf die Strategien der Unternehmen als auch auf die Organisation, Inhalte und Ziele der Arbeit beziehen. Soll die Arbeitswelt ein rechtlich und demokratisch legitimierter Teil der Gesellschaft sein, so müssen die Arbeitnehmer an den Entscheidungen, die die Arbeitswelt betreffen, mitwirken. Für Unternehmen ist die Beteiligung der Arbeitnehmer auch von ökonomischer Bedeutung. Setzt der Arbeitgeber Innovationen einseitig durch, erzeugt er ein Klima des Misstrauens. Auch notwendige Innovationen werden ohne die Partizipation von Arbeitnehmern als interessensgeleitete Willkür erlebt und deswegen abgelehnt, was beispielsweise die Einführung neuer Techniken erschwert oder sogar verhindern kann. Über die Beteiligung an Veränderungsprozessen können dagegen Mitarbeiter nachhaltig gewonnen werden, diese zu akzeptieren und engagiert mitzugestalten. Eine Schlüsselrolle bei der Partizipation von Arbeitnehmern kommt dem Betriebsrat zu. Der Stellenwert der Betriebsräte wird in dem Maße weiter wachsen, als die raschen Veränderungen schnelle, flexible und differenzierte Lösungen erforderlich machen. Eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe unter Beteiligung des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, des Instituts für Arbeitswissenschaft der Gesamthochschule Kassel und der

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Deutschen Angestellten Akademie, Zweigstelle Frankfurt, hat in einem Workshop untersucht, wie Betriebsräte ihre Aufgaben bestmöglich erfüllen können und durch welche Faktoren im Rahmen ihrer eigenen Arbeitsweise sie dabei behindert werden. Statt auf Methoden wie Befragungen, Interviews mit Beteiligten und Experten oder die Ermittlung von Kennzahlen zurückzugreifen (vgl. Bergmann 2002; Kotthoff 1994; Tietel 2001), wird das Transkript eines per Tonband aufgezeichneten Arbeitstreffen eines Betriebsrats zum Gegenstand einer interdisziplinären Analyse.

■ Qualifizierung von Betriebsräten Betriebsräte haben nach dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) Anspruch auf eine Qualifizierung, die für ihre Tätigkeit notwendig ist (§ 37(6) BetrVG), wie zum Beispiel bei der Mitbestimmung zur Einführung neuer Technik, den Veränderungen der Organisationsstrukturen (§ 87 BetrVG) oder der Mitwirkung bei personellen Einzelmaßnahmen (§ 99 BetrVG). Neben der Vermittlung von rechtlichem und zum Beispiel technischem Fachwissen erlaubt die Rechtsprechung auch Beratungen, die die Umsetzung dieses Fachwissens in praktisches Handeln ermöglichen sollen. Zumeist versuchen Berater und Gremium in der Eröffnungsstunde eines Schulungs- und Beratungsprozesses alle relevanten Aspekte einer Fragestellung zur Sprache zu bringen, wie beispielsweise Erfahrungen mit dem Arbeitgeber, Erwartungen der Belegschaft, unterschiedliche Meinungen im Gremium, Einschätzung der eigenen Kompetenz und Durchsetzungsstärke, Hoffnungen und Befürchtungen in Bezug auf geplante Veränderungen und anderes mehr. Gleichzeitig werden eine erste Bewertung der Gesamtsituation und Überlegungen zur Perspektive entwickelt. Eine solche Anfangssituation erscheint besonders geeignet, die Gremiendynamik zu erforschen. Transkribiert wird die Beratung eines – erst seit Kurzem zusammenarbeitenden – Betriebratsgremiums, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Niederlassung eines deutschlandweit tätigen Handelsunternehmens vertritt. Ein Rechtsberater und die

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Betriebsratsmitglieder gaben die Erlaubnis, ihr Treffen aufzuzeichnen, als sie zum ersten Mal anlässlich von Fragen und Problemen in bezug auf die Mitwirkung bei der Einstellung und der tariflichen Eingruppierung neuer Mitarbeiter im Rahmen einer mehrtägigen Fortbildung zusammen kamen. Das Beratungsgespräch dauerte etwa eineinhalb Stunden. Das Unternehmen befindet sich wirtschaftlich in einer schwierigen Situation, weshalb es eine restriktive Personalpolitik betreibt, in der die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen. Diese objektive Situation ist als Auslöser für Angst und Verunsicherung bei den Betriebsratsmitgliedern zu berücksichtigen, obwohl sie sich selbst zu diesem Zusammenhang an keiner Stelle im Transkript äußern.1 Ausgewertet worden ist das Transkript von einem Industriesoziologen, einer Fachanwältin für Arbeitsrecht, einer Arbeitswissenschaftlerin, einem Pädagogen, einem Gruppenanalytiker und einer Psychoanalytikerin.2 Alle Interpretinnen und Interpreten haben ihre fachspezifischen Kommentare unabhängig voneinander schriftlich abgegeben. Ihre Interpretationen beziehen sich auf die Art des Umgangs der Betriebsratsmitglieder mit ihrer Aufgabe, insbesondere auf die Mitwirkung bei Einstellung und Festsetzung der Vergütung, der Qualität der Beratung und der Interaktion zwischen Berater und Betriebsratsmitgliedern. Im Folgenden soll möglichst anschaulich beschrieben werden, was die Kommentare im Einzelnen beinhalten und an welchen Punkten es Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede gibt, um die Qualität der Arbeit des Gremiums und die der Beratung konkret zu vermitteln. Dem Transkript ist zu entnehmen, dass eine Rechtsberatung aufgrund von Problemen bei Neueinstellungen und Fragen der Eingruppierung gesucht wurde. Die Betriebsratsmitglieder schildern dem Berater, dass sie ihr Mitwirkungsrecht bei Einstellungen nur unzureichend wahrnehmen können, weil der Vorgesetzte erforderliche Unterlagen nicht rechtzeitig, unvollständig oder gar nicht zur Verfügung stellt. So äußert die stellvertretende Vorsitzende: 1 Wir danken Frau Sandra Schubert für die Transkription. 2 Wir danken Herrn Prof. Dr. Joachim Bergmann, Frau Silvia Mittländer, Frau Dipl.-Soz. Christiane Potzner und Herrn Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl.

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»Uns stört eigentlich, dass wir immer eigentlich keine Zeit haben, darüber zu entscheiden. Wir müssen es immer in der Betriebsratsitzung machen, wir machen’s auch, weil wir ja so nett sind. Ist aber eigentlich gegen das Gesetz, weil es nicht auf der Tagesordnung steht.«

Eine Computerauswertung des Transkripts mit Hilfe eines Codesystems durch die Arbeitswissenschaftlerin zeigt, dass im Gremium Probleme angesprochen werden, die entsprechend einer bundesweiten repräsentativen Umfrage von Betriebsräten aus 350 Betrieben (Hertwig u. Busch 2003) als typisch gelten können: Arbeitsdruck, Zeitmangel bei Entscheidungsabläufen und der Bedarf an Schulung und Wissensvermittlung. Darüber hinaus wird wiederholt die mangelnde Akzeptanz des Betriebsrats bei der Geschäftsleitung und die fehlende Unterstützung durch die Mitarbeiter beklagt. Wiederum die stellvertretende Vorsitzende: »[Die Geschäftsführerin] hat ja die Unterlagen nachgereicht, hat aber erst mal unten rumgedröhnt, wenn der Betriebsrat nicht will, mach ich’s halt so. Jo, dann hat halt wieder jeder über den Betriebsrat gelacht und haha.«

Die Auszählung der Computerauswertung zeigt, dass der Rechtsberater verschiedene »Tipps« zur Vorgehensweise und Stärkung der Handlungskompetenz gibt und juristisches Wissen vermittelt: »[Habt] ihr jetzt mal ganz offiziell auf den 99 Absatz 3 Betriebsverfassungsgesetz hingewiesen? Das mit dem Hinweis, dass da eine Woche vor einer Einstellung die Mitteilung ergehen muss, dass der Mitarbeiter eingestellt wird, auf welchen Arbeitsplatz er eingestellt wird, dass die Stelle ausgeschrieben wurde vorher.«

Dem Transkript ist weiterhin zu entnehmen, dass fast ausschließlich zwei Mitglieder des fünfköpfigen Gremiums am Gespräch aktiv teilnehmen, nämlich der Vorsitzende und die stellvertretende Vorsitzende, wobei Letztere am häufigsten das Wort ergreift. Die Kommentatoren stimmen hinsichtlich des dokumentierten Geschehens in wesentlichen Punkten überein: Die Betriebsratsmitglieder erscheinen hilflos, erleben sich ohnmächtig, sind wenig durchsetzungsfähig und zeigen sich unzureichend informiert, bezüglich der Bestimmungen zu Beteiligungs- und Mitbestimmungs-

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rechten als auch der rechtlichen Regelungen bei der Einstellung und Eingruppierung oder der Regelungen, die in ihrem Betrieb angewandt werden. Sie haben deshalb erhebliche Probleme, systematisch Lösungsschritte zu erarbeiten, und nehmen Vorschläge des Beraters nicht an. Das Vorgehen des Beraters im Umgangs mit dem Gremium wird allerdings auch kritisiert. Die Kommentatoren entwickeln entsprechend ihrer fachspezifischem Sichtweise unterschiedliche Erklärungen für diese schwierige Situation.

■ Die Sichtweise des Industriesoziologen Dem Industriesoziologen zufolge kann der Betriebsrat schon aufgrund seiner mangelnden Sachkenntnis leicht ins betriebliche Abseits geschoben werden. Darüber hinaus falle es den Gremiumsmitgliedern schwer, eine überzeugende betriebliche Interessensvertretung zu entwickeln, weil sie sich offenbar keine Vorstellungen über die Handlungsstrategie der Betriebsleitung machten. Die Unternehmensleitung erscheine als entrückte höhere Instanz, über deren Strategie man anscheinend nichts Genaues weiß und deren ausführendes Organ der Geschäftsführer des Betriebes ist. Schon allein der Gedanke, mit dem Gang zum Arbeitsgericht zu drohen, bereite den Betriebsratsmitgliedern Angst und Unbehagen. Die stellvertretende Vorsitzende, die in dieser Hinsicht mutiger erscheine, erfahre nicht genügend Unterstützung durch die anderen Mitglieder des Gremiums, berücksichtige aber auch ihrerseits nicht ausreichend das Problem des mangelnden Rückhalts in der Belegschaft. Der Industriesoziologe kommt zu dem Schluss, dass der Betriebsrat entsprechend der Typologie von Kotthoff (1981) Züge des »ignorierten« wie auch des »isolierten« Betriebsrats trägt. Der Berater versuche, der Unkenntnis mit Informationen abzuhelfen und wolle dem Gremium Mut machen, Rechte durchzusetzen. Es sei jedoch nicht erkennbar, dass er eine zureichend klare Vorstellung von der spezifisch labilen Situation des Betriebsrats hat – eingeklemmt zwischen einem Chef, der ihn ignoriere und einer pas-

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siven und manipulierbaren Belegschaft – und er entwickele keine konkreten Handlungsmöglichkeiten.

■ Die Sichtweise der Fachanwältin für Arbeitsrecht Die Fachanwältin für Arbeitsrecht fängt bei ihrer Einschätzung mit dem Ende der Beratung an: Alle Beteiligten äußerten sich zufrieden, alle wesentlichen Punkte seien berührt worden, und das Gespräch werde als abgerundet empfunden. Diese positive Bewertung hat die Juristin irritiert. Der § 99, der die personellen Einzelmaßnahmen regelt, sei juristisch ein schwieriges Thema und dem Gremium seien, an den Diskussionsbeiträgen erkennbar, die Unterschiede zwischen zum Beispiel Einstellung und Eingruppierung oder kollektivem und individuellem Arbeitsrecht nicht klar. Der Berater wisse zwar Bescheid, was das Juristische betrifft, und das Gremium kenne nach dem Gespräch ein paar Begriffe, aber es bliebe völlig unklar, was der Betriebsrat eigentlich will. Dem Berater sei es nicht gelungen, herauszuarbeiten, wo »eigentlich der Schuh drückt«. Das Gremium sei unstrukturiert und der Berater mache von sich aus die verschiedenen juristischen und politischen Handlungsmöglichkeiten nicht deutlich. Es sei zwar für den Berater ein »Sprung ins kalte Wasser« gewesen, er habe aber versäumt, durch gezielte Fragen die Probleme Stück für Stück aufzuzeigen. Wenn sie sich in die Lage des Beraters versetze, wäre für sie alles offen geblieben, weil sie nicht gewusst hätte, ob sie etwas machen soll oder ob der Betriebsrat so »weiterwursteln will«.

■ Die Sichtweise der Arbeitswissenschaftlerin Die Arbeitswissenschaftlerin betont wie der Industriesoziologe das Problem der unzureichenden Sachkenntnis der Gremiumsmitglieder, stellt aber gleichermaßen heraus, dass Defizite bei der Sozial- und Handlungskompetenz der Entwicklung von Lösungsstrategien entgegenstehen. Die Betriebsratsmitglieder seien

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derart überfordert, dass auch Lösungsvorschläge des juristischen Beraters nicht aufgenommen werden können. Dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber nach § 2 (1) BetrVG nicht stattfinde, sei aber offenbar auch durch die Organisation im Unternehmen bedingt: Kommunikation und Kooperation im Unternehmen seien ungenügend gestaltet, der Führungsstil erscheine nicht partizipativ orientiert und somit verbesserungsbedürftig. Es werde von mangelnder Kooperation und Kommunikation berichtet, was zeige, dass die Unternehmensleitung nicht ausreichend für Transparenz im Gesamtunternehmen sorge. Außerdem herrsche ein hoher Zeitdruck in der Arbeitsorganisation vor, der sich auch in der Betriebsratsarbeit niederschlage. Der Betriebsrat verfolge seine Interessen gegenüber dem Geschäftsführer nicht konsequent, unterwerfe sich dem Gegebenen, bzw. finde sich damit ab und werde von daher auch von der Belegschaft nicht ernst genommen. Eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Betriebsratsmitgliedern und dem Geschäftsführer setzt nach Ansicht der Arbeitswissenschaftlerin voraus, dass die Mitgestaltungsmöglichkeiten im Betrieb und Unternehmen erweitert werden und eine Qualifizierung und Kompetenzentwicklung der Betriebsratsmitglieder erfolgt. Die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung durch Berücksichtigung arbeitswissenschaftlicher Gestaltungskriterien würde ebenso zur Kompetenzentwicklung beitragen. Sie denkt dabei an die Gestaltung der Unternehmenskultur (partizipativ vs. delegativ), der Arbeitsorganisation (innovative vs. traditionell hierarchische Aufbau- und Ablauforganisation) und der Arbeitsinhalte (ganzheitlich-persönlichkeitsförderlich vs. monoton-vorgegeben). Die Arbeitswissenschaftlerin stellt fest, dass vom Rechtsberater keine konkreten Handlungsempfehlungen gegeben werden.

■ Die Sichtweise des Pädagogen Für den Pädagogen ist das Verhalten des juristischen Beraters von zentraler Bedeutung. Er sieht einige problematische Aspekte in der Gesprächshaltung und -technik, die einer konstruktiven und

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orientierenden Auseinandersetzung des Betriebsratsgremiums mit seiner Situation nicht förderlich sind. An Gesprächssequenzen aus dem Transkript zeigt er handwerkliche Fehler auf – zum Beispiel Fragen, die nicht wirklich offen sind: »Wo liegt denn da das Problem für euch?« Aber statt eine Antwort abzuwarten: »Was mich interessieren würde, auch im Hinblick auf das Gesetz natürlich, wie viel sind denn bei euch hier beschäftigt, wie viele Mitarbeiter?« Hinzu kommt eine Zentrierung auf das Juristische, die eine klare Herausarbeitung von Handlungsmöglichkeiten, die der Betriebsrat umsetzen könnte, erschweren. Der juristische Berater habe sich allerdings insoweit für eine Arbeitsbeziehung qualifiziert, als er für das Gremium Ventilfunktion hat, sich von ihm durch alle Themen und Widersprüche ziehen lasse und durch den eigenen Pessimismus keine Gefahr für das Selbstwertgefühl des schwachen Betriebsrats sei. Zudem bestehe er viele kleine Tests, was seine juristische Eignung anbelangt. Der Pädagoge sieht eine Art Prüfungsdruck für den Berater, weil das Gremium den Berater daraufhin teste, ob er geeignet sei, ihn bei zukünftigen Auseinandersetzungen zu begleiten. Der Berater stelle sich auf den ängstlichen, wenig informierten und sich seiner Situation unzureichend bewussten Betriebsrat ein, indem er Verständnis und Geduld zeige und ständig um Hilfe bemüht sei, aber auch der Tendenz des Gremiums zur Unklarheit und Inkonsequenz zu wenig entgegensetze. So sei das Ergebnis am Ende, dass die Beratung zwar fortgesetzt wird, aber der Betriebsrat weder seine Lage besser verstehe noch wisse, wie er sich in Zukunft verhalten solle.

■ Die Sichtweise des Gruppenanalytikers Der Gruppenanalytiker kommentiert hauptsächlich das Verhalten des Beraters in der Interaktion mit den Gremiumsmitgliedern. Alle Sachfragen würden als Machtfragen behandelt und der Berater habe dem nichts entgegenzusetzen. Er unterstütze das Gremium darin, sich in Phantasien über mögliche erfolgreiche Kämpfe einzuigeln, und sich die Überprüfung der Realisierbarkeit zu ersparen. Wie auch der Pädagoge bemerkt, benutze der

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Berater starke Metaphern und eine Sprache kämpferischer Dramatisierung: »Ne also, ich bin immer dafür, Bomben hochgehen zu lassen, aber der Betriebsrat muss natürlich sicher überlegen, ob er das will. Des is ja Druck, der dann kommt.«

Kaum geäußert, werden solche Formulierungen aber schnell wieder zurückgenommen, wenn das Gremium nicht folgt. Aus der Zuspitzung würden keine strategischen Angebote abgeleitet, so dass der Berater mit diesen Äußerungen faktisch die Ohnmacht und deprimierte Grundstimmung des Gremiums festschreibe. Das Gremium selbst sieht der Gruppenanalytiker in der Rolle des trotzigen Kindes, das aus seinem Trotz nicht herauskomme, wobei die stellvertretende Vorsitzende sich aus ihrer infantilen Rolle emanzipieren möchte. Die Unternehmensleitung werde als entrückt in einer Art Zeuswolke erlebt, der gegenüber es eine heimliche Solidarität mit dem Geschäftsführer des eigenen Betriebs geben könnte.

■ Die Sichtweise der Psychoanalytikerin Die Psychoanalytikerin sieht die Betriebsratsmitglieder in einer emotionalen Situation zwischen Wut und Angst. Zurückweisungen seitens des Geschäftsführers würden als schwere Kränkung erlebt und lösten Wut aus, die so stark sei, dass sie entsprechend intensive Ängste vor Vergeltung und Schuldgefühle hervorriefe, die die Denk- und Handlungsfähigkeit lähmten. Die Psychoanalytikerin zeichnet anhand des Gesprächsverlaufs nach, wie das Gremium den Berater dazu treibt, immer massivere Vorgehensweisen vorzuschlagen, weil Vorschläge, die auf informelle gütliche Regelungen und Deeskalation zielten, nicht angenommen würden. Das Gremium freue sich an der Demonstration der zur Verfügung stehenden Machtmittel, ohne deren Anwendung ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Nachdem es den Berater dazu gebracht habe, mit allem aufzufahren, was möglich ist, stelle sich heraus, dass sich die beiden Vorsitzenden bisher nicht einmal getraut haben, schriftlich ihr Anliegen beim Geschäftsführer mit Nachdruck anzumahnen.

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Auf der einen Seite zeigen die Betriebsratsmitglieder kein Mitgefühl mit dem Geschäftsführer, der – wie sie berichten – wegen eines Konflikts mit der Geschäftsleitung persönlich schwer belastet ist. Sie stellen sich vor, wie sie ihn wegen einer Vertragssache bei Gericht vorführen könnten, was sogar der Berater ein »bissel krass« findet. Auf der anderen Seite erscheinen der stellvertretenden Vorsitzenden schon schriftliche Beschwerden und Ankündigung von Konsequenzen als zu hart: »Wir ham’s doch schon angedroht [den Gang vor das Arbeitsgericht], nicht? Weil. Oder, hab ich sie da raus genommen, weil mein Mann sagt, das ist zu hart […] Aber man ist ja immer in Rage und so, dann geh ich nach Haus und hocke mich hin und schreib. Da liegt mein Mann und sagt, dann beruhig’ ich mich wieder und dann nehm ich vielleicht was raus oder auch nicht, entweder ich besteh’ drauf oder ich mach’s raus.«

Eine Distanz zu diesem emotionalen Umgang mit Macht und Ohnmacht kann die Psychoanalytikerin nicht erkennen. Denkbar für sie wäre allerdings, dass das Gremium in der Beratungssituation aggressive Affekte und Ängste spielerisch auslebt, um danach wieder zu sachgerechtem Handeln überzugehen.

■ Fazit Wie aus den Kurzfassungen der Stellungnahmen ersichtlich ist, beschreiben alle Kommentatoren aus ihrer spezifischen fachlichen Sicht ihren Eindruck von der Arbeitsfähigkeit des Gremiums und dem Ablauf der Beratung, wobei sie jeweils unterschiedliche Aspekte herausstellen, ohne dass es zu sich widersprechenden Aussagen kommt. Vielmehr ergänzen sich die Sichtweisen und ergeben ein differenziertes Bild von der Situation des Betriebsratsgremiums. Es gibt nur zwei Punkte, an denen sich Widersprüche zeigen: 1. Der Industriesoziologe und der Gruppenanalytiker sehen die Rolle der stellvertretenden Vorsitzenden anders als die Psychoanalytikerin, die keinen bedeutsamen Unterschied zum Vorsitzenden erkennen kann. 2. Der Industriesoziologe sieht den Geschäftsführer als Agent der Unternehmensleitung, während der Pädagoge

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und der Gruppenanalytiker eine heimliche Solidarität zwischen Betriebsrat und dem Geschäftsführer zu erkennen meinen. Welche Schlussfolgerungen können aus dem erhobenen Material gezogen werden, welche Hinweise ergeben sich für die Beratung? Die Kommentare beschreiben die Defizite und den Unterstützungsbedarf des Betriebsrats. Implizit formulieren sie Anforderungen an eine kompetente Beratung. Die Vermittlung von juristischem Fachwissen durch den Berater wird von den Kommentatoren als sachgerecht angesehen. Es werden aber weitergehende Anforderungen an eine kompetente Beratung gestellt, da das vermittelte Wissen offenbar von den Ratsuchenden nicht angemessen aufgenommen und verarbeitet werden kann. Der Industriesoziologe, der Pädagoge, die Arbeitswissenschaftlerin und die Juristin vermissen Vorschläge zu konkreten Handlungsschritten von Seiten des juristischen Beraters. Der Industriesoziologe legt in seinen Ausführungen nahe, dass der Berater außerdem das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Belegschaft zum Thema hätte machen müssen, um die Handlungsfähigkeit des Gremiums zu verbessern. Auch die Arbeitswissenschaftlerin stellt die defizitäre soziale Kompetenz der Gremiumsmitglieder heraus. Die Verbesserung der Situation ist also nicht allein durch Vermittlung von Sachkenntnissen herzustellen. Der Pädagoge weist darauf hin, wie wichtig eine qualifizierte Gesprächsführung und Beratungstechnik ist, um mit der Gruppe eine Handlungsstrategie zu erarbeiten. Der Gruppenanalytiker und die Psychoanalytikerin verweisen auf unbewusste Bedürfnisse und Ängste bei den Gremiumsmitgliedern, die sich in der Interaktion mit dem Berater in Szene setzen und Hinweise auf die psychologischen Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Erarbeitung sachgerechter Lösungen geben. Die Klärung der Relevanz psychoanalytischer Deutungen für soziale Situationen außerhalb des klinischen Settings ist eine bereits vielfach behandelte und herausfordernde Fragestellung, die im Rahmen einer komplexen interdisziplinären Gesamtbetrachtung, wie sie hier demonstriert wird, noch einmal neu aufgenommen werden könnte (vgl. dazu auch Westenberger-Breuer 2006). Für den Berater ergeben sich also vielfältige Anforderungen aus den verschiedenen Fachgebieten, deren Berücksichtigung die Hilfestellung für Betriebsratsgremien wirksamer machen kann. Er

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müsste sich eine betriebspolitisch und psychologisch informierte Didaktik und Methodik aneignen, um juristische Informationen in der Weise an die Ratsuchenden zu vermitteln, dass diese für eine sachgerechte Interessensvertretung fruchtbar werden könnten. Die Erarbeitung eines Curriculums zur Beratung für Betriebsräte stellt deshalb ein lohnendes Ziel dar, wobei erst eine größere Zahl von untersuchten Gremien Hinweise geben kann, ob die hier vorgefundene Problematik von allgemeiner Bedeutung ist und verbreitet auftritt.

■ Literatur Bergmann, J.; Bürckmann, E.; Dabrowski, H. (2002): Krisen und Krisenerfahrungen, Einschätzungen und Deutungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4: 1–89. Hertwig, M.; Busch, B. (2003): Handout zur Tagung »Arbeit in Bewegung: KMU-Betriebsräte im E-Business«. Ergebnis einer Befragung (unveröffentlicht). Kotthoff, H. (1981): Betriebsräte und betriebliche Herrschaft. Frankfurt u. New York. Kotthoff, H. (1994): Betriebsräte und Bürgerstatus. München. Tietel, E. (2001): »Das hat mich also Schweiß gekostet, weil ich ja der Puffer bin« – Grenzgänger zwischen Betriebsrat und Beteiligungsprojekt. In: Senghaas-Knobloch, E. (Hg): Macht, Kooperation und Subjektivität in betrieblichen Veränderungsprozessen. Mit Beispielen aus Aktionsforschung und Prozessberatung in Klein- und Mittelbetrieben. Münster u. a., S. 83– 103. Westenberger-Breuer, H. (2006): Psychoanalyse ohne Couch. Einige Überlegungen zu methodischen und begrifflichen Aspekten bei der Anwendung psychonalytischer Erkenntnisse in der Organisationsberatung. Freie Assoziation 9 (1): 111–126.

Die Autorinnen und Autoren

Dietlef Breuer ist Lehrer, Rhetorik- und Kommunikationstrainer und Mitarbeiter der Deutschen Angestellten Akademie. Arbeitsschwerpunkt: Beratung von Betriebsratsgremien. Bettina Daser, Diplom-Ökonomin (Sozioökonomie), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität (psychoanalytische Sozialpsychologie) und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familiendynamik in Familienunternehmen, Subjektivierung der Arbeit und Coaching in Profit- und Non-Profit-Organisationen. Carola Eunicke-Morell, Dr. rer. med., Diplom-Psychologin und DiplomPädagogin, ist Gruppenanalytikerin, gruppenanalytische Supervisorin, Organisationsberaterin, Balintgruppenleiterin (DAGG) und Schulpsychologin am Staatlichen Schulamt RTK und Wiesbaden. Rolf Haubl, Dr. Dr., Diplom-Psychologe und Germanist, ist Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie der Universität Frankfurt und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. Er ist Gruppenlehranalytiker, Gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater (DAGG, DGSv). Seine Forschungsschwerpunkte sind ökonomisches Alltagshandeln und seine Psychopathologien, zum Beispiel Kaufsucht und Überschuldung; Beratungsforschung, insbesondere Supervision und Coaching in Profit- und Non-Profit-Organisationen und Emotionsforschung. Sebastian Keil ist Diplom-Politologe und Lehrer im Vorbereitungsdienst für die Fächer Deutsch und Politik/Wirtschaft in Frankfurt.

Die Autorinnen und Autoren

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Claudia Meister-Scheytt, Diplom-Ökonomin und Industriekauffrau, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Organisation und Lernen der Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität Innsbruck sowie Organisationsberaterin. Heidi Möller, Dr. phil., Diplom-Psychologin, ist Professorin für Kommunikation im Berufsleben und Psychotherapie sowie Dekanin der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Innsbruck. Sie ist Psychoanalytikerin, Organisationsberaterin, Supervisorin, Lehrtherapeutin für Tiefenpsychologie und Gestalttherapie und Lehrsupervisorin. Daniela Rastetter, Dr. rer. pol., Diplom-Psychologin, ist Professorin für BWL mit den Schwerpunkten Personal, Organisation und Gender Studies an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gleichstellung in Organisationen, geschlechtervergleichende Organisationsforschung, Personalwirtschaftslehre. Felix Reiners, Diplom-Ökonom und Diplom-Kaufmann, ist Mitarbeiter der Dorothee Echter Executive Coaching Quality Kompetenzzentrums, freiberuflicher Trainer und Coach. Johann August Schülein, Dr. phil., Studium der Soziologie, Philosophie und Psychoanalyse, ist Professor für Soziologie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Arbeitsgebiete sind Mikrosoziologie, Institutionstheorie und interdisziplinäre Theorie. Erhard Tietel, Dr. phil., Diplom-Psychologe, ist Privatdozent am Studiengang Psychologie der Universität Bremen sowie Dozent an der Akademie für Arbeit und Politik der Universität Bremen, Supervisor (DGSv). Seine Arbeitsschwerpunkte sind betriebliche Arbeitsbeziehungen, Forschung, Weiterbildung, Supervision, Coaching und Teambildung mit betrieblichen Interessenvertretern. Heike Westenberger-Breuer, Dr. phil., ist Mitarbeiterin einer psychologischen Beratungsstelle und Psychoanalytikerin (DPV) in freier Praxis. Dietmar J. Wetzel, Dr. phil., Diplom-Frankreichwissenschaftler, ist am Institut für Soziologie an der Universität Bern tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialtheorie und politische Theorie, Managementsoziologie und Qualitative Sozialforschung.

Stichwortverzeichnis

A Agression 100, 117 Anerkennung 93, 111, 211 Arbeit 257 Autorität 32

Geschlecht -srolle 85, 101, 102, 120 Gewalt 16 Grenzgänger 313 Gruppe/Gremium 321

B Betriebsrat 320 Bewältigung 128

H Habitus 59, 64, 66, 107 Herrschaft 16, 17, 18, 28 Hierarchie 92

C Change 165, 182 Coaching 89, 95 Einzel- 134 Gruppen-/Team- 134 Leitungs-/Schulleitungs- 142 Co-Management 310 D Dominanz 223 E Emotionsmanagement 100 F Fallbeispiele 171, 250, 320 psychoanalytische 142 Flexibilisierung 265 Führung 59 G Gender/Geschlecht 33, 44, 50, 60, 64, 69, 71, 72, 76, 80, 82, 97, 101, 106

I Institution 133, 162, 311 Intervention 160 K Kapital soziales 226 Kommunikation 21, 259 Konkurrenz 94 geschlechtsspezifische 92 Kooperation 239 L Leitung 101, 107, 110, 129, 162 Schulleitung 125, 126, 137 M Macht 7, 13, 14, 18, 19, 60, 61, 64, 68, 69, 76, 77, 80, 81, 89, 128, 110, 114, 118 Formen der 23, 27, 65, 151, 223, 265 Gefüge der 26, 32, 35, 46, 149

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Stichwortverzeichnis informelle 7, 151 Missbrauch von 8 -mittel 8, 38, 100, 242, 258 politische 16 -position 204 Sanktions- 223 Umgang mit 61, 101, 102, 118, 218, 221 Machttheorien psychoanalytische 40, 52 soziologische 193 N Networking 193, 214 Dimensionen des 214, 216, 219 Effekte des 218, 221 O Organisation 7, 23, 26, 32, 59, 67, 77, 80, 142, 165, 181, 195, 228 -skultur 8, 83, 118, 162 -swandel 165 Outsourcing 234, 239, 249, 250, 268 P Personalentwicklung 125, 136 R Rolle(n) 160, 169, 180, 271 Leitungs- 195

S Schule 125, 127 Solidarität 222 Sozialisation 45, 66 geschlechtsspezifische 93 Subjekt 49 Subjektivierung 67 Supervision 106 T Therapie 142, 160 Transformation 166, 257 Typologie 49, 51, 222, 266, 313 U Ungleichheit 15, 20, 25 Universität 168, 171 V Veränderungsprozess 165, 182 W Wechselwirkung 24, 67 Widerstand 182 Z Zeit 246, 253, 262, 265

Personenverzeichnis

Adorno, Theodor W. 28 Aristoteles 15 Bachrach, Peter 27 Baratz, Morton S. 27 Bion, Wilfred 155 Bischof-Köhler, Doris 92 Bourdieu, Pierre 66 Brislin, Richard W. 248 Brüggemeier, Martin 195 Crozier, Michel 26 Deutsch, Karl W. 20 Drucker, Peter F. 59 Durkheim, Émile 18 Elias, Norbert 247 Erikson, Erik H. 44 Fabian, Jürgen 134 Felsch, Anke 195 Foucault, Michel 29 Foulkes, Siegmund Heinrich 160 Freud, Sigmund 40 Friedberg, Erhard 26 Fritz, Robert 181 Fuchs, Tatjana 253 Geheeb, Helga 130 Giddens, Anthony 68 Goffmann, Erving 26 Heinemann, Klaus 266 Hobbes, Thomas 15 Hochschild, Arlie 85 Höhler, Gertrud 80 Jurczyk, Karin 265 Kaplan, Abraham 19

Kim, Eugene S. 248 König, Eckard 133 Kotthoff, Hermann 324 Kratzer, Nick 253 Kraus, Helga 45 Kraus, Karin 45 Krell, Gertraude 70 Lasswell, Harold, Dwight 19 Lenski, Gerhard 29 Lerner, Harriet 46 Lewin, Kurt 20 Lichtenberg, Joseph D. Ludes, Peter 266 Luhmann, Niklas 21 Machiavelli, Niccolò 15 Mann, Michael 31 Marcuse, Herbert 28 Marx, Karl 16 McClelland, David 43 Neuberger, Oswald 69 Offe, Claus 28 Pareto, Vilfredo 30 Parin, Paul 271 Paris, Rainer 60 Parsons, Talcott 19 Popitz, Heinrich 25 Pühl, Harald 159 Rinderspacher, Jürgen 253 Ritter, Judy 46 Scherr, Lucia 130 Voß G. Günter 265 Weich, Angelika 130