Kommunaler Liberalismus in Europa: Großstadtprofile um 1900 9783412216009, 9783412221317

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Kommunaler Liberalismus in Europa: Großstadtprofile um 1900
 9783412216009, 9783412221317

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HISTORISCHE DEMOKRATIEFORSCHUNG Schriften der Hugo-Preuß-Stiftung und der Paul-Löbe-Stiftung Band 6 Herausgegeben von Detlef Lehnert Wissenschaftlicher Beirat: Peter Brandt, Wolfram Pyta, Dian Schefold

Detlef Lehnert (Hg.)

KOMMUNALER LIBERALISMUS IN EUROPA Großstadtprofile um 1900

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Historische Stadtansicht von Basel (Postkarte 1910)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-22131-7

Inhalt

Detlef Lehnert Kommunalliberalismus um 1900 im europäischen Großstadtvergleich . . . 7

1. VERGLEICHENDE PERSPEKTIVEN Dieter Langewiesche Kommunaler Liberalismus im Kaiserreich. Bürgerdemokratie hinter den illiberalen Mauern der Daseinsvorsorge-Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Detlef Lehnert Kommunalfreisinn, Ringstraßen-Liberalismus und Progressives. Berlin, Wien und London vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Hideto Hiramatsu Zwischen Tradition und Fortschritt. Kommunale Sozialpolitik und Bürgerschaft in Köln und Ōsaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

2. AUSGEWÄHLTE DEUTSCHE GROSSSTÄDTE Ralf Roth Bürgergesellschaft und moderner Liberalismus. Frankfurt am Main im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Karl Heinrich Pohl Ein sozialliberales „Modell“? München vor dem Ersten Weltkrieg . . . . 169 Holger Starke Dresden im Kaiserreich. Liberalismus in einer konservativen Stadt? . . . . 191

3. EUROPÄISCHE STÄDTE Georg Kreis Bürgertum und Freisinn in Basel vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . 211

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Inhalt

András Sipos Budapester Kommunalpolitik und die ungarischen Liberalen 1870–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Akiyoshi Nishiyama Erziehungsstadt statt Erziehungsstaat? Die liberale Reform des Schulwesens der Stadt Straßburg vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Stefan Grüner Pariser Liberalismus 1870–1914. Politische Topographie, symbolische Deutungsmacht und kommunale Wohnungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

DETLEF LEHNERT

Kommunalliberalismus um 1900 im europäischen Großstadtvergleich Der für das Verkehrswesen zuständige Berliner Stadtrat Hugo Preuß erinnerte wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Metropolenvergleich an die Erscheinungsformen und Rahmenbedingungen der zeitgenössischen Urbanisierung: „Die moderne Großstadt ist prinzipiell unbefestigt, ist eine offene Stadt, trotz der einen großen Ausnahme – Paris. Die moderne Großstadt ist nicht Festungsstadt, sondern Verkehrsstadt.“1 Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen eines umfassend definierten „Urbanisierungsprozesses“ entstandene moderne Großstadt sei also „ihrem innersten Wesen nach Verkehrsstadt; ihr Leben, ihre Existenz, jedenfalls ihre Existenz als Großstadt wird bedingt von der Art, wie sie, ich möchte sagen, im Netz des Verkehrs aufgehängt ist, wie sie im Netz des internationalen und des nationalen Verkehrs hängt“.2 Die Festungsstadt hatte Schutz- und Zollmauern errichtet und sich darin auch gegen das Umland und Fremde abgegrenzt. Die offene Verkehrsstadt lebte nach dem aus praktischen Bedürfnissen motivierten, doch nicht minder symbolträchtigen Niederbruch von Stadtmauern umgekehrt wesentlich vom ausgeweiteten Handel mit Produkten und der Zirkulation von Arbeitskräften – sowie überhaupt neuen Impulsen von außen, neben der infrastrukturell verdichteten Mobilisierung im Inneren. Die Bewegungsfreiheit innerhalb von Stadträumen und in diese hinein mag sogar zum Wesenskern jener „Rule of Freedom“ gehören, um „Liberalism and the Modern City“ auch umfassender kulturwissenschaftlich zu thematisieren.3 Allerdings kann ein vorausgeschickter Blick auf Bedingungen der Möglichkeit von Großstadtliberalismus im europäischen Kommunalvergleich ohne Sichtverengung nicht den Verzicht auf die Analyse von „liberal politics, ideas or institutions“ bedeuten.4 Die Rekonstruktion eines „techno-administrative 1 Hugo Preuß, Probleme des großstädtischen Verwaltungsrechts (1911), in: Ders., Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik (Ges. Schriften Bd. 5), Hg. Christoph Müller, Tübingen 2012, S. 383. 2 Ders., Sozialpolitik im Berliner Verkehr (1911), in: Ebd., S. 397. 3 Vgl. Patrick Joyce, The Rule of Freedom. Liberalism and the Modern City, London 2003. 4 So aber Joyce, Rule, der sogleich die verwendete Begrifflichkeit problematisiert: „Perhaps ‚liberalism’ is the wrong word to employ“ (S. 2). In der Tat könnte besser „freedom“ unversalistisch, „liberalism“ aber spezifischer verstanden werden.

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state in a liberal mode“ ist ein wichtiger Zugang zur Moderne im Sinne der nichtautoritären Bewältigung von zunehmender gesellschaftlicher Komplexität und des Aufbaus einer ihr gewachsenen Leistungsverwaltung. Aber es wirft eben nur ein zusätzliches struktur- und kulturgeschichtliches Schlaglicht auf qualitative Umbrüche, die formellen Voraussetzungen der Verarbeitung von Massendaten zu unterstreichen: „In this light, ‚democracy’ was itself nothing more than a gigantic political technology based on number.“5 Hingegen schimmerte bei Preuß hinter aller kritischen Gegenwartsbetrachtung ein Fortschrittsoptimismus durch, wenn er – in einem Beitrag zur Hundertjahrfeier der Städteordnung von 1808 – als Normativsatz festgehalten sehen wollte: „Rechtsgleichheit war und ist nach immanenter Logik die fundamentale Forderung aller urbanen Organisation.“6 Dieses Postulat meinte die Beseitigung aller ständischen Relikte in Stadtverfassungen im Zuge „energischer Demokratisierung“ als die zur „Entfaltung des Urbanisierungsprozesses“ allein passende Entwicklung: „Die Bürgerschaft einer modernen Großstadt läßt sich nicht mehr in Aktivbürger und Schutzverwandte scheiden.“7 Tatsächlich standen aber Preuß und andere liberaldemokratische Reformer auch noch im Übergang zum 20. Jahrhundert in grundlegenden Konflikten: Wie konnten historische Überhänge aus dem vormodernen Gepräge von Städten als geschlossene Bürgerzunft endgültig von der Konzeption und Realität einer gleichermaßen offenen und egalitären Bürgergenossenschaft abgelöst werden?

1. Die Entstehungszeit der europäischen Großstadtmoderne Wer nach den im 20. Jahrhundert geläufigen Vorstellungen den Schwellenwert einer Großstadt mit Metropolenfunktion auf 500.000 Einwohner ansetzt, wird erstaunt feststellen: Noch 1850 waren ein (freilich aus Teilgemeinden bestehendes) London mit über 2,5 Mio. und Paris mit knapp über 1 Mio. in Europa die einzigen Städte dieser Größenordnung. Bis 1860 kam nur Berlin hinzu (0,55 Mio.), wenn von St. Petersburg (0,54 Mio.) und dem ohnehin nur halbeuropäischen Konstantinopel (0,50 Mio., späteres Istanbul) abgesehen wird. Diese beiden östlicheren Metropolen gehörten zu Staaten, deren überwiegende Ausdehnung nicht innerhalb Europas angesiedelt war.8 Im Jahr 5 Ebd., S. 184 u. 24. 6 Hugo Preuß, Staat und Stadt (1908), in: Ders., Ges. Schriften Bd. 5, S. 560. 7 Ders., Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, Bd. 1 (mehr nicht erschienen), Leipzig 1906, S. 375. 8 Studien wie die von Karl Schlögel, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909– 1921, Frankfurt a.M. 2009, zeigen geistig-kulturelle Verbindungen mit westlicheren

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1870 ließ sich dann auch Wien in solcher Größenkategorie finden (0,83 Mio.), daneben nur Glasgow (0,52 Mio.) angesichts des britischen Vorsprungs der Industrialisierung – und Moskau (0,61 Mio.) mit erwähnter Randstellung. Dies waren sämtlich nur Städte der fünf europäischen Großmächte jener Epoche: Großbritannien, Frankreich, (Preußen-)Deutschland, Österreich(-Ungarn) und Russland. Zwischen 1860 und 1870 wurde dort auch gesamtstaatlich eine neue Zeitsignatur geprägt: Großbritannien erlebte 1867 die erste wirkliche Teildemokratisierung des Wahlrechts; Preußen erweiterte sich 1867 zum Norddeutschen Bund mit allgemeinem Männerstimmrecht zum Norddeutschen Reichstag; in Österreich-Ungarn brachte im gleichen Jahr der „Ausgleich“ zwischen den Reichshälften auch Grundrechtsimpulse; in Frankreich begann 1870 die Dritte Republik (und Russland löste sich erst 1861 aus der Leibeigenschaft, was den Entwicklungsrückstand zeigt). Um in Dekadenschritten noch die weiteren europäischen Halbmillionenstädte bis 1920 zu listen: 1880 kam nur Liverpool hinzu, 1890 waren es Manchester, Neapel, Brüssel und Budapest, 1900 Amsterdam, Barcelona, Birmingham, Hamburg, Madrid, München und Warschau, 1910 Breslau, Dresden, Kiew, Köln, Kopenhagen, Leipzig, Mailand, Marseille, Odessa und Rom; aber 1920 lediglich noch zusätzlich Prag als Hauptstadt der neu gebildeten Tschechoslowakei sowie Rotterdam, Scheffield und Turin.9 Zwar sind Einwohnerzahlen, wenn Stadtgemeinden und nicht – für kommunalpolitische Fragen weniger aufschlussreiche – siedlungsverdichtete Urbanisierungsräume auch über Stadtgrenzen hinweg verglichen werden sollen, von früheren oder späteren Eingemeindungen abhängig.10 Diese gehören aber konstitutiv zur europäischen Großstadtmoderne, wenn kommunale Organisationseinheiten mit ins Blickfeld genommen werden. Die meisten Großstädte über 500.000 Einwohner bis 1920 hatten Deutschland (7) und Großbritannien Teilen Europas; doch lassen sich Stadtmilieus nicht komplett aus ihrem Landeskontext lösen, ohne dann andere Fragestellungen stärker zu gewichten. 9 Eine instruktive Übersicht ist http://www.atlas-europa.de/t04/bevoelkerung/europ_staedte/pdf/BevStaedte-Tabelle_dt.pdf (14.9.2013, so auch die anderen Webquellen dieses Beitrags). Diverses Zahlenwerk bietet Brian R. Mitchell, European Historical Statistics 1750–1975, 2. Aufl. New York 1981. 10 Vgl. die unterschiedlichen Einwohnerzahlen in der Überblicksdarstellung von Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 53 u. 78. Dort soll z.B. die 1910/13 drittgrößte deutsche Stadt Leipzig/S. 78 kleiner als „Wuppertal“/S. 53 gewesen sein – das es aber vor 1929/30 als Stadtgemeinde nicht gab, vielmehr Elberfeld und Barmen getrennt mit 1910 jeweils nur ca. 170.000 Einwohnern: Ders., Bürgertum und Stadtverwaltung in rheinischen Großstädten des 19. Jahrhunderts, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990, S. 100.

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(6). Dabei beherbergte allerdings London immer deutlich mehr Bewohner als die britischen Nebenmetropolen zusammen. Dies mag es rechtfertigen, in die Fallstudien dieses Bandes insoweit allein London mit einzubeziehen. Für Paris erscheint das selbstverständlicher, ebenso für Wien und Budapest, wobei Prag dennoch eines zusätzlichen Kurzporträts bedarf. Die Betrachtung Kölns als – zusammen mit dem auch zu beachtenden Breslau – nach Berlin nächstgrößte und den rheinisch-katholischen Bereich repräsentierende Stadt in Preußen kann sich als schlüssig darbieten. Das gilt aus obiger Liste ebenso für München als Hauptstadt des zweitgrößten und Dresden als jene des nächstgrößten deutschen Teilstaates. Hamburg als Stadtstaat ist ohnehin ein Sonderfall, wofür insofern knappe Querverweise ausreichend erscheinen11; aber zu Leipzig als neben Dresden schon 1890 bevölkerungsreichere Zweitmetropole Sachsens wird in dieser Einleitung noch eine Profilskizze anzufügen sein. Außerhalb des europäischen Kontinents waren 1870 einzig New York und die frühe Hauptstadt Philadelphia an der Ostküste der USA12 sowie Mumbai (heute Bombay) in der britischen Kolonie Indien bereits Halbmillionenstädte – und Tokio, wo es nur indirekte europäische Impulse des Städtewachstums gab. Auch so kann es nachvollziehbar sein, in ergänzender Perspektive die japanische Nebenmetropole Ōsaka in einem Beitrag mit in den Vergleich einzubeziehen. Dort können sogar punktuell deutsche kommunalpolitische Einflüsse nachgewiesen werden und zeichnete sich leicht zeitversetzt bereits eine Großstadtmoderne eigener Prägung ab. Bei Frankfurt am Main13 als erst 1930 die Halbmillionenschwelle überschreitende Regionalmetropole tritt zur – für Gemeinderechte wichtigen – Paulskirchentradition die Repräsentanz auch für den südwestdeutschen Raum mit hinzu, dessen Städte damals noch von bescheidenerer Größe waren. Darüber hinaus nur qualitativ zu rechtfertigen ist die Auswahl der verbleibenden Großstädte mit erheblich geringerer Einwohnerzahl. Bei der heutigen Europastadt Straßburg ist die historisch konfliktreiche Brückenfunktion zu Frankreich interessant, was überdies den Blick auf die Metropole Paris ergänzt. Für Basel ist zusätzlich die Lage im Schweizer Dreiländereck zu Frankreich und Deutschland aufschlussreich. Die Mindestschwelle einer Großstadt von 100.000 Einwohnern hat Straßburg bereits in den 1870er Jahren überschritten, Basel erst kurz vor der Jahrhundertwende. 11 Dazu Hinweise auf neuere Literatur: Detlef Lehnert, Das Hamburger „Volksheim“ des frühen 20. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938, Köln 2013, S. 185–204. 12 Zur transatlantischen Perspektive vgl. Friedrich Lenger, Großstädtische Eliten vor den Problemen der Urbanisierung. Skizze eines deutsch-amerikanischen Vergleichs 1870– 1914, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 313–337. 13 Die Kurzform Frankfurt meint nachfolgend immer die am Main gelegene Großstadt.

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Auch dabei ist wieder der Zusammenhang der städtischen mit der (klein- oder großstaatlichen) Entwicklung offensichtlich. Wenn „Großstadtprofile um 1900“ (Untertitel dieses Bandes) thematisiert werden, ist die Fokussierung auf Europa – mit kurzen Blicken an seine Grenzen sowie über diese hinaus – also durchaus geschichtlich vertretbar. Für im Kern die Entwicklungsspanne von 1870 bis zum Ersten Weltkrieg umfassende Studien liegt „eurozentrische“ Betrachtung noch in der Weltlage begründet.14 Diese wurde erst seit 1918 stärker von den in unterschiedlicher Weise als „halbeuropäisch“ geprägt charakterisierbaren Großstaaten Russland/Sowjetunion und USA mitbestimmt. Dass sich im Deutschen Kaiserreich früher und nachhaltiger eine Vielfalt von eigenständigen Nebenmetropolen zu Berlin herausbildete, beeindruckte im Vergleich mit anderen Nationen schon zeitgenössische Beobachter.15 Kaum irgendwo sonst prallten auch politisch die moderne Großstadtwelt und die weitaus traditionelleren Verhältnisse in Dörfern und Kleinstädten so polarisiert aufeinander wie gerade in Deutschland. Schon in der Reichstagswahl 1898 gewann die SPD in Stadtgemeinden ab 100.000 Einwohner mit 53,8 % die absolute Stimmenmehrheit; auch die linksliberalen Freisinnigen waren mit zusammen 15,5 % dort erheblich stärker als durchschnittlich. Gegenläufig sah es bei den konservativen Parteien einschließlich des katholischen Zentrums aus; sie erreichten in Großstädten auch zusammengerechnet nur 10,6 % der Stimmen. Fast umgekehrt waren die Verhältnisse im dörflichen Bereich unter 2000 Einwohner: Nur 14,2 % der SPD und 7,4 % Linksliberale standen 23,4 % Zentrum und 21,5 % der beiden konservativen Parteien gegenüber; auffällig waren auch weitere knapp 10 % für Regionalparteien (überwiegend polnische Minderheit und Bayerischer Bauernbund). Die Klein- und Mittelstädte zwischen 2000 und 100.000 Einwohnern und dort etwas stärker als im Mittel von 12,5 % vertretene Nationalliberale bildeten das

14 Aus globalgeschichtlicher Perspektive kommt auch Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, unter Verweis auf einschlägige Literatur, die „von einem charakteristischen europäischen Urbanisierungsmuster zu sprechen“ vorschlägt, und zwar „westlich von Russland“, zu dem Fazit: „Soviel Skepsis bei vielen eher ideologisch motivierten Proklamationen eines privilegierten Sonderwegs Europas angebracht ist: Der Sonderweg der Urbanisierung scheint sich empirisch gut belegen zu lassen“ (S. 374). 15 Vgl. Frederic C. Howe, European Cities at Work, New York 1913, mit der trotz erwähnter Aufenthalte und Gespräche in Berlin, Frankfurt, Hamburg, Düsseldorf, Dresden und München wohl mehr aus dem Selbstverständnis gesinnungsverwandter Progressiver gewonnenen Sicht, die „German city“ sei „a freistadt, a little republic, with power to do almost anything for the welfare of the people“ (S. VIII f.).

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Übergangsfeld zwischen diesen beiden Welten von urbanem Fortschritt und dörflicher Tradition.16

2. Überblick zu den Fall- und Vergleichsstudien dieses Bandes Für die Kurzvorstellung der Beiträge mag es sinnvoller erscheinen, mit den Vergleichsaspekten zu schließen und insofern mit dem zweiten Teil zu beginnen, der Einzelstudien zu deutschen Großstädten enthält.17 Wie der im Beitrag von Ralf Roth aufgeführten Literatur zu entnehmen ist, dürfte Frankfurt die hierzulande insgesamt am intensivsten erforschte Gemeinde dieser Größenordnung sein.18 Das hängt sicher mit deren Symbolbedeutung in der 1848er Revolution und der Stellung als Freie Stadt bis zur preußischen Einverleibung 1866 zusammen. Wohl auch deshalb entwickelte sich dort mehr als ein Jahrhundert danach ein universitärer Schwerpunkt der Bürgertumsforschung, die freilich selten bis in die Zeit um 1900 vorgedrungen ist.19 Das hatte eine Konzentration auf den Frühliberalismus zur Konsequenz, während in Frankfurt zugleich für einen modernen Liberalismus wichtige Impulse gesetzt wur16 Vgl. Daten und deren Erläuterung in Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 116 f. u. 120. Die Einwohnerzahlen insgesamt betrugen 1898 für Städte ab 100.000 erst 7,3 Mio. = 14 %, für Gemeinden unter 2000 aber 27,6 Mio. = 53 % (der Rest von 33 % verblieb der Kategorie 2000–100.000). Zur Reichstagswahl 1912 machten die Städte über 100.000 Einwohner schon 13,9 Mio. = mehr als 21 % aus, die Gemeinden unter 2000 hatten Bevölkerung auf 25,9 Mio. = knapp 40 % verloren; die kategorieninterne Verteilung blieb eher stabil, wesentliche Teile der Linksverschiebung resultierten somit aus der weiteren Verstädterung (ebd., S. 116 f.). 17 Mit Ausnahme der Eigenbeiträge des Hg. und des zusätzlichen Vergleichs von Köln mit Ōsaka sind die Texte aus Vorträgen im Juni 2012 auf einer – zum Bandtitel gleichnamigen – Tagung in Potsdam hervorgegangen: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/tagungsberichte/id=4310. Der Anstoß zum Rückgriff auf die kommunale Ebene ging von einer Vorjahrestagung aus, deren Ergebnisse gedruckt vorliegen: Detlef Lehnert (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2012. 18 Es gibt mit Jan Palmowski, Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt am Main 1866–1914, Oxford 1999, dazu auch diese wichtige englischsprachige Studie. 19 Vgl. den Überblick von Thomas Mergel, Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 515–538. Es ist nicht ohne (mehr zufällige) Pointe, dass für den zweiten Ort der Bürgertumsforschung zuvor auch eine kommunalpolitische Pionierstudie entstanden war: Wolfgang Hofmann, Die Bielefelder Stadtverordneten 1850–1914. Ein Beitrag zu bürgerlicher Selbstverwaltung und sozialem Wandel 1850–1914, Lübeck 1964.

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den. Mit der später weltbeachteten „Frankfurter Zeitung“ besaß dieser urbane Linksliberalismus seit jenem historischen Jahr 1866 ein zunehmend prominentes Sprachrohr. Dessen auch kommunalpolitisch einflussreicher Verleger Leopold Sonnemann hielt es auf einem demokratischen und sozialpolitisch aufgeschlossenen Kurs. Die Richtungsdifferenz zu einem der preußischen Monarchie genehmeren nationalliberalen Oberbürgermeister wie Johannes von Miquel war deshalb erheblich. Doch auch Miquel (Amtszeit 1880 bis 1890) und sein nicht minder tatkräftiger Vorgänger Mumm und Nachfolger Adickes haben kaum noch „manchesterlich“, sondern in Kooperation mit der entstehenden Leistungsverwaltung teilweise stadtinterventionistisch agiert. Das wurde von einem nicht das preußische Dreiklassensystem übernehmenden Zensuswahlrecht begünstigt. Dieses errichtete zwar mit 1200 M. Jahreseinkommen eine für Arbeiter und einfache kleinbürgerliche Existenzen nur selten bzw. erst nahe an 1914 überwindbare Hürde, stellte aber das ungefähre obere Drittel der Reichstagswähler gleich. Die Kompromissbalance der Frankfurter Stadtpolitik wurde in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur SPD hin geöffnet, was nach kommunaler Wahlrechtsdemokratisierung der Revolution von 1918/19 die Weimarer sozial-liberale Bündniskonstellation ermöglichte. Von Karl-Heinrich Pohl wird argumentiert, dass in München solche Kooperation von Liberalen und SPD bereits um die Jahrhundertwende aus besonderen Umständen auf den Weg gebracht werden konnte. Eine frühzeitig reformistische Sozialdemokratie erleichterte dies ebenso wie die gemeinsame Frontstellung gegen die im überwiegend katholischen Bayern mächtige Zentrumspartei. Ergänzend zu der auch sonst häufigen Aufmerksamkeit bürgerlicher Sozialreformer gerade bezogen auf Fragen von Stadthygiene und Volksgesundheit wurde so eine schul- und pressepolitische Zusammenarbeit möglich. In der Münchener Stadtvertretung war nahe an 1914 ein Dreilagersystem ausgebildet. Dieses verschaffte zwischen der SPD und der Zentrumspartei den Liberalen verschiedener Schattierungen eine Schlüsselposition, obwohl die beiden Reichstagswahlkreise fast immer an die SPD gingen. Die Stadtverwaltung hatte sich auf diese absehbare Entwicklung schon zuvor mit tastenden Kooperationsansätzen eingerichtet. Wenn später inbesondere zwischen 1919 und 1923 schroffe Konfrontation statt vorausgegangener Kooperation die bayerische Hauptstadt kennzeichnete, wird einmal mehr die häufig unterschätzte historische Zäsur der Jahre 1914 bis 1918 deutlich. Ganz anders geartet waren die politischen Kräfteverhältnisse in Dresden, wie dies von Holger Starke dargelegt wird. Gegen die bei Reichstagswahlen in Sachsen allmählich geradezu flächendeckend dominierende SPD verschanzten sich Ober- und Mittelschichten der Residenzstadt umso mehr

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hinter einem kommunalen Privilegienwahlrecht. Dieses begünstigte in seiner ursprünglichen, nur etwa 20 % der „Haushaltsvorstände“ überhaupt stimmberechtigenden Fassung den alten Mittelstand und die Grundbesitzer. Das führte im (großstädtisch eher seltenen) Gleichklang mit Bismarcks konservativer Wende von 1878/79 in Dresden seither zu einer kommunalen Rechtsmehrheit mit Beteiligung von Antisemiten. Erst das innerhalb der Ober- und Mittelschichten abstufende Berufsgruppenwahlrecht seit 1905 bewirkte eine Renaissance des Nationalliberalismus, indem das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum nicht mehr vom alten Mittelstand mit seiner restriktiven Haltung gegenüber kostenträchtigen Initiativen ausgebremst werden konnte. Seit 1910 befanden sich die Nationalliberalen in einer Mittelposition zwischen der vormaligen (auch den Oberbürgermeister Beutler stellenden) konservativen Mehrheitsgruppe und der kommunal erstarkenden SPD. Zu diesem sich erneuernden Nationalliberalismus gehörte auch der junge Gustav Stresemann, was dem sonst anzutreffenden Kontrastprofil Dresdens zuletzt noch eine neuliberale Nuance verschaffte. Dass schon unmittelbar hinter der südwestdeutschen Grenze die Übersetzungsprobleme sogar in (fast) gleicher Sprache beginnen, zeigt der Beitrag von Georg Kreis zu Basel, der zum dritten Teil den Auftakt bildet. Dortige (Alt-)Liberale waren Liberal-Konservative oder vorwiegend evangelisch-reformierte Konservative im Unterschied zu katholischen in der gemischtkonfessionellen Schweiz. Die (Links-)Liberalen im analogen deutschen Sinne bildete die Freisinnig-Demokratische Partei.20 Ein doppeltes Bekenntnis zu Freisinn und Demokratie ist sonst eher nur im benachbarten südwestdeutschen Raum – politisch bis Frankfurt reichend – anzutreffen gewesen. In der Schweiz bedeutet Demokratie bekanntlich auch (seit 1874) ihre direkte Form der Volksinitiative und Volksabstimmung. Doch war die Stimmberechtigung vor allem gegen Zugewanderte so restriktiv gestaltet, dass bei ohnehin nur mäßiger Beteiligung dann faktisch auch nicht unbedingt höhere Bevölkerungsanteile als unter deutschem Zensuswahlrecht über kommunale Angelegenheiten entschieden haben. Diese Begrenzung auf Ortseingesessene war auch ein Grund für die liberal-konservative Vorherrschaft bis zum gesamtschweizerischen freisinnigdemokratischen Aufbruch zur Mitte der 1870er Jahre. Die Erosion dieser neuliberalen Hegemonie ging mit der Einführung des Proporzwahlsystems im Jahr 1905 auf kommunaler Ebene parallel. Dadurch büßten die Freisinnigen die eigene Mehrheit ein, blieben aber in der starken Position einer Mittelpartei zwischen altliberalen und katholischen Gruppen auf der einen Seite und der 20 Zum hierzulande weniger bekannten Parteiensystem der Schweiz ist noch immer grundlegend Erich Gruner, Die Parteien in der Schweiz, Bern 1969.

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nun allmählich zur stärksten Fraktion anwachsenden Sozialdemokratie auf der anderen. In der politischen Kultur der Schweiz bestand jedoch auch um 1900 noch eine Hegemonie des (freisinnig-demokratischen) Liberalismus, insoweit sich nämlich Konservative und Sozialdemokraten auf Kommunalebene in ein pluralistisches Gegen- und Miteinander einfügen ließen. Wie András Sipos darlegt, entsprach der Besonderheit des ungarischen Adelsliberalismus in der Hauptstadt Budapest ein auf das Großbürgertum gestützter Honoratiorenliberalismus. Auch dieser bewältigte über die Stadtverwaltung in Kooperation mit der Privatwirtschaft die elementaren Infrastrukturaufgaben, fiel aber in partizipatorischer und sozialpolitischer Hinsicht zunehmend aus der Zeit. So lagen 1890 die Fürsorgeausgaben pro Kopf unter der Hälfte des Wiener Niveaus, während zu Abschiebungen mehr als dreimal so häufig gegriffen wurde.21 Diese Situation nutzte Mitte der 1890er Jahre der jüdische Anwalt Vilmos Vázsonyi zur Neugründung einer bewusst an das 1848er Erbe anknüpfenden Demokratischen Partei mit eigenem Kommunalprogramm. Aus dem Aufstieg des Antisemiten Lueger in Wien leitete er die Konsequenz ab, eine kleinbürgerliche Mobilisierung in gegenläufiger Richtung zu versuchen. Auch wenn sein Erfolg innerstädtisch und erst recht landesweit begrenzt war, konnte doch zehn Jahre darauf ein zweiter politischer Erneuerungsschub daran anknüpfen. Die wegen des Privilegienwahlrechts nicht erschütterbare großbürgerliche Stadtverordnetenmehrheit ließ 1906 den erst 40jährigen István Bárszy als Repräsentanten einer sozialpolitisch und stadtinterventionistisch ausgerichteten Reformbürokratie ins Bürgermeisteramt gelangen. Wenngleich die Privilegienträger ihre Entmachtung über Demokratisierung sowie erhebliche Belastungen für sich abwehrten, der als reformistisch-liberaler Sozialismus daherkommende kommunale Sozialliberalismus also überwiegend deklamatorisch blieb, hinterließ die Ära Bárczy doch manche Spuren im Stadtbild. Das betraf nicht allein den Anschluss an ein Wiener und deutsches großstädtisches Niveau der Leistungsverwaltung, Bildungsoffensive und kommunalen Eigenbetriebe auf rentabler Kreditbasis. Darüber hinaus war das Wohnbauprogramm für die Vorkriegszeit im (knapp 5000er) Volumen und der Konzentration auf Kleinstwohnungen für die Unterschicht international herausragend, jedoch wegen der altliberalen Widerstände nur kostendeckend durchführbar. Der Beitrag von Akiyoshi Nishiyama zeigt Straßburg im deutsch-französischen Spannungsfeld. Nach Bismarcks Annexion Elsass-Lothringens gab es 21 Vgl. Gerhard Melinz/Susan Zimmermann, Armenfürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest und Wien 1870–1914, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 347.

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zwischen 1871 und 1886 keine Gemeindevertretung, nur ein kommunalbürokratisches Regime. Aber schon in der restlichen Amtszeit des „altdeutschen“ Bürgermeisters Otto Back bildete sich in der wiederbelebten Stadtvertretung ein sogar überwiegend links von der Mitte angesiedeltes Parteiengefüge heraus. Dies lag in einem noch französisch geprägten Kommunalwahlrecht begründet, das Männer ab 25 Jahre nach dreijährigem Aufenthalt mit gleichem Stimmgewicht einschloss. So konnte nach der Jahrhundertwende die Sozialdemokratie teilweise schon die stärkste Fraktion beschicken und den Liberalismus einem Erneuerungsdruck aussetzen. Insoweit ähnlich wie in Budapest begann auch in Straßburg 1906 eine neue Ära unter dem erst 38jährigen Bürgermeister Rudolf Schwander. Nach Promotion bei Georg Knapp (Schwiegervater von Theodor Heuss) hatte er seit 1900 als Beigeordneter die Armenfürsorge und Arbeitslosenunterstützung progressiv umgestaltet. Dieser mit dem Kreis um Friedrich Naumann verbundene Reformer scheute nicht die Zusammenarbeit mit der SPD. Am Beispiel der Schulpolitik wird aufgezeigt, was der im letzten Jahrzehnt vor 1914 insoweit auch sozialliberal geprägte Kurs der sozialpolitisch flankierten geistig-kulturellen Erneuerung bewirken konnte. Dabei werden neben Erfolgen auch Grenzen der sozialen Öffnung des höheren Schulwesens und reformbehindernde Widerstände aus dem landesweit dominierenden katholischen Milieu ersichtlich. Wie von Stefan Grüner verdeutlicht wird, bestand zwar in Paris während der betrachteten Zeitspanne stets ein nach allgemeinem Männerstimmrecht gewählter Gemeinderat, jedoch mit beschränkten Kompetenzen. Das Präfektursystem installierte neben dem Bürgermeister einen Dualismus mit der zentralstaatlichen Administration, was in Preußen im Doppelcharakter der Stadtspitze zwischen Selbstverwaltung und kommunaler Obrigkeit zusammengebunden war. Darüber hinaus begünstigte die Wahlkreiseinteilung das gutsituierte Bürgertum gegenüber den bevölkerungsreicheren Kleinbürgerund Arbeiterquartieren. Schließlich fand in Paris keine Stadterweiterung in die stärker proletarisch geprägten Vororte statt. Dennoch war die Gemeindevertretung in den ersten Jahrzehnten nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Commune von einer – bis zu zeitweiliger absoluter Mehrheit dominierenden – linksrepublikanischen Tendenz geprägt. Forciert seit der Jahrhundertwende wurden die (linksliberalen bzw. kleinbürgerlich-demokratischen) „Radikalen“ zwischen erstarkenden Sozialisten und bis 1909 sogar in die Mehrheitsposition hineinwachsenden – nun gemäßigteren – Konservativen aufgerieben. Jenseits des gemeineuropäisch relativ unabhängig von der unterschiedlichen Einfärbung zu verzeichnenden Trends zu moderner großstädtischer Infrastruktur, Bildungsinvestitionen und Gesundheitsfürsorge blieb die Pariser Kommunalszene wesentlich symbolpolitisch aufgeladen. Das war

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gewiss neben der Hauptstadtfunktion auch von den Kompetenzgrenzen bestimmt. Diese beließen, außerhalb der für die Zeit nach 1914 durchaus beispielgebenden und bislang zu wenig beachteten Reformimpulse, weniger eigenen Gestaltungsspielraum als in anderen Metropolen. Aus dem ersten Teil sind an Paris die vergleichenden Ergebnisse bei Detlef Lehnert zu Berlin, London und Wien anzuschließen. In der Kommunalorganisation zeigt sich eine aufsteigende Stufenfolge der Autonomierechte dieser europäischen Metropolen von Paris über Berlin und Wien nach London.22 In der politischen Grundkonstellation gegenüber dem Zentralstaat, der in der Epoche des Imperialismus und Interventionismus auch in Großbritannien expandierte, bildete die relative Berliner Kontinuität dortiger Polarität von Kommunalfreisinn und konservativem Preußenstaat einen Sonderfall. Die Londoner Entwicklung war mit zuvor linksliberalem und dann ab 1907 gemäßigt konservativem Großstadtprofil insoweit der Pariser ähnlich. Dabei fiel der Logik beider Parlamentsstaaten gemäß auch der Oppositionseffekt zu landesweiten Regierungsperioden ins Gewicht. Darin Budapester Verhältnissen bis Mitte der 1890er Jahre nicht allzu fern, vermochte sich der Wiener Liberalismus nicht aus seiner Honoratiorenpolitik zu lösen. So konnte er nicht wie in Berlin zur analogen konservativen Wende der Zentralstaatspolitik noch auf Jahrzehnte ein Gegengewicht bilden. Die postliberale Lueger-Ära in Wien sollte allerdings nicht auf ihre christlichsozial-antisemitische Rhetorik reduziert werden, sondern war mit der Ausweitung des Verwaltungsapparats und der städtischen Eigenbetriebe teilweise auch ein funktionales Äquivalent zu anderenorts progressiver umrahmten Tendenzen dieser Art. Umgekehrt entsprach der Wiener Liberalismus zuvor nicht jedem gängigen Klischee: Weitgreifende und auf längere Sicht breiten Bevölkerungsschichten zugute kommende Investitionen wurden sogar auf expansiver Kreditbasis und gegen anfangs häufig noch kleinbürgerlich-demokratisch eingefärbte Kostenbedenken des alten Mittelstandes vorangetrieben. In London gelang einem im Kern parteiliberalen Grafschaftsbündnis der Progressives noch über die Jahrhundertwende hinaus die Einbindung von Gewerkschaftern und Reformsozialisten (der Fabian Society). Dem entsprachen in Berlin zunächst nur 22 Das sich einfach „London“ nennende Sprachrohr der progressistischen Mehrheitsgruppierung formulierte selbstbewusst den Anspruch: „We are the leaders of the world in local government and we are not going to sink to the level of Continental countries demoralized by militarism“ (8.2.1894). Weiteres Material aus Presse, Protokollen und Verwaltungsberichten im europäischen Metropolen-Vergleich bei Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994.

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sozialliberale Minderheiten um ihren 1910 gewählten Stadtrat Preuß. Diese gelangten seither, mit Unterstützung der trotz des Dreiklassenwahlrechts ein nennenswertes Gegengewicht zu Beharrungskräften im Kommunalfreisinn bereitstellenden SPD, zu Teilerfolgen. Nicht allein wegen des ergänzenden Vergleichs mit der japanischen Stadt Ōsaka kann der Text von Hideto Hiramatsu über Köln ein wenig aus sonst begründbarer großstädtischer Linie zu Frankfurt, München und Dresden gerückt werden. Schon angesichts der überwiegend katholischen Bevölkerung einer Erzbischofsstadt und eigenständiger Tradition einer Handelsstadt am Rhein konnte Köln noch am ehesten den Status einer preußischen Nebenmetropole zu Berlin beanspruchen. Fast ist es für dieses Kontrastprofil allzu symbolträchtig, dass in der Kölner Kommunalverwaltung bereits im späten Kaiserreich bekanntlich Konrad Adenauer tätig war. Denn vor der Vollausbildung eines Dreilagersystems mit seiner Zentrumspartei und der SPD wurde auch diese Stadt unter der Beschirmung des Dreiklassenwahlrechts vom liberalen Bürgertum geprägt. Der Vergleich mit Ōsaka, wo bis zum Ersten Weltkrieg noch die Honoratiorenpolitik dominierte und das eher zeitversetzt den Blick lohnt, macht auf Kulturdeterminanten aufmerksam. Die Fallstudie zur Armenfürsorge in beiden Städten lässt hervortreten, wie sehr die Ehrenamtlichkeit gerade in Japan im Sinne der sozialmoralischen „Kapitalbildung“ eines gehobenen Mittelstandes fungierte. Das galt prinzipiell auch für Köln und ebenso die soziale Positionierung der aktiven Trägerkreise unter denen, die es sich leisten konnten und ihr Ansehen weiter erhöhen wollten, aber nicht zu sehr in überregionale ökonomische Verflechtungen eingespannt waren. Sozusagen die Caritas-Motive standen im katholischen Milieu stets zur Verfügung. Aber die zumeist säkulare Lebenswelt dortiger Großstadtliberaler um 1900 ist hinsichtlich der Ziele sozialen Engagements nicht umfassend erforscht – sofern nicht wie beim reformerischen Protestantismus z.B. der Bildungsbürger um Friedrich Naumann eine verschriftlichte Sozialethik zugrunde lag. Der einführende Überblick von Dieter Langewiesche beleuchtet neben dem Vergleich ausgewählter Einzelaspekte und verschiedener Stadtprofile auch die Gründe für den besonders in der Zusammenschau unbefriedigenden Forschungsstand. Dafür ist es symptomatisch, dass sogar die hierzulande neben Langewiesches Standardwerk23 meistbeachtete Gesamtdarstellung Sheehans zum deutschen Liberalismus nicht von einem stadtbezogenen Aufsatz

23 Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 200– 211.

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des gleichen Autors profitieren konnte.24 Auch unterstreicht eine Übersicht zu vorliegenden Einzelstadt-, Vergleichs- und Gebietsstudien (mit benachbarten Städten) den – Generalisierungen erschwerenden – Bedarf an regionaler Differenzierung. So manche unterschiedliche Nuancierung ist z.B. aus südwestdeutschem Schwergewicht in Chancen betonenden, hingegen rheinischwestfälischen Bezugspunkten der politische und soziale Grenzziehungen mehr akzentuierenden Studien erklärlich.25 Die Relevanz des Themas auch ohne Spezialinteresse für die liberale Parteienfamilie des Kaiserreichs ergibt sich bereits aus diesem Faktum: Es wurden noch im Vorkriegsjahrzehnt „85 % aller ca. 100 deutschen Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern von Liberalen verwaltet“ (s.u. S. 55). Von im historischen Kontext ohnehin kaum rasch grundlegend änderbaren Rahmenbedingungen abgesehen, erscheint unter Geltung des Privilegienwahlrechts die Verbindung des kommunalliberalen Entpolitisierungsdiskurses mit faktischem Primat der Stadtverwaltungen26 der Hauptgrund für den Befund: Weder zeitgenössisch noch rückblickend war ein prominenter Ort für die Erinnerung an liberale Großstadtpolitik vorgesehen. Dies in angemessenere Proportionen zu rücken, ist ein Anliegen des Überblicks von Langewiesche, der außerdem die (noch sozialexklusive) bürgerdemokratische Selbstverwaltung als Anknüpfungspunkt für ein differenzierteres Geschichtsbild erörtert.

3. Ergänzende Großstadtprofile Der von Preuß erwähnte Indikator der „Aufhängung“ von Großstädten im deutschen und europäischen Verkehrsnetz bietet sich gerade im Hinblick auf frühe Eisenbahnverbindungen an.27 Diese entstanden primär nach den Kriterien von Bevölkerungszahl, Gütertransportbedarf, Entfernungsaufwand und 24 Vgl. James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, München 1983; ders., Liberalism and the City in Nineteenth-Century Germany, in: Past and Present 51 (1971), S. 116–137. 25 Zur Kommunalpolitik in den außer Köln später und sprunghafter gewachsenen rheinischen Großstädten vgl. Lenger, Bürgertum (S. 100 Tabelle des Städtewachstums und S. 121 exemplarisch zu Essen die parallel mit der Urbanisierung gehende Vergroßbürgerlichung der Gemeinderäte). 26 Am Beispiel von Dresden standen 1903 ermittelte lediglich 0,37 Mio. ehrenamtlich geleistete Stunden erdrückend dominierenden 5,69 Mio. hauptberufliche Verwaltungsstunden gegenüber: Sheehan, Liberalism, S. 125. 27 Als Überblick vgl. Ralf Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800–1914, Ostfildern 2005.

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Landesgrenzen. Nicht zufällig war also Leipzig mit Dresden schon 1839 durch eine innersächsische Eisenbahnlinie und damit überhaupt eine der ersten im Gebiet des Deutschen Bundes und Zollvereins verknüpft, nur ein Jahr nach der Pionierleistung einer Strecke von London nach Birmingham. Dass zehn Jahre darauf sämtliche in diesem Band eigenständig vorgestellten Städte über einen Bahnanschluss verfügten28, verschaffte dem europäischen Kontinent eine ganz neue Wirklichkeit. Kulturtransfer war z.B. auch transatlantisch von Europa in die USA und von dort aus zurück möglich, ebenso Fernhandel mittels der Verschiffung. In einem maritimen Zeitalter, dem kontinental die Lage der meisten Großstädte an schiffbaren Flüssen entsprach, war Großbritannien die führende Weltmacht und London die Welthandelsmetropole.29 Doch trotz Vorsprungs der Industrialisierung konnte deren Insellage allmählich zu einem Nachteil im Eisenbahnzeitalter werden. Die vielzitierte prekäre Mittellage Deutschlands bot insoweit Vorteile, und für den mitteldeutschen Raum galt dies zusätzlich bundesintern. Teilweise bereits die telegrafische Vernetzung und das Luftschiffzeitalter, endgültig der Beschleunigungseffekt aus einem Digitalisierungsprozess haben im Verlauf des 20. Jahrhunderts erneut zu europäischen und globalen Umlagerungen geführt. Die webmedialisierte Gegenwart könnte noch weiter den Blick auf die Bedeutung von interaktions- und kommunikationsgeschichtlichen Unterfütterungen der jeweiligen Grundstrukturen von wirtschafts-, sozial-, politik- und kulturgeschichtlichen Basisprozessen freilegen. Wie kaum eine andere Großstadt wird Leipzig, bereits Gründungsort von Ferdinand Lassalles ADAV (1863), vorrangig als Hochburg der Arbeiterbewegung betrachtet, seit 1869 die „Eisenacher“ Sozialdemokratie um August Bebel und Wilhelm Liebknecht meinend. Noch beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926 wurden die einzigen absoluten Mehrheiten der überhaupt Stimmberechtigten in den Wahlkreisen Berlin (ohne Eingemeindungen von

28 Jenseits einer infrastrukturellen Entwicklungslogik des in der Tendenz kontinuierlichen, nur im Tempo schwankenden Voranschreitens gab es vor dem Revolutionsjahr 1848 noch einen symbolträchtigen qualitativen Sprung: Nach dem Stand von Ende 1847 waren von Berlin aus Eisenbahnstrecken nach Norden bis Hamburg, nach Osten bis Breslau, nach Westen bis Köln, nach Süden hin aber nur bis Leipzig und Dresden befahrbar, sofern lediglich die größten und in diesen Band einbezogenen Städte betrachtet werden. Der süddeutsche Raum kam erst in den Folgejahren hinzu. 29 Der wichtige Hinweis, dass „am Vorabend des Ersten Weltkriegs immer noch sechs der 13 europäischen Millionenstädte Seehäfen waren“ (Lenger, Metropolen, S. 67), widerspricht nicht dem Zeitenwandel. Neben dem historischen Startvorteil blieb natürlich auch weiterhin (sekundär) der Charakter als Hafenstadt vorteilhaft.

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1920), Hamburg und Leipzig (mit dem Umland) erreicht.30 Die Geschichte der Leipziger Arbeiterschaft wie der Sozialdemokratie ist gut erforscht.31 Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass erst die zwischen 1889 und 1892 vollzogenen, die Einwohnerzahl fast verdoppelnden Eingemeindungen von Industrievororten mit hohem Arbeiteranteil die alte Handels- und Messestadt Leipzig forciert umstrukturierten32; nunmehr überwog der sekundäre Sektor (Industrie und Handwerk) mit 53 % Anteil deutlicher.33 Auch der stets (ab 1890 mit über 60 %) von der SPD gewonnene Reichstagswahlkreis Leipzig-Land gehörte seither mit gut zwei Dritteln der Bevölkerung zur Stadtgemeinde. Der Wahlkreis Leipzig-Stadt umfasste nur den vormaligen Gebietsbestand und blieb von 1871 bis 1898 in nationalliberaler Hand. Indem aber der seit 1893 kandidierende führende Alldeutsche Ernst Hasse einen rechtsgerichteten Nationalliberalismus verkörperte, kam es 1903 zur jungliberalen Rebellion mit einer Gegenkandidatur. Diese ging letztlich so weit, der SPD in der erforderlichen Stichwahl zum Mandatsgewinn zu verhelfen.34 Das zuvor geltende Kommunalstimmrecht aller mindestens 25jährigen Männer mit Leipziger Bürgerrecht und einem ungefähr 600 M. Jahreseinkommen entsprechenden Mindeststeuersatz (sowie zwei Jahre keine Armenunterstützung) wurde 1894 zu einem Dreiklassensystem verschlechtert. Die 5 % Einkommensstärksten ab ca. 15.000 M. Jahreseinkommen erhielten darin gleiche Vertretung wie 15 % gutsituierter Mittelstand ab ca. 4000 M. und restliche 80 % wahlpolitisch Unterprivilegierte in Arbeiterschaft, Kleinbürgertum und einfachem Mittelstand. Stadtpolitisch blieb die erste Klasse nationalliberal, die zweite wurde von der antisemitisch-konservativen Zeitströmung erfasst35, die dritte ging zunehmend und seit 1902 komplett an die SPD. Es kam dann zu wechselnden Mehrheiten im Stadtparlament, wobei aktive 30 Vgl. Jürgen Falter u.a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S. 80. 31 Vgl. u.a. Hartmut Zwahr, Die Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin 1978; Michael Rudloff u.a., Leipzig – Wiege der deutschen Sozialdemokratie, Berlin 1996 (mit weiterer Literatur). 32 Allerdings gehörte Leipzig neben den in diesem Band näher behandelten Metropolen Berlin, Budapest und München (sonst nur Glasgow) zu den überhaupt im 19. Jahrhundert „am schnellsten wachsenden Großstädten“; Osterhammel, Verwandlung, S. 379. 33 Vgl. Paul Brandmann, Leipzig zwischen Klassenkampf und Sozialreform. Kommunale Wohlfahrtspolitik zwischen 1890 und 1929, Köln 1998, S. 32–34; zur Bedeutung von Handel und Messe auch Michael Schäfer, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890 bis 1930, Göttingen 2003, S. 25 f. u. 29. 34 Vgl. Brandmann, Leipzig, S. 46, 57/Anm. 118, 49 u. 52 f. 35 Dazu besonders auch die Beiträge zu Dresden und Wien in diesem Band.

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Sozialpolitik wie kommunale Wohnungsaufsicht und sogar Einführung einer Wertzuwachssteuer gegen konservative Hausbesitz- und Mittelstandsinteressen zuletzt die nationalliberale Stadtelite auf Unterstützung der SPD angewiesen zeigte. Diese entfaltete mit 1914 reichlich 45.000 Parteimitgliedern in den beiden Reichstagswahlkreisen eine große Organisationsmacht.36 Neben dem überall anzutreffenden Primat der hygienischen und gesundheitsfürsorgerischen Innovationen37 sowie der seit 1880 vollzogenen Übernahme des Elberfelder Systems der Armenfürsorge in die Hände männlicher Wirtschaftsbürger und Akademiker fanden vorhandene Konzepte der Arbeitslosenversicherung und des Arbeitsnachweises ihre Grenzen in Verbands- und Interessenantagonismen. Nur für ungelernte und weibliche Arbeitskräfte erlangte die kommunale Arbeitsvermittlung eine nennenswerte Bedeutung gegenüber Angeboten von Unternehmer- und Gewerkschaftsseite. Diese eher geringen Ansätze der Kooperation vermochten die klassenpolarisierende Wirkung nicht aufzufangen, die von der kommunalpolitischen Entrechtung der Mehrheitspartei in Reichstagswahlen ausging.38 Die reale Klassenspaltung trotz einiger Kooperationsbereiche ließ Integrationsbemühungen dann umso mehr statt in der kommunalen über die nationale Mobilisierungsebene ablaufen.39 Die Gesamtzahl von 1912 immerhin 48.487 Bürgerrechtsinhabern konnte systemimmanent nichts daran ändern, dass für den zweiten Wahlkörper neben dem Hausbesitz z.B. auch sechs Innungsobermeister privilegierende Standespolitik betrieben und sieben von insgesamt 17 unbesoldeten Stadträten zu einer damals exponierten Vermögensspitze der Millionäre zählten. Der Leipziger Oberbürgermeister war ähnlich wie seine Amtskollegen unter der preußischen Magistratsverfassung mehr ein Primus inter pares und als solcher nur wenig vordisponiert, sich über Interessenlagen und Machtverhältnisse erheben zu können. Wenn steuerpflichtige 2800 M. Jahreseinkommen dort als die ungefähre Grenze von kleinbürgerlichen zu mittelständischen Ver36 Vgl. Brandmann, Leipzig, S. 47/Anm. 83, 50 f., 53–55 u. 57/Anm.118; Schäfer, Bürgertum, S. 41 f. u. 44. 37 Dazu nun auch Lenger, Metropolen, in gemeineuropäischer Sichtung: „Insgesamt kann die Angst vor Seuchen und Epidemien als Motiv für den infrastrukturellen Ausbau der Städte kaum überschätzt werden“ (S. 170). 38 Vgl. Brandmann, Leipzig, S. 89 ff., 75, 83 f., 117 u. 126; bei Schäfer, Bürgertum, S. 93 wird noch auf die 1905 nach Ablauf einer Konzession erfolgte Kommunalisierung der Elektrizitätswerke verwiesen. 39 Vgl. Schäfer, Bürgertum, S. 116; zum nicht sehr häufig anzutreffenden Großstadtvergleich auch Cornelia Rohr, Kommunaler Liberalismus und bürgerliche Herrschaft in den Städten Frankfurt am Main und Leipzig 1900–1924, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 6 (1994), S. 167–177.

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hältnissen gelten können, so waren 59 % der Freiberufler und 42 % der Gewerbetreibenden, aber nur ein Viertel der Angestellten und Beamten darüber angesiedelt.40 Die Privilegienstruktur der Stadtvertretung hielt keineswegs nur Arbeiter und Kleingewerbler, sondern auch den überwiegenden Teil der aufstrebenden neuen Mittelschichten in Leipzig vom Einfluss auf die 1. und 2. Wählerklasse fern. Für Breslau, das in den 1870er Jahren nach Berlin und Hamburg die drittgrößte Stadt im Deutschen Reich war, liegen Forschungsergebnisse aus Steuerlisten vor: Denen zufolge wiesen 1876 (jeweils nur Männer zählend) Arbeiter durchschnittlich nur wenig über 500 M. und die unteren Angestellten/ Beamten ca. 1000 M. sowie der alte selbständige Mittelstand und die neue angestellte/verbeamtete Mittelschicht ca. 1500 M. Jahreseinkommen auf. So war bei einem bis 1896 geltenden Mindesteinkommen von 900 M. für die städtische Wahlberechtigung die Mehrheit der Unterschicht ausgeschlossen. Bis 1906 hatten sich diese Einkommenswerte auch teuerungsbedingt auf etwa 750, 1300 und 2000 bzw. 2250 M. erhöht, wobei die Senkung des Mindeststeuersatzes auf 660 M. nun auch beträchtlichen Teilen der Arbeiter die Teilnahmechance eröffnete. Hingegen lebten schon 1876 (wesentlich auch akademische Freiberufler umfassende) Bildungsbürger mit durchschnittlich ca. 5500 M., höhere Beamte mit ca. 6000 M. und (am meisten innere Spreizung aufweisende) Wirtschaftsbürger mit ca. 6600 M. in deutlich privilegierten Verhältnissen. Allerdings fielen bis 1906 die Wirtschaftsbürger angesichts der älteren Gewerbestruktur (Textilbranche etc.) mit 7000 M. relativ zu den Lebenshaltungskosten zurück, die zeitgerechter positionierten Bildungsbürger verbesserten sich auf 7700 M., die höheren Beamten sogar auf 9800 M., was die fortwirkende Staatszentriertheit im östlichen Preußen unterstreicht. Zumal aber 42 % der Wirtschaftsbürger gegenüber 16 % der Bildungsbürger und nur um 10 % im Mittelstand 1906 Hausbesitz aufwiesen, wird ersichtlich, dass un-

40 Vgl. Schäfer, Bürgertum, S. 40, 59 f., 79 u. 138; dort werden auch zeitgenössische Einstufungen angeführt, die jenseits niedrigerer Stufen von subproletarischen „Armen“, proletarischen „Unbemittelten“ und kleinbürgerlichen „Wenigbemittelten“ die Kategorie zwischen 2000 und 4000 M. als die mittelständischen „Bemittelten“ von den bürgerlichen „Wohlhabenden“ über 4000 M. und den großbürgerlichen „Reichen“ über 10.000 M. unterscheiden wollten (S. 139). Gegenüber mittelstandsideologischen Ausdehnungsversuchen bis hin zu allen, die weder arm noch superreich waren, konnte dies als realistischere Skala gelten. Gleichwohl zählte ein so definierter Mittelstand nicht zum mittleren (kleinbürgerlichen und gehoben facharbeiterschaftlichen) Drittel der Gesamtbevölkerung, vielmehr bereits zur unteren Hälfte des oberen Drittels.

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ter den Gewerbetreibenden (und Rentiers) neben gehoben mittelständischen Existenzen sich auch eine Oberschicht in solchen Mittelwerten verbarg.41 Eine auffällige Differenz ergibt die Unterscheidung nach Konfessionen, was damals eine durchaus problematische Thematisierung sozialer Ungleichheit war, aus heutiger Sicht aber wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich sein mag. Wenn die männlichen Erwerbstätigen Breslaus für die Zähljahre 1876/1906 in 15–16 % (gehobeneres) Bürgertum, 27–28 % Kleinbürgertum und 56–57 % Unterschicht gegliedert werden, zählten 61–63 % der jüdischen Breslauer zum Bürgertum, hingegen nur 13–14 % der evangelischen und 6–10 % der katholischen. Entsprechend blieb die Unterschicht evangelisch und noch mehr katholisch, während nur im Kleinbürgertum ähnliche Prozentsätze vertreten waren. Insgesamt wurden 1906 (auch zuvor ungefähr zutreffende) 7 % jüdische, 33 % katholische und 58 % evangelische männliche Erwerbstätige in Breslau verzeichnet. Innerhalb der Kategorien war auffällig, dass 1876 bei jüdischen Wirtschafts- und Bildungsbürgern die Durchschnittseinkommen um 10.000 M. pendelten, bei evangelischen zwischen 4000 und 5500 M. lagen, hingegen die katholischen mit nur 1300–2300 M. dort eigentlich fehlkategorisiert waren. Hingegen strahlte die Fernhaltung von Juden aus der höheren Beamtenschaft auch noch auf die neue Mittelschicht ab, deren evangelische und katholische Mittelwerte knapp über 1500 M. statt nur etwas über 1250 M. der jüdischen Angestellten ergaben. Die Verschiebungen bis 1906 waren geradezu dramatisch, indem offenbar branchenbedingt jüdische Wirtschaftsbürger auf gehobenes Mittelstandsniveau absanken und Kleingewerbetreibende kaum noch kleinbürgerliches Niveau behaupten konnten. Hingegen blieben jüdische freiberufliche Akademiker mit deutlich über 10.000 M. führend, und bei den Privatangestellten hatten sich breitere Aufstiegschancen in Richtung 3000 M. eröffnet. Während auch Katholiken deutlich aufholten, waren nun in die 10.000 M.-Spitze aufsteigende evangelische Wirtschaftsbürger die eindeutigen Gewinner des industriellen Strukturwandels dieser Stadt.42 41 Vgl. Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Die Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 40 f., 173, 380 u. 47; für 1885 sind die Untergrenzen zur 2. Klasse mit 2700 M. und zur 1. Klasse mit 10.800 M. verzeichnet (ebd., S. 381). 42 Vgl. ebd., S. 39 u. 48–50; der jüdische Anteil der Gesamtbevölkerung betrug 1910 allerdings nur 4 % (ebd., S. 38), was in so erheblicher Differenz zu den Erwerbspersonen überwiegend aus geringerer Kinderzahl infolge modernerer bürgerlicher Familienverhältnisse zu erklären ist; zum jüdischen Leben und dem Antisemitismus vor Ort: Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000.

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An Breslau ist zudem kommunalgeschichtlich interessant, dass von dieser Nebenmetropole her mehrere Oberbürgermeister für Berlin rekrutiert wurden.43 Die innerpreußische Schwelle zum Geltungsbereich der rheinischen Bürgermeisterverfassung und dort anderem Regionalmilieu war offenbar höher als zu der einzigen östlicheren Stadt von derartiger Größenordnung. Ähnlich wie in Berlin und im Unterschied zu Leipzig ging die zuvor eher nationalliberale Tendenz der Reichsgründungsjahre in Opposition zu Bismarcks konservativer Wende 1878/79 in eine stärker freisinnige Richtung über. Das führt Richtungsprofile, primär strukturanalytisch betrachtend wegen des Konflikts um den Freihandel, auf „den Kern der linksliberalen Basis: das Handelsbürgertum“. Daneben engagierten sich auch erfolgreiche Rechtsanwälte wie der langjährig im Breslauer Linksliberalismus (bis hin zur Weimarer DDP) tätige Adolf Heilberg, der 1910 klarstellte, „daß die Meinung, Politik habe mit der Verwaltung der Stadt nichts zu tun, irrig sei“. Der zugleich in Ludwig Quiddes Deutscher Friedensgesellschaft tätige jüdische Bildungsbürger Heilberg dachte vor anderem geistigen Hintergrund ähnlich wie Friedrich Naumann mehr modern institutionell als noch individualistisch; er plädierte entgegen der Grundstimmung vieler Parteifreunde dafür, sich der SPD als Mitträger der kommunalen Angelegenheiten nicht weiter zu verschließen.44 Gleichzeitig blieb in Breslau gerade die jüdische Kaufmannschaft ein wichtiges Element des bürgerlichen Kommunalfreisinns: Unter den 54 liberalen Stadtverordneten waren 54 % evangelischer, 13 % katholischer und 28 % jüdischer Konfession (1903). Dies konnte für das gehobene Bürgertum vor Ort als ungefähr repräsentativ gelten, aber nicht für die Gesamtbevölkerung. Umgekehrt waren unter 35 konservativen Stadtverordneten in sonst ausgependelter 2:1-Besetzung mit evangelischen und katholischen Mandataren gar keine jüdischen vertreten, was deren Repräsentation also gänzlich ausklammerte und auf den Liberalismus verwiesen hat. Der besitz- und bildungsbürgerliche Honoratiorencharakter der Breslauer Stadtverordneten wird auch dadurch unterstrichen, dass ihr Durchschnittsalter von 53 Jahre (1877) noch auf 56 Jahre (1903) anstieg – ein Lebensalter, welches Angehörige der Unterschicht seinerzeit durchschnittlich gar nicht erreichten. In dieser Hinsicht ähnlich wie für Leipzig blieb nur die 1. Klasse stets unter liberaler Dominanz; in der 2. Klasse waren die Konservativen seit 1888 eine ungefähr gleichstarke 43 Vgl. in diesem Band S. 99 f.; der spätere Berliner Oberbürgermeister Forckenbeck verdiente in gleicher Breslauer Funktion übrigens 20.000 M. jährlich, also etwas mehr, als 1877 mit 16.400 M. der stattliche Mittelwert aller Stadtverordneten (aus ihrer bürgerlichen Existenz) ausmachte; Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 103/Anm. 132 u. 89. 44 Ebd., S. 137, 183 (Zitate), 231, 266 u. 329.

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Herausforderung, in der 3. Klasse von 1888 bis 1906 sogar durchweg in relativer oder absoluter Mehrheitsposition. Sie wurden dort 1912 erstmals von der SPD überholt, als insgesamt in allen drei Klassen 41 % Stimmen für die SPD, 40 % für Konservative und nur 17 % für Liberale abgegeben wurden. Das waren in absoluter Zahl nur etwas über 500 gültige Stimmen in der 1. Klasse, etwas über 5000 in der 2., aber nahezu 25.000 in der 3. Klasse.45 Eine beträchtliche Kopfzahl wurde im liberalen Lager, neben häufig andere Wege gehenden Interessenverbänden, nur über ein weit verzweigtes Vereinswesen erreicht; dieses erzielte jenseits der örtlichen Wahlvereine die relative Breitenwirkung eher durch parteipolitisch zurückhaltende Profile.46 Mit Blick auf Prag wird die inzwischen fast schon wieder in Richtung zeitgenössischer Selbstbilder der Verwaltung unterschätzte dezidiert politische Rahmensetzung des Kommunalen ersichtlich. Die tschechische/böhmische Nebenmetropole war um 1900 mit gerade einmal 200.000 Einwohnern der Größenordnung Straßburgs (150.000) näher als den anderen in diesem Band mit Fallstudien behandelten Großstädten im deutschen Kaiserreich. Das lag wesentlich an der blockierten Stadterweiterung, wobei die Vorstadtinteressen im Unterschied zu Wien von der kaiserlichen Regierung respektiert wurden. Denn eine Stärkung Prags in tendenzieller Perspektive auf einen Trialismus war gerade nach dem Ausgleich mit Ungarn (1867) nicht gewollt. Die Prager Stadteliten beantworteten die spürbare Zurücksetzung gegenüber der Hauptmetropole Wien und der Nebenmetropole Budapest mit stärkerer Orientierung an Paris.47 In den Grenzen des Groß-Prag von 1922 übertraf der urbane Verdichtungsraum auch vor dem Ersten Weltkrieg bereits den 500.000 Einwohner-Schwellenwert.48 Darin mehr Wien ähnelnd als Budapest, das in einem Agrarstaat der tertiäre Sektor prägte, war Prag ein Industriezentrum mit daneben auch starkem Handels- und Verwaltungssektor.49

45 Vgl. ebd., S. 97, 60, 91 u. 379 f. 46 Vgl. Manfred Hettling, Von der Hochburg zur Wagenburg. Liberalismus in Breslau von den 1860er Jahren bis 1918, in: Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region, München 1995, S. 253–276, hier S. 256–263. 47 Vgl. Gerhard Melinz/Susan Zimmermann, Großstadtgeschichte und Modernisierung in der Habsburgermonarchie, in: Ders./dies. (Hg.), Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918). Wien– Prag–Budapest, Wien 1996, S. 23 u. 245/Anm. 1. 48 Vgl. Jan Havránek, Das Prager Bildungswesen im Zeitalter nationaler und ethnischer Konflikte 1875 bis 1925, in: Ebd., S. 185. 49 Vgl. Jaroslav Láník, Urbanisierung in Böhmen und die Entwicklung der Prager Agglomeration, in: Ebd., S. 51.

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Hinsichtlich der bis 1918 schroffen Privilegienstruktur blieb Prag hingegen Budapest näher. Seit einer tschechisch-nationalen Positionierung des 1882 neu gewählten Bürgermeisters boykottierten fast alle Vertreter der deutschen Minderheit den Gemeinderat.50 Ohnehin bestand ein Drei-Kurien-Wahlsystem, das auch noch mit dem seit 1883 (zwei Jahre früher als in Wien) geltenden moderateren Fünfguldenzensus eine Oberschicht und Mittelstand bevorrechtigende Partizipationsschranke gegen Arbeiterschaft und Kleinbürgertum errichtete. Zur Abwehr des Übergreifens der christlichsozialen Bewegung von Wien ins gleichfalls vorwiegend katholische Prag schlossen im (Lueger-)Jahr 1896 die liberaleren und antiklerikalen „Jungtschechen“ mit den konservativeren „Alttschechen“ einen Gemeindepakt. Dieser machte über eine feste Mandatsaufteilung künftige Gemeinderatswahlen jenseits singulärer Fälle der massenhaft vollzogenen Stimmzettelabweichungen von Listenvorschlägen zur Farce. Entsprechend sank die Wahlbeteiligung von deutlich über 50 % auf gerade einmal 40 %.51 Solche nationalpolitisch motivierte vermeintliche kommunale „Antipolitik“ behinderte zwar nicht die infrastrukturelle Modernisierung der Stadt, der mit frühzeitiger Kommunalisierung der Gaswerke (1866) bereits vorgearbeitet war. Ansonsten zeigten sich aber in Prag gegenüber Wien und Budapest hohe Schuldenanteile an den Ausgaben und dennoch geringere Sozial- und Bildungsaufwendungen. Für die zurückbleibenden Sozialausgaben war die Tatsache mitverantwortlich, dass 79 % der Prager Bevölkerung im Jahre 1900 als Zugewanderte nach gesamtstaatlichem Armenrecht gar nicht „heimatberechtigt“ waren; sie hätten sich für etwaige Unterstützungsleistungen an ihre Herkunftsorte wenden müssen.52 Aufschlussreich für die besonderen Verhältnisse Prags, die Vergleichsperspektiven zu etwas weiter östlich gelegenen Stadträumen bieten können53, sind die Schulverhältnisse vor dem Hintergrund sprachnationaler und konfessioneller Heterogenität. Während 1890 insgesamt noch 15,6 % der Prager Einwohner sich deutscher Sprache zuordneten, sank dieser Anteil bis 1900 auf 9,3 %. Dies lag nicht in erheblichen Umschichtungen der Bevölkerung, sondern wesentlich darin begründet, dass „sich die vorwiegend zweisprachige 50 Vgl. Melinz/Zimmermann, Großstadtgeschichte, S. 27 mit Anm. 45/S. 248. 51 Vgl. Cathleen M. Giustino, Parteien, Politik, Demokratie und der Prager Kompromiß von 1896, in: Melinz/Zimmermann (Hg.), Blütezeit der Habsburgermetropolen, S. 123–127 u. 133. 52 Vgl. Gerhard Melinz/Susan Zimmermann, Die aktive Stadt. Kommunale Politik zur Gestaltung städtischer Lebensbedingungen in Budapest, Prag und Wien (1867–1914), in: Ebd., S. 147 u. 158–161. 53 Vgl. Ulrike von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006.

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jüdische Bevölkerung bei der Volkszählung zunehmend zur tschechischen Umgangssprache bekannte“. Wenn auch 1900/01 noch 15 % der Schulkinder deutsche Schulen besuchten, so hing solche Differenz zum einen damit zusammen, dass zwei Drittel jener Kinder zweisprachig aufwuchsen. Zum anderen verfuhren manche Eltern auch bewusst zweigleisig, indem sie „bei der Anmeldung ihrer Kinder in deutschen Schulen Deutsch als Muttersprache und in den Fragebögen der Volkszählung bei denselben Kindern Tschechisch als Umgangssprache anführten“. Da im Jahr 1900 in deutschsprachigen Schulen Prags 55,8 % der Kinder jüdischer Konfessionszugehörigkeit waren, hingegen in tschechischen nur 1 %, erschien die kulturelle Brückenfunktion ganz offensichtlich: Die Kinder jüdischer Eltern lernten für den Alltagsgebrauch tschechisch und sollten für Bildung und Beruf gleichzeitig deutschsprachig unterrichtet werden. Im Mittelschulbereich haben deutsche Anteile wegen des höheren Sozialstatus und der ausgeprägteren Bildungsorientierung der jüdischen Minorität sogar bei über 30 % gelegen.54

4. Vergleichende Schlussfolgerungen In der einzigen größeren Rede vor jüdischem Publikum, die wohlbemerkt aus der „Jüdisch-liberalen Zeitung“ überliefert ist, betonte Hugo Preuß besondere historisch-kulturelle Beziehungen: Zwar lebten 1925 von insgesamt geschätzten 15 Mio. Juden nur gut eine halbe Million in Deutschland, aber ungefähr 10 Mio. und somit zwei Drittel seien mit deutscher Muttersprache vertraut.55 Nicht eine nationalstaatliche Verbindung, sondern die sprachlich-kulturelle Brückenfunktion erschien so als ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die europäische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dass stattdessen ab 1933 tiefe Gräben aufgerissen und diese von 1939 bis 1945 mit Millionen Opfern vollgestopft wurden, hatte insofern nicht allein hinsichtlich der Vertreibung und Vernichtung der inländischen jüdischen Intelligenz auch eine selbstdestruktive Dimension. Weniger offensichtlich ist die Verflechtung mit dem Liberalismus, weil dieser außer etlichen Schattierungen auch verschiedene 54 Vgl. Havránek, Das Prager Bildungswesen, S. 190–193. Im Wintersemester 1874/75 waren an Prager Hochschulen 34 % deutsche und 63 % tschechische Studierende eingeschrieben (ebd., S. 188), darunter mit jeweils um 40 % Anteil überdurchschnittlich viele deutsche in den Fächern Jura und Medizin, die von Studenten jüdischer Herkunft bevorzugt wurden. 55 Hugo Preuß, Die heutige politische Lage des Reiches und das deutsche Judentum (1925), in: Ders., Politik und Verfassung in der Weimarer Republik (Ges. Schriften Bd. 4), Hg. Detlef Lehnert, Tübingen 2008, S. 292 (und Quelle S. 654).

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Herkunftsmilieus aufgewiesen hat. Umgekehrt war jedoch die Verknüpfung des aufgeklärten modernen Judentums mit liberalen Tendenzen umfassender, wenn auch keineswegs exklusiv: Vom preußischen Restaurationsphilosophen Friedrich Julius Stahl bis zum britischen Premier Benjamin Disraeli gab es auch prominente Konservative jüdischer Herkunft, wenngleich zumeist protestantisch getauft. Ohnehin ist der nicht unerhebliche Teil agnostischer Juden unter sozialistischen Intellektuellen und Politikern bekannt. Außerhalb vielschichtiger Prominenz war jedoch der Mainstream des jüdischen Bildungsund Besitzbürgertums um 1900 – wo es überhaupt an der Kommunalpolitik erwähnenswerten Anteil hatte – in unterschiedlichen Nuancierungen liberal orientiert.56 Mit Abstand den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil der betrachteten Städte wies Budapest auf, das gleichzeitig auch in den Sprachvolksgruppen vielfältiger als Wien und Prag war: Der zur Jahrhundertmitte noch mehrheitliche deutsche Anteil bildete sich zwar durch Zuwanderung deutlich zurück, betrug aber 1881 beachtliche 33 % und 1891 noch 24 %. Daneben gab es neben 55 bzw. 67 % sich als magyarisch Deklarierenden als drittgrößte Gruppe mit 6 % die Slowaken. Die Konfessionsverteilung zeigte neben einem zwischen 1880 und 1910 von 67 % auf 60 % sinkenden Katholikenanteil weiterhin leicht von 20 % auf 23 % steigende Werte der jüdischen Bevölkerung, ähnlich war es bei den 12 % bzw. 15 % der evangelischen.57 Wie in Prag das tschechische wird in Budapest das magyarische Nationsverständnis die jüdische Minderheit zur Relativierung sprachkulturell deutscher Identitätselemente gebracht haben. Diese zielten im Habsburger Vielvölkerstaat zuvor auf ein nationsübergreifendes Judentum. Erst das sich im wachsenden Antisemitismus manifestierende Scheitern derartiger Integrationskonzepte nährte bei Minderheiten auch zionistische Visionen, was aber im Kommunalbereich nicht weiter erörtert werden kann. Es ist bezeichnend, dass Lueger sich in Wien von einer angeblichen „judenliberalen Partei“58 aus demagogischen Gründen distanzierte, die anders als im wirtschaftlichen und geistig-kulturellen Leben dieser Stadt im Gemeinderat während ihrer politischen Vorherrschaft nur geringe jüdische Anteile gezeigt hatte.

56 Dazu Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918, Tübingen 1968; Werner E. Mosse/Mitw. Arnold Paucker (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, 2. erw. Aufl. Tübingen 1998. 57 http://de.wikipedia.org/wiki/Budapest (mit Belegen aus ungarischen Quellen). 58 So auf einer Wahlveranstaltung der Christlichsozialen im Jahr des Richtungswechsels: Reichspost, 7.6.1895.

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Wie umgekehrt der antisemitische Richtungswechsel in Wien (untergründiger auch in Dresden) hat sich der erwähnenswerte Anteil von Linksliberalen jüdischer Herkunft erst im Laufe der 1880er und 1890er Jahre in manchen der betrachteten Großstädte stärker profiliert. Die günstigsten Voraussetzungen einer intensiven Verflechtung waren dort anzutreffen, wo eine lange jüdische Tradition mit Hineinwachsen ins Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bestand, also nicht die rasche Zuwanderung bescheidener Existenzen das Bild des Judentums wesentlich prägte. Idealtypisch für das bürgerliche Assimilationsmodell war Frankfurt, wo zuletzt bis zur NS-Barbarei sogar der bedeutende Oberbürgermeister Ludwig Landmann (DDP) jüdischer Herkunft, wenn auch seit 1917 konfessionslos war.59 Zur Reichsgründung 1871 hatte Frankfurt mit 11 % den mit Abstand höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, in dieser Kategorie größter deutscher Städte gefolgt von Breslau (6,2 %) und Berlin (4,4 %).60 In diesen östlicher gelegenen Städten trafen beide Tendenzen aufeinander, die bürgerlich-liberale Synthese (jenseits der höheren Beamten) und stärkere antisemitische Widerstände. Jene doppelte Minderheitenfrage, wie die Sozialexklusivität der Stadtvertretungen die nennenswerte Partizipation jüdischer Bürger erleichterte, ist nicht hinreichend breit erforscht, um verallgemeinernde Aussagen treffen zu können. Sie gehört aber mit zu den Gründen, warum der kommunale Liberalismus nicht als Randthema vernachlässigt werden darf und Stadtgeschichtsschreibung auch in kultureller Hinsicht nicht der „Neutralitätsillusion“61 einer sich nur den Sachlösungen und dem Gemeinwohl verpflichtet sehenden Verwaltungselite aufsitzen sollte. Während bei prominenten jüdischen Vertretern der Kommunalpolitik auch Elemente des sozialen Ausgleichs und teilweise sogar des Brückenschlags zur Sozialdemokratie eine Rolle spielten, war die extreme stadtpolitische Hierarchisierung aus dem preußischen Dreiklassensystem und bei Wahlrechtsverschlechterungen ein gegenläufiger Faktor der Klassenpolarisierung.62 Wo in dritter Klasse besonders zahlreiche Angehörige der Unter- und Mittelschichten kommunal (und landespolitisch) diskriminiert blieben wie in Berlin und rasch wachsenden rheinischen Städten oder von Wahlrechtsverschlechterungen betroffen waren wie in Sachsen, wählten nach Kriegsende besonders viele 59 Zu seiner Biografie und Reformpolitik vgl. Dieter Rebentisch, Ludwig Landmann. Frankfurter Oberbürgermeister der Weimarer Republik, Wiesbaden 1975. 60 Vgl. Andrea Hopp, Jüdisches Bürgertum in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 34. 61 Lenger, Bürgertum, S. 99. 62 Bereits zeitgenössisch findet sich eine Übersicht bei Paul Hirsch/Hugo Lindemann, Das kommunale Wahlrecht, 2. Aufl. Berlin 1911.

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die USPD.63 Die seit 1914 intensivierte und zuvor bereits angebahnte Kompromisspolitik der SPD konnte eben auch nur mit passendem Gegenüber im bürgerlichen Lager funktionieren. Dieser bislang zu wenig epochenübergreifend untersuchte Zusammenhang mit der kommunalen Szenerie, die stets über die Stadtvertretung hinausgriff, sollte nicht überstrapaziert werden. Er geht aber wegen der sonstigen Heterogenität der erwähnten Regionen nicht einfach in anderen mitwirkenden Bestimmungsfaktoren auf. Das lange als „bonapartistisches“ Manöver Bismarcks unter-, inzwischen aber eher überschätzte Reichstagswahlrecht hat nicht allein integrierend, sondern zugleich als Kontrastfolie auch konfliktfreisetzend gewirkt: Wo die SPD bei allgemeinem Männerstimmrecht und Wahlbeteiligung über 80 % klare absolute Mehrheiten erzielte wie in Sachsen (1903: 58,8 %) oder gar eine Dreiviertelmajorität in Berlin (1912: 75,3 %)64, musste die weitere Zurücksetzung in der Stadt- und Landespolitik umso drastischer auffallen und Widerstand mobilisieren. Die Wiener „Arbeiter-Zeitung“ formulierte gegenüber kommunalen Privilegiensystemen, dort mittlerweile auch die postliberale christlichsoziale Ära treffend, die Grundsatzkritik entsprechend pointiert: „Das Wahlrecht ist doch nicht das Recht, am Wahltage einen Stimmzettel in die Urne zu werfen, sondern es ist das Recht auf Vertretung, es ist das Recht, innerhalb des Gemeinwesens seine Interessen in wirksamer Weise zu wahren“.65 Das konnte bei Ausschluss des einen und diskriminierender Untergewichtung der Stimmen des anderen Teils der Arbeiter und einfachen Angestellten nicht gelingen. Auch deshalb fiel der historische Bruch 1918/19 in Wien ähnlich wie in Budapest und stark polarisierten reichsdeutschen Regionen schroff aus. Die überwiegend mildere Form in Süddeutschland, abgesehen von der nicht auf breite Unterstützung gegründeten Radikalisierung in München, hatte außer landes- auch kommunalpolitische Hintergründe aus der Vorkriegszeit. So wie Straßburg an französische Nachbarverhältnisse der Wahlrechtsdemokratisierung auch unter deutscher Obrigkeitsverwaltung nach der Annexion von Elsass-Lothringen bald anknüpfte, war der südwestdeutsche Liberalismus insbesondere von Schweizer Traditionen mit beeinflusst. Im zentraleuropäischen Land der vielen Nachbarschaften wird deutsche Regionalgeschichte über den

63 Abgesehen vom Bezirk Merseburg, wo kaum mit der sozialdemokratisch-freigewerkschaftlichen Tradition verbundene neue „Massenarbeiter“ sich konzentrierten, waren 1920 die Wahlkreise (Alt-)Berlin mit 42,7 %, Leipzig (und Umgebung) mit 42,1 % und Düsseldorf-Ost (inkl. Teilen des Ruhrreviers) mit 32,8 % die USPD-Hochburgen; vgl. Falter u.a., Wahlen, S. 68. 64 Vgl. Ritter/Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 89 u. 69. 65 Arbeiter-Zeitung, 16.2.1900.

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Inlandsvergleich hinaus stärker von solchen Blicken über die Grenzen geprägt sein müssen. Abweichend von der Sicht auch der meisten Linksliberalen bestritt der sozialliberale Demokrat Preuß die althergebrachten Begründungen für Privilegien66: „Die Unterscheidung von wirtschaftlich-kommunaler und obrigkeitlich-staatlicher Selbstverwaltung ist also unhaltbar; hier wie dort dient die wirtschaftliche Verwaltung als Mittel für die politischen Zwecke und Aufgaben des Gemeinlebens“ (S. 714). Aber wenn man folgerichtig „von der Wesensgleichheit der engeren und weiteren politischen Verbände, Gemeinden, Staat und Reich ausgeht, kann man für eine Verschiedenheit in der Normierung der kommunal-, staats- und reichspolitischen Bürgerrechte, die bei der ihnen gemeinsamen Repräsentativverfassung im Wahlrecht gipfeln, keinen anderen prinzipiellen Unterschied finden, als etwa einen solchen, der sich aus der Verschiedenheit der Angehörigkeit zu jedem dieser Verbände ergibt“ (S. 592). Diese Auffassung teilte freilich der „ältere Liberalismus“ nicht: „Sein Bestreben ging in Wahrheit weit weniger auf die genossenschaftliche Organisation des politischen Gemeinwesens hinaus, als vielmehr auf die inhaltliche Beschränkung obrigkeitlicher Tätigkeit, wenn möglich bis zum bloßen staatlichen Rechtsschutz; was jenseits liegt, ist das Bereich der freien wirtschaftlichen Entfaltung gesellschaftlicher Kräfte. Insonderheit erscheint danach die ‚Gemeinde‘ im Gegensatz zum obrigkeitlichen ‚Staate‘ als ein prinzipiell wirtschaftlicher Verband; und diesem Dogma der altliberalen Lehre stimmte natürlich der alte Obrigkeitsstaat von Herzen gern zu“ (S. 707 f.). Mit obrigkeitskonformer Selbstbeschränkung auf wirtschaftliche Angelegenheiten wurde statt der Vorbildfunktion des Städtelebens eine Abtrennung von der Staatspolitik gefördert: „Diese Dogmatik war ein altes Erbstück des doktrinären Liberalismus und, gestützt durch die wissenschaftliche und politische Autorität Gneists, noch so wirksam, daß sich der damals einflußreiche Liberalismus auf die abschüssige Bahn dieser fälschlich sogenannten ‚Selbstverwaltungsorganisation‘ drängen ließ“ (S. 580 f.). Die Aufgabenerweiterung der Stadtverwaltungen im späten 19. Jahrhundert fokussierte die bürgerlichen Stadtvertretungen eher noch stärker auf die Ausgabenkontrolle. Solche „eta66 Die Seitenzahlen dieses Absatzes verweisen auf Handbuchartikel in Preuß, Ges. Schriften Bd. 5, die mit den Zitaten S. 580 f. u. 592 auf Erstveröffentlichung 1912 zurückgehen (S. 803); später hinzugefügte Teile der beiden anderen, in gleiche Richtung zielenden Zitate unterstreichen die Kontinuität seines Denkens. Auf die Sonderstellung von Preuß in der Überwindung der Gneistschen Selbstverwaltungslehre verweist Jürgen Reulecke, Stadtbürgertum und Sozialreform in Preußen, in: Gall (Hg.), Stadt, S. 183 unter Bezugnahme (der Anm. 47) auf Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1964, S. 28 u. 121.

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tistisch überformte Bürokratisierung der städtischen Selbstverwaltung“ trug mit der sacharbeitsbezogenen Neutralitätsfiktion eher dazu bei, dass in Ministerämter aufsteigende ehemalige Oberbürgermeister noch in der Weimarer Republik die Parteiendemokratie verkannten.67 Die lokale Selbstgenügsamkeit des Kommunalliberalismus, der gerade in konservativ regierten Monarchien wie Preußen und Sachsen die Obrigkeit nach den Verfassungskämpfen der 1860er Jahre nur selten herausforderte, fand auch bei der SPD eine betont kritische Beurteilung: „Wer verstehen will, warum es dem Bürgertum in Deutschland niemals gelungen ist, zur politischen Macht zu gelangen, der muß den Liberalismus dort studieren, wo er dank einer prähistorischen Gesetzgebung ohne eigenes Zutun Macht erhalten hat: in den freisinnig verwalteten Gemeinden.“68 Erst 1896 kam es überhaupt zu Ansätzen der Kooperation im Preußischen und seit 1903/05 dann im Deutschen Städtetag.69 Dabei hatten die Städte das bis Ende 1899 geltende Verbindungsverbot für politische Vereinigungen zugleich auf die mögliche überregionale Koordination ihrer Kommunalpolitik bezogen.70 Im Vergleich der betrachteten Städte fällt auf, dass überhaupt im deutschsprachigen Raum einigermaßen moderne politische Verhältnisse erst in der Zeit um 1905/10 hergestellt wurden. Erst seither bildete sich zumeist ein für das 20. Jahrhundert typisches Parteien- und Fraktionsgefüge heraus. Nun wurde die Honoratiorenpolitik auch in den Stadtvertretungen zunehmend abgelöst, nachdem sie in den Stadtverwaltungen bereits seit der ersten Umbruchsperiode um 1867/71 sich als nicht mehr den neuen stadtinfrastrukturellen Anforderungen gewachsen erwiesen hatte. Nicht zu unterschätzen vor allem für die östlichere Hälfte Europas ist die russische Revolution von 1905, die nicht allein im benachbarten Habsburgerreich manches in Bewegung setzte. Das westliche parlamentarische System Englands und Frankreichs war jedoch schon zwei Entwick67 Wolfgang Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs, in: Gall (Hg.), Stadt, S. 63. 68 Vorwärts, 4.10.1901. 69 Dazu noch immer die eigene Darstellung des Hauptgeschäftsführers Otto Ziebill, Geschichte des Deutschen Städtetages, 2. Aufl. Stuttgart 1956. 70 Das verbotsauflösende Gesetz betreffend das Vereinswesen vom 11. Dezember 1899 (RGBl. 1899, S. 699) bestand schlicht aus den beiden Sätzen: „Inländische Vereine jeder Art dürfen miteinander in Verbindung treten. Entgegenstehende landesgesetzliche Bestimmungen sind aufgehoben.“ Tatsächlich wählte der preußische Städtetag bewusst eine lockere Organisationsform, um „keinen Zweifel darüber zu lassen, dass wir keineswegs beabsichtigen, einen politischen Verein“ zu bilden; zit. nach Ziebill, Geschichte, S. 21 bei Hardtwig, Großstadt, S. 60. – Das Reichsvereinsgesetz von 1908 bedeutete einen zweiten Schritt der Teilliberalisierung, indem nun auch Organisationsverbote für die Frauen aufgehoben wurden.

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lungsphasen weiter: In der Hauptstadtpolitik folgte einer Mobilisierungsphase der Londoner Progressives und der Pariser Linksrepublikaner jeweils zwischen 1905 und 1910 ein konservativer Pendelschlag, ohne dass ein dezidiert restaurativer Kurs eingeschlagen wurde. Letztlich erscheint die Erforschung des kommunalen Liberalismus bzw. der liberalen Kommunen noch immer von einem doppelten Paradoxon belastet: Zum einen belegt gerade die Kommunalgeschichte, dass Liberalismus und Demokratie auch um 1900 noch weithin getrennte Welten gewesen sind. Mit fortschreitender Demokratisierung, forciert im und nach dem Ersten Weltkrieg, ging der Einfluss des liberalen Bürgertums zurück. Das Ergebnis waren nur in Nordwesteuropa (hier einschließlich Frankreichs und Skandinaviens verstanden) über Jahrzehnte ungebrochen rechtsstaatlich-parlamentarische Demokratien. Offensichtlich blieb, obgleich sich der klassische Liberalismus mit der Demokratie schwer tat, er dennoch eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren von soziologisch im Bourgeois-Sinne entbürgerlichten aber politisch-kulturell im Citoyen-Sinne verstaatsbürgerlichten modernen Demokratien. In großen Städten insbesondere eines nordwest- und zentraleuropäischen Raumes wurde angesichts deren innerer Vielfalt die liberal-demokratische bzw. sozialliberal-reformsozialistische Synthese am wirksamsten angebahnt. Zum anderen ist heute kontinental- und globalgeschichtlich mehr von (großen) Städten und weniger von (großen) Kommunen und im Vergleich zu einzel- und gesamtstaatlichen Betrachtungen auch nur sehr begrenzt von deren organisierten politischen Kräften die Rede.71 Wenn gleichzeitig diese Städte auch in Deutschland „Bastionen des Liberalismus“ gewesen sind, zum Stichwort „Bürgermeister“ aber dargelegt wird: „sie verstanden sich nicht als Parteileute“72, folgt das zu sehr der zeittypischen Dethematisierung einer liberalen Parteigängerschaft so manchen prominenten Stadtoberhaupts. Wenn im klassischen Stammland des Zweiparteiensystems in London die Liberalen „Progressives“ und die Konservativen „Moderates“ hießen, darf man sich nicht über kontinentale Benennungsdifferenzen zwischen Parteiströmungen auf lokaler und nationaler Ebene wundern. Aber wo Stadtoberhäupter ihre (lockere oder festere) liberale Parteibindung allenfalls verschämt öffentlich durchschimmern ließen, geschah das eben häufig auch im Wissen um die 71 Bei Osterhammel, Verwandlung, erscheint unter Liberalismus als prägnantes Stichwort (außer den „Hungerkrisen“) dieser nur als „weltpolitischer“ (S. 1561), bezogen auf Richard Cobden (S. 708). Die gesamteuropäische Stadtgeschichte von Lenger, Metropolen, kommt im Sachregister und Inhaltsverzeichnis gänzlich und dann weitgehend auch im Text ohne das Stichwort Liberalismus aus. 72 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie (1992), München 2013, S. 158 f.

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Minderheitsposition liberaler Stadteliten gegenüber der unterprivilegierten Bevölkerungsmehrheit – ob diese nun traditionell katholisch oder zunehmend sozialdemokratisch geprägt war.

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Kommunaler Liberalismus im Kaiserreich Bürgerdemokratie hinter den illiberalen Mauern der Daseinsvorsorge-Stadt

Der Geburtsort der bürgerlichen Gesellschaft ist die Stadt. In ihr entschied sich, wer dazu gehörte und wer nicht. Unstrittig war das nie. Doch im 19. Jahrhundert wurde es politisch streitiger als zuvor, als das neue Leitbild des Staatsbürgers Normen vorgab, mit denen die Sozialfigur des Stadtbürgers nicht übereinstimmte. Und weil er sich diesem Leitbild nur begrenzt öffnete, wurde der Stadtbürger angesichts des enormen Städtewachstums und des sozialstrukturellen Wandels, der damit einherging, in seiner Kommune zu einer Minderheit, deren rechtliche Privilegierung immer stärker in die Kritik geriet. Auf diese Entwicklungen musste der Liberalismus als politischer Repräsentant des Bürgertums reagieren. Es gelang ihm erfolgreicher als auf der staatlichen Ebene. Auch dort, in den Parlamenten der einzelnen deutschen Länder und des jungen Nationalstaates machten die Wahlbürger die liberalen Parteien zu einer wichtigen Kraft. Doch zur herrschenden Partei zu werden, gelang Liberalen nur in der Stadt. Als die Stadt im Kaiserreich zum sozialpolitischen Experimentierfeld wurde, als dort neue Formen der Daseinsvorsorge entstanden, verbunden mit einer bislang nicht gekannten kommunalen Leistungsverwaltung, geschah dies unter liberaler Dominanz in den städtischen Parlamenten und in den Leitungsgremien der Stadtverwaltung. In der Stadt wurden die Liberalen nicht nur zur regierenden Partei, hier entwickelten sie neue Ideen zur Gestaltung der Gesellschaft und erprobten sie auch. Doch in den Geschichtsbildern vom deutschen Liberalismus spielt dieser kommunale Wirkungsraum, obwohl er in der Geschichtsschreibung durchaus gewürdigt wurde1, nur eine geringe Rolle. Auch heute noch. Die 1 Eine erste Gesamteinschätzung gab James Sheehan, Liberalism and the city in 19th century Germany, in: Past and Present 51 (1971), S. 116–137; eine Gesamtdarstellung, die auch ein Kapitel zum Kommunalliberalismus im Kaiserreich enthält: Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988 u.ö.; eine vorzügliche politikwissenschaftliche Studie: Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994.

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intensive Bürgertumsforschung der vergangenen Jahrzehnte hat dieses Defizit nicht behoben und auch nicht beheben wollen. Sie setzte andere Schwerpunkte. Die drei großen Forschungsprojekte, die in Bad Homburg, Bielefeld und Frankfurt am Main entstanden sind, hatten sich dem deutschen Bürgertum vornehmlich des 19. Jahrhunderts gewidmet. Im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte2 und in Bielefeld3 hat man das Bürgertum in seiner sozialen und kulturellen Gestalt erforscht, kaum aber in den Städten aufgesucht4, und in Frankfurt, wo man das tat, endeten die meisten Studien mit der Gründung des Kaiserreichs. Der Liberalismus als parteipolitische Kraft stand auch hier meist nicht im Zentrum.5 Wer sich über den kommunalen Liberalismus informieren will, wird in zahlreichen stadt- und auch regionalgeschichtlichen Studien durchaus fündig. Doch ihre Befunde prägen nicht das Bild, das die Geschichtsschreibung vom deutschen Liberalismus zeichnet. Warum ist das so? Um darauf eine Antwort zu versuchen, sollen zunächst zwei andere Fragen erörtert werden: Welche Rolle spielten die Liberalen in der städtischen Politik? Und welchen Anteil hatten Liberale an der kommunalen Daseinsvorsorge, 2 Siehe vor allem die vier Bände „Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert“, hrsgg. von Werner Conze, Jürgen Kocka, Reinhart Koselleck und M. Rainer Lepsius (in der Reihe: Industrielle Welt, Stuttgart 1985–1992). 3 29 Bücher in der Reihe „Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte“ sowie Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988. 4 Wichtige Ausnahmen: Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999 (zu Breslau und Basel), und Hans-Walter Schmuhl, Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1998. 5 Einschlägig sind hier vor allem Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990; Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen Gesellschaft zur modernen Bürgergesellschaft 1760–1914, München 1996; Thomas Weichel, Die Bürger von Wiesbaden. Von der Landstadt zur „Weltkurstadt“ 1780–1914, München 1997. Die anderen Städtebände in der von Lothar Gall herausgegebenen Reihe „Stadt und Bürgertum“ enden um 1870, aber mit Ausblicken in die Zeit des Kaiserreichs. Eine zusammenschauende Bilanz der Bürgertums- und der Liberalismusforschung bieten die Beiträge in Lothar Gall (Hg.), Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, und für die Zeit bis Jahrhundertmitte Brigitte Meier/Helga Schultz (Hg.), Die Wiederkehr des Stadtbürgers. Städtereformen im europäischen Vergleich 1750 bis 1850, Berlin 1994; Elisabeth Fehrenbach, Die Entstehung des „Gemeindeliberalismus“, in: Dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, München 1997, S. 145–162.

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die im Kaiserreich vor allem in den großen Städten6 entstanden ist? Erst auf dieser Grundlage kann dann gefragt werden: Warum hat die wirkungsmächtige liberale Politik in diesem Raum, der für das Leben vieler wichtig war, so wenig Spuren hinterlassen im Bild vom deutschen Liberalismus? Damals und heute.

1. Liberale in der städtischen Politik „Die Gemeinden sind die wichtigsten öffentlichen Körperschaften, in denen der Bürger selbstverwaltend tätig sein kann. Das bißchen Demokratie, das wir in Deutschland überhaupt haben, findet sich in den Gemeinden.“ Das hätte ein an Preußen leidender Linksliberaler wie Hugo Preuß sagen können, doch zu lesen war es 1906 in einer sozialdemokratischen Zeitung Thüringens.7 Ein überraschendes Lob auf die Demokratie in den Gemeinden, denn ansonsten pflegten Sozialdemokraten die Illiberalität der kommunalen Verfassung anzuprangern, vor allem wegen des Wahlrechts. Es umzäunte den bürgerlichen Raum, in dem die Liberalen in den Städten sozial verankert waren, mit hohen Hürden gegen die politische Konkurrenz – zunächst vor allem gegen das katholische Zentrum und dann gegen die Sozialdemokratie, seit sie sich in der Kommunalpolitik kontinuierlich zu engagieren begann. Dieser illiberale Abwehrkampf der Liberalen in den Städten ist hinreichend bekannt, und die Beiträge in diesem Band bieten die Möglichkeit zum Vergleich mit den Verhältnissen in anderen Staaten, deshalb werden hier nur einige Grundlinien festgehalten. Das Gemeindewahlrecht variierte zwischen den deutschen Staaten stark, doch überall sorgte es dafür, dass die Zahl der Wahlberechtigten erheblich geringer blieb als bei den Wahlen zu den Landtagen oder gar zum Reichstag. Dieses Missverhältnis schwächte sich jedoch ab. Das lag vor allem an den steigenden Einkommen, die dafür sorgten, dass mehr Menschen die Zugangs6 Selbstverständlich muss nach Stadtgrößen und Stadttypen und ebenso nach den politischen Räumen in Deutschland unterschieden werden. Das tritt in diesem Versuch einer Gesamtdeutung, die vorrangig auf die großen Städte blickt, zurück. Auf Unterschiede zwischen dem deutschen Norden und Süden verweist zu recht Mark Willock, Chancen und Grenzen liberaler Reformpolitik auf der kommunalen Ebene. Das Beispiel Bremen 1900–1914, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 18 (2006), S. 59–70. 7 Tribüne. Sozialdemokratisches Organ für die Wahlkreise Erfurt, Nordhausen, Weimar, Eisenach, Jena, Sonderhausen, Mühlhausen und Sangerhausen, Nr. 240 v. 14.10.1906, zitiert nach Jürgen Schmidt, Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914, Göttingen 2005, S. 305.

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hürde zur Gemeindewahl überwinden konnten. So durften sich zum Beispiel in Frankfurt am Main während der 1870er Jahre nur ca. 38 % der Reichstagswähler an den Kommunalwahlen beteiligen, 1912 waren es 69 %.8 Diese Zahlen verweisen auf den harten Kern des illiberalen Fundaments, auf dem die liberale Machtposition in der Stadt bis zum Ende des Kaiserreichs aufruhte. Das Gemeindewahlrecht blieb trotz aller Reformen, unter denen die Einführung der Verhältniswahl zu den wirksamsten gehörten, ein bürgerliches Bollwerk zugunsten des kommunalen Liberalismus.9 An dessen linkem Rand wurde dies zwar kritisiert, doch generell gilt: Die liberalen Mehrheiten in den kommunalen Parlamenten nutzten alle Möglichkeiten, die das Wahlrecht 8 Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg (1866–1914), Frankfurt a.M. 1987, S. 175. Es gab aber auch gegenläufige Entwicklungen, vor allem wohl in Städten mit hoher Arbeiterbevölkerung, die mobiler war als das Bürgertum, so dass sie das Kriterium der Wohndauer oder des Zeitraums der Steuerzahlung in der Stadt nicht erfüllte. In Harburg z.B. durften 1878 noch 25 % der Reichstagswähler das Bürgervorsteherkollegium wählen, 1912 nur noch 13,5 %: Christian-Peter Witt, Kommunalpolitik in Harburg zwischen Interessen lokaler Eliten und Entstehung einer modernen Leistungsverwaltung (1867–1914), in: Jürgen Ellermeyer u.a. (Hg.), Harburg. Von der Burg zur Industriestadt, Hamburg 1988, S. 219–249, hier S. 225. Es gab auch Klagen über die „‚Drückebergerei‘ in den sogenannten besseren Ständen“, die das Bürgerrecht nur erwürben, wenn sie davon Vorteile erwarteten, wie Handwerker, kleine Kaufleute, die städtische Verordnungen gegen Konsumvereine und Warenhäuser verlangten, städtische Beamte oder Lehrer. So für Leipzig und Dresden formuliert in: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, 4. Band, 1. Heft: Königreich Sachsen, Leipzig 1905, S. 146 u. 116. 9 Detaillierter Überblick über das kommunale Wahlrecht und über Wahlrechtsänderungen bis zum I. Weltkrieg: Helmuth Croon, Das Vordringen der politischen Parteien im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung, in: Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1971. Ausführlich dazu auch die Beiträge von Dieter Hein zu Baden (S. 65–96) und Friedrich Lenger zu den rheinischen Großstädten (S. 97–169) in: Gall, Stadt und Bürgertum (wie Anm. 5) sowie Friedrich Lenger, Städtisches Bürgertum und kommunale Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert: Die größeren Städte der preußischen Westprovinzen und Bayerns im Vergleich (1998), erneut in: Ders., Stadtgeschichten. Deutschland, Europa und die USA, Frankfurt a.M. 2009, S. 137–173. Überblick auch bei Wolfgang Hofmann, Preußische Stadtverordnetenversammlungen als Repräsentativ-Organe, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 31–56. Ausführlich zum städtischen Wahlrecht und dessen Änderungen in Preußen, auch zu den Haltungen aller Parteien: Berthold Grzywatz, Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918, Berlin 2003. Vorzüglich nun mit Blick auf Ulm, Augsburg und Ludwigshafen: Oliver Zimmer, Remaking the Rhythms of Life. German Communities in the Age of the Nation-State, Oxford 2013.

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bot, um ihre Machtposition in den Städten so lange wie möglich zu verteidigen. Das Spektrum dieser Möglichkeiten war breit. In Sachsen zum Beispiel erlaubte es die Revidierte Städteordnung von 1874, die Wähler in Klassen einzuteilen, deren Kriterien die Stadt selber bestimmte. Leipzig legte die städtischen Steuern zugrunde, Chemnitz unterschied nach Berufsständen verbunden mit der Höhe der Staatssteuer. Als man in Chemnitz 1905 das Wahlrecht erneut verschlechterte – die Wähler wurden nun fünf Klassen mit je zwei Abteilungen zugeordnet, deren erster nur angehörte, wer länger als zehn Jahre im Besitz des Ortsbürgerrechts war, und zudem musste die Hälfte der 84 Stadtverordneten ein Wohnhaus in der Stadt besitzen –, war der Grund eindeutig: die drohende „Übermacht der Sozialdemokratie zu verhindern“, so der rechtsliberale zweite Oberbürgermeister, der in der umfangreichen, außerordentlich informativen Erhebung über die deutschen Städte, durchgeführt vom Verein für Socialpolitik kurz nach der Jahrhundertwende, den Bericht über Chemnitz übernommen hatte. Eine Minderheit der Stadtverordneten wollte sogar bis zu vier Stimmen je nach Dauer des Bürgerrechts vergeben.10 Den Kreis der Wahlberechtigten über das Bürgerrecht und andere Bestimmungen einzuschränken, traf allerdings auch Männer aus dem neuen Mittelstand, den die Liberalen für sich zu gewinnen suchten. Das schuf Interessenkonflikte unter den Liberalen, auf die sie in den Städten unterschiedlich reagierten. Das Wahlrecht generell und bei den Männern, die es besaßen, das Gewicht der Stimme nach Steuerleistung und nach Aufenthalts- oder Bürgerrechtsdauer festzulegen, entsprach durchaus dem liberalen „Prinzip von Leistung und Gegenleistung“. So der kommunalpolitisch aktive Sozialliberale Ignaz Jastrow 1894 in seiner Schrift „Die preußische Wahlreform nach dem Standpunkte socialer Politik“.11 Das Dreiklassenwahlrecht sei im Staat, wo „im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht die Steuer unter den Leistungen an 10 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Sachsen (wie Anm. 8), S. 184. Die liberale Mehrheit in Nürnberg verschlechterte 1910 das Gemeindewahlrecht, indem sie von der Bürgeraufnahmegebühr ausnahm, wer (u.a.) am 1.7.1869 in der Stadt ein besteuertes Gewerbe ausübte oder Dienstboten, Gewerbsgehilfen, Lohn- oder Fabrikarbeiter, die vor ihrer Bewerbung 15 Jahre als Volljährige in der Stadt gelebt und in dieser Zeit bei demselben Arbeitgeber beschäftigt waren: Schmuhl (wie Anm. 4), S. 306 f. In Ludwigshafen hingegen gelang es der Sozialdemokratie seit Ende des 19. Jahrhunderts durch verstärktes kommunalpolitisches Engagement die Aufnahme ins Bürgerrecht zu erleichtern. Vgl. die detaillierte Studie von Wolfgang von Hippel zum Kaiserreich in: Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein, Bd. 1, Hg. Stefan Mörz/Klaus-Jürgen Becker, Ludwigshafen 2003, hier S. 472–474, kommunale Wahlen S. 708–722. 11 So der Untertitel des Buches von Ignaz Jastrow, Das Dreiklassenwahlsystem, Berlin 1894, Kap. VI: Das Gemeinde-Wahlrecht, Zitat S. 104.

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den Staat keineswegs mehr die hauptsächlichste ist“, „eine geradezu sinnlose Einrichtung“ geworden, nicht aber in der Gemeinde „mit ihrem überwiegend wirtschaftlichem Charakter“. Hier werde „selbst der Gegner des kommunalen Dreiklassenrechts“ die Gefahr nicht abstreiten, „daß die gleiche Zählung der Köpfe Vertretungskörper schaffen könnte, in denen eine besitzlose Mehrheit ganz ausschließlich auf Kosten einer besitzenden Minderheit willkürlich schalten könnte“.12 Jastrow, einer der konzeptionellen Vordenker des neuen Sozialliberalismus13 im ausgehenden 19. Jahrhundert, fürchtete also, die große Zahl der Besitzlosen könnte es sich mithilfe des demokratischen Wahlrechts im stark erweiterten Netz kommunaler Sozialleistungen bequem machen und die Steuerzahler in den Gemeinden finanziell überfordern. Dies mochte aus liberaler Sicht Wahlrechtsbeschränkungen in den Gemeinden rechtfertigen. Doch die zahlreichen anderen Maßnahmen städtischer Parlamente mit liberaler Mehrheit, das Stimmgewicht der Vielen zugunsten der bürgerlichen Minderheit zu senken, folgten nicht liberalen Prinzipien, sondern dienten einzig dem Machterhalt in den Kommunen.14 Etwa die Veränderungen im Zuschnitt der Wählerklassen, deren Wirkungen wie auch bei der Einteilung der Stadt in Wahlkreise sorgfältig kalkuliert wurden, oder die Weigerung, den Wahltermin auf einen Sonntag und die Wahlorte nahe an die Arbeitsstätten zu legen, um auch denen, die nicht Herren ihrer Zeit waren, die Teilnahme an den Wahlen zu erleichtern. In Erfurt gab es noch 1912 nur ein einziges Wahllokal, in der Innenstadt gelegen und viel zu klein, so dass sich die Wahl über sechs Werktage hin zog.15 Auch die Bestimmung, der Wähler müsse selbständig sein, wurde genutzt, um Sozialgruppen auszuschalten, die nicht zur liberalen Klientel gehörten. Dem bürgerlichen Herrn, der zur Untermiete wohnte, billigte man Selbständigkeit zu, dem proletarischen Schlafburschen nicht. Hier griffen jedoch Gerichte ein, indem sie jedem Mann, der über sich verfügen kann, zusprachen, selbständig zu sein.16 12 Ebd., S. 104 f. 13 Vgl. dazu nun Detlef Lehnert (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2012. 14 Eindringlich dazu Schmuhl (wie Anm. 4), S. 225 ff. u. 305 ff. 15 Schmidt (wie Anm. 7), S. 295. 16 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Sachsen (wie Anm. 8), S. 132. Die Rechtsprechung und die Haltung der liberalen Gemeindefraktionen scheinen nicht einheitlich gewesen zu sein. In Berlin gab das Oberverwaltungsgericht dem Magistrat gegen die Stadtverordnetenversammlung Recht, Schlafburschen seien nicht wahlberechtigt in der Gemeinde, und auch wenn ein Familienangehöriger unentgeltlich im Krankenhaus behandelt werde, entziehe diese Leistung nach dem Armenrecht dem Vater das

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Die Haltung der liberalen Parteien zum Gemeindewahlrecht veränderte sich während des Kaiserreichs, und sie blieb uneinheitlich. In der kurz vor dem Ersten Weltkrieg verfassten Bestandsaufnahme, die das Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften aus der Feder von Parteirepräsentanten bot, betonte der nationalliberale Autor, seine Partei lehne es weiterhin ab, das Reichstagswahlrecht auf die Länder und Gemeinden zu übertragen.17 Auch der Artikel zur Kommunalpolitik der Fortschrittlichen Volkspartei18 hielt fest, die Mehrheit der Linksliberalen teile weiterhin Eugen Richters Position, nur wer in der Gemeinde eine Steuer zahle, dem stünden auch die Gemeinderechte zu. Eine demokratisch-linksliberale Minderheit sprach sich jedoch für ein allgemeines gleiches Wahlrecht in den Gemeinden aus. Für Männer. Bei den Frauen lediglich für die wirtschaftlich selbständigen. Bislang waren nur in Ländern, die das kommunale Wahlrecht nicht gesetzlich auf Männer beschränkt hatten, alleinstehende Frauen als Hausbesitzerinnen oder Höchstbesteuerte wahlberechtigt. Doch sie mussten ihre Stimme über einen männlichen Stellvertreter abgeben, den sie in seinem Votum nicht binden durften.19 Das muss hier nicht weiter ausgeführt werden; es genügt festzuhalten: In den städtischen Hochburgen des Liberalismus verteidigten die Liberalen mehrheitlich alle restriktiven gesetzlichen und administrativen Regelungen, von denen sie hofften, den Zugriff der Sozialdemokratie und auch des Zentrums auf die kommunalen Schalthebel der Macht zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Dies ist das gängige Bild vom Kommunalliberalismus im Gemeindewahlrecht: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Band 1.1: Königreich Preußen, Leipzig 1906, S. 124. Zu den Veränderungen in Bielefeld siehe Wolfgang Hofmann, Die Bielefelder Stadtverordneten. Ein Beitrag zu bürgerlicher Selbstverwaltung und sozialem Wandel 1850–1914, Lübeck 1964, S. 128 f. 17 Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, 3. Band, Jena 1924, S. 8–15 zu den Nationalliberalen vom geschäftsführenden Präsidialmitglied des Deutschen Industrieund Handelstags Dr. Otto Brandt. Die Artikel dieses Bandes wurden zwischen 1914 und 1917 ausgeliefert. 18 Ebd., S. 15–22, verfasst von Prof. Dr. Richard Eickhoff. 19 Vgl. etwa Schmuhl (wie Anm. 4), S. 213 f.; Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, 4. Band, 4. Heft: Königreich Bayern, Leipzig 1906, S. 87. Jan Palmowski (Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt am Main 1866–1914, Oxford 1999) spricht vom „extremely lukewarm support for the introduction of the women’s franchise in national and local elections“ (S. 247). Ausführlich dazu Christina Klausmann, Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich. Das Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1997, Kap. VII: Stimmrecht und politische Gemeindeämter. In Württemberg verloren Frauen, die einen Nichtbürger oder Bürger einer anderen Gemeinde heirateten, sogar ihr Bürgerrecht: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Band. 4: Königreich Württemberg von Dr. E. Springer, Leipzig 1905, S. 50.

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Kaiserreich. Auch ich habe zu ihm beigetragen. Das Kommunalparlament als „Herrenhaus der Freisinnigen“, wie es 1900 der sozialdemokratische „Vorwärts“ boshaft, aber nicht unzutreffend genannt hat.20 Doch es gibt noch eine andere Seite; sie hat die Forschung bislang wenig beachtet, und in das geläufige Bild vom Liberalismus und auch vom Kaiserreich ist sie nicht eingegangen: die vielfältigen Formen demokratischer Bürgerbeteiligung an der kommunalen Politik, die in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Liberale waren an ihnen beteiligt, organisierten und nutzten sie. Beides schloss sich nicht aus, sondern scheint aufeinander bezogen zu sein: die liberale Vorherrschaft in der Stadt mit illiberalen Mitteln verteidigen und die Stadt als Experimentierfeld für bürgerliche Teilhabe an der städtischen Politik. Dazu nun einige Beobachtungen. Breiter erforscht ist das, wie gesagt, nicht; am intensivsten für Frankfurt am Main.21 Um es zuzuspitzen: In Deutschland entstand die demokratische Urwahl in der Gemeinde. Und nur dort. Im Kaiserreich wurden nämlich in vielen Städten die Anwärter für die Wahl ins Stadtparlament in offenen Bürgerversammlungen nominiert. Eine Initiative aus der städtischen Bürgerschaft heraus; informell und am Wahlreglement vorbei. Ludwigsburg als Beispiel: Hier trat vor der Kommunalwahl eine allgemeine Bürgerversammlung zusammen, einberufen von einem Vorsitzenden, der auf einer früheren Versammlung bestellt worden war. Jeder Anwesende konnte Kandidaten vorschlagen. Aus der Abstimmung über sie ging, gereiht nach der Stimmenzahl, eine Liste hervor mit doppelt so vielen Kandidaten als Plätze im Stadtparlament zu besetzen waren. Aus diesen von den Bürgern nominierten Kandidaten – sie wurden öffentlich bekannt gemacht – stellten dann die Parteien ihre Listen für die Kommunalwahl zusammen.22 Anderswo übernahmen Bürgervereine die Aufgabe, Kandidaten für die Wahl der Stadtverordneten zu benennen und ihnen zu sagen, was man von ihnen im Stadtparlament erwarte.23 20 Vorwärts 20.4.1900, zit. nach Lehnert, Kommunale Institutionen (wie Anm. 1), S. 199. 21 Siehe vor allem Wolf (wie Anm. 8) und Palmowski (wie Anm. 19), Roth (wie Anm. 5) und ders., Liberalismus in Frankfurt am Main 1814–1914, in: Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region, München 1995, S. 41–86. 22 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Württemberg (wie Anm. 19), S. 58. 23 Für Harburg berichtet dies Witt (wie Anm. 8), S. 228; für die Kommunalwahl z.B. von 1867 in Frankfurt a.M. s. Wolf (wie Anm. 8), S. 129; für Breslau: Manfred Hettling, Von der Hochburg zur Wagenburg. Liberalismus in Breslau von den 1860er Jahren bis 1918, in: Gall/Langewiesche (wie Anm. 21), S. 253–266, hier S. 260 f.; für eine Vielzahl württembergischer Städte: Verfassung und Verwaltungsorganisation/Württemberg (wie Anm. 19), S. 58; für Dresden und Chemnitz: Verfassung und Verwaltungsorga-

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Zeitgenossen nannten dieses Verfahren meist „unpolitisch“ – das war anerkennend gemeint – oder sie sprachen kritisch vom „Stadtteilpartikularismus“24, denn meist traten die Bürgerversammlungen oder Bürgervereine wohl nach Stadtteilen zusammen. Auch die Forschung neigt dazu, erst dem Eingreifen von Parteien, vor allem seitens der Sozialdemokratie, die Politisierung der kommunalen Wahlen und Institutionen zuzuschreiben. Ich schlage hingegen vor, das Engagement stadtbürgerlicher Organisationen, seien es gruppenübergreifende Bürger- und Ortsteilvereine oder Interessenverbände wie die überall aktiven Hausbesitzervereine, als eine wirksame Form kommunaler Bürgerpolitik zu werten. Neu war sie nicht. Für Ulm und Stuttgart etwa sind diese Formen zivilgesellschaftlichen Engagements unter liberaler Regie bereits für die Gemeindewahlen der 1830er Jahre nachgewiesen worden.25 Neu war aber das Umfeld, in dem die Stadtbürger sich im Kaiserreich kommunalpolitisch engagierten. Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel konfrontierten die Städte mit ganz neuen Herausforderungen, denen sich die Kommunalpolitik zu stellen hatte. Die Willensbildung der Bürger gegenüber diesen großen Fragen der Zeit zu organisieren und in den Wahlen sichtbar zu machen, übernahmen in den Städten Bürgerversammlungen und Bürgervereine unterschiedlicher Art. In den Ländern und im Reich hingegen ging nichts mehr ohne die Parteien. Sie formierten sich hinter Programmen, organisierten die Wahlkämpfe, und als Fraktionen waren sie in den Parlamenten vertreten, die ohne sie nicht arbeitsfähig gewesen wären. In dem gesellschaftlichen Feld, in dem die Bürgerversammlungen und -vereine wirkten, war der Kommunalliberalismus sozial verankert, er nutzte es für seine Politik und suchte es als seinen Machtraum gegen Eindringlinge zu verteidigen. Auch mit illiberalen Mitteln. Aber darauf lässt sich die Politik nisation/Sachsen (wie Anm. 8), S. 117 u. 169; für badische Städte: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Band 4.2: Großherzogtum Baden, Leipzig 1906, S. 23 f.; für Hamburg und Bremen: Verfassung und Verwaltungsorganisation der Städte, Band 4.5: Die Hansestädte, Leipzig 1907, S. 15 u. 41; für Berlin und Magdeburg: Verfassung und Verwaltungsorganisation/Preußen (wie Anm. 16), S. 127 f., für die hannoverschen Städte: Ebd., Bd. 2, S. 167; für Münster Ute Olliges-Wieczorek, Politisches Leben in Münster. Parteien und Vereine im Kaiserreich (1871–1914), Münster 1995, S. 332 ff.; zu den „Vorwahlen“ und den Auswahlkriterien in Ludwigshafen s. v. Hippel (wie Anm. 10), S. 712 ff. 24 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Sachsen (wie Anm. 8), S. 117. 25 Raimund Waibel, Gemeindewahlen in Ulm (1817–1900). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Basis der bürgerlichen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, in: Ulm und Oberschwaben 47/48 (1991), S. 254–373 u. 263–268; ders., Frühliberalismus und Gemeindewahlen in Württemberg (1817–1855), Stuttgart 1992; für das spätere 19. Jahrhundert s. die Ausführungen zu Ulm bei Zimmer (wie Anm. 9).

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der Liberalen in den Städten nicht reduzieren. Hinter der Abwehrmauer, die sie teilweise selber mit abtrugen und deren Durchlöcherungen sie zugleich immer wieder zu stopfen suchten, lag ein Raum, der den Bürgern vielfältige Möglichkeiten bot, an der kommunalen Politik teilzuhaben, ihre Interessen eigenständig zu formulieren, zu organisieren und auszuhandeln. Allerdings ein Raum mit begrenztem Zugang; begrenzt auf jene Männer, die in der Lage waren, die Bedingungen zu erfüllen, die staatliche und kommunale Institutionen rechtlich und administrativ setzen. Diese Begrenzung der Akteure und des sozialen Raumes, in dem sie handelten, ermöglichte offensichtlich demokratische Partizipationsformen, für die in der sozial offeneren Politik auf der Ebene des einzelnen Staates und vor allem des Reichs die Voraussetzungen fehlten. Zu dieser kommunalpolitischen grass-roots-Demokratie im illiberal begrenztem Raum gehörten die erwähnten Bürgerversammlungen und Bürgervereine, die politische Willensbildung organisierten und auf die städtischen Wahlen ausrichteten. Im Laufe des Kaiserreichs übernahmen diese Aufgabe auch in den Kommunen mehr und mehr die Parteien. Das war ein Prozess, der in den Städten unterschiedlich schnell und unterschiedlich durchgreifend verlief, ohne jedoch die Vereine auszuschalten. Die vielen zeitgenössischen Berichte und die stadtgeschichtliche Forschung vermitteln vielmehr den Eindruck, dass die Interessenorganisationen in den Städten früher die Politik durchdrungen haben als auf der zentralen Ebene. Der oft festgestellte Rückzug der wirtschaftlichen Eliten aus den kommunalen Institutionen im späten Kaiserreich widerspricht dem nicht. Sie konnten über Interessenorganisationen Einfluss ausüben.26 Der Kommunalliberalismus war in all diesen Bereichen bürgerlichen Engagements aktiv. Vor Wahlen beteiligten sich die Liberalen intensiv an den Wählerversammlungen oder organisierten sie selber. Die Vielfalt der Bündnisse, die dort geschlossen wurden, gehört ebenfalls zu den kommunalpolitischen Besonderheiten. Die Liberalen sahen zwar im katholischen Zentrum und in der Sozialdemokratie ihre Hauptgegner in den Städten, und umgekehrt, doch hier kam es über weltanschauliche Grenzen hinweg immer wieder zu Koalitionen, in die auch die Konservativen einbezogen wurden. Diese Koalitionen waren nicht auf Dauer angelegt, aber verhinderten doch eine feste Lagerbildung in den Kommunen. Es war üblich, Repräsentanten verschiedener Interessenor26 Dazu äußern sich viele Studien; detailliert Hans Hesselmann, Das Wirtschaftsbürgertum in Bayern 1890–1914. Ein Beitrag zur Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Politik am Beispiel des Wirtschaftsbürgertums im Bayern der Prinzregentenzeit, Wiesbaden 1985.

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ganisationen auf die Liste zu nehmen, mit denen die Parteien in die Kommunalwahl zogen. Ohne Listenplatz keine Wahlchance. Die Wähler wussten damit umzugehen. In Ulm zum Beispiel gaben sie in den Wahlen zum Bürgerausschuss, der als weniger wichtig galt, mehr unveränderte Wahlzettel ab als in den Wahlen zum Gemeinderat. Hier panaschierten sie häufiger, wählten kommunalpolitisch also à la carte.27 Als 1902 in Stuttgart 15 Sitze im Bürgerausschuss zu besetzen waren, konkurrierten um sie 38 Kandidaten auf 10 Listen. Die bei weitem größte Zahl an unveränderten Wahlzetteln wurde für die sozialdemokratische Liste abgegeben, dann folgten die nationalliberale Deutsche Partei und die linksliberale Volkspartei, schließlich mit weitem Abstand die Konservativen und das Zentrum, und noch weniger geschlossen wurde für die restlichen fünf Listen gestimmt: Vereinigte Bürgervereine, ein Hausbesitzerverein, eine Handwerkervereinigung, ein Mieterverein und eine Ortsteilliste.28 Deutlich wird daran zweierlei: Erstens, den Parteien gelang es im späten Kaiserreich nur noch begrenzt, die verschiedenen Interessengruppen in den Kommunalwahlen auf ihren Listen einzubinden. In Stuttgart in geringerem Maße als etwa in Frankfurt am Main.29 Und zweitens, die Wählerschaft der SPD stimmte am stärksten geschlossen ab. Doch auch die liberalen Parteien verfügten über eine beträchtliche Wählerschaft, die politisch so festgelegt war, dass sie keinen Anlass sah, den Listenvorschlag ihrer Partei zu verändern. Vermutlich werden die Verhältniswahlen, die nach der Jahrhundertwende eingeführt wurden, die Bereitschaft verringert haben, offene Listen zu bilden.

2. Kommunaler Liberalismus in regional differenzierten Richtungskonflikten Die Liberalen, das Zentrum und die Sozialdemokratie schlossen in den Kommunalwahlen, um eigene Interessen durchzusetzen und den Gegner abzublocken, zwar häufig ad-hoc-Koalitionen untereinander und gegeneinander, zum Teil für die gesamte Wahl, zum Teil für einzelne Wählerklassen. Doch generell war ihr Wahlkampf auch in den Städten darauf ausgerichtet, die poli27 Waibel, Ulm (wie Anm. 25), S. 290. In den 1820er Jahren äußerte sich diese Differenzierung darin, dass die Beteiligung an den Stadtratswahlen erheblich höher lag als zu den Bürgerausschusswahlen. 28 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Württemberg (wie Anm. 19), S. 59. 29 In Frankfurt stellte der Gesamtliberalismus 1911 noch 46 der 71 Mandate im Stadtparlament; die restlichen 25 teilten sich die SPD (22) und eine Mittelstandsvereinigung (3); Palmowski (wie Anm. 19), S. 391 (Tabelle 1877–1913).

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tischen Grenzen zwischen ihnen scharf zu ziehen und weltanschaulich zu dramatisieren. So kooperierten in Berlin die sozialdemokratischen Abgeordneten in vielen Sachfragen, die zu entscheiden waren, mit der linksliberalen Mehrheit, doch im Wahlkampf profilierten sie sich als Hauptgegner. In dem stolzen Rechenschaftsbericht, den Paul Hirsch 1908 über ein Vierteljahrhundert sozialdemokratischer Gemeindepolitik in Berlin veröffentlichte, über 500 Seiten stark, unterschied er bei den Wahlergebnissen schroff zwischen Sozialdemokraten und „Gegnern“. Letztere zu differenzieren, sei überflüssig.30 Dies dürfte auch der Absicherung im eigenen Parteimilieu gedient haben, das misstrauisch blieb gegenüber den sozialdemokratischen Pragmatikern, die im Rathaus mit den liberalen Gegnern zusammenwirkten und von diesen wegen ihrer Offenheit gelobt wurden.31 Auch zwischen Liberalen und Zentrum schlossen sich Dramaturgie des weltanschaulichen Gegensatzes und Kooperation in der Stadt nicht aus. So unterstützten sich nach dem Kulturkampf sogar in Münster, kommunalpolitisch fest in der Hand des Zentrums, Liberale und Katholiken in Stadtviertelvereinen, um die Interessen ihres Stadtteils durchzusetzen. Und die wenigen Liberalen, die dort in die Stadtverordnetenversammlung gewählt wurden, betraute man mit Ämtern.32 In programmatischen Äußerungen hingegen grenzten sich Liberale weltanschaulich scharf vom katholischen Zentrum ab, und dessen Repräsentanten beklagten nicht minder grundsätzlich die Verweigerung von Parität seitens der Liberalen. „Parität nach der konfessionellen und der politischen Seite“ sei ein Hauptziel des Zentrums in der Kommunalpolitik; so Carl Trimborn, ein katholischer Multifunktionär, lange Jahre auch

30 Paul Hirsch, 25 Jahre sozialdemokratischer Arbeit in der Gemeinde. Die Tätigkeit der Sozialdemokratie in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, Berlin 1908, S. 2. 31 Vgl. dazu Dieter Rebentisch, Die deutsche Sozialdemokratie und die kommunale Selbstverwaltung. Ein Überblick über Programmdiskussion und Organisationsproblematik 1890–1975, in: Archiv für Sozialgeschichte 25 (1985), S. 1–78, hier S. 15 f. Lob auf die sachkundige Mitarbeit sozialdemokratischer Stadtverordneter durchzieht die zitierten Berichte des Vereins für Socialpolitik aus der Zeit kurz nach 1900. So betont der Bericht über Württemberg, Parteigegensätze seien wichtig, träten aber in den Gemeindekollegien ganz zurück. Nur in Stuttgart gebe es Fraktionsbesprechungen. Sozialdemokraten träten zwar in den Gemeindekollegien geschlossener auf, doch übereinstimmend würden sie als „ein Element des Fortschritts“ bezeichnet. Dazu gehörte, dass sie in Heilbronn für eine Erhöhung der Gehälter auch der höheren Beamten und in Göppingen für die Erhöhung des Schulgeldes an höheren Schulen gestimmt hätten. Verfassung und Verwaltungsorganisation/Württemberg (wie Anm. 19), S. 60 f. 32 Olliges-Wieczorek (wie Anm. 23), S. 330 u. 339. Ähnlich in Ludwigshafen, s. v. Hippel (wie Anm. 10), S. 548.

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Stadtverordneter in Köln.33 Gerichtet war dies vor allem gegen die liberale Dominanz, ermöglicht durch das Wahlrecht, in den Institutionen mehrheitlich katholischer Städte. Das Ineinander von politisch-weltanschaulicher Abgrenzung zwischen Parteien und deren pragmatischer Kooperation im Rathaus ist kein Zeichen für eine ‚unpolitische Politik‘ in den Kommunen. Aber Politik in der Stadt verlief doch in anderen Bahnen als in der Landes- und Reichspolitik. Dieses Anderssein kam dem Kommunalliberalismus als dem Hauptrepräsentanten des städtischen Bürgertums im Kaiserreich zugute. Dazu zwei Beobachtungen: Kommunalpolitik war eine Politik ohne Programme. Dies hat es den Bürgervereinen und anderen lokalen Interessenorganisationen erleichtert, untereinander und mit den Parteien zu kooperieren. Das kam vor allem den Liberalen zugute, die in diesem wahlrechtlich umzäunten stadtbürgerlichen Milieu am stärksten verankert waren und dies über das Wahlrecht auch dort in Mandate umsetzen konnten, wo sie keine Mehrheiten gewannen. Ein für das gesamte Reich einheitliches kommunalpolitisches Programm hat während des Kaiserreichs keine Partei verabschiedet. Selbst für die Sozialdemokratie, die klassische Programmpartei, schrieb Paul Hirsch, einer ihrer aktivsten kommunalpolitischen Protagonisten, noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg, „die Zeit für ein Kom[munal]Programm, das Nord und Süd, Ost und West, verbände, [ist] heute noch nicht gekommen“.34 Das sahen die anderen Parteien ebenso. Im Linksliberalismus entstanden seit dem Jahrhundertende zwar einige regionale Kommunalprogramme, doch auf ein gemeinsames einigte man sich nicht. Unter den Nationalliberalen sah man dazu von vornherein keine Veranlassung, zumal man befürchtete, durch ein Programm die Koalitionsmöglichkeiten mit den bürgerlichen Gruppierungen in den Städten einzuschränken. Auch die Zusammenarbeit aller liberalen Richtungen, die in 33 Justizrat C. Trimborn, Zentrum, in: Handwörterbuch Kommunalwissenschaften (wie Anm. 17), S. 22–29, hier S. 27. Trimborn trägt in diesem Artikel statistische Daten zusammen. Die besten Daten gab es für Rheinland und Westfalen: Die kommunalpolitischen Verhältnisse Rheinlands und Westfalens. Ergebnisse einer Rundfrage in den Städten und Gemeinden mit über 10.000 Einwohnern, in: Kommunalpolitische Blätter. Archiv für die Angelegenheiten der Selbstverwaltungskörper in Stadt u. Land. In Verbindung mit Kommunalpolitikern aller deutschen Landesteile hrsgg. von einem Ausschuss rheinischer Stadtverordneten, Köln 2. Jg. Nov./Dez. 1911, Nr. 11/12, Sp. 321– 366. Detailliert zu den kommunalpolitischen Koalitionen und Konfliktlinien für Ulm, Augsburg und Ludwigshafen: Zimmer (wie Anm. 9), insbes. Kap. 5. 34 Paul Hirsch, Sozialdemokratie, in: Handwörterbuch Kommunalwissenschaften (wie Anm. 17), S. 29–35 u. 16.

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den Kommunen länger überdauert hatte, wäre durch Programme erschwert worden. Einen Gesamtliberalismus gab es im Kaiserreich zwar auch in der Kommunalpolitik nicht mehr, doch die Trennlinien wurden länger überbrückt als in den Ländern und im Reich.35 Dazu gehörte auch, dass Stadtparlamente mit linksliberaler Mehrheit nationalliberale Oberbürgermeister wählten.36 Nicht über ein offizielles kommunalpolitisches Programm zu verfügen, bedeutete nicht, in den Wahlen auf programmatische Aussagen zu verzichten. Informelle kommunalpolitische Programme entstanden in der politischen Praxis lange bevor sie aufgeschrieben und offiziell verabschiedet wurden. Eine Programmgeschichte auf kommunaler Ebene zu schreiben, verlangt deshalb, die Forderungen zu sichten und zu analysieren, mit denen die Parteien in die Wahlen gingen und Koalitionen schlossen. Zeitgenossen sprachen von der „Amalgamierung mit lokalen Wünschen“.37 Flugblätter, Wahlaufrufe, Be35 Vgl. dazu und zu den Programmen (mit Texten): Eickhoff, Volkspartei, und Brandt, Nationalliberale, in: Handwörterbuch Kommunalwissenschaften (wie Anm. 17). Kurzer Überblick über den Zusammenhalt des Kommunalliberalismus bei Karl Heinrich Pohl, Liberalismus und Bürgertum 1880–1918, in: Gall, Bürgertum und bürgerlichliberale Bewegung (wie Anm. 5), S. 231–291, hier 273–278. Für Nürnberg betont Petrus Müller (Liberalismus in Nürnberg 1800 bis 1871, Nürnberg 1990) in seinem Ausblick ins Kaiserreich, dass die programmatischen Gräben zwischen Freisinn und Nationalliberalen tief gewesen seien, wenn es um die Landes- und Reichspolitik ging, während sie, gestützt durch die gemeinsame Opposition gegen die Sozialdemokratie, kommunalpolitisch häufig zusammengingen (S. 376). 36 Für Frankfurt a.M. detailliert Palmowski (wie Anm. 19); er korrigiert auch überzeugend das überparteiliche Selbstbild, das Franz Adickes von sich gezeichnet hatte. Diesem Selbstbild folgte noch Otto Ziebill, Politische Parteien und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1964, S. 16. Auch andere Oberbürgermeister präsentierten sich und die gesamte städtische Leitung als unparteiische Sachwalter des Gemeinwohls; s. etwa für Berlin Adolf Wermuth, Ein Beamtenleben. Erinnerungen, Berlin 1922, oder Leo Lippmann, Mein Leben und meine amtliche Tätigkeit. Erinnerungen und ein Beitrag zur Finanzgeschichte Hamburgs. Aus dem Nachlaß hrsgg. von Werner Jochmann, Hamburg 1964. Allgemein s. Werner Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches von 1890 bis 1933, Stuttgart 1974. 37 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Baden (wie Anm. 23), S. 95 (Artikel zu Mannheim durch den dortigen Stadtsyndikus L. Landmann). Trimborn (wie Anm. 33) betonte für das Zentrum ebenfalls, um dessen kommunalpolitisches Programm, das es formell nicht gibt, zu erkennen, müsse man auf die Praxis schauen. Hier sei vor allem in den größeren Städten „ziemlich übereinstimmend“ (S. 27) verfahren worden. Zur „Amalgamierung mit lokalen Wünschen“ gehörte bei den Liberalen zum Beispiel, dass in Schwennigen beide liberale Parteien gegen die Abschaffung der Gebühr für die Volksschule und der Fleischsteuer stimmten, in Heilbronn hingegen dafür, wie es der

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richte über lokale Vereins- und Parteiversammlungen bieten Auskunft. Dazu gibt es bislang wenig und keine städtevergleichenden Studien. Eine weitere kommunalpolitische Besonderheit, die oft als unpolitisch missverstanden wurde, tritt in der politischen Sprache hervor. Sie war im kommunalpolitischen Raum stärker auf Konsens und Ausgleich angelegt als in der Landes- und Reichspolitik. So sprach man in der liberal dominierten Berliner Stadtverordnetenversammlung nicht von Fraktionen, obwohl sie die Vorlagen des Magistrats vorab unter sich berieten und die Mitglieder für die wichtigen Ausschüsse und Deputationen nominierten, – man sprach von „meinen Freunden“.38 Zu ihnen gehörten alle, die sich an den Debatten-Ton und die Umgangsformen im Stadtparlament hielten. Als dort Antisemiten einzogen, scheint sich das geändert zu haben. Zeitgenossen nannten dies, der „unpolitische Charakter“ habe sich geändert.39 Für Breslau, auf das sich das Zitat bezieht, hat Till van Rahden ermittelt, wenn die Antisemiten „den Sitzungssaal im ... Rathaus betraten, mußten sie auf offen antijüdische Rhetorik verzichten“. Die „Sprache des Antisemitismus“ habe dort „nicht nur keinen fruchtbaren Boden“ gefunden, sondern „nachgerade ein Tabu“ gebildet.40 Das kam dem dortigen Liberalismus zugute, für den die Juden, wie Manfred Hettling zeigt, „immer mehr zur eigentlichen Kerngruppe“ wurden.41 Als Julius Cohn 1897 als erster Jude in Breslau mit der Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet wurde, dokumentierte sich darin ein „städtischer Bürgerstolz“,

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linksliberalen Position entsprach: Verfassung und Verwaltungsorganisation/Württemberg (wie Anm. 19), S. 61. Verfassung und Verwaltungsorganisation/Preußen (wie Anm. 16), S. 125. Den Bericht zu Berlin, aus dem hier zitiert wird, hat Heinrich Dove verfasst, damals Syndikus der Handelskammer zu Berlin und freisinniges Mitglied des Reichstags. Eine Konsenshaltung, in die sich auch die Sozialdemokratie einfügte, stellt v. Hippel (wie Anm. 10) auch für Ludwigshafen fest (S. 523 f.). Verfassung und Verwaltungsorganisation/Preußen (wie Anm. 16), S. 202. Aus dem Bericht zu Breslau, verfasst vom dortigen Magistratsassessor Dr. Alfred Glücksmann. Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000, S. 265 f. Für den Reichstag in der Weimarer Republik hat Thomas Mergel analysiert, was es bedeutet hat, als mit den Kommunisten und vor allem den Nationalsozialisten Abgeordnete einzogen, die die Umgangsformen sprengten: Thomas Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2002. Eine vergleichbare Studie zu den Stadtparlamenten fehlt. Hettling, Liberalismus in Breslau (wie Anm. 23), S. 269; s. insbes. seine in Anm. 4 genannte Studie.

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der Parteigrenzen überbrückte.42 Auch hier gilt: Der Kommunalliberalismus war in diesem gesellschaftlichen Feld sozial verankert und hat es mit geformt. Auch dazu liegen bislang keine vergleichenden Studien vor. Es müsste z.B. geprüft werden, ob auch im Dresdner Rathaus die Sprache des Antisemitismus tabuiert war, obwohl, so 1905 der Berichterstatter für den Verein für Socialpolitik, dort in den städtischen Kollegien, der „reformerische, d.h. antisemitische Mittelstand“ vorherrsche und dies „vielfach als Druck empfunden“ werde.43 In Wien, das ist dicht erforscht, trug der Antisemitismus dazu bei, die kommunale Herrschaft der Liberalen zu brechen. Dort lag kein Tabu über der Sprache des Antisemitismus im Rathaus, sondern sie durchzog die Politisierung von Bevölkerungsgruppen, welche die Liberalen nicht – noch nicht – für politikfähig hielten, von den Christlichsozialen unter Karl Lueger aber durchgreifend politisch mobilisiert wurden, um die kommunale Herrschaft der Liberalen in Wien zu beenden.44 In diesem erfolgreichen Angriff auf die liberale Machtposition in der Stadt – davon erholte sich der dortige Liberalismus nie wieder – spielte Sprache eine wichtige Rolle. Die Christlichsozialen entwanden den Liberalen den Bürgerbegriff, auch im Rathaus. Die dortigen Antisemiten nannten sich demonstrativ „Bürger-Club“, und die neuen Herren in der Stadt setzten die Bürgerrechtsverleihungen, zu denen die Liberalen zuvor nur zurückhaltend bereit gewesen waren, offensiv ein, um die eigene Wählerschaft zu stärken. Als schließlich 1900 mit der „Bürgervereinigung der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt“ ein antiliberales Sammelbecken geschaffen wurde, war dies ein weiteres Zeichen, dass der Wiener Liberalismus die Stadtbürger verloren hatte.45 Der Begriff des Bürgers hatte seinen Herrn gewechselt. 42 Van Rahden (wie Anm. 40), S. 313. Cohn bezog in seiner Dankesrede seine Ehrung auch auf die Breslauer Universität und pries sie als das „leuchtendste Kleinod“ in der Breslauer „Bürgerkrone“ (ebd., S. 312). Auch darin äußerte sich städtischer Bürgerstolz, wie deutlich wird, wenn man diese Rede mit den Reden preußischer Universitätsrektoren im Kaiserreich vergleicht. Hier Monarchen-Panegyrikus, dort Bürgerstolz. Vgl. Dieter Langewiesche, Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 15–37. 43 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Sachsen (wie Anm. 8), S. 115. Dazu in diesem Band der Beitrag von Holger Starke. 44 Dazu grundlegend John W. Boyer, Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien 2010. 45 Ernst Bruckmüller, Wiener Bürger. Selbstverständnis und Kultur des Wiener Bürgertums vom Vormärz bis zum Fin de siècle, in: Hannes Stekl u.a. (Hg.), „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit“. Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Bd. 2, Wien 1992, S. 43–68, hier S. 45.

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3. Kommunale Daseinsvorsorge und der Kommunalliberalismus Der moderne Sozialstaat begann in der Stadt. Dessen Entstehung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre ohne die Leistungen der Städte nicht zu verstehen. Die Haupttriebkräfte sieht George Steinmetz, dem dazu die empirisch und theoretisch eindringlichste Studie gelungen ist, in der bürgerlichen Dominanz in der Stadt und im sozialen Druck von unten.46 Zeitgenössische Beobachter sahen es ebenso. Bürgerliche Dominanz, das bedeutet für die gesamte Zeit des Kaiserreichs: liberale Dominanz. Sie nahm zwar ab, doch noch im Vorkriegsjahrzehnt, so ergab Steinmetz’ Erhebung, wurden 85 % aller ca. 100 deutschen Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern von Liberalen verwaltet; überwiegend Nationalliberale. Nur in fünf dieser Städte verfügte die SPD 1911 über die Hälfte oder mehr der Sitze im Stadtparlament, das Zentrum dominierte in elf Städten.47 Selbst in der rheinischen Hochburg des Katholizismus stellten die Liberalen 1911 in 54 % von 76 Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern die Mehrheit in den Kommunalparlamenten. Im Rheinland und in Westfalen ermittelte 1911 eine Umfrage für 134 Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern eine liberale Mehrheit in 81 Städten. In weiteren fünf stellten sie mit den Konservativen (3) und der Sozialdemokratie (2) die Mehrheit gegen das Zentrum, das in 40 Städten über die Mehrheit der Stadtverordneten verfügte, die SPD nur in einem Ort (Höhscheid), vertreten war sie in 32 Gemeinden.48 Die Stadt blieb also bis zum Ersten Weltkrieg die Domäne des Liberalismus. Dies gilt auch für die großen Städte, in denen damals die kommunale Daseinsvorsorge am schnellsten und dichtesten aufgebaut wurde. Ohne die Liberalen in den Stadtparlamenten und in den Leitungen der Stadtverwaltungen wäre dies nicht möglich gewesen. Das ist unstrittig. Doch wie sich dabei die 46 George Steinmetz, Regulating the Social. The Welfare State and Local Politics in Imperial Germany, Princeton/N.J. 1993. Meine mit Steinmetz übereinstimmende Position dazu habe ich begründet in: „Staat“ und „Kommune“. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 248 (1989), S. 621– 635, ferner Stadtbürger–Staatsbürger: Grundmuster bürgerlicher Interessenpolitik im 19. Jahrhundert, in: Hans Eugen Specker (Hg.), Einwohner und Bürger auf dem Weg zur Demokratie. Von den antiken Stadtrepubliken zur modernen Kommunalverfassung, Ulm 1997, S. 162–174. 47 Steinmetz (wie Anm. 46), S. 153. Diese Daten hatte er für seine ungedruckte Dissertation erhoben. 48 81 Städte = 60 % hatten eine katholische Mehrheit von über 50 % der Einwohner: Rheinland 72 %, Westfalen 45 %. Für sieben Orte ließ sich die Mehrheit nicht bestimmen. Angeschrieben wurden 154 Gemeinden, von denen 134 (87 %) geantwortet hatten. Alle Angaben nach: Kommunalpolitische Blätter 1911 (wie Anm. 33).

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Liberalen in den Stadtparlamenten konkret verhielten, welche Auseinandersetzungen es in den eigenen Reihen und mit den anderen Fraktionen gab, wenn entschieden werden musste, wie z.B. das Elektrizitätswerk und damit verbunden die Elektrifizierung der Straßenbahn finanziert werden sollen, als städtischer Betrieb, privat- oder gemischtwirtschaftlich; ob die Wertsteigerung von Grundstücken, die mit diesem Ausbau der Infrastruktur einherging, besteuert werden soll und wie hoch; welches Gewicht diese Fragen in den kommunalen Wahlen einnahmen; und wie generell die Rollen bei der enormen Aufgabenexpansion verteilt waren zwischen dem Stadtparlament und der neuen städtischen Leistungsverwaltung – das alles ist bislang stadtgeschichtlich nur punktuell erforscht, und die Liberalismusforschung hat diese Forschung nur höchst unzureichend aufgenommen.49 Milde gesagt. Ein Grund für dieses Defizit: Das weite Feld, das hier vage mit kommunaler Daseinsvorsorge umschrieben wird50 – die Zeitgenossen sprachen vielfach vom Munizipalsozialismus, die Forschung hat den Begriff aufgenommen –, wurde nicht in einzelnen zentralen Entscheidungen bestellt, bei denen die Bürger wussten, was auf sie und ihre Stadt zukam. In der Regel berichtete die Ortspresse ausführlich über die Vorhaben51, doch während umstrittene Eingemeindungspläne öffentlich diskutiert wurden, verlief die Stadtplanung, die über die künftige Gestalt der Stadt entschied, in München z.B. weitgehend als ein kleinteiliges verwaltungsinternes Verfahren.52 Das war wohl nicht überall so, doch generell ging es in den so enorm expandierenden Aufgabenfeldern der Städte um außerordentlich komplexe Verfahren, in denen verschwimmt, von wem die Initiative ausging und wer die Verantwortung trägt. Die politischen Repräsentanten der Stadtbürger und die städtische Verwaltung waren sicherlich die beiden Hauptakteure. Doch im deutschen Verfassungssystem wirkten auch die Staatsbehörden kräftig mit, als Aufsichtsbehörde, die offen eingriff oder hinter den Kulissen steuerte, und die privatwirtschaftlichen Akteure, die in die Infrastruktur investierten, spielten ebenfalls eine gewichtige 49 Unter den hier zitierten Studien bieten die besten Aufschlüsse Palmowski (wie Anm. 19), Lenger (wie Anm. 9), Jörg Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München bis zur Ära Theodor Fischer, München 1988. 50 Ausführlich dazu Wolfgang R. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster, Stuttgart 1985; ders., Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989; Horst Matzerath, Urbanisierung in Preußen 1815–1914, Stuttgart 1985; Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985. 51 Das betonen die zitierten Erhebungen des Vereins für Socialpolitik. 52 So Jörg Fisch (wie Anm. 49), S. 255 u.ö.

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Rolle. Um dieses komplexe Ineinander an einem Beispiel anzudeuten – ein kurzer Blick auf die Elektrifizierung in Darmstadt, Mainz und Mannheim seit 1880.53 Die Entscheidungsprozesse verliefen in den drei Städten unterschiedlich, doch als Hauptakteure lassen sich erkennen: die Stadtverwaltung und in Darmstadt der Großherzog als Hausherr des Hoftheaters, das anfänglich ein Großabnehmer war, hinzu kamen Elektrizitätsunternehmen, die Angebotsdruck ausübten, und Geschäftsleute, die einen Nachfragedruck erzeugten, zudem griffen externe Experten ein, und noch vor dem Ersten Weltkrieg kamen die nicht mehr auf den städtischen Raum begrenzten privatwirtschaftlichen Überlandwerke hinzu. Erst mit diesem Ausgriff über die Stadt hinaus trat hier (im Unterschied zu anderen Bereichen) der Staat in den Kreis der Akteure. Wie überall war in den drei Städten der Prozess der Elektrifizierung mit vielen weiteren Entscheidungen verbunden, vor allem aber erzwang sie langfristige Konzepte der Stadtentwicklung: in Mannheim mit dem Ausbau des Industriehafens verbunden, in Mainz mit Industrieansiedlungen, in Darmstadt mit der Verlegung des Bahnhofs. Die Stadt war in diesen Prozessen ein zentraler Akteur, vorrangig die Stadtverwaltung, doch das Stadtparlament musste die Entscheidungen billigen, vor allem die finanziellen Aufwendungen der Stadt, und es wirkte als Mittler in die Bürgerschaft hinein. Andernorts wurden seitens der Stadt Umfragen unter den Einwohnern durchgeführt, wer seinen Haushalt mit Elektrizität versorgen lassen würde, und Städtedelegationen, an denen auch Stadtverordnete teilnahmen, unternahmen Reisen, um die Erfahrungen anderer Kommunen mit der neuen Energie zu erkunden.54 In der Wasserversorgung, mit deren Betrieb die Städte über eine lange Tradition verfügten, setzten sie sich energischer mit kommerzieller Konkurrenz auseinander als bei der Elektrizität, für deren Verwendung noch keine Erfahrung vorlag, und gründeten Gesellschaften, die großräumig weit über die Stadtgebiete hinaus aktiv wurden.55

53 Das Folgende nach Helmut Böhme/Dieter Schott, Elektrifizierung zwischen „demonstrativer Modernität“ und strategischer Industriepolitik. Entwicklungswege beim Aufbau einer städtischen Dienstleistungs-Infrastruktur in Darmstadt, Mannheim und Mainz (1880–1935), in: Jürgen Reulecke (Hg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum. Beiträge zur Geschichte der „Sozialstadt“ in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, St. Katharinen 1995, S. 181–227. 54 Krabbe (wie Anm. 50), S. 270 f. u. 202 ff. 55 Ebd., S. 202 ff., u.a. zum Ruhrtalsperrenverein. Zur Entwicklung dieser Versorgungsbetriebe in Ludwigshafen detailliert v. Hippel (wie Anm. 10), S. 556 ff.; die Initiative lag bei der Stadtverwaltung.

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In dem weiten Feld kommunaler Daseinsvorsorge übernahmen die Stadtparlamente wohl selten die Initiative. Doch ohne sie konnte die Stadtverwaltung keine Entscheidung treffen, da es überall um den städtischen Haushalt ging, insbesondere dort, wo die Stadt keinen Gewinn erwarten konnte. Wenn es ums Geld ging, schlug die Stunde des Parlaments; auch in der Kommune. Und hier ging es um sehr viel Geld, das aufzubringen war. Deshalb verschuldeten sich die Kommunen hoch im Laufe des Kaiserreichs.56 Die kommunale Daseinsvorsorge wurde überwiegend auf Kredit finanziert. Das führte immer wieder zu Konflikten in den Stadtparlamenten, wenn widerstreitende Interessen ausgehandelt werden mussten und Gegner eines teuren kommunalen Projekts mit dem Argument hausväterlicher Ausgabendisziplin Druck ausübten. Der Kommunalliberalismus stand inmitten der Interessenkonflikte, die die Stadt, Bürger und Einwohner, durchzogen. Auch deshalb wäre es nicht sinnvoll, nach einer kommunalliberalen Generallinie im konfliktreichen Aufbau der städtischen Daseinsvorsorge im Kaiserreich zu fragen. Eindeutig jedoch ist, dass die Linksliberalen, die den Anfängen der staatlichen Sozialpolitik ihre Zustimmung verweigerten, weil sie den Obrigkeitsstaat nicht durch Machtzuwachs weiter stärken wollten, von Beginn an die kommunale Sozialpolitik förderten. So nannte ein führender Nürnberger Linksliberaler 1891 das staatliche „Alters- und Invalidengesetz“ „das verfehlteste aller Gesetze“, mit dessen Ablehnung die „staatliche Bevormundung“ bekämpft werde. Aus diesen Gesetzen spreche der Obrigkeitsgeist des „Suprema lex regis voluntas“. In der kommunalen Sozialpolitik hingegen entfaltete der Nürnberger Linksliberalismus Initiativen, die auch städtische Hilfen für Arbeitersiedlungen und Arbeiterspeisehallen oder Schutz am Arbeitsplatz umfassten.57 56 Vgl. dazu mit Hinweisen auf die umfangreiche zeitgenössische Literatur Hans-Peter Ullmann, Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen, München 2005, Kap. II.2.; zu Ludwigshafen detailliert v. Hippel (wie Anm. 10), S. 528–557. 57 Müller, Liberalismus in Nürnberg (wie Anm. 35), S. 369 f. (Zitate). Eine umfassende, präzise Studie zur städtischen Sozialpolitik, initiiert vor allem von den Oberbürgermeistern, doch politisch durchgesetzt und legitimiert durch die dortigen Demokraten und Liberalen, bietet Hans-Peter Jans, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege in Ulm 1870–1930, Ulm 1994. Für die republikanische Phase, mit einem kundigen Rückblick ins Kaiserreich Wilfried Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910–1933, 2 Bde., Göttingen 1998. Zur staatlichen Sozialpolitik auf Reichsebene s. Wolther von Kieseritzky, Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln 2002; Holger J. Tober, Deutscher Liberalismus und Sozialpolitik in der Ära des Wilhelminismus. Anschauungen der liberalen Parteien im parlamentarischen Entscheidungsprozeß und in der öffentlichen Diskussion, Husum 1999.

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Von wem in der Stadt die Initiativen im Ausbau der städtischen Daseinsvorsorge ausgingen und wer die Entwicklungen steuerte, haben auch die Berichterstatter der mehrfach zitierten Erhebung des Vereins für Socialpolitik kurz nach der Jahrhundertwende erörtert. Das Stadtparlament mit seinen liberalen Mehrheiten wirke als ein Hauptakteur. „Die treibende Kraft des Fortschritts liegt beim Stadtrat“, hieß es für Mannheim, und die „Kommunalisierung der monopolartigen Betriebe [ist] dem Konto der linksstehenden Parteien des Bürgerausschusses gutzuschreiben“. Doch der Hauptmotor sei der Oberbürgermeister und sein Stab, dem der Berichterstatter als Stadtsyndikus selber angehörte. Er begründete diesen Vorrang der Verwaltung nicht mit Sachzwängen, sondern mit der städtischen Verfassung. Sie habe „das konstitutionelle System mit einer patriarchalischen Verwässerung übernommen: das städtische Parlament tagt unter der Leitung und Mithilfe der Regierung, einer Regierung allerdings, die nicht kraft eigenen Rechts regiert oder von einer fremden Gewalt gesetzt, sondern vom Parlament selbst gewählt worden ist.“58 Von einem „kommunalen Parlamentarismus“ im Kaiserreich wie jüngst Karl-Heinrich Pohl hätte 1906 der Mannheimer Stadtsyndikus nicht gesprochen. Zu Recht. Die Personen in den städtischen Führungsämtern wurden zwar von den Stadtverordneten gewählt, doch ihre lange Amtsdauer, vielfach sogar lebenslänglich, aber auch das Recht der Staatsregierung, dem gewählten (Ober-)Bürgermeister die Zustimmung zu verweigern – es begünstigte nationalliberale Kandidaten –, ließen einen „funktionierenden Parlamentarismus“, den Pohl kurz vor dem Ersten Weltkrieg erkennen will, nicht zu.59 Oberbürgermeister und Stadtverordnete blieben in ein „quasikonstitutionelles System“ eingebunden, in dem der Chef der Stadtverwaltung in vielen seiner Entscheidungen nicht vom Mehrheitswillen des Stadtparlaments abhängig war.60 58 Verfassung und Verwaltungsorganisation/Baden (wie Anm. 23), S. 116–118 (L. Landmann, Stadtsyndikus in Mannheim). Krabbe, Kommunalpolitik (wie Anm. 50) nennt den Magistrat „das konstitutionelle Initiativzentrum der Gemeindepolitik“ (S. 251). 59 Karl Heinrich Pohl, Der Liberalismus im Kaiserreich, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann und seine Zeit, Berlin 2000, S. 65–90, Zitate S. 82. Es ist allerdings zu bedenken, dass das Stadtparlament nicht nur die Positionen im Magistrat besetzte bzw. Kandidaten nominierte, sondern auch die meist ehrenamtlichen Mitglieder der zahlreichen Ausschüsse und Deputationen, in denen sich ein Großteil des bürgerschaftlichen Engagements vollzog, wenngleich der Ausbau der Stadtverwaltung dieses Feld einengte. Doch auch in dieser Ausweitung suggeriert der Begriff Parlamentarismus etwas, das die Städteverfassung nicht zuließ: einen Regierungswechsel, wenn die Parlamentsmehrheit sich veränderte. 60 Wolfgang Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs, in: Gall, Stadt und Bürgertum (wie Anm. 5), S. 18–64, hier S. 43. Im Anschluss an Heinrich Heffters (Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert.

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Der Kommunalliberalismus hatte auf beiden Seiten seine Repräsentanten, im Stadtparlament und – unangefochtener noch dank vieler Filter – in der städtischen Verwaltungsspitze. Kommunale Daseinsvorsorge im Kaiserreich wandte sich auch an die unterbürgerlichen Schichten, doch sie war in hohem Maße eine Politik für die bürgerlichen Gesellschaftsgruppen. Eine vergleichende Analyse Richard H. Tillys mündet sogar in die „These, daß ‚Munizipalsozialismus‘ als Institutioneller Wandel zum Zweck der Entlastung der städtischen Oberschicht aufgefaßt werden könnte“.61 Friedrich Lenger sieht es ähnlich, wenn er betont, in der aufwendigen städtischen Infrastrukturpolitik hätten sich die „großbürgerlichen Liberalen, die die rheinischen Stadtverordnetenversammlungen dominierten, keineswegs einem abstrakten ‚Gemeinwohl‘ verpflichtet“ gezeigt.62 So wurden Arbeiterviertel nur zögerlich in den Infrastrukturausbau einbezogen. Dem teuren Schwimmbad in einem bürgerlichen Viertel gaben die bürgerlichen Haushälter gerne den Vorzug vor billigeren Duschgelegenheiten in einer Arbeitergegend. Auch der Streit, der allerorts um die Geldverteilung zwischen den Volksschulen und den Schulen für die höheren Schichten geführt wurde, lässt erkennen: die finanziellen Aufwendungen für die kommunale Daseinsvorsorge und für alles, was der Munizipalsozialismus umfasst, wurden keineswegs schichtenneutral gesteuert.

4. Exemplarische Studien zu Frankfurt und Berlin Jan Palmowski kommt in seiner exzellenten Studie zum linksliberal dominierten Frankfurt am Main zu diesem Ergebnis: „Municipal spending was of disproportionate benefit to those of middling and upper income who had

Geschichte der Ideen und Institutionen, 2. Aufl. Stuttgart 1969) nach wie vor grundlegende Studie dazu spricht Hofmann (wie Anm. 9) vom kommunalen Konstitutionalismus. Es ist allerdings zu beachten, dass Berufsbürgermeister in kleineren Städten erst gegen Jahrhundertende gesetzlich möglich wurden; in der bayerischen Pfalz seit 1896. Wie das in Ludwigshafen genutzt wurde, zeigt v. Hippel (wie Anm. 10), S. 545 ff. 61 Richard H. Tilly, Städtewachstum, Kommunalfinanzen und Munizipalsozialismus in der deutschen Industrialisierung: eine vergleichende Perspektive 1870–1913, in: Reulecke, Stadt als Dienstleistungszentrum (wie Anm. 53), S. 125–152, hier S. 136. 62 Lenger, Bürgertum in rheinischen Großstädten (wie Anm. 9), S. 146 f., mit den folgenden Beispielen. Zimmer (wie Anm. 9, S. 191–206) verfolgt mit Blick auf die Stadttheater diese Konfliktlinien. Die liberalen Befürworter sahen sich als Repräsentanten von Bildung und Fortschritt.

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to vote.“63 Darauf die Politik kommunaler Daseinsvorsorge zu begrenzen, würde jedoch ihre Wirkungen für die gesamte städtische Bevölkerung verkennen (das machen die zitierten Autoren auch nicht). Der Kommunalliberalismus hat diese gesamtstädtische Dimension gesehen und zunehmend gefördert. George Steinmetz spricht deshalb von einem „social turn“ des Kommunalliberalismus64, zu erkennen etwa in der städtischen Förderung kleinerer Häuser für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen einschließlich der Unterstützung von Baugenossenschaften und der Kleingartenbewegung, in den Hygienereformen und der medizinischen Versorgung gerade auch von Arbeitervierteln oder in der städtischen Unterstützung von Arbeitsgerichten und den Versuchen, in der Stadt und mit ihrer Finanzhilfe eine Arbeitslosenversicherung für Arbeiter einzurichten. Wie weit zum Teil Kommunalliberale in ihrem „social turn“ gingen, erkennt man an ihrer Unterstützung des Genter Systems. Es bot ein Alternativmodell zur staatlichen Arbeitslosenversicherung durch Kooperation von Stadt und Gewerkschaften. Die Stadt zahlt Beiträge, wenn Gewerkschaften eine Arbeitslosenunterstützung für ihre Mitglieder einrichten.65 Vor einer solchen korporatistischen Lösung schreckten nicht alle Kommunalliberalen zurück. Es gehört des weiteren zu den bislang viel zu wenig gewürdigten Leistungen des Kommunalliberalismus, die Diskussion über die kommunale Daseinsvorsorge und ihre Bedeutung für die Zukunft der gesamten Gesellschaft nicht nur innerhalb der Städte, sondern auch auf weiteren Foren vorangebracht zu haben. Sie kooperierten dabei mit den wissenschaftlichen Experten66, und nicht wenige ihrer Repräsentanten gehörten zu diesem Kreis. In diesen gesellschaftspolitischen Debatten, die von kommunalpolitischen Erfahrungen ausgingen und vorrangig die Städte im Blick hatten, wird ein noch kaum erhellter kommunaler Strang jenes Sozialliberalismus sichtbar, der sich seit dem ausgehenden Jahrhundert herausbildete. In ihm suchte der deutsche Sozialliberalismus – wie zur gleichen Zeit auch in anderen Staa-

63 Palmowski (wie Anm. 19), S. 319. 64 Steinmetz (wie Anm. 46), S. 193. Detailliert nachzuvollziehen ist diese Entwicklung für Ludwigshafen bei v. Hippel (wie Anm. 10), S. 553 ff. u. 600 ff. 65 Auf das Genter System als eine proto-korporatistische Strategie geht Steinmetz (wie Anm. 46), S. 203 ff., detailliert ein. Es versteht sich, dass dies innerhalb des (Kommunal-)Liberalismus umstritten war, da es ein Zusammengehen mit der Sozialdemokratie bedeutete. In Bremen lehnte 1911 eine Mehrheit den sozialdemokratischen Antrag ab, eine Deputation einzusetzen, die das Genter System beraten sollte: Willock (wie Anm. 6), S. 73. 66 Auch hierzu ausführlich Steinmetz (wie Anm. 46).

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ten, vor allem in England67 – seine älteren, vor allem auf den bürgerlichen Mittelstand ausgerichteten Konzepte auf die Arbeiter auszuweiten.68 Zu den konzeptionellen Vordenkern gehörten erfahrene kommunalpolitische Praktiker wie die Frankfurter Karl Flesch und Heinrich Rössler oder die Berliner Gelehrtenpolitiker Ignaz Jastrow und Hugo Preuß. Karl Flesch, seit 1884 als Stadtrat sozialpolitisch aktiv, hat in zahlreichen Schriften geworben, die liberale Auffassung von persönlicher Freiheit um kollektive „Sicherungen der Freiheitssphäre des Arbeitnehmers“69 zu ergänzen. Die Sozialversicherung und andere Versicherungen, unter denen ihm eine Arbeitslosenversicherung auf kommunaler Grundlage besonders wichtig war, verstand er als „Lohnergänzungen“. Dazu zählte er auch den unentgeltlichen Volksschulunterricht und Schulkinderspeisungen, ebenso Kinderkrippen, Volksbildungsangebote, Förderung des Baus von kleinen Wohnungen zu erschwinglichen Mieten oder Lohnzuschläge nach der Kinderzahl. Letzteres wurde auf seine Initiative in den kommunalen Betrieben Frankfurts eingeführt. Selbst die kommunalisierte unentgeltliche Bestattung gehörte zu seinen Forderungen. Sein Modell der städtischen Daseinsvorsorge reichte bis in den Tod. Welch hohe Erwartungen man im Linksliberalismus an die Stadt als sozialpolitischen Akteur und Gegenpol zum Demokratisierungshemmnis einer obrigkeitsstaatlich gehegten Sozialpolitik richtete, lässt ein Vortrag erkennen, den der Frankfurter Kommunalpolitiker Dr. Heinrich Rössler 1902 im dor-

67 Auf die Stadt bezogen s. insbes. P[hilip] J[ohn] Waller, Town, City and Nation. England 1850–1914, Oxford 1983/1991. Ein präziser, aber nicht auf die Städte bezogener Vergleich bei Gustav Schmidt, Liberalismus und soziale Reform: Der deutsche und der britische Fall 1890–1914, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 16 (1987), S. 212–238. 68 Diese älteren Formen des Sozialliberalismus, die weiterliefen, habe ich entgegen der gängigen Forschungsmeinung, die den deutschen Sozialliberalismus erst im späten 19. Jahrhundert einsetzen lässt, skizziert in: Sozialer Liberalismus in Deutschland. Herkunft und Entwicklung im 19. Jahrhundert, in: Lehnert, Sozialliberalismus (wie Anm. 13), S. 35–50. Viele Beobachtungen dazu auch bei Zimmer (wie Anm. 9), der vor allem auch die Eigeninitiativen von Bürgern betont, etwa bei den Konsumvereinen (S. 155–167). 69 So die Einleitung von Hans Meier in der Sammlung von Fleschs einschlägigen Artikeln in: Karl Flesch’s soziales Vermächtnis, Frankfurt a.M. 1922, S. 8. Nach diesem Band auch das Folgende. Informativ zu Flesch und zur Frankfurter Sozialpolitik im deutsch-amerikanischen Vergleich: Jan Philipp Altenburg, Machtraum Großstadt. Zur Aneignung und Kontrolle des Stadtraumes in Frankfurt am Main und Philadelphia in den 1920er Jahren, Köln 2013, S. 72 ff.

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tigen demokratischen Verein gehalten hatte.70 Er betont zunächst die Rolle der Sozialdemokratie, deren Wahlerfolge dafür gesorgt hätten, dass in „allen Parteien und Kreisen“ sozial „so Manchem das Gewissen geschärft“ worden sei. Im Reichstag konstatierte er eine Annäherung „fast aller Parteien“, wenn es um Fragen wie Arbeitslosenversicherung oder das „Proportionalwahlrecht beim Gewerbegericht“ gehe. Auch in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, die in „sozialpolitischer Hinsicht nicht günstig zusammengesetzt“ sei – immerhin entfielen damals 44 der 64 Sitze auf Demokraten (23) und Liberale (davon 20 Nationalliberale)71 –, habe man, wenn auch mitunter erst im zweiten oder dritten Anlauf, „sozialpolitisch wichtige Anträge, welche vom Magistrat kamen“, durchsetzen können. So habe sich „unsere Stadt den Ruf bewahren können, mit sozialpolitischen Reformen unter den deutschen Städten im Vordergrund zu stehen“. Sozialpolitisches Engagement gehörte inzwischen zum städtischen Bürgerstolz. Viel bleibe noch zu tun, auch unter den demokratischen Kommunalpolitikern. Deren Praxis hinke hinter dem Programm her. Dann ging Rössler ins Detail: ein kommunalpolitischer Leistungsbericht mit eingefügter Wunschliste für die Zukunft. Er begann mit den Schulen – hier hoffte er auf baldige kostenlose Lehrmittel für die Volksschule und später einmal auf die Pflichtvolksschule als Eingangsstufe für alle – und den Volksbildungseinrichtungen72, kam dann auf die Verbesserung der Wohnsituation zu sprechen mit dem Wunsch nach mehr kommunaler Förderung von Wohn70 H[einrich] Rössler, Die Sozialpolitik in unserem Gemeinwesen. Vortrag gehalten im demokratischen Verein, in: Gemeinnützige Blätter für Hessen und Nassau. Zeitschrift für soziale Heimatkunde. Zugleich Mitteilungen des Verbandes für Volksvorlesungen im Main- und Rheingebiet. Organ der Provinzial- und Bezirksvereine zur Förderung des Arbeiterwohnungswesens und zur Bekämpfung der Schwindsuchtgefahr, 4. Jg., Nr. 4 v. 1.3.1902, S. 49–56; dort alle folgenden Zitate. Der lange Untertitel der Zeitschrift ist selber ein Indiz für die Weite des neuen sozialen Engagements in den Gemeinden. Auf Rössler und Flesch gehen die oben genannten Studien zu Frankfurt a.M. ausführlich ein. Die Differenzierungen zwischen Demokraten und Linksliberalen, die sich im Laufe des Kaiserreichs stark veränderten mit der Tendenz der Annäherung aneinander (bis hin zur Gründung der DDP 1918), blende ich hier aus. Für Frankfurt und auch für Württemberg blieben sie wichtig, während ansonsten die bürgerlichen Demokraten von der Bismarckschen Reichsgründung politisch stranguliert wurden. 71 Palmowski (wie Anm. 19), S. 339 (Jahr 1901). Zum Verhältnis des damaligen sozialpolitisch außerordentlich aktiven Oberbürgermeisters Franz Adickes zu den Frankfurter Kommunalparteien s. ebd. S. 226 ff. 72 Ausführlich zum sozialpolitischen Impetus städtischer Kulturpolitik Jennifer Jenkins, Provincial Modernity. Local culture und liberal politics in Fin-de-siècle Hamburg, Ithaca 2003.

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baugenossenschaften, pries die Politik des Magistrats, Boden anzukaufen, um ihn für Wohnungsbau und für städtische Betriebe zur Verfügung zu haben. Er plädierte für eine sozial gerechtere Gestaltung des Steuersystems und – das lag in der Hand der Stadt – für die Besteuerung des Wertzuwachses privaten Bodens durch städtische Infrastrukturmaßnahmen. Wenn bei Verkauf ein „unverdienter Gewinn“ erzielt wird, hielt er es für angemessen, 10 bis 20 Prozent statt bisher lediglich 1,5 steuerlich einzuziehen. Zum Abschluss seiner Erfolgsbilanz Frankfurter Kommunalpolitik nannte er die „Fürsorge für die städtischen Arbeiter“: Lohnerhöhungen, 1897 eine Pensionskasse, die auch für Witwen und Waisen sorge. Sie sei zum Vorbild für andere Städte geworden. Über die Reform für die Wahl zum Gewerbegericht und die Einführung einer kommunalen Arbeitsvermittlung werde noch gestritten. Hier seien andere Städte weiter, aber auch dort „nach schweren und andauernden Kämpfen … in der Stadtverordneten-Versammlung“. Der kürzlich eingeführten Sonntagsruhe werde, so hoffte er, bald eine Verkürzung der Arbeitszeit folgen. Hier verwies er auf England als Vorbild. Die Gegner dessen, was er als sozialpolitischen Fortschritt würdigte, sah er vor allem im handwerklichen Gewerbe, in dem selbst der Abschluss eines Tarifvertrags noch als ein „sozialdemokratisches Manöver“ gelte, obwohl doch „Nichts mehr zum sozialen Frieden und zum Gedeihen des Handwerks beitragen“ könne. Ähnlich wie Rössler, aber programmatischer formulierten auch Franz Adickes und Ignaz Jastrow ihre sozialpolitischen Erwartungen an die Städte. Adickes Plädoyer auf dem ersten deutschen Städtetag 1903 zu Dresden verdeutlicht die Weite des sozialpolitischen Spektrums, das reformwillige Oberbürgermeister damals anzugehen willens waren. Er blickte auf den „sogen. Munizipal-Sozialismus“ in England, Frankreich und Belgien, aber auch auf die Schriften des sozialdemokratischen Kommunalexperten Hugo Lindemann, um Kriterien für die drängendsten Fragen zu gewinnen, denen sich die deutsche Stadt, vor allem die größere, zu stellen habe: „wie kann sie gemeinschädlichen Wirkungen und Folgen des Privateigentums entgegentreten“, wie das „Wohl aller Glieder unseres sozialen Körpers“ und den „Ausgleich gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gegensätze fördern“ und insbesondere „die Stellung der Arbeiterschaft heben und bessern“? Was ergibt sich daraus „für eine gerechte Ordnung der städtischen Steuern, Gebühren und sonstigen Abgaben“?73 73 Franz Adickes in: Die sozialen Aufgaben der deutschen Städte. Zwei Vorträge gehalten auf dem ersten deutschen Städtetag zu Dresden am 2. September 1903 von Dr. Adickes, Oberbürgermeister in Frankfurt a.M., und Geh. Finanzrat a.D. Beutler, Oberbürgermeister in Dresden, Leipzig 1903, S. 3–69, hier S. 11.

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Adickes ist nicht parteipolitisch dem Kommunalliberalismus zuzurechnen, doch als Oberbürgermeister arbeitete er mit ihm eng zusammen und verdankte ihm sein Amt. Beide waren aufeinander angewiesen, denn selten verließen Magistratsvorhaben das Stadtparlament unverändert, wie Ralf Roth in diesem Band (S. 158 f.) darlegt. Ignaz Jastrow hingegen, Historiker und Sozialwissenschaftler, war formelles Mitglied der „Freisinnigen Vereinigung“, für die er seit 1898 in Charlottenburg als Stadtverordneter, unbesoldeter Stadtrat und Bürgerdeputierter wirkte. Er gehört zu jenen Reformern, die den Liberalismus von den Kommunen her sozialliberal erneuern wollten. Dafür warb er in zahlreichen Veröffentlichungen. In Jastrow verband sich kommunalpolitische Praxis mit intellektueller Analyse, als Gelehrtenpolitiker war er auf unterschiedlichen Ebenen tätig, darunter auch die kommunale. In seiner 1893 erstmals erschienenen, ein Jahr danach bereits neu aufgelegten Schrift „Sozialliberal“ forderte er mit Blick auf die preußischen Landtagswahlen in engagierter Polemik eine Erneuerung des Liberalismus.74 Auch in seinen wissenschaftlichen Schriften setzte er sich mit den sozialpolitischen Problemen der Gegenwart auseinander. In einer kleinen Studie „Was ist Sozialpolitik?“75 entwickelte er eine Deutung, die die Weite des damaligen Verständnisses darlegt. Er präsentiert hier nicht nur ein sozialliberales Programm, das dafür warb, die überlieferten Grundlagen des Liberalismus den Problemen der Gegenwart anzupassen. In dieser Schrift versuchte er, den Liberalismus in den kommunalen und in den staatlichen Politikarenen miteinander zu verbinden. Das war für die Erfolgschancen des Kommunalliberalismus zentral. Nur wenn es seinen Akteuren gelang, ihre programmatischen Ideen und praktischen Erfahrungen in die allgemeine Diskussion auf nationaler Ebene einzuspeisen, konnten sie hoffen, über ihren begrenzten Wirkungsbereich der Stadt hinaus das intellektuelle Klima in der Gesellschaft und in den Kreisen des bürgerlichen Liberalismus zu prägen. Was Heinrich Rössler entlang der Frankfurter Sozialpolitik, ihren Leistungen und Defiziten, als kommunalliberales Programm entwarf, entfaltete Jastrow in einem systematischen und zugleich historischen Zugriff. „Sozialpolitik als Wissenschaft“ erfasse alle Bereiche von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft „unter sozialem Gesichtspunkte“. Wer Arbeiterversicherung und 74 Ignaz Jastrow, Sozialliberal. Die Aufgaben des Liberalismus in Preußen, Berlin 1893, 2. erw. Aufl. Berlin 1894. Eine Biographie zu dem jüdischen Gelehrtenpolitiker Ignaz Jastrow fehlt. Einen informativen Zugang bietet Dieter G. Maier, Ignaz Jastrow. Sozialliberale Positionen in Wissenschaft und Politik, Berlin 2010. 75 Ignaz Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft. Aufsätze und Abhandlungen, Bd. I: Arbeitsmarkt und Arbeitsnachweis, Gewerbegerichte und Einigungsämter, Berlin 1902, S. 3–27. Dort alle folgenden Zitate.

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Arbeiterschutz einführe – der Ausgangspunkt des neuen Verständnisses von Sozialpolitik – werde zwangsläufig in immer weitere Gebiete geführt: Volksbildung und Wohnungswesen, Unfallverhütung und Krankheitsprophylaxe, Lohnregulierung und Gewerbegerichte. Politik als Verwaltungspolitik begleite und steuere diese sozialpolitische Durchdringung aller Lebensbereiche. Es gehe um nichts weniger als die künftige „Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens“. Ignaz Jastrow zielte mit seinem Plädoyer für einen umfassenden Begriff von Sozialpolitik auf eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft. Es ging, wie er unter Rückgriff auf Rousseau formulierte, um einen erneuerten Gesellschaftsvertrag. Der Zwang dazu gehe von der Arbeiterklasse und ihren sozialen Erwartungen aus. Vom Liberalismus verlangte er, sich diesen Entwicklungen zu stellen und Handlungskonzepte zu entwerfen. Im Kommunalliberalismus sah er sie angelegt. Auch für Hugo Preuß war die Stadt der Ort, von dem eine umfassende Reform ausgehen sollte. Ihm ging es jedoch vor allem um die Demokratisierung des preußischen Obrigkeitsstaates nach dem „Organisationsprinzip der freien Gemeinde“, wie er es formulierte.76 Die Stadt galt ihm als „die Keimzelle moderner Staatsverfassung“, und es sei „der Beruf des an Zahl wie an wirtschaftlicher Kraft so gewaltig erstarkten Bürgertums“ die „Vollendung der urbanen Organisation“ durchzusetzen in Gestalt des „bürgerlichen Staats“ als Gegenüber der „bürgerlichen Gemeinde“77, beide vereint im Prinzip der Selbstverwaltung. Wie viel dem auch in den Städten noch entgegenstand, wusste er als seit 1895 aktiver Kommunalpolitiker in Berlin. Viel Lasten und wenig Mitbestimmung – so beschrieb Hugo Preuß 1904 den „abschüssigen Weg“, auf dem der preußische Staat seine Kommunen zu „passiven Zahlungsverbänden“ verkümmere. Das kritisierte er in scharfen, auf seiner langjährigen Tätigkeit als Berliner Stadtverordneter beruhenden Artikeln. So zeigte er in einem Vortrag vor der Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für Sociale Reform detailliert, wie der Staat mit einer Fülle versteckter Detailvorschriften in die kommunale Sozialpolitik eingreife und die Stadt steuerpolitisch lähme, indem die Realbesteuerung oder die Bauplatz76 Hugo Preuß, Staat und Stadt (Vortrag gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 7. November 1908), Leipzig 1909, S. 32. Vgl. dazu und zu seinem kommunalpolitischem Engagement in Berlin vor allem Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965; Christoph Müller, Zur Grundlegung der Kommunalpolitik bei Hugo Preuß, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 18 (2006), S. 13–44; ders., Einleitung zu: Hugo Preuß, Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik (Ges. Schriften Bd. 5), Tübingen 2012, S. 1–78. 77 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 76), S. 37.

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steuer kontingentiert werde.78 Sein Appell, durch Kompetenzerweiterung zum „Kern aller Selbstverwaltung“ zurückzukehren, griff zur höchsten Legitimation, die damals in Deutschland aufgeboten werden konnte: zum Mythos der Wiedergeburt Preußens in „der äußersten Not“, „Rettung in der Autonomie und Selbstverwaltung, in der bürgerlichen Freiheit“.79 Im Staat sei diese Entwicklung stecken geblieben, daran ließ Hugo Preuß keinen Zweifel zu – er sprach vom „gemeinpreußischen“ und „gemeindeutschen Typus des Obrigkeitsstaates“80 –, und deshalb warb er für die politische Aufgabe des Bürgertums, den „Antagonismus von Stadt und Staat“ zu beseitigen mit dem Ziel: „sich selbst regierende bürgerliche Gemeinwesen“.81 So unterschiedlich die skizzierten kommunalliberalen Positionen im einzelnen auch angelegt waren, sie zielten alle auf grundlegende Reformen in Staat und Gesellschaft, ausgehend von der Stadt als dem Raum, in dem das Bürgertum sozial verankert war und politisch dominierte. Daraus leiteten sie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Bürger und der Liberalen als ihren politischen Hauptrepräsentanten ab. Der Kommunalliberalismus als Kern und Motor für die Erneuerung des gesamten Liberalismus – auch darin stimmten sie überein. In der Stadt sahen sie zumindest die Umrisse eines neuen Verständnisses von Gemeinwohl. Gewiss, das Bild „einer unpolitischen, allein dem ‚Gemeinwohl‘ verpflichteten Stadtverwaltung“ ist ein Mythos, wie Friedrich Lenger schreibt.82 Aber mit dieser Vorstellung wird doch ein Ideal entworfen, von dem ein Anspruch ausging, der Kommunalparlamente und Kommunalverwaltungen unter Legitimationsdruck setzte. Und auch die Parteien. Sie mussten ihren politischen Konzepten eine überparteiliche sozialmoralische Grundlage verschaffen, in dem sie sich auf das Gemeinwohl beriefen. Das Gemeinwohl als Argument nutzten nicht nur kommunalliberale Pragmatiker und Theoretiker, das gilt auch für die Sozialdemokratie. Sie profilierte sich als die Hauptkritikerin der illiberalen Verfassung deutscher Städte, doch sie trat dort als Anwältin zum „Wohle der Gesamtheit“ auf – eine Formulierung aus dem Kommunalprogramm der Sozialdemokratie in Preußen von 1910.83 In der Gemeinwohlrhetorik der kommunalpolitischen Akteure spiegelt 78 Kommunale Steuerfragen. Referate von Adolf Wagner und Hugo Preuß erstattet der Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für Soziale Reform, Jena 1904, S. 35–59. 79 Ebd., S. 56–59 (Zitate). 80 Preuß, Staat und Stadt (wie Anm. 76), S. 27 f. 81 Ebd., S. 36 f. 82 Lenger, Bürgertum in rheinischen Großstädten (wie Anm. 9), S. 134. 83 Paul Hirsch, Das Kommunal-Programm der Sozialdemokratie Preußens, Berlin 1911, S. 3.

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sich die Demokratisierung der Kommunalpolitik im Laufe des Kaiserreichs. Sich hinter der Wahlrechtsmauer zu verschanzen, reichte immer weniger zum Machterhalt. Allerdings konnte die Sozialdemokratie mit dem Gemeinwohl offensiv argumentieren, während es der Liberalismus aus der Defensive heraus tun musste, solange er nicht bereit war, die Wahlrechtsmauer gänzlich niederzulegen.84

5. Warum prägt der Kommunalliberalismus nicht die Wahrnehmung des Liberalismus? In seinem Buch European Cities at Work, 1913 in New York erschienen, pries Frederic C. Howe, einer der kommunalpolitisch aktiven nordamerikanischen progressives, die deutsche Stadt in der Zeit des Kaiserreichs als einzigartig in der Welt. Nichts Vergleichbares gebe es in Großbritannien und Frankreich oder wo auch immer. Ein Geschöpf der letzten dreißig Jahre, ungeachtet der geschichtlichen Wurzeln, „Cities for people“ (Kap. VI), regiert durch „business men“, verpflichtet dem Gemeinwohl. Kein Zweifel, der amerikanische Stadtexperte glorifizierte, was er in Deutschland sah, maßlos. Und doch, in seinem bewundernden Blick von außen tritt die neue soziale Gestalt, die deutsche Städte in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg annahmen, scharf hervor, erschaffen inmitten einer Gesellschaft, die in Bewegung ist; neue Räume von Sicherheit entstehen durch eine kommunale Daseinsvorsorge, für die es keine geschichtlichen Vorbilder gab.85 Bei allen Defiziten – eine der großen Erfolgsgeschichten des 19. Jahrhunderts, erreicht in bürgerlicher Selbstverwaltung unter liberaler Regie. Ein Höhepunkt in der Geschichte des Liberalismus, vielleicht darf man sagen: der Höhepunkt. Warum bestimmt er nicht das Bild vom deutschen Liberalismus? Damals nicht und heute nicht. Um diese Frage zumindest hypothetisch beantworten zu können, suche ich Wahrnehmungsfilter sowie deren Auswahlkriterien zu bestimmen und bündle sie zu sechs Punkten: 1.) Der junge Nationalstaat überstrahlte alles andere, auch die Stadt und ihre Leistungen. Die wirtschaftliche, auch die wissenschaftliche und kulturelle Prosperität, die sich in seinem Gehäuse ereignete, wurde ihm gutgeschrieben, 84 Die defensive Argumentation betont auch Constantin Goschler, Infrastruktur-Liberalismus. Rudolf Virchow als Berliner Kommunalpolitiker, in: Jahrbuch zur LiberalismusForschung 18 (2006), S. 45–58. 85 Den besten europäischen Überblick bietet nun Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013.

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der Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht ohnehin. Unter den Symbolen des neuen Deutschland war die nationale Flotte wohl wirkungsmächtiger als die Daseinsvorsorge-Stadt, die Frederic Howe als große deutsche Gesellschaftsvision bewundernd überschätzte. Wie sich die liberalen Parteien zu diesem Nationalstaat verhielten, den auch seine Kritiker als Höhepunkt deutscher Geschichte empfanden, bestimmte ihr Bild unter den Zeitgenossen und lange auch das der Geschichtswissenschaft. Die Revision dieses Bildes rückte zwar ab von der Fixierung auf das, was den Liberalen nicht gelungen war86, nicht aber von der Zentralität des Nationalstaates als Bewertungsgrundlage. Die Kommunalgeschichte und mit ihr der Kommunalliberalismus erhielten keinen angemessenen Platz in der Nationalgeschichte.87 2.) Dieses Missverhältnis zeigt sich auch in der Marginalität des Kommunalliberalismus für die Wahrnehmung des Liberalismus insgesamt. Dass sich viele prominente Liberale auch in der Stadt politisch engagierten, änderte daran nichts. Die großen Veränderungen im Gesamtliberalismus wurden auf der nationalen Ebene vollzogen. Dort spalteten sich die liberalen Parteien und vereinigten sich, dort entstanden neue. Dass der Kommunalliberalismus die organisatorischen Spaltungen nicht alle mitvollzog und er in der Stadt andere Koalitionen einging als im Nationalstaat, hat nicht das Gesamtbild des Liberalismus verändert, sondern wurde eher als ein Beleg für die vermeintlich unpolitische Kommunalpolitik verstanden. Dazu passt, dass die Parteiprogramme, mit denen sich alle liberalen Richtungen an die Öffentlichkeit wandten, der nationalen und daneben noch der einzelstaatlichen Politik angehörten, während auf kommunaler Ebene spät Programme entstanden und nie gesamtstaatlich beachtet wurden. Das verweist auf einen weiteren Wahrnehmungsfilter, der die Stadt als politischen Raum an den Rand rückte: 3.) Die kommunale Daseinsvorsorge folgte zwar Grundlinien, die auch zeitgenössisch klar zu erkennen waren, doch ihr Verlauf war außerordentlich vielfältig und hing von vielen Einflussfaktoren ab, die von Stadt zu Stadt stark differierten. Deshalb handelten auch die Parteien nicht einheitlich; was Linksliberale in der einen Stadt billigten, verwarfen sie in einer anderen. Hinzu kommt der Vorrang der Verwaltung bei den komplexen Planungen und in den langwierigen Ausführungen, an denen oft nichtstädtische Akteure beteiligt 86 Vgl. dazu mit Literaturhinweisen Dieter Langewiesche, Die Nationalliberalen und Bismarck, in: Lothar Gall (Hg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 73–89. 87 Das zeigen auch die jüngsten Bestandsaufnahmen zum Kaiserreich, in denen es keine Beiträge zur Stadt gibt: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009; Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, Paderborn 2011.

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waren. Den Stadtverordneten fehlte ein gesamtstaatliches Forum, auf dem sie diskutieren und in die nationale Öffentlichkeit wirken konnten. Der deutsche Städtetag nahm eine solche Aufgabe für die Stadtverwaltungen wahr, nicht für die städtischen Parlamente. 4.) Die Verfassung der Städte und ihre Position in der Verfassungsordnung der deutschen Länder. Die Daseinsvorsorge-Stadt entstand hinter einer illiberalen Wahlrechtsmauer, eingefügt in eine staatliche Ordnung, die keine volle Parlamentarisierung zuließ und zahlreiche obrigkeitsstaatliche Elemente konservierte. Beides trug dazu bei, die gesellschaftspolitische Attraktivität der bedeutenden Modernisierungsleistungen der Städte zu begrenzen. Die Stadt, vor allem die Großstadt mit ihren weiten Selbstverwaltungsrechten wurde, anders als es Hugo Preuß immer wieder forderte, nicht zum Vorbild für eine liberale Reform der Staatsverfassung, weil dieser kommunalen Selbstverwaltung von den liberalen Herren der Stadt trotz aller Veränderungen und trotz linksliberaler Kritik daran ein bürgerlicher Klassencharakter aufgeprägt wurde.88 Die liberale Herrschaft in der Stadt ermöglichte einen historisch beispiellosen sozialpolitischen Reformschub, jedoch ohne den Willen zur Demokratisierung der kommunalen Verfassung. Von einer solchen Selbstverwaltung konnten keine prägenden Impulse auf die Verfassungsordnung von Reich und Ländern ausstrahlen. Das schwächte die Wirkungsmöglichkeiten des Kommunalliberalismus außerhalb der Stadt und im Liberalismus insgesamt. Der ‚social turn‘ des Kommunalliberalismus (George Steinmetz) brach sich an einer Stadtmauer aus Gesetzen und administrativen Regelungen, die den Stadtbürger vom Staatsbürger zu trennen suchten. Jede Reichstagswahl führte diese Trennung vor Augen, jede Kommunalwahl geriet zur Dokumentation politischer Rückständigkeit des städtischen Raums. Die pragmatische Zusammenarbeit weltanschaulicher Gegner im Stadtparlament, die über das hinausging, was in Landtagen und im Reichstag möglich war, konnte dies nicht ausgleichen. Deshalb ging auch hier kein gesamtstaatlicher Impuls vom Kommunalliberalismus aus. Zu einem „Ort liberalen Sonderdaseins“89 sank die kommunale Selbstverwaltung allerdings nie herab. In ihr wurde eine Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg eingeübt, die in der Weimarer Republik auf allen politischen Ebenen wirksam wurde. Aber auch das wurde in der Wahrneh-

88 So schon Heinrich Heffter (wie Anm. 60), S. 616. 89 So Grzywatz (wie Anm. 9), S. 1111. Für das Thema Kommunalliberalismus im Kaiserreich bietet Grzywatz wenig, für die Wahlrechtspolitik in Preußen ist sein monumentales Buch wichtig. Insgesamt tendiert der Autor dazu, die städtische Selbstverwaltung in staatlicher Verwaltung aufgehen zu lassen.

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mung der Zeitgenossen und rückblickender Betrachter nicht der Stadt als politischem Ort oder dem Kommunalliberalismus gutgeschrieben. 5.) Sozialliberale wie Ignaz Jastrow entwarfen mit der Erfahrung ihrer kommunalpolitischen Praxis eine Theorie der sozialen Politik, die den überkommenen Sozialliberalismus für die Aufgaben der Industriegesellschaft öffnen sollte. Sie reihten sich damit in die Versuche ein, die um 1900 in vielen europäischen Staaten auf eine Erneuerung des Liberalismus durch soziale Öffnung zielten. Doch auch hier gelang es den Kommunalliberalen nicht, zu Meinungsführern in den Debatten um den „Neuen Liberalismus“ zu werden. Zwar repräsentierten sie, und nur sie, einen Liberalismus an der Macht, doch diese Macht fußte auf sozialem Ausschluss vieler Wähler. Ein „Herrenhaus des Freisinns“ konnte kein Zukunftsmodell sein. In der Stadt entstand deshalb kein intellektueller Hegemon, der die nationale Reformdiskussion prägt. 6.) Es war zudem eine Machtposition, von der aus kein Zugriff in die Machtzentren im Staat möglich schien. Die Verbindungen zwischen Kommune und Staat liefen in Deutschland vorrangig über die Verwaltung, nicht über die Parlamente. In England regelten Spezialgesetze des Parlaments die kommunalen Zuständigkeiten, in Deutschland tat das die staatliche Verwaltung in einer Fülle von Vorschriften, in denen Liberale wie auch Sozialdemokraten eine Entwertung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts sahen. Der Gemeinde werde ein „Polizeicharakter“ aufgezwungen, wie es Hugo Preuß formulierte.90 All dies trug dazu bei, dass aus der bürgerlichen Selbstverwaltung in den Städten kein Modell für die Reform des Staates hervorging und der Kommunalliberalismus des Kaiserreichs trotz seiner bedeutenden Leistungen im Aufbau der Daseinsvorsorge-Stadt schon damals nicht das Bild des deutschen Liberalismus prägte. Nach dem Ersten Weltkrieg schuf dann die parlamentarische Republik eine neue politische Ordnung auf allen Ebenen. Auch das Umfeld des Kommunalliberalismus veränderte sich gänzlich. Für ihn bedeutete das Kaiserreich einen Gipfelpunkt seiner Gestaltungsmacht, aber nicht deren Ende.91 Auf Reichsebene verfielen die liberalen Parteien während der Weimarer Republik, für den kommunalen Liberalismus gilt das nicht in der gleichen Weise. Angemessen erforscht wurde dies bislang nicht. 90 Preuß, Kommunale Steuerfragen (wie Anm. 78), S. 59. 91 Hettling, Liberalismus in Breslau (wie Anm. 23), S. 271, hat mit Blick auf die städtischen Leistungen generell den Liberalismus des späten Kaiserreichs als „Indian summer“ charakterisiert. Eine schöne Formulierung, die allerdings heute in den USA als politisch unkorrekt gilt. In einer Fußnote mag sie toleriert werden.

DETLEF LEHNERT

Kommunalfreisinn, Ringstraßen-Liberalismus und Progressives Berlin, Wien und London vor dem Ersten Weltkrieg

Der Berliner Stadtrat (und künftige Weimarer „Verfassungsvater“) Hugo Preuß betrachtete 1913 in systematischer und praktischer Absicht vergleichend die „Verwaltungsorganisation größter Städte“. Dabei hat er sich jenseits innerdeutscher Blickperspektiven ganz selbstverständlich auf die klassischen europäischen Metropolen London, Paris und Wien als Referenzgrößen bezogen.1 Auch wenn man sonst von „Frankreich und seiner eleganten Verwaltungstechnik ... gewiß sehr viel lernen“ könne, gelte das kaum für die „Selbstverwaltungsorganisation“, wo man „schwerlich gerade hier in die Schule gehen“ solle. In der Tat ist es auffällig, dass sich zwar demokratische Linksliberale wie Preuß, insofern ähnlich wie Sozialdemokraten, zuweilen positiv auf Traditionen aus der Französischen Revolution und des republikanischen Frankreich bezogen, aber das für Paris besonders restriktive Präfektursystem ablehnten. Dieses widersprach bürgerschaftlichen Selbstverwaltungskonzepten und stand für die SPD zudem im negativen Ruf, aus der gewaltsamen Unterdrückung der Pariser Kommune von 1870 hervorgegangen zu sein.2 Zwar hat Preuß an Sympathien für englisches self-government nie Zweifel gelassen: „Weit eher wäre etwas für uns Nützliches mit dem Vorbild der Grafschaft London und ihren 29 Teilgemeinden anzufangen.“3 Aber dies war programmatisch im Sinne eines Differenzvergleichs gemeint, während realpolitisch die Übertragung auf ein Groß-Berlin „noch unwahrscheinlicher als die Verpflanzung des Seine-Präfekten an die Ufer der Spree“ sei (S. 431). Für eine „moderne Repräsentativverfassung der Gemeinden“ könne man daher „abgesehen von

1 Alle (ggf. vorausgehende Zitate zusammenfassenden) Seitenzahlen dieses und des nächsten Absatzes nach Hugo Preuß, Kommunalwissenschaft und Kommunalpolitik (Ges. Schriften Bd. 5), Hg. Christoph Müller, Tübingen 2012, S. 426–438. 2 Zu Paris vgl. in diesem Band den Beitrag von Stefan Grüner. 3 Auf einer Gemeindevertreter-Konferenz der SPD bezog sich auch Hugo Heimann für das verschleppte Eingemeindungsproblem auf dieses Beispiel: „Als Muster könnte der Groß-Londoner Grafschaftsrat dienen, aber unserem Groß-Berliner Zweckverband wird leider nur die freie Selbstverwaltung fehlen“ (Vorwärts, 17.1.1911).

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London“, dann sogar im Konkordanzvergleich, eher noch „das unseren Verhältnissen näherstehende Beispiel Wiens“ (S. 432) mit heranziehen.

1. Stadtverfassung und Wahlrestriktionen Die vergleichende Analyse von europäischen Metropolen seiner Zeit bestätigte für Preuß die Einsicht, „daß die kommunale Organisation in unlöslichem Zusammenhange mit der gesamten Verwaltungsorganisation, ja auch mit der Verfassung und der ganzen politischen Struktur des Staates und Volkes steht“ (S. 430 f.). Zugleich sah er den Zusammenhang der Rechtsformen mit der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung: „Bevölkerungsverdichtung aber bedeutet wachsende Sozialisierung, materielle und ideelle Steigerung der Gemeintätigkeit; neben die nach Zahl und Ausdehnung unaufhaltsam wachsenden technischen Gemeindebetriebe tritt die ebenso unaufhaltsame quantitative und qualitative Steigerung der Aufgaben kommunaler Sozialpolitik“ (S. 427). Die moderne Großstadt war nicht allein „über den Rahmen nachbarschaftlichen Zusammenhanges weit hinausgewachsen“ (S. 437), der ein Leitbild früher bürgerschaftlicher Selbstverwaltung gebildet hatte. Darüber hinaus empfand der – selbst noch in solcher Ehrenamtstradition unbesoldet tätige – Stadtrat Preuß gerade auch in Berlin das Spannungsverhältnis zur preußischen Staatsorganisation als schroff ausgeprägt: „Was die Bedürfnisse einer modernen größtstädtischen Verwaltung erheischen, das ist vielfach ein Widerspruch zu altererbten Vorstellungsreihen des überkommenen Obrigkeitsstaates, die sich um die Fundamentalbegriffe von Hoheitsrechten und Herrschaftsmonopolen, von Vorgesetzten und Untergebenen in magischem Kreise bewegen. Die natürliche Gestalt einer modernen größtstädtischen Verwaltung ist weit weniger die einer gestrengen Obrigkeit als die einer einfachen Geschäftsführung für um so gewaltigere Gemeinschaftsinteressen“ (S. 438). Diese waren in seiner Konzeption zunehmend sozialpolitisch, nicht allein vermögensverwaltend im Sinne der ortsansässigen Eigentümer und Steuerzahler akzentuiert, wie nicht zuletzt auch sein eigenes Tätigkeitsgebiet der Nahverkehrspolitik zeigte.4 Für Berlin galt wie auch sonst für die östlichen Provinzen in Preußen – und im Unterschied zur rheinischen Bürgermeisterverfassung – die Magistratsver4 Vgl. dazu programmatisch Hugo Preuß, Sozialpolitik im Berliner Verkehr (1911), in: Ders., Ges. Schriften Bd. 5, S. 391–407. – Für manche aus Umfangsgründen im Folgenden nicht detaillierter belegbaren Aspekte sei verwiesen auf zusätzliches Material in Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994.

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fassung. Deren Entwicklung sah Preuß durch verwaltungsmäßige Einpassung in die preußische Staatsorganisation gehemmt: „Die Selbstverwaltung wurde durch die Obrigkeitsidee verkrüppelt. Sie findet ihre Verkörperung im Magistrat, der zugleich Stadtregiment und kommunales Oberhaus ist.“5 Ein Berliner Oberbürgermeister war darin gegenüber seinem Bürgermeister(-Stellvertreter) und den ebenfalls auf zwölfjährige Amtsperioden gewählten Magistratskollegen formell nur Primus inter pares. Die Ergänzung durch unbesoldete Stadträte, neben den meist rechtskundigen und nicht selten von anderen Städten übernommenen Berufsbeamten, sollte die Verbindung mit der ortsansässigen Bürgerschaft zum Ausdruck bringen. In der Polizeiverwaltung war der Oberbürgermeister als Kommunalbeamter zugleich mittelbarer Staatsbeamter, was mit als Begründung diente, jede Wahl in der Stadtverordnetenversammlung unter Bestätigungsvorbehalt des preußischen Staates – in letzter Instanz des Monarchen – zu stellen. Auch wenn endgültig verweigerte Bestätigungen eher selten waren, diente bereits der Bestätigungsbedarf als Selektionsbarriere für insoweit zu risikoreiche Kandidaturen.6 Die gesamtstaatliche Einbindung war in Wien über dessen Zugehörigkeit zu Niederösterreich recht ähnlich, wenn auch die Bürgermeisterverfassung und die Anfang der 1860er Jahre ausgeweiteten Gemeindekompetenzen mehr Spielräume eröffneten. Mit der Etablierung eines vom Gemeinderat auf sechs Jahre gewählten Stadtrats neben dem Beamtenmagistrat entfernte sich aber bereits die von einer antisemitischen Opposition bedrängte späte liberale Kommunalverwaltung zu Beginn der 1890er Jahre von enger Bindung an den Gemeinderat. Sie lieferte so unbeabsichtigt das Modell für Karl Luegers kompakte Parteiherrschaft im Rathaus7, aus dem 1919 nach Krieg und Revolution seine Christlichsozialen von der Sozialdemokratie verdrängt wurden. Das hatte kurz nach Luegers Tod (1910) wohl auch Preuß im Blick, wenn er zum Wiener Bürgermeister generell anmerkte: „Er hat etwas von einem Bürgerkönig an sich, manchmal meint man vielleicht allzu viel davon.“8 Es war eben 5 Hugo Preuß, Probleme des großstädtischen Verwaltungsrechts (1911), in: Ders., Ges. Schriften Bd. 5, S. 381–390, hier S. 387. 6 Zu Grundzügen der Entwicklung ist noch immer unentbehrlich Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte ihrer Ideen und Institutionen, 2. Aufl. Stuttgart 1969. 7 Vgl. John W. Boyer, Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien 2010. 8 Preuß, Probleme, S. 388. Grundsätzlich konnte ihn dies aber nicht von dem vergleichsweise positiven Urteil abbringen: „Die Wiener Organisation kommt der Struktur des englischen Self-Government (Selbstverwaltung), und zwar nicht bloß des lokalen, sondern auch des parlamentarischen nationalen Gouvernements am nächsten“ (ebd., S. 386).

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nicht leicht, die richtigen Pfadspuren zwischen den jeweiligen Problemen einerseits der „plebiszitären Führerdemokratie“ (Max Weber) und andererseits der parlamentsfernen Beamtenkabinette zu finden, wie dann auch umfassender die Weimarer Republik zeigen sollte. Für London war der Lord Mayor als Vertreter der traditionsreichen, aber zusehends bevölkerungsschwachen City nur mit Restkompetenzen und vorrangig repräsentativen Aufgaben gesamtverantwortlich, weshalb dessen zeremoniell betonte Stellung längst „wesentlich nur dekorativ ist“.9 Die für gewachsene Anforderungen der hochindustriellen Epoche unzeitgemäße Zersplitterung der Verwaltungszuständigkeiten führte zwar 1855 zur Errichtung des „Metropolitan Board of Works“ (MBW), einer Art von – in sich nach Aufgabenbereichen gegliedertem – Zweckverbandsdach über den Einzelgemeinden. Darin eher den liberalen Verwaltungen Berlins und Wiens in den 1860er und 1870er Jahren ähnlich, konnten diese nur punktuell aneinander gefügten Institutionen noch am ehesten im Bereich der Mindestinfrastruktur wie Straßenbau und Kanalisation erfolgreich sein. Insgesamt jedoch bewährte sich diese Organisationsform wegen zu geringer Verwaltungseffizienz und diversen Begünstigungsskandalen ersichtlich nicht.10 Das führte im Zuge landesweiter Reformen 1888/89 zur Schaffung des „London County Council“ (LCC) als direkt gewähltem Grafschaftsrat. Insofern ähnlich dem Wiener Stadtrat wurden vom LCC sog. Aldermen (mit sechs- anstelle von dreijährigem Mandat wie andere LCC-Mitglieder) gewählt, was in Berlin nur in anderer Weise ein Gegenstück in den unbesoldeten Stadträten hatte. Das hauptamtliche Personal für die wachsenden Aufgaben der Weltstadt London zeigte mehr administratives, teilweise gewissermaßen stadtingenieurtechnisches Profil, wie dies in einer für die landesweiten Belange gebräuchlichen Kategorie des civil service ebenso zum Ausdruck kam. Das auch für die Kommunalebene geltende, sogar ein – gerade bei zahlreichen Arbeitern nicht anzutreffendes – steuerpflichtiges Mindesteinkommen voraussetzende preußische Dreiklassenwahlrecht führte im Zuge der Vermögenskonzentration in der prosperierenden Hauptstadt Berlin zu extremer Sozialexklusivität:11 Bis Jahresmitte 1900 hatte sich die Klasseneinteilung, die 9 Ebd., S. 388. 10 Vgl. David Owen, The Government of Victorian London 1855–1889. The Metropolitan Board of Works, the Vestries, and the City Corporation, Cambridge/Mass. 1982; Gloria Clifton, Professionalism, Patronage and Public Service in Victorian London. The Staff of the Metropolitan Board of Works 1856–1889, London 1992. 11 Während 1850 noch 7,7 % der Wahlberechtigten in der 1. und immerhin 26,3 % in der 2. Klasse versammelt waren, hatte der forcierte Industrialisierungsprozess bis 1870 diese Anteile stadtbürgerlich Privilegierter bereits auf 3,9 % bzw. 16,7 % verengt. Seit

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jeweils einem Drittel insgesamt zunehmender direkter Steuerlast entsprach, auf nur mehr 0,17 % Berechtigte der ersten und 2,30 % der zweiten Klasse verengt. Restliche 97,53 % Wahlberechtigte (Männer ab 24 Jahre nach einem Jahr Aufenthalt in der Stadt) drängten sich in der so weitgehend entrechteten dritten Klasse zusammen. Dies bedeutete, dass erhebliche Teile des gutsituierten Bürgertums zusammen mit Arbeitern und Kleinbürgertum sowie dem Mittelstand zu den kommunalpolitisch Unterprivilegierten herabgesunken waren. Zumal somit auch fast alle Staatsbeamte dergestalt entrechtet wurden, fand seit 1900 eine Erweiterung der zweiten Wählerklasse auf sämtliche über einem Mittelwert der Steuerlasten Angesiedelten statt. Daraufhin erweiterte sich zwar die erste Klasse absolut nur unwesentlich auf 0,43 %, aber in dem erstrebten Effekt die zweite auf 8,03 %, womit zumindest das gutsituierte Bürgertum nun aus der dritten Klasse von 91,54 % herausgenommen war. Allein die weitere Verschärfung der ökonomischen Ungleichheit, ohne den Einfluss der Steuerreform der 1890er Jahre, verminderte an der Spitze auch ohne Statutenänderung das oberste Drittel bis 1910 schon wieder auf 0,24 %, während die zweite Klasse geringfügig auf 8,41 % anstieg.12 In absoluten Zahlen wird die bis 1900 eingetretene weitere plutokratische Wahlrechtsverengung besonders klar ersichtlich. Allein seit 1890 verringerte sich die Zahl der Erstklassenwähler der Millionenhauptstadt von 3778 auf wohlgezählte 578 Köpfe, die aber 1900 eine für damalige Zeit enorme Jahressteuersumme von je mindestens 9726 Mark repräsentierten, während es zehn Jahre zuvor erst 1632 M. gewesen sind. Auch bei der 2. Klasse war solcher Dekadenanstieg von 363 auf 1136 M. bei gleichzeitiger Verminderung der Kopfzahl von 17.727 auf 7639 sehr beträchtlich. Die strukturell oberhalb eines Durchschnittsbetrags ansetzende Höherstufung des bessergestellten Mittelstandes zur Jahrhundertwende konnte zwar in der 1. Klasse nur begrenzte Effekte bewirken (reichlich verdoppelte Kopfzahl und Halbierung des Schwellenwerts). Doch in der primär ins Auge gefassten 2. Klasse wurde so der Mindeststeuersatz auf überschaubarere 220 M. abgesenkt und die Kopfzahl auf 27.484 erhöht, was dort auch bis zum Ende des Dreiklassensystems (zumindest) stabil blieb.13 Angesichts dieser ohnehin ausgeprägten Hierarchisierung hatte 1883 machten die beiden oberen Klassen nur mehr 10 % oder weniger aus; vgl. Tabellen bei Berthold Grzywatz, Stadt, Bürgertum und Staat im 19. Jahrhundert. Selbstverwaltung, Partizipation und Repräsentation in Berlin und Preußen 1806 bis 1918, Berlin 2003, S. 1134 u. 1139. 12 Daten nach: Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1895–1900/I, S. 9 f. u. 1906–1910/I, S. 25. 13 Vgl. Grzywatz, Stadt, S. 1139 f.; im preußischen Vergleich der Jahre 1896/97 war Berlin mit 97 % der Wahlberechtigten in der 3. Klasse ein besonderer Fall, in 143 anderen

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die weitere Restriktion auf der Seite des passiven Wahlrechts, dass die Hälfte der Stadtverordneten ortsansässige Hausbesitzer sein mussten, eine geringere Eigenbedeutung. Denn für dermaßen Privilegierte galt dieser Status ohnehin entsprechend häufig, wie auch der um 50 % schwankende Hausbesitzeranteil im Wiener Gemeinderat zeigte, ohne dass solches dort formal gefordert war.14 Überdies ließen sich Gestaltungsmöglichkeiten für kommunalpolitische Besitzgemeinschaften nutzen, bevor im Jahre 1900 das Oberverwaltungsgericht dem einen Riegel vorgeschoben hat.15 Gerade der zumeist nicht vornehmlich der Eigennutzung dienende Berliner Hausbesitz war freilich nicht immobil, sondern mehr ein Spekulationsobjekt, wie ca. 70 % Eigentumswechsel allein zwischen 1879 und 1887 zeigten. Angesichts hoher Bankkreditlasten als Begleiterscheinung dieses spekulativen Einschlags waren die grundbuchmäßigen Eigentümer nur sehr partiell auch ‚Real’besitzer ihrer Häuser.16 Zusätzliche Verwerfungen gingen von der Wahlbezirksgebundenheit der Klasseneinteilung aus. So verwies auch die liberale Hauptstadtpresse auf eine Diskrepanz, dass zuweilen die erste Wählerklasse nur aus einem Steuerzahler bestand und in bestsituierten Quartieren auch noch 14.000 Mark Steuerlast nur drittklassig eingestuft wurden.17 Sogar das mehr an ständischen als rein kommerziellen Hierarchien orientierte Sprachrohr der Konservativen fand es unverständlich, dass je nach gebietsbezogenem Steueraufkommen in dritter Klasse „neben den eigentlichen Proletariern auch wohlhabende Leute mit ei-

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Städten über 10.000 Einwohnern waren es knapp 91 %, in 277 Städten unter 10.000 Einwohnern 83 % (ebd., S. 1170). – Einheitliche Umrechnungsschlüssel sind kaum verbindlich zu ermitteln, als grober Anhaltspunkt mag 1 M. damals = 15 € heute gelten. Vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wien. Politische Geschichte 1740–1934, Teil 1,Wien 1985, S. 604; zur Interessenpolitik der Hausbesitzer vgl. Detlef Lehnert, Organisierter Hausbesitz und kommunale Politik in Berlin und Wien 1890–1933, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 29–56. Vossische Zeitung, 22.9.1900; kritisch dazu im „Vorwärts“ (27.9.1900): „Die Möglichkeit, als eingetragene Eigentümer wenigstens eines Hausanteils Stadtverordnete zu werden, war für viele Nichtbesitzende, wozu doch gerade der größte Teil der wahrhaft Gebildeten gehört, die Voraussetzung, an dem kommunalen Leben Anteil zu nehmen und dessen fortschreitende Tendenzen fördern zu können.“ Tatsächlich war 1905 das Tätigkeitsprofil der ca. 60 % Hausbesitzer vorwiegend aus der kommerziellen Stadtelite rekrutiert (Kaufleute, Bankiers, Fabrikanten, Rentiers); bei den ca. 40 % NichtHausbesitzern 1906 fanden sich hingegen relativ mehr Angehörige des Bildungsbürgertums und der Freien Berufe und sonst vorwiegend wohl eher gehoben mittelständische Gewerbetreibende. Zu solchen Daten und deren Quellen vgl. Lehnert, Kommunale Institutionen, S. 219 f. Grzywatz, Stadt, S. 881. Vossische Zeitung, 3.10.1892.

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nem beweglichen Vermögen von 300.000 M. und einem Jahreseinkommen von 14.500 M.“ einsortiert waren; nur auf das Berufseinkommen bezogen konnten vor der Neuregelung zur Jahrhundertwende allein noch wenige Spitzenbeamte vom Unterstaatssekretär aufwärts wenigstens in der zweiten Klasse wählen.18 Das Parteiorgan der SPD bemängelte hingegen eine zusätzliche Ungerechtigkeit sogar innerhalb der dritten Klasse in der Art, dass angesichts starken Bevölkerungszuwachses die unterlassene Neueinteilung der Wahlbezirke das Mandatsgewicht auch insoweit bis zum Zehnfachen verzerrte.19 In Österreich wurde auch mit dem in der liberalen Ära gültigen Reichsgemeindegesetz ein Privilegienwahlrecht ausdrücklich vorgeschrieben: „Das Landesgesetz regelt die Bildung der Gemeindevertretung durch eine Wahlordnung mit gebührender Rücksichtnahme auf die Interessen der höher Besteuerten.“20 Der Wahlkörperzensus in Wien führte dazu, nur 13–17 % der männlichen Zivilbevölkerung über 24 Jahre bis 1885 und dann 23–25 % für den Rest des 19. Jahrhunderts überhaupt abstimmen zu lassen. Erst die sich alibihaft darstellende Anfügung eines (um die Hälfte) mandatsschwächeren vierten allgemeinen Wahlkörpers brachte im frühen 20. Jahrhundert, noch vor Praktizierung des allgemeinen und gleichen Kommunalstimmrechts für Frauen und Männer seit 1919, eine Berechtigungsquote von 54–70 %.21 Dieser weitere Ausschluss bis knapp zur Hälfte wurde in Wien über das Kriterium dreijähriger Sesshaftigkeit und nicht wie in Berlin (wo ein Jahr reichte) durch eine Mindeststeuerleistung bewirkt. Die mit der urbanen Mobilität in der Hochmoderne der Jahrhundertwende kollidierende Vorstellung, dass Wahlberechtigte zumindest längerfristig sesshaft zu sein hatten, korrespondierte mit primär der Regulierung von Fürsorgeansprüchen dienenden gesamtstaatlichen Rechtsfolgen: Im Jahre 1900 waren 62,2 % der Wiener Bevölkerung dort insoweit gar nicht „heimatberechtigt“, bevor wenigstens zehnjährige Sesshaftigkeit ein Antragsrecht begründete und so dieser Anteil bis 1910 auf 44,4 % zurückging.22 Die innere Verteilung der privilegierenden (ab 1900 oberen) drei Wahlkörper verengte in der Tendenz analog zur Berliner Vermögenskonzentration 18 Neue Preußische Zeitung, 13.10.1899. 19 Vorwärts, 30.9.1909. 20 RBbl. 18/1862, zit. nach: Karl Ucakar/Manfred Welan, Kommunale Selbstverwaltung und konstitutioneller Rechtsstaat, in: Wien in der liberalen Ära, Hg. Felix Czeike, Wien 1978, S. 23 mit Anm. 62. 21 Vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wahlrecht und Wählerverhalten in Wien 1848–1932, Wien 1984, S. 77. 22 Vgl. Gerhard Melinz/Susan Zimmermann, Über die Grenzen der Armenhilfe. Kommunale und staatliche Sozialpolitik in Wien und Budapest in der Doppelmonarchie, Wien 1991, S. 110.

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die erste Wählerklasse in Wien von 13,5 % (1880) auf 6,5 % (1895), was die zweite entsprechend von rund 20 auf 30 % erweiterte. Die wie für Berlin im Jahre 1900 auch in Wien erfolgende Neuaufteilung dehnte die erste auf 19,5 %, aber dennoch zugleich die zweite Wählerklasse auf 34,2 % aus.23 Das bedeutete eine Hierarchieabflachung innerhalb der Bevorrechtigten oberhalb von Arbeiterschaft und Kleinbürgertum. Solches zielte aber wesentlich auf die Ersetzung liberaler Privilegienwähler aus Besitz und Bildung durch christlichsoziale aus dem selbständigen Mittelstand, den (Klein-)Hausbesitzern sowie Beamten und städtischen Angestellten.24 Ein 1890 auf Groß-Wiener Format berechneter (in den Innenstadtbezirken noch viel höherer) Anteil des Hauspersonals an den gesamten Erwerbstätigen von 13,4 % deutete nahezu auf eine Mehrheit von gehoben mittelständisch bis statusbürgerlich lebenden Wahlrechtsprivilegierten hin.25 Die Konzentration der Bevorrechtigten im Stadtkern brachte es mit sich, dass 1880 allein der bevölkerungsschwache 1. Bezirk noch 23 (von 120) Gemeinderatsmandaten stellte, der proletarisch geprägte kopfzahlstarke 10. Bezirk hingegen nur drei.26 Auf der Basis der gerade erfolgten Stadterweiterung bestand Anfang der 1890er Jahre die ausgeprägte Eigentümlichkeit, dass im ersten Wahlkörper 181 Stimmberechtigte des 1., aber lediglich 37 im überwiegend proletarischen 11. Bezirk je ein Wiener Gemeinderatsmandat besetzen konnten. Das entsprach der erwähnten Berliner Wirkung des Dreiklassensystems, die statushöchsten Berechtigten in steuerstarken Wohngebieten relativ zu benachteiligen. Umgekehrt aber blieben auch im dritten Wahlkörper des 1. Bezirks nur 367 Stimmberechtigte für ein Mandat versammelt, während es im statusniedrigen 16. Bezirk immerhin 2316 waren. Solche Verwerfungen entstanden aus 23 Ebd., S. 81. 24 Zur Wählerstruktur auch Detlef Lehnert, Der politische Mythos des „kleinen Mannes von Wien“ und die soziale Realität einer saturierten Mittelstandsklientel, in: Gerhard Melinz/Susan Zimmermann, Blütezeit der Habsburgermetropolen, Wien 1996, S. 93– 107 (u. S. 255–257/Anm.); zur „Mittelstand society“ und „Karl Lueger’s ‚poeple‘“ als im Kern „lower- and middle bourgeois types“, mit Urvertrauen in die vorrangige Fähigkeit zur Problemlösung durch „families“: John W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897–1918, Cicago 1995, S. 3, 10 u. 14. 25 Vgl. Tabelle bei Renate Banik-Schweitzer, Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens 1869– 1934, Wien 1982, S. 121. Ein Vergleichswert von 8 % Hauspersonal der Berliner Erwerbstätigen (auch die bürgerlich geprägte Vorstadt Charlottenburg lag mit knapp 17 % hinter dem Wiener 1., 4. und 9. Bezirk und etwa auf gleicher Ebene mit dem 2., 3., 7. und 8.) deutet auf Kulturdifferenzen der Vorstellungen standesbewusster Existenz hin, zu der im Wiener Bürgertum die „Dienstleute“ selbstverständlicher gehörten; vgl. weitere Daten bei Renate Banik-Schweitzer/Gerhard Meißl, Industriestadt Wien, Wien 1983, S. 60. 26 Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 84.

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einer Zuweisung der Mandate je Bezirk nach dessen Steueraufkommen, woraufhin dann aber deren innere Wahlkörperstruktur auch Bildung, Beamtenstatus und Grundbesitz privilegierte.27 Seit der Statutenänderung 1900 wurden die Wahlkörper getrennt nach ihren Steuerlasten betrachtet, so dass nur mehr die erste Privilegienkategorie noch eine deutliche Überrepräsentation des 1. Bezirks zeigte, hingegen dort im dritten Wahlkörper die geringe Bevölkerungszahl eine Reduktion auf lediglich ein Mandat bewirkte.28 Seit der Reform von 1867 bestand in Großbritannien auf nationaler wie lokaler Ebene und folglich auch in London ein Wahlrecht, das überwiegend ebenso der kontinentale Linksliberalismus damals – mit oder auch ohne Bezug auf dieses Vorbild – in Grundzügen befürwortete: Es sicherte allen städtischen männlichen Grundeigentümern oder Hauptmietern mit so unterstellter finanzieller Mindestausstattung für selbständige Lebensführung das gleiche Stimmrecht, was über die Mittelklasse hinaus nun auch regelmäßig beschäftigte und relativ gut verdienende Arbeiter einbezog. Erst der nächste Reformschritt des liberalen Kabinetts Gladstone 1884/85 brachte diese Ausweitung dann auch für ländliche Regionen und beseitigte mit einer Neueinteilung der Wahlkreise das faktische Pluralstimmrecht dünn besiedelter Gebiete. In diesen Kontext gehörte 1888 auch die Schaffung von Grafschaftsräten (County Councils) für die Stadtregionen mit ihrem großen Bevölkerungszuwachs – auch für das eigentlich damit erst im modernen Sinne konstituierte London. Das Grafschaftswahlrecht entsprach überwiegend demjenigen zum Unterhaus, mit den beiden Abweichungen „to eliminate the lodgers and to include the women ratepayers“29 – also zunächst kein Stimmrecht der Untermieter, hingegen ein solches für Frauen, die als Haushaltsvorstände eigenständig lebend zumindest indirekt über die Hauptmiete auch Gemeindesteuern abführten. Ein passives Wahlrecht auf Lokalebene bestand für die Frauen zwar erst seit einer liberalen Reforminitiative 1907, so dass sich im Herbst 1909 erstmals gut 2 % Kandidatinnen bewerben konnten; dagegen hatten in solch bescheidener Dimension nunmehr sogar gemäßigte Konservative wenig einzuwenden.30 Das in der internationalen Historiografie selten beachtete lokale 27 Vgl. dies./ders., Wien, S. 581. 28 Vgl. ebd. S. 922 (Teil 2). 29 The Morning Post, 7.3.1892. Die Nicht-Hauptmieter bekamen 1900 das Gemeindestimmrecht: Vgl. Raphael Schapiro, Public ownership in the British city. Perspectives on urban utilities 1870–1914, Diss. Oxford 2003, im Web: http://www.nuff.ox.ac.uk/ users/schapiro (hier: www.nuff.ox.ac.uk/users/schapiro/chapter %205.pdf, S. 4 – alle Webadressen zu diesem Beitrag v. 21.8.2013). 30 The Times, 30.10.1909. – Die 1889 erfolgte Wahl zweier Frauen, unter ihnen mit Jane Cobden die sozialreformerische Tochter des Freihandelspropagandisten Richard Cob-

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Frauenstimmrecht blieb aber schon zuvor kein Randphänomen, denn zur Jahrhundertwende waren rund 100.000 oder 1/6 bis max. 1/5 der insgesamt Berechtigten in London weiblich.31 Auch nach Inklusion der Untermieter (bei Mindestabgaben) stellten knapp 120.000 Frauen 1907 noch immer 1/7 der Wahlberechtigten zum LCC.32 Hingegen ist nur von gut 75.000 zum Unterhaus – vor diesbezüglicher lokaler Anpassung des Wahlrechts – zusätzlich wahlberechtigten „lodgers“ auszugehen.33 Es beruhte wesentlich auf der in London (das hier stets in LCC-Reichweite verstanden wird) erheblich reduzierteren Bebauung von Grundstücken, dass ein Hauptmieterstatus anderes bedeutete als in vielen kontinentalen Metropolen. Noch im frühen 20. Jahrhundert lag nämlich die Bewohnerzahl je Grundstück für London knapp unter 8, während die Vergleichszahl in Paris 38, für Wien etwas über 50 und in Berlin sogar knapp 76 betrug.34 Dies begünstigte eine vorherrschende Londoner Praxis, dass ohnehin weit überwiegend nicht selbst nutzende Eigentümer das gesamte Haus an einen Hauptmieter verpachteten. Dieser hat dann nicht etwa nur (seltener) Zimmer in der eigenen Wohnung, sondern auch im übrigen Haus befindliche andere selbständige Wohneinheiten untervermietet. Das war also gewissermaßen die städtische Analogie zum Pächter in Beziehung zum „Landlord“. Der u.a. die Aufenthaltsdauer und eine meist nur für qualifizierte Arbeitskräfte erschwingliche Jahresmindestmiete enthaltende Berechtigungsnachweis war für die „lodgers“ mit so vielen bürokratischen Hürden verbunden, dass nur die erwähnte bescheidene Anzahl den Weg in die Wählerlisten fand.35 Ein die Chancen der progressiv-liberalen Mehrheit verbesserndes Element war die Aufteilung der lokalen Mandate zum LCC nach Einwohnerzahl. Pas-

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den, wurde von Konservativen gerichtlich angefochten und annulliert; dazu Patricia Hollis, Ladies Elect: Women in English Local Government 1865–1914, Oxford 1987, S.  306 ff., sowie Gloria Clifton, Members and Officers of the LCC 1889–1965, in: Andrew Saint (Hg.), Politics and the People of London. The London County Council 1889–1965, London 1989, S. 7 f. Vgl. Susan D. Pennybacker, A Vision for London 1889–1914. Labour, every day life and the LCC experiment, London 1995, S. 4 u. 8. Allerdings war gemäß Hollis, Ladies Elect, S. 38, die Wahlbeteiligung dieser Frauen und somit ihr Einfluss auf die Kräfteverhältnisse wohl geringer. Vgl. Alex Windscheffel, Popular Conservatism in Imperial London 1868–1906, Woodbridge 2007, S. 156. Vgl. ebd., S. 66. Vgl. Rudolf Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, 4. Aufl. Jena 1920, S. 6. Bahnbrechend im Nachweis dazu Marc Brodie, The Politics of the Poor. The East End of London 1885–1914, Oxford 2004, S. 44–74.

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siv repräsentiert werden sollte dort also die Gesamtbevölkerung, lediglich die aktive Stimmberechtigung wurde noch begrenzend gestaltet. Solche Differenz führte dazu, dass für die 48 Mandate aus den Arbeiterquartieren im Durchschnitt je 7863 registrierte Berechtigte ausreichten, hingegen 40 Mandate aus Mittelklassenquartieren je 11.049 Berechtigte aufwiesen.36 Das wiederum erklärt, warum die – von der Arbeiterschaft überwiegend dort bevorzugten – Liberalen im LCC auch dann knapp ihre Mehrheit der Sitze behaupten konnten, wenn für die Konservativen insgesamt eine knappe Mehrheit der abgegebenen Stimmen gezählt wurde. Die Ausweitung der Berechtigten hätte im Ergebnis zunächst überwiegend nur mehr Stimmen hinter den ohnehin gewählten progressiven Vertretern der Arbeiterschaft vereinigt. Jedenfalls im Vergleich zum Berliner Dreiklassensystem erschien insoweit auch der SPD das Londoner Wahlrecht als „ein ziemlich demokratisches“.37 Die Wertschätzung für englische parlamentarische Institutionen der verschiedensten Ebenen ist also hierzulande nicht erst die Erfindung der im Banne der NS-Katastrophe umlernenden Historiografie. Vielmehr wurde dies von den gerade unter preußischen – und in Wien Luegerschen – Verhältnissen leidenden deutschsprachigen „Progressives“ (entschiedenen Linksliberalen und Reformsozialisten) auch schon zeitgenössisch ganz ähnlich gesehen.

2. Tätigkeitsbilanz und frühe Ablösung des Wiener RingstraßenLiberalismus Wenn das Ende des liberalen Kommunalregimes in Wien um die Mitte der 1890er Jahre als historisch „frühe“ Ablösung charakterisiert wird, dann bezieht sich dies nur auf den Vergleich mit Berlin (sowie anderen reichsdeutschen Großstädten) und London. Tatsächlich war in der Habsburgermonarchie eine verdichtete liberale Ära sogar nur auf die Jahre 1861 bis 1878 beschränkt.38 Dies korrespondiert aus selten näher untersuchten, im Kommunalkontext aber hier nicht zu thematisierenden Gründen exakt mit der preußischen Entwicklungsphase von der Gründung der Fortschrittspartei bis zur konservativen Wende Bismarcks. In einem durchaus kontinuierlich gepflegten Geschichtsbild ist die Entwicklung Wiens seit jener Epoche als abgestuftes Fortschrei36 Vgl. John Davis, Reforming London. The London Government Problem 1855–1900, Oxford 1988, S. 191. 37 Vorwärts, 21.2.1892. 38 Als Überblick mit weiterer Literatur: Helmut Reinalter/Harm Klueting (Hg.), Der deutsche und österreichische Liberalismus – geschichts- und politikwissenschaftliche Perspektiven im Vergleich, Innsbruck 2010.

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ten zu immer weiteren städtischen Errungenschaften darstellt geworden: Von den Leistungen der liberalen Ära (bis 1895) im Bereich von Bildung und Gesundheit über die Einbeziehung städtischer Werke und des Verkehrs in die kommunale Infrastruktur unter dem christlichsozialen Regime (1896–1918) bis hin zu einer forcierten Sozialpolitik unter Einschluss des Wohnbaus im sozialdemokratischen Zeitalter seit 1919 wurde das Bild eines letztlich relativ harmonischen Ganzen skizziert.39 Allein die autoritäre Periode zwischen 1934 und 1945 muss selbstverständlich von bloßen Nuancierungen im Sinne einer Kontrastfolie ausgenommen werden.40 Gegen die reichsdeutsche AnschlussSogwirkung von 1938 lässt sich als Wiener Besonderheit immerhin noch das (wohl erst die Neigung dorthin verstärkende) Scheitern des Februaraufstands 1934 der Arbeiterbewegung reklamieren, als es kommunalen Liberalismus im parlamentarischen Raum und dessen Vorfeld längst nicht mehr gab. Ein innerstädtische Politikgeografie andeutendes Stichwort des Ringstraßen-Liberalismus soll lediglich eine ausgeprägte zeittypische Tendenz markieren: Das Wiener Zentrum nicht allein der städtischen und staatlichen Institutionen, sondern auch des bürgerlich-liberalen Einflusses hat sich in der Inneren Stadt (1. Bezirk) befunden. Dabei blieben die Übergänge in die an diverse öffentliche und private Repräsentationsgebäude der Ringstraße – als „nicht zuletzt der bauliche Ausdruck eines Triumphs des Liberalismus“ – unmittelbar anschließenden Bezirke teilweise durchaus fließend. Dennoch war es städtebaulich auffällig, wie jene Gebäude das Ringstraßen-Ensemble strukturierten, „die in sich die liberalen Werte des bürgerlichen Geistes und der Kultur der Rationalität verkörperten: Parlament, Rathaus, Universität“ – auch wenn eine weiterhin nicht zu unterschätzende gesamtstaatliche Dominanz der bürokratischen Monarchie bestand. Gleichzeitig setzte die Wiener Klassenspaltung sich von innen nach außen fort; dem ursprünglich auch aristokratischen und zunehmend bürgerlichen Stadtkern folgten „die inneren Vorstädte mit dem Kleinbürgertum und Beamten sowie die äußeren Vorstädte mit dem Industrieproletariat und den sozialen Unterschichten“.41 Diese äußeren Vorstädte gehörten aber während der Blütezeit des Hauptstadtliberalismus von 39 Vgl. Felix Czeike, Liberale, christlichsoziale und sozialdemokratische Kommunalpolitik. Dargestellt am Beispiel der Gemeinde Wien, München 1962 (S. 113 zu solcher Dreigliederung). 40 Vgl. Maren Seliger, Scheinparlamentarismus im Führerstaat. „Gemeindevertretung“ im Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Funktionen und politische Profile Wiener Räte und Ratsherren 1934–1945 im Vergleich, Wien 2010. 41 Wolfgang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Peter Csendes/ Ferdinand Opll (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, S. 175–544, hier S. 179 f.

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den 1860er bis zu den 1880er Jahren politisch-administrativ noch gar nicht zur Gemeinde Wien. Sie waren daher nur ökonomisch und partiell auch soziokulturell, aber nicht für die kommunale Selbstverwaltung zu berücksichtigen. Das äußerst finanzaufwendige und daher von einer kleinbürgerlich-mittelständischen Minorität im Gemeinderat wegen der voraussehbaren Belastungen skeptisch betrachtete Großprojekt der Versorgung Wiens mit Hochquellenwasser aus dem Voralpengebiet erwies sich letztlich als gemeinwohldienliche Zukunftsinvestition. Was gravierende Defizite in hygienischen Standards in Verbindung mit beengten Wohnverhältnissen einer werdenden Millionenstadt an verheerenden Konsequenzen bewirkten konnten, zeigte noch 1892 die Cholera-Epidemie in Hamburg mit annähernd 9000 Todesopfern vorwiegend in den Armutsvierteln.42 Auch in Wien erfolgte die richtungsweisende Entscheidung vor dem Hintergrund von ca. 6000 Cholera-Toten 1866 in der Stadt und ihrer weiteren Umgebung. Bemerkenswert ist dabei auch, dass sich die Wiener Beschlusskörperschaften nicht scheuten, einen 1868 noch den städtischen Einnahmen nur eines Haushaltsjahres entsprechenden Gesamtschuldenstand in der kurzen Zeitspanne bis 1876 auf das Fünffache dieser Bezugsgröße auszuweiten.43 Das mochte in der Konjunkturüberhitzung bis in die ersten Monate 1873 noch eine kritikwürdige Verweigerung gegenüber einem angemessenen Gegenwartsbeitrag der zunächst stärker profitierenden statushöheren Innenstadtquartiere sein. Doch in der Folgezeit ging davon ein antizyklischer Effekt über die Multiplikatorwirkung solcher kreditfinanzierten Maßnahmen der nachhaltigen Verbesserung großstädtischer Infrastruktur aus. Das Jahr 1868 markierte auch den Übergang im Profil des Wiener Bürgermeisters: Unter dem seit 1861 amtierenden und im Amt verstorbenen Andreas Zelinka, der sein komplettes Gehalt spendete, herrschte eher noch ein frühliberaler Stil vor. Hingegen versuchte sein dann volle zehn Jahre bis 1878 an der Stadtspitze tätiger Nachfolger Cajetan Felder ein strenges und expansives Stadtregiment zu führen, womit er aber zugleich die Fraktionierung vertiefte.44 Die Schaffung von Groß-Wien (bis auf den 21.–23. Bezirk fast schon heutigen Formats) in den Jahren 1890/92 (Beschluss/Wirksamkeit) unter dem liberalen Bürgermeister Johann Nepomuk Prix war gewiss infrastrukturell 42 Vgl. Richard J. Evans, Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den CholeraJahren 1830–1910, Reinbek 1990. 43 Vgl. Josef Kucera, Kommunale Ausgaben und deren Finanzierung 1861 bis 1891, in: Wien in der liberalen Ära, S. 57 (Schaubild). 44 Vgl. Birgit Herden, Das Amt des Bürgermeisters der Stadt Wien in der liberalen Ära (1861–1895), Diss. Wien 1967; Andreas P. Pittler, Cajetan Felder 1814–1894, Wien 2011. Die liberalen Bürgermeister Julius v. Newald (bis 1882) und Eduard Uhl (bis 1889) zeigten in Fortführung des Kurses der Vorgänger kein markantes neues Profil.

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weitsichtig. Damit hat sich der Administrationsliberalismus zwar noch ein Denkmal errichtet, aber gewissermaßen zugleich das eigene Grabmal mit geschaffen: Nach der Stadterweiterung und Wahlrechtsänderung beschickte der 1. Bezirk, also die klassische Hochburg des Ringstraßen-Liberalismus, seit 1900 nur noch 10 von insgesamt 138 Mandaten.45 Die eingemeindeten neuen Bezirke (11.–19., ein 20. entstand 1900 durch innere Abtrennung vom 2.) wiesen eine dominierend proletarische bis kleinbürgerliche Bevölkerungsstruktur auf. Allein die Arbeiter und Tagelöhner machten dort über zwei Drittel der Erwerbstätigen gegenüber knapp der Hälfte im bisherigen Wien aus. Der Eingemeindungsdruck lag jedoch auf der Kernstadt, weil dort hohe indirekte Steuern zu einem Konkurrenzvorteil der Vororte geworden waren. Diese entwickelten folglich zumeist wenig Neigung zur Preisgabe der Eigenständigkeit und mussten letztlich nur staatlichem Druck nachgeben.46 Bereits zwischen den Zählungsjahren 1869 und 1890 hatte die Wachstumsdynamik des vorstädtischen Bereichs der künftigen Bezirke 11.–19. von 0,217 auf 0,514 Mio. Einwohner gegenüber der Gemeinde Wien mit 0,608 Mio. (1869) bis dann 0,828 Mio. (1890) der Bezirke 1.–10. deutlich zugenommen.47 Der umfassende städtische Expansionstrend betraf nach der massivsten Beanspruchung aus dem Hochquellenprojekt dann mit langfristiger Prägekraft auch eine verbesserte Ausstattung des Schulwesens, das gleichzeitig unter Abstreifung kirchlicher Einwirkung deutlicher kommunalisiert wurde. Ohnehin ging es zunächst einmal um die nahezu vollständige Durchsetzung der Schulpflicht, was von einem bescheidenen Ausgangspunkt bei etwas mehr als 60 % um 1870 über ca. 77 % im Jahre 1875 bis zur Mitte der 80er Jahre u.a. durch Abschaffung des Schulgeldes realisiert werden konnte. Der Anteil von Schulausgaben am Gesamtbudget Wiens stieg auch deshalb von einem meist um 6–7 % betragenden Anfangsniveau der frühen liberalen Ära 1861– 1867 in einer dynamischen Gründerperiode 1868–1874 auf einen Bereich um 11 %, dann 1875–1885 auf etwa 16–17  %, um danach bis 1895 einen Stand von ca. 21–22 % zu erreichen.48 Im Vergleich zu den (ein Jahrzehnt darauf 45 Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 85. 46 Vgl. dies./ders., Wien, S. 393 u. 398–405. 47 Errechnet nach den Bezirkszahlen ebd., S. 438; der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass (Groß-)Wien von 1,34 Mio. (1890) ausgehend bis 1910, inkl. Eingemeindungszuwachs von gut 77.000, die Zweimillionengrenze knapp übertraf. Davon entfielen nun 0,83 Mio. auf die einstigen Vorortsbezirke 11.–19., die also in absoluten Zahlen nicht mehr nennenswert rascher voranschritten – was in diesem Unterschied zum weiter suburbanisierten Berlin und London einen den christlichsozialen Nachfolgern zugute kommenden Effekt der Stadterweiterung dokumentierte. 48 Vgl. Seliger/Ucakar, Wien, S. 497 u. 474.

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eingemeindeten) Vororten zeigte Wien 1881 bei ohnehin insgesamt zweieinhalbfachem Stadthaushaltsvolumen pro Kopf der Bevölkerung mit 17,2 % zu 6,4 % auch relativ geradewegs drastisch höhere Bildungsausgaben.49 Im Unterschied zur gesundheitsfördernden Wasserversorgung, bei welcher die breitere Nutzung auch in Unterschichtquartieren nur eine Frage begrenzter Zeitspannen war50, lag in bevorzugter Schaffung neuer Bürgerschulen in Abgrenzung vom mängelbehafteten Volksschulwesen allerdings zunächst ein sozialexklusiver Akzent. Denn insoweit als „Bürger“ wurde eher nur eine Minderheit von Bildungsadressaten aus der Ober- und Mittelschicht jenseits von Arbeiterschaft und Kleinbürgertum angesprochen. Dabei stieg der Anteil der Kinder, die kommunale Bürgerschulen besuchten, von knapp 10 % im Jahre 1871 bis 1877 sprunghaft bis knapp 30 %, um dann allerdings schrittweise einige Prozentpunkte zurückzufallen. Das Ausmaß der Klassengebundenheit wird ersichtlich, wenn für das Jahr 1879 über 60 % Bürgerschulbesuch im 1. Bezirk und knapp 50 % im soziografisch rangnächsten 4. das gänzliche Fehlen dieser Schulform im stark proletarisch geprägten (erst 1874 angesichts des Bevölkerungswachstums verselbständigten) 10. Bezirk gegenüberstand.51 Immerhin konnte man dort, wo in einem Stadtquartier in Fußwegnähe eine Bürgerschule entstanden war, von einem generationellen Ausstrahlungseffekt auf jeweils angrenzende Bevölkerungskreise ausgehen – somit zunächst teilweise Kinder von Privatangestellten und einfachen Beamten erreichend. Schließlich ist zu bedenken, dass nicht individueller Bildungsaufstieg ins Bürgertum, sondern klassensolidarische Verbesserung der Lebensumstände das Ziel einer in jener Zeit um 1890 auch in Wien allmählich entstehenden organisierten Arbeiterbewegung gewesen ist. Jedenfalls in der liberalen Ära bis zur Stadterweiterung 1890/92 und noch darüber hinaus folgte der Alltag des Vorstadtproletariats eigener Soziallogik52, in 49 Vgl. ebd., S. 394. 50 Sieht man vom 1. Bezirk ab, wo die Kategorie „Haushaltungszwecke“ möglicherweise deutlich mehr als sonst – hier auch im Wortsinne fließende – Übergänge zu dort konzentriertem personenbezogenen Gewerbe aufgewiesen haben könnte, so waren 1890 die Differenzen im Spektrum zwischen pro Kopf der Zivilbevölkerung 0,49 hl/Tag im 10. Bezirk und 0,86 hl/Tag im 9. Bezirk zwar ausgeprägt, aber dennoch zugleich ein Beleg für stadtweite Nutzung; vgl. Daten bei Renate Banik-Schweitzer, Liberale Kommunalpolitik in Bereichen der technischen Infrastruktur Wiens, in: Wien in der liberalen Ära, S. 103. 51 Vgl. Hubert Ch. Ehalt, Das Wiener Schulwesen in der liberalen Ära, in: Wien in der liberalen Ära, S. 144 f. 52 Vgl. mehr alltagsgeschichtlich orientiert Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a.M. 1999.

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der statt höherer Schul- noch mehr die qualifizierende Berufsausbildung das entscheidende Kriterium für die realen Lebenschancen darstellte. Angesichts der grundlegenden Stadterneuerung über die Ringstraße, der manche angrenzenden Quartiere mit weitaus schlechteren, aber zugleich preisgünstigeren Wohnungen zum Opfer fielen, bildete die Wohnungsmisere für Arbeiterschaft und Kleinbürgertum die hauptsächliche dunkle Seite der liberalen Ära. Ein Kontrastbild, dass auch der Wiener Liberalismus „entgegen manch landläufiger Auffassung in einigen Sektoren der Kommunalpolitik überraschend viel geleistet hat“, aber „gerade im schwerwiegenden Feld der Wohnungsfrage weitgehend untätig blieb“, wird noch durch einen weiteren Umstand schärfer konturiert: Offenbar bewirkten der Erfahrungshorizont des Gründerzeitbooms und anschließende Krisenerscheinungen, dass im Unterschied zum Laisser-faire in der Praxis „die theoretischen Beiträge zum städtischen Wohnungselend von einer Breite und Grundsätzlichkeit der Argumentation und Analyse sind, wie sie ab 1890 nicht annähernd mehr erreicht wurden“.53 Dieses Spannungsverhältnis zwischen vorhandenem Problembewusstsein und mangelnden Lösungsansätzen trug nicht allein zu antiliberalen Absetzbewegungen in der Wiener Intelligenz bei, sondern förderte auch die eigenständige Profilierung sozialpolitischer Tendenzen aus dem liberalen Milieu. Diese traten 1896 mit der Gründung einer Sozialpolitischen Partei um den Ökonomen und Wohnungsreformer Eugen v. Philippovich und zuvor schon bei den „Wiener Fabiern“ hervor.54 Auch die Sozialdemokraten wurden offensichtlich aus den Lueger-Konflikten 1896 zur erstmaligen Teilnahme an den Gemeinderatswahlen motiviert.55 Dass der gesamtstaatliche Bedeutungsverlust des nie besonders fest verankerten österreichischen Liberalismus nach 1878 auch in dessen Hochburg Wien nicht folgenlos blieb, kann ohnehin nicht verwundern. Dieser Erosionsprozess zeigte sich zunächst in einer kommunalpolitisch nicht immer leicht nachvollziehbaren inneren Differenzierung. Ein Vorbote dafür war bereits 1872 ein überraschend mit breiter Mehrheit von 77 zu 12 Stimmen im Gemeinderat zustande gekommener und in einer Kommission weiter ausgearbeiteter Beschluss gewesen, das Wahlkörpersystem aufzuheben und nur einen (1885 dann allein verwirklichten) Fünfguldenzensus für die Mindeststeuerleistung vorzusehen. Trotz des klaren Votums wurde diese Reform von dem bei Be53 Peter Feldbauer/Gottfried Pirhofer, Wohnungsreform und Wohnungspolitik im liberalen Wien, in: Wien in der liberalen Ära, S. 183 u. 148. 54 Vgl. Eva Holleis, Die Sozialpolitische Partei. Sozialliberale Bestrebungen in Wien um 1900, Wien 1978. 55 Vgl. Maren Seliger, Sozialdemokratie und Kommunalpolitik in Wien, Wien 1980, S. 16 ff.

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schlussfassung abwesenden liberalen Bürgermeister Felder nicht im niederösterreichischen Landtag befürwortet und vom kaiserlichen Statthalter dann für nicht genehmigungsfähig erklärt.56 Zur Abstreifung eines ständisch anmutenden, kaum noch zu einem modernen Liberalismus der bürgerlichen Stadtgesellschaft passenden Wahlsystems fehlte also nicht bereits jede eigene Neigung, sondern ein ggf. auch konfliktorientierter Durchsetzungswille. Solche Zurückhaltung gerade auch in der stets von doppelter Loyalität gegenüber der Gemeinde und der Monarchie gefangenen Stadtführung eröffnete der kleinbürgerlich-demokratischen Opposition zusätzliche Chancen der Profilierung. Bis 1879 war eine „Vereinigte Linke“ mit 39 % der Mandate zu einer nahezu gleichgewichtigen Herausforderung der liberalen „Mittelpartei“ geworden, die ziemlich genau die Hälfte der Sitze innehatte (der Rest war nicht eindeutig zurechenbar). Der Wahlrekrutierung nach beherrschten die Liberalen den ersten und zweiten, die Oppositionellen den dritten Wahlkörper. In der Halbdekade zwischen der Erweiterung des Stimmrechts auf die vielzitierten „Fünfguldenmänner“57 und der Stadtgrenzen auf die Vororte zeigte sich aber zunächst ein Trendbruch. Dieser ist wesentlich aus dem Gestaltwandel der vorherrschenden Oppositionstendenz von der (klein)bürgerlichen Demokratie zur antisemitischen Demagogie zu erklären. Die nun als „Fortschrittsclub“ auftretende liberale Mehrheitsgruppierung erreichte 1886 ihre einzige registrierte absolute Stimmenmehrheit auch im dritten Wahlkörper und dominierte im Zeitraum 1888 bis 1891 mit 68 % aller Mandate klar den Gemeinderat. Die Antisemiten und „Lueger-Demokraten“ stellten nur 16 % und der so zwischen beiden Gruppierungen aufgeriebene demokratische Rest gerade noch 7,5 %.58 Für den nach der Gründerkrise allmählich forcierten kleinbürgerlichen Antisemitismus gab es wohlbemerkt keine faktischen Bezugspunkte in diesbezüglich betont zurückhaltender Stadtpolitik. Denn im Gemeinderat waren auch in den 1880er Jahren sogar deutlich weniger Juden vertreten, als es ihrem Wiener Bevölkerungsanteil von 10 % (1880) bzw. 12 % (1890) entsprochen hätte.59

56 Vgl. Seliger/Ucakar, Wien, S. 375 f. 57 Auch wenn zusätzlich der Beamtenschaft das Stimmrecht ohne Rücksicht auf Steuerhöhe gewährt wurde, überwogen Kleingewerbetreibende (63 %) und Privatbeamte (24 %, gemeint sind Angestellte) sehr deutlich unter den neu Begünstigten; vgl. Kurt Skalnik, Dr. Karl Lueger. Der Mann zwischen den Zeiten, Wien 1954, S. 44. 58 Vgl. Seliger/Ucakar, Wien, S. 600 f. 59 Vgl. Maderthaner, Von der Zeit um 1860, S. 193; Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs, Wien 1999, S. 41. Der jüdische Bevölkerungsanteil lag 1857 noch bei 1,3 % und erst nach Öffnung zu liberalen Grundrechten 1869 dann bei 6,6 %/ebd.; das erklärt neben dem im Vergleich zu Berlin virulenteren Antisemi-

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Den historischen Durchbruch wird der spätere Bürgermeister Lueger primär aus der Flankierung antisemitischer Stimmungen mit der Präsentation seiner Anhänger zunächst als „Vereinigte Christen“ und dann als „Antiliberale Wahlgemeinschaft“ oder „Bürgerclub“ (unter Einschluss von Deutschnationalen) erzielt haben.60 Die soziale Basis dafür bildeten, wie aus kritischer Berliner Sicht erkannt wurde, in erheblichem Maße die in konservativer Wende gegen die liberale Gewerbefreiheit staatlicherseits geförderten neokorporativen Berufsvereinigungen: „Mit der Organisation der Zwangsgenossenschaften wurde das Kleinbürgertum in Wien eine politische Macht.“61 Die neue oppositionelle Formation eroberte 1891 wieder „ihren“ dritten Wahlkörper zurück, blieb aber mit 30 % der Gemeinderatssitze gegenüber 70 % des Fortschrittsclubs insgesamt noch klar in der Minderheit. Eine Wahlbeteiligung zwischen 1891 und 1896 durchweg über 70 % in allen Wahlkörpern sprach für beiderseitige Mobilisierung.62 Auch bei den Frühjahrswahlen 1895 reichte es, zumal die bedrängten Liberalen mit der Schaffung von Groß-Wien die Wahlkörperstruktur zu eigenen Gunsten teilkorrigiert hatten, noch knapp zur Verteidigung der liberalen Mandatsmehrheit.63 Aber weil in dem getrennten Turnus allein der zweite Wahlkörper komplett neu besetzt wurde und sonst nur Ersatzwahlen (gestorbener oder ausgeschiedener Mandatare) stattgefunden hatten, brach nun die Legitimationsbasis einer liberalen Stadtführung endgültig weg. Das war zum erheblichen Teil die Konsequenz der Eingemeindung, denn mit ca. 26.000 zu 17.000 Stimmen und 18 zu 13 Sitzen des zweiten Wahlkörpers hatte die Fortschrittspartei im 1.–10. Bezirk noch die Mehrheit gegenüber der antiliberalen Wahlgemeinschaft behauptet. Hingegen war dessen Majorität im 11.–19. Bezirk mit 5358 zu 3675 Stimmen und sogar 11 zu 4 Mandaten an die Opposition übergegangen.64 Nachdem die Liberalen die politische Führungsrolle innerstädtisch fast kampflos und auf den Staatseingriff hoffend an Luegers Bündnis abgetreten hatten, kam die von diesem betriebene komplette Neuwahl des Gemeinderats im September 1895 einem Erdrutschsieg gleich. Die 46 Mandate vom dritten Wahlkörper eroberte Lueger komplett, ebenso wie alle Sitze der ein-

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tismus der 80er Jahre die geringere jüdische Repräsentation, da Honoratioren zumeist eine längere Ortszugehörigkeit benötigten. Vgl. zu den hier nicht im Detail zu behandelnden frühen Christlichsozialen Luegers und ihren Verbündeten: John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. The Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981. Vorwärts, 6.4.1895; dies belegen Seliger/Ucakar, Wien, S. 586 f. Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 91. Vgl. dies./ders., Wien, S. 576–578 u. 600 f. Vgl. ebd., S. 598 f.

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gemeindeten Vororte des zweiten und dort sogar 11 zu 4 Mandate des ersten Wahlkörpers. Der endgültig nicht mehr ihrem Namen gerecht werdenden Fortschrittspartei verblieben nur Restmehrheiten in drei Innenstadtbezirken für den zweiten und flächendeckend in den Bezirken 1.–9. allein noch im ersten Wahlkörper.65 Die von einem Fraktionssprecher als gewollter Effekt der zur Jahrhundertwende durchgeführten Statutenänderung beklagte „Vernichtung der altliberalen Erbbürgerpartei“66 war tatsächlich schon 1895 in der fast kompletten antiliberalen Einkreisung der einzigen verbliebenen Hochburg im ersten Wahlkörper der Ringstraßen-City samt angrenzender Bezirke erfolgt. Mit der zuvor kleinbürgerlich-demokratischen und dann antisemitischen Opposition nur des dritten Wahlkörpers hätte die liberale Ära in Wien noch etliche Wahlperioden überleben können, aber eben nicht allein mit Unterstützung des im 1.–9. Bezirk (groß)bürgerlichen Besitz konzentrierenden ersten Wahlkörpers. Insofern war der Verlust des gern mit der „Intelligenz“ der Stadt identifizierten (zu 66 % im Öffentlichen Dienst beschäftigten67) zweiten Wahlkörpers im Frühjahr 1895 das – von zuvor erfolgter Eingemeindung beschleunigte – symbolträchtige Ende des liberalen Repräsentationsanspruchs. Das Parteiorgan der Christlichsozialen feierte die Ära Lueger nach knapp einem Jahrzehnt seiner Kommunalherrschaft in vergleichsweise seltener Offenheit: „Es gibt keine Großstadt in Europa, die so ausschließlich und so unangefochten einer Partei gehören würde, wie die österreichische Reichshauptstadt, die in unserem staatlichen Organismus seit Hunderten von Jahren wahrhaft das Herz des Reiches bedeutet, wie es ähnlich nur wieder Paris für Frankreich ist.“68 Im Vorjahr wollte hingegen das sozialdemokratische Parteiorgan in Kenntnis des einseitigen christlichsozialen Regimes den liberalen Vorgängern bei aller rückblickenden Distanz nicht den mindesten Respekt versagen: „Das liberale Gemeinderegime war engherzig, beherrscht vom Klassenvorurteil und durchaus nicht frei vom Unwesen der Vetternwirtschaft und der persönlichen Begünstigung, demgemäß arbeitete auch der Magistrat. Aber schließlich waren in ihm doch Beamte tätig, das heißt Leute, die, soweit nicht Vorurteil oder Interesse sie ablenkte, Menschen und Dinge nach der Schablone, nach dem Schimmel behandelten, nach dem Sinn für das Gehörige, für Ordnung und Regel, einem Sinn, der in 65 Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 186–188 (dort wird zwar der 10. Bezirk sozialstrukturell zutreffend zu den Vororten gerechnet, was aber mit der Tabellenübersicht problemlos hier auf die Stadtgrenzen umsortiert gezählt werden kann). 66 Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen des Gemeinderates der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 1899, S. 733. 67 Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 109. 68 Reichspost, 8.5.1904.

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Detlef Lehnert der Bureaukratenseele das lebendige Rechtsgefühl ersetzt. Man konnte dem Magistrat im allgemeinen zutrauen, daß er sich als eine im öffentlichen Interesse eingesetzte Behörde ansehe und so amtiere.“69

Auch ganz davon abgesehen, dass so eine kritische, aber um treffende Charakteristik bemühte Einordnung des Berufsbeamtentums fast schon im späteren Max Weberschen Sinne versucht worden ist, war darin auch zu erkennen, wie sehr die gesamte Opposition nun gegen die skizzierte Einparteienherrschaft Luegerscher Observanz konzentriert sein musste.

3. Berliner Freisinnige zwischen Wahlrechtsprivilegien und Kommunalreform Jede Kommunalanalyse für Berlin im Kaiserreich hat zunächst den zunehmenden Kontrast zu den Reichstagswahlen des allgemeinen Männerstimmrechts zu bedenken.70 Nur bei den ersten Reichstagswahlen 1871 und 1874 fielen, bei geringer Wahlbeteiligung von 26 % bzw. 32 %, noch alle sechs Berliner Mandate der liberalen Fortschrittspartei zu. Ein deutlicher Politisierungsschub in der Hauptstadt ging aber dann von sozialdemokratischer Offensive 1877 (nach dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875) mit 39 % Stimmenanteil und zwei gewonnenen Sitzen bei nun 46 % Beteiligungsrate aus. Doch erst Bismarcks antisozialdemokratische Kampagne von 1878 erzeugte mit 80 % Wahlbeteiligung eine Vollmobilisierung beider Lager, was mit 54 % der Stimmen und fünf Mandaten (gegen 35 % und ein Mandat der Sozialdemokratie) nochmals den Liberalen zugute kam. Unter der anfänglich gerade in Berlin harten Repression des Sozialistengesetzes wurden 1881 nur 18 % sozialdemokratische Wahlzettel bei letztmaliger Alleinherrschaft der Liberalen abgegeben, die sich aber 28 % konservativen Stimmen zu erwehren hatten. Dieses weder zuvor noch danach jemals im Kaiserreich auch nur annähernd wieder erreichte 28 %-Niveau hielten die Konservativen auch bei den Reichstagswahlen 1884 und 1887, wozu – in zeitlicher Parallelität mit Wien – die antisemitische Agitation des Hofpredigers Stoecker wesentlich beigetragen haben dürfte. Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes hat die SPD jedoch stets fünf der sechs Berliner Wahlkreise gewonnen und eine von 1893 bis 69 Arbeiter-Zeitung, 10.1.1903. 70 Ein gleiches Stimmrecht war es gerade für die fünf von der SPD dominierten Berliner Wahlkreise mit ihrem enormem Bevölkerungszuwachs zur Jahrhundertwende gegenüber einwohnerschwachen Landgebieten nicht mehr.

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1912 von 56 % auf 75 % der Stimmen wachsende, auf den zu letztlich 17 % einschrumpfenden Liberalismus zunehmend erdrückend wirkende Massenbasis nicht allein in der Arbeiterschaft erobert.71 Das einzige liberale Mandat im bürgerlich geprägten Citybereich behauptete seit 1903 noch der frühere Bankdirektor und künftige Handelstagspräsident Johannes Kaempf, der schon zuvor unbesoldeter Stadtrat und Stadtverordneter in Berlin gewesen war und von 1912 bis zu seinem Tod 1918 sogar als Reichstagspräsident amtierte. Die Linksliberalen nannten sich zwar inzwischen (Freisinnige und seit 1910 Fortschrittliche) Volkspartei, aber faktisch mit einer Dreiviertelmehrheit zu einer solchen geworden war allmählich die Berliner SPD. Damit ist zugleich der wichtigste Unterschied zu Wien markiert, wo bei erstmaliger Schaffung einer allgemeinen Wählerklasse in Reichsratswahlen die Christlichsozialen 1897 noch recht klar mit 54 zu 41 % vor den Sozialdemokraten lagen. Nach einem mit 50 zu 47 % knapperen Ergebnis 1901 behauptete die Partei Luegers auch 1907 letztmalig mit 49 zu 38 % solche Führungsrolle, bevor diese 1911 mit 40 zu 43 % verloren ging.72 Das vor 1907 auch österreichweit ständisch gegliederte und somit ungleiche Wahlrecht umfasste 1901 in Wien über 300.000 Wahlberechtigte gegenüber 228.500 bei den erstmals die unterprivilegierte allgemeine Klasse vorsehenden, aber längere Sesshaftigkeit fordernden Gemeinderatswahlen 1900.73 Zu Berlin sind für 1883, angesichts der ausnahmsweise erfolgenden Komplettneuwahl, 185.000 Kommunalwahlberechtigte gegenüber 285.000 Reichstagswahlberechtigten 1884 überliefert.74 Für 1907 standen gut 490.000 Reichs- knapp 390.000 Stadtwahlberechtigten gegenüber.75 Das unterstreicht die zusätzlichen Selektionsmechanismen auch schon für die Wahrnehmung des minderen Rechts in der 3. Klasse. Infolge höherer Sesshaftigkeit und verbesserter Einkommen der Arbeiterbevölkerung sanken die Anteile kommunal Ausgeschlossener somit aber zwischen 1883 und 1907 von ca. 35 % auf etwas über 20 %. Dabei wurde ganz ähnlich wie in Wien auch in Berlin ein zuvor mehr administrativ orientierter Honoratiorenliberalismus erst seit den 1880er Jah71 Daten aus Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918, München 1980, S. 69. 72 Vgl. Seliger/Ucakar, Wahlrecht, S. 209–221. 73 Vgl, ebd., S. 127 u. 77. 74 Vgl. Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg Nr. 1+2/2012, S. 60 (https:// www.statistik-berlin-brandenburg.de/Publikationen/Aufsaetze/2012/HZ_201201-04. pdf); Massimo Ferrari Zumbini, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 2003, S. 244 f. 75 Nach Ritter/Niehuss, Arbeitsbuch, S. 69 ermittelt bzw. für Berlin entnommen aus Grzywatz, Stadt, S. 1140.

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ren einerseits von antisemitischer und andererseits von sozialdemokratischer Massenmobilisierung politisch herausgefordert. Die verschleppte Neueinteilung der kommunalen Wahlkreise und zunehmende Ungleichverteilung der Stimmberechtigten diente 1883 dem ultrakonservativen preußischen Innenminister Puttkamer als Vorwand, die missliebige Berliner Stadtverordnetenversammlung ohne Rechtsgrundlage dafür aufzulösen. Während die Neuwahl in der 1. Klasse 81 % liberale gegen 19 % konservative Stimmen ergab und in der 2. Klasse dieses Verhältnis gut 75 % zu knapp 25 % betrug, erlangten die Liberalen in der 3. Klasse nur eine relative Mehrheit von 49,2 % gegenüber 38,5 % der Konservativen und 12,3 % der Sozialdemokraten.76 Tatsächlich gelang aber den regierungsseitig protegierten antisemitischen Konservativen um den Hofprediger Stoecker mit 12 Mandaten gegenüber 109 der Liberalen aller Schattierungen, die als Mittelgruppe von der Mehrheitswahl auch in der umkämpften 3. Klasse profitierten, nur ein Achtungserfolg. Diesen hatten sie auch noch mit den erstmals (fünfköpfig) in die Stadtverordnetenversammlung einziehenden Sozialdemokraten zu teilen. Deren Kandidaten 1883 zu wählen erforderte angesichts der auf Kommunalebene wohlbemerkt – als Anachronismus der Nachbarschaftsfiktion, die nur im engsten Stimmbürgerkreis der 1. Klasse noch Realität sein konnte – nicht einmal geheimen Stimmabgabe besonders in dieser Zeit des Sozialistengesetzes durchaus Mut. Immerhin war 1883 aus solcher Konfliktlage erstmals die Wahlbeteiligung von zwischen 1866 und 1882 lediglich 11–21 % auf 42 % angestiegen, was erst wieder nach der Jahrhundertwende erreicht, aber in Berlin bis 1914 kommunal nie wesentlich übertroffen wurde.77 Die großen Schwankungen gingen dabei von der zahlenmäßig weitaus überwiegenden 3. Klasse aus. Hingegen lag die Wahlbeteiligung in der 1. Klasse um bzw. meist über 50 %, in der 2. Klasse pendelte die Teilnahmequote um 40 %. Die zunehmend von der SPD bewirkte Mobilisierung der 3. Klasse fand seit 1903 ihren Niederschlag in einer höheren Beteiligung als in der 2. Klasse, zuletzt 1913 dann erstmals mehr als marginal sogar gegenüber der 1. Klasse.78 Die nach der Jahrhundertwende zahlenmäßig ausgeweiteten Privilegienträger desavouierten so durch kommunalpolitische Passivität den Anspruch, noch gegenüber der emporstrebenden und effektiver organisierten Arbeiterbewegung die eigentlichen Trägerschichten der Selbstverwaltung zu sein.

76 Errechnet aus den Angaben bei Peter G.J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland 1867–1914, Göttingen 2004, S. 144/Anm. 99. 77 Vgl. Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg Nr. 1+2/2012, S. 60. 78 Vgl. Grzywatz, Stadt, S. 1135 f.

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In Berlin vermochten Stadtparlament und Magistrat gegenüber dessen Inkorporation in den preußischen Obrigkeitsstaat so wenig wie in Wien gegenüber dem kaiserlichen Statthalter in Niederösterreich selbständig das Kommunalwahlrecht zu bestimmen.79 Ähnlich dem folgenlosen Wiener Beschluss von 1872 zur Aufhebung der ständisch anmutenden Wahlkörper konnte es sich die Berliner Fortschrittspartei, im Zeichen des 1871 auf Reichsebene eingeführten allgemeinen Männerstimmrechts, in frühen und mittleren 1870er Jahren noch leisten, für die Ersetzung des Dreiklassensystems durch gleiches Kommunalbürgerrecht einzutreten – unter Ausschluss lediglich noch der fluktuierenden und keinen Mindeststeuersatz aufbringenden Unterschicht. Das prominenteste, aber in der Tendenz durchaus repräsentative Beispiel für einen Meinungswechsel zum Ende der 1870er Jahre ist Rudolf Virchow, der von 1859 bis zu seinem Tode 1902 Berliner Stadtverordneter gewesen ist. Dieser berühmte Arzt und Mitgründer der Fortschrittspartei war zunächst Vertreter der Stadtbürgergleichheit, änderte unter dem Eindruck der linksliberale Mandate verdrängenden sozialdemokratischen Wahlerfolge in der ortsansässigen Facharbeiterschaft jedoch ungefähr mit Beginn des Sozialistengesetzes 1878 seine Position in Richtung fortgeltenden Dreiklassenrechts.80 Solche Beharrungskräfte des insoweit ähnlich wie in Wien zunächst nur von 1861 bis 1878 umfassender fortschrittsfreundlich gestaltenden Berliner Kommunalfreisinns81 wurden mit zusätzlicher Frontstellung gegenüber den antisemitischen Christlich-Sozialen der 1880er Jahren noch verstärkt. Das „Berliner ‚Milieu des Fortschritts‘“82, verankert in der linksliberalen Presse und im Vereinsund Vereinigungswesen geistigen und wirtschaftlichen Zuschnitts, wurde nun endgültig zur Parteigruppierung in prekärer Mitte: zwischen vor Ort zunehmende Kopfzahlmehrheiten repräsentierender Sozialdemokratie und einem regierungsseitig gestützten Konservatismus. 79 Als Überblick mit diversen Strukturdaten vgl. Michael Erbe, Berlin im Kaiserreich, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 2: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, München 1987, S. 691–792. 80 Vgl. Grzywatz, Stadt , S. 869 u. 880; Constantin Goschler, Rudolf Virchow. Mediziner, Anthropologe, Politiker, Köln 2002, S. 211–278. 81 Dieser Begriff wird deskriptiv für den (Links-)Liberalismus in Stadtvertretungen verwendet, so z.B. bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, S. 410; ebenso findet er sich, mehr an zeitgenössische (sozialdemokratische und sozialliberale) Kritik anknüpfend, z.B. bei Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918, Tübingen 1968, S. 525. 82 So Constantin Goschler, Infrastruktur-Liberalismus: Rudolf Virchow als Berliner Kommunalpolitiker, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 18 (2006), S. 47.

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Neben Freiberuflern wie insbesondere Rechtsanwälten wird man gerade die Berliner Kaufmannschaft generell als Rekrutierungsfeld des kommunalen Liberalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen angemessen berücksichtigen müssen. Zwar bestand dort in den Führungsgremien bis Mitte der 1880er Jahre teilweise noch ein konservativer Überhang einer früheren Generation. Aber der Schwenk Bismarcks zur Schutzzollpolitik bewirkte den Übergang in die linksliberale Opposition. Das hat sich in den 1890er Jahren und mit noch ausgeweiteter Dominanz nach der Jahrhundertwende in Führungsgremien wie den „Ältesten der Kaufmannschaft“ deutlich manifestiert.83 Mit mehr als zehnfacher Überrepräsentation gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt von 4,8–5,0 % in den Jahren 1880–190084 war eine knappe Vertretungsmehrheit der organisierten Kaufmannschaft jüdischer Herkunft, was durchaus Strukturbesonderheiten z.B. der ortsansässigen Textilbranche, des Groß- und gehobenen Einzelhandels und des Bankensektors spiegelte.85 Dieser soziokulturelle Abgrenzungsfaktor zu einem seit den 1880er Jahren zusehends antisemitisch beeinflussten Konservatismus erklärt neben der ökonomischen Trennlinie in der Freihandelsorientierung die kompakte Unterstützung des Berliner Kommunalfreisinns aus der Kaufmannschaft. Die Existenz von Kommunalparteien wurde aber bis zum Ersten Weltkrieg offiziell gar nicht zur Kenntnis genommen. Zum einen veröffentlichte das Statistische Jahrbuch 1916 erstmals in jener Form die Wahlergebnisse 1909 bis 1913.86 Daraus ging hervor, dass die Freisinnigen mit 94–99 % der Stimmen die Mandate der 1. und 2. Klasse fast konkurrenzfrei erlangten. Davon abweichend war nur 1909 eine Sonderkandidatur der Sozialfortschrittlichen (ggf. im Kontext der Abspaltung der Demokratischen Vereinigung 1908 zu sehen87) in der ersten Klasse mit beachtlichen 25 % – aber nur knapp 250 Köpfe umfassend – zu verzeichnen. Hingegen dominierte in der 3. Klasse die SPD nahezu ebenso klar mit 83–86 % der Stimmen, was Reichstagsergebnisse noch übertraf, weil sich die bürgerlichen Freisinnswähler in Kate83 Vgl. Christof Biggeleben, Das „Bollwerk des Bürgertums“. Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920, München 2006, S. 175 f. 84 Vgl. Arthur Prinz, Juden im Deutschen Wirtschaftsleben. Soziale und wirtschaftliche Struktur im Wandel 1850–1914, Tübingen 1984, S. 77 f. 85 Vgl. Biggeleben, Das „Bollwerk des Bürgertums“, S. 119 f. 86 Folgende Daten nach: Zeitschrift für amtliche Statistik Berlin Brandenburg Nr. 1+2/2012, S. 61. 87 In dem am meisten bürgerlich geprägten Bezirk I (Mitte) wurden zu den Reichstagswahlen im Januar 1912 neben 41,7 % der Linksliberalen und 39,5 % der SPD beachtliche 12,5 % der Demokratischen Vereinigung gezählt; vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 33 (1912/14), S. 936.

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gorien darüber konzentrierten. Zum anderen wurden auch Fraktionen für die Bildung der Ausschüsse erstmals 1914 zur Kenntnis genommen, nachdem zuvor nach Zählabteilungen entsandt wurde und die Fraktionsrekrutierung nicht vorgesehen war. Die nunmehr offiziellen Fraktionen waren die Alte Linke unter ihrem Langzeitvorsitzenden Oskar Cassel, die ebenso moderate Freie Fraktion mit Karl Mommsen, die Sozialdemokratische Fraktion um Hugo Heimann (in der Nachfolge des 1911 verstorbenen Langzeitvorsitzenden Paul Singer88) und die gegenüber der Freisinnsfraktion teilweise linksbis sozialliberal akzentuierte Neue Fraktion (der Linken) um Leopold Rosenow.89 Den inneren Kräfteverhältnissen der freisinnigen Gruppierungen detailliert nachzuspüren, ist angesichts der häufigen Ergänzungswahlen nicht bloß kaum machbar, sondern wegen der teilweise fließenden Übergänge im Richtungsprofil auch für den überwiegenden Zeitraum müßig. Für 1899 kann von 59 Mitgliedern der Cassel-Gruppe, 34 für Rosenow und 24 um Mommsen ausgegangen werden90; die SPD zählte 22 Fraktionsangehörige.91 Die Cassel-Gruppierung unter der Schwelle der absoluten Mehrheit zu halten und sie auch weitere Gruppen einbinden zu lassen, wird mit ein Motiv zur Bildung der Rosenow-„Neuen“ gewesen sein. Trotz nahezu identischen Lebensalters war der Rechtsanwalt (seit 1892 auch Notar) Cassel schon 1888 und der Geschäftsmann Rosenow erst 1894 Stadtverordneter geworden. Das Eintrittsjahr 1894 galt auch für den gut zehn Jahre jüngeren Mommsen (geb. 1861), seinerzeit ein Siemens-Syndikus (später Bankdirektor) und zweitältester Sohn des berühmten Historikers Theodor Mommsen. Während Karl Mommsen 1903 für die Freisinnige Vereinigung (um Theodor Barth) auch Reichstagsabgeordneter – Danzig vertretend – wurde, konnte die Cassel-Fraktion noch als die Berliner Kommunalrepräsentation der Freisinnigen Volkspartei (um Eugen Richter) gelten. Solche Nuancierungen verblassten ohnehin mit dem Zusammenschluss zur Fortschrittlichen Volkspartei 1910. Bemerkenswert ist aber, dass mit Ausnahme Mommsens (dessen Vater bekanntlich der Widerpart Treitschkes im Berliner Antisemitismusstreit gewesen ist) sämtliche vorstehend als Fraktionssprecher genannten Persönlichkeiten jüdischer Herkunft waren und diese auch keineswegs verbergen wollten. Im Un88 Vgl. Ursula Reuter, Paul Singer (1844–1911), Düsseldorf 2004 (dort auch S. 508 zu den Fraktionen). 89 Vgl. http://www.landesarchiv-berlin.de/php-bestand/arep000-02-01-pdf/arep000-0201.pdf, S. 6 (dort aber Mommsen mit falschem Vornamen). 90 Vgl. Elfi Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik in Berlin und Paris 1890–1914, Berlin 1999, S. 418 f. 91 Vgl. Eduard Bernstein, Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin 1910, S. 216.

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terschied zum katholischen Wien hatte sich in Berlin schon im Aufklärungszeitalter des späten 18. Jahrhunderts eine späteren Anteilen nahe kommende und ökonomisch wie intellektuell bedeutsame jüdische Bevölkerung etabliert, die in Stadteliten jenseits der unmittelbaren Herrschaftsfunktionen über viele Generationen hineingewachsen war. In der kommunalen Wahlrechtsfrage machte sich die progressivere Haltung der Rosenow-Fraktion darin fest, auch zur Jahrhundertwende weiterhin die ursprüngliche linksliberale Position zu vertreten, dass einjähriger Aufenthalt und jede Steuerpflicht (dabei kein Status als Unterstützungsempfänger) zu einem gleichen Stimmrecht führen sollte. Der SPD-Forderung nach Übernahme des Reichstagswahlrechts verweigerte sich jedoch auch diese Gruppierung, zumal Ausschussdaten lanciert wurden, dass ärmere Bevölkerungskreise mit 5 % der Einnahmen, aber 65 % der Ausgaben des Berliner Gesamtetats am budgetären Stadtleben teilgenommen haben sollen.92 Die StadtbewohnerEigenschaft der Unterschicht erschien den meisten Linksliberalen mit dem Reichstagsstimmrecht abgegolten und darin künftig zunächst auf Preußen zu übertragen, bevor in späterer Folge auch der Entfall jedenfalls des Kriteriums der Gemeindesteuerpflicht als Wahlberechtigungsausweis zur Debatte stehen konnte. Allein die 1908 gegründete kleine Demokratische Vereinigung um einen allmählich weiter nach links gerückten Theodor Barth näherte sich bereits dem Stimmrechtsprofil der SPD an.93 Am ehesten schon kommunaler Vorläufer der mit reichsweitem Anspruch startenden Demokratischen Vereinigung waren die Berliner „Sozialfortschrittler“. Im Januar 1904 informierte das „Berliner Tageblatt“ unter dem Titel „Die kommunale Sezession“ über die vorausgegangene Entwicklung, „daß vor 10 Jahren aus ähnlichen Gründen, wie das jetzt der Fall ist, eine Spaltung in der Großen Fraktion der Linken eintrat. Diese Fraktion war vielen nicht linksliberal genug, und es entstand die Neue Fraktion, die ihrerseits jetzt nicht sozial genug denkt.“94 Zuvor hatten Preuß und seine einstweilen nur sechs Gesinnungsfreunde Anfang 1903 ihrer Gesamtfraktion der „Neuen Linken“ ein „scharf ausgeprägtes sozialpolitisches Programm für die Arbeit auf kommunalem Gebiete“ präsentiert, das „von dieser aber abgelehnt worden“ sei. Dabei konnten die „Entwicklung von Steuern, die besonders die Wertsteigerung des Grund und Bodens in gerechter Weise erfassen“, die „Unterstützung von gemeinnüt92 Vgl. Grzywatz, Stadt, S. 945; falls dies so zutrifft, vernachlässigt es die Verbrauchssteuern, die nicht in den Kommunalhaushalt eingingen. 93 Vgl. Konstanze Wegner, Theodor Barth und die Freisinnige Vereinigung, Tübingen 1968, S. 136. 94 Berliner Tageblatt, 20.1.1904.

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zigen Baugenossenschaften und -Gesellschaften, wobei der Stadt ein Einfluß auf die Art der Bebauung und die Mietspreise vorzubehalten ist“, sowie eine gemeinwirtschaftliche Infrastruktur als Kernpunkte gelten: „Unternehmungen, die durch ihren monopolartigen Charakter die Vorteile eines gesunden Wettbewerbs ausschließen und die einem dauernden Bedürfnisse des Gemeinwesens dienen, z.B. Betriebe des Verkehrswesens, der Beleuchtung und Krafterzeugung, sind der städtischen Verwaltung vorzubehalten.“ Ein Bezirksverein verband solche Vorstellungen mit der „Zukunft des kommunalen Sozialliberalismus“ und brachte diese Strömung auf ihren profilscharfen Begriff.95 Dass keiner der Berliner Oberbürgermeister bis 1914 (und auch in drei weiteren Jahrzehnten) die freilich umstrittene zeitgenössische und historiografische Bekanntheit eines Lueger in Wien erlangte, war teilweise bereits im Unterschied der Magistrats- zu der Bürgermeisterverfassung angelegt. Als Primus inter pares unter den anderen Magistratsmitgliedern konnte ein Berliner Oberbürgermeister seine Aufgabe noch durchaus ohne besonders viel öffentliches Aufsehen erfüllen. Dennoch markierte das Gründungsjahr 1861 der preußischen Fortschrittspartei auch in der Stadtgeschichte eine gewisse Zäsur: Es fand die letzte größere Eingemeindung vor Bildung Groß-Berlins 1920 statt, und es wurde mit dem Bau des neuen (wegen der Ziegelfarbe: Roten) Rathauses begonnen. Ein Jahr darauf wählten die Stadtverordneten einen Schwager Rudolf Virchows, den selbst aber in preußischer Beamtentradition politisch blassen Carl Theodor Seydel zum Oberbürgermeister. Ihm folgte 1872 der Nationalliberale Arthur Hobrecht (Bruder des Stadtbaurates James Hobrecht, der 1862 einen neuen Bebauungsplan entworfen hatte). Wegen Hobrechts (aber nur kurzzeitiger) Berufung zum preußischen Finanzminister ging schon 1878 das Oberbürgermeisteramt an Max(imilian) von Forckenbeck über. Dieser war als Nationalliberaler Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses (1866–1873) und danach Reichstagspräsident (seit 1874). Wie vor ihm A. Hobrecht ist Forckenbeck seit 1872 Oberbürgermeister von Breslau gewesen, zählte aber nach der konservativen Wende Bismarcks in den 80er Jahren zu den Freisinnigen, woran ihn seine katholische Herkunft angesichts Distanz zur Papstkirche nicht hinderte. Die Tätigkeitsbilanz dieses im Kaiserreich wohl bedeutendsten Berliner Oberbürgermeisters hat sogar Eingang in die einschlägige Überblicksdarstellung zum deutschen Liberalismus gefunden: In der Amtsperiode Forckenbecks wurden die Ausgaben für Volkschulen deutlich ausgeweitet und über 80 % der Volksschüler das Schulgeld erlassen, gleichzeitig das höhere Schulwesen gefördert und Parkanlagen ausgestaltet sowie Straßenbäume gepflanzt. Dass aus hygienischen 95 Berliner Tageblatt, 23.1.1904; Kommunale Praxis, 15.2.1904, S. 83 f. u. 74–76.

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Gründen neben der nun regelmäßig durchgeführten Straßenreinigung nach der Kanalisierung (schon unter Hobrecht) auch die Wasserwerke kommunal betrieben wurden, unterschied Berlin nicht von anderen Großstädten. Ebenso bestand in Preußen seit 1881 die Regelung, dass in Städten mit einem kommunalen Schlachthof nur in diesem geschlachtet werden durfte. Mit dieser in Berlin genutzten Einrichtung und städtischen Markthallen geriet Forckenbeck in Konflikte mit Gewerbetreibenden.96 In solchem bevölkerungshygienisch motivierten Stadtinterventionismus konnte sich der Magistrat wesentlich auf die Autorität Virchows verlassen, der nur dem Gemeinwohl verpflichtete „freisinnige Männer“ insoweit von enger Interessen- und „Parteipolitik“ unterscheiden wollte.97 Der seit 1892 amtierende Oberbürgermeister Robert Zelle war, nach dem zugewanderten und sogar reichspolitisch einflussreichen Forckenbeck, dann wieder gewissermaßen ein Berliner Eigengewächs. Als Mitglied der Fortschrittspartei gehörte er seit 1861 dem Magistrat an und wurde – über eine Zwischenstation des Stadtsyndikus – 1891 bereits Stellvertreter Forckenbecks. Angesichts des gerade vollzogenen Beispiels Groß-Wiens und der aufgeschlossenen Haltung einer in der Ära des Reichskanzlers Caprivi vorübergehend weniger konservativ gestimmten preußischen Staatsverwaltung hätte gleich zu Beginn der Amtszeit Zelles die beste Chance zur Realisierung des Groß-Berlin-Projekts bestanden. Allerdings hatte sich von der impulsgebenden Reichsgründung bis 1895 das Bevölkerungswachstum mit einem Anstieg von 0,83 auf 1,68 Mio. Einwohner in Berlin konzentriert, während sich der Zuwachs aller Vororte noch auf 0,45 Mio. (0,54 nach 0,09 Mio.) beschränkte und erst danach zunehmende Abwanderungskonkurrenz begann. Das in Übereinstimmung mit Kostenbedenken der Stadtverordnetenmehrheit stehende Zögern von Zelle, bis dann eine neue preußische Reaktionsära ohnehin diese Perspektive versperrte, ließ neben der SPD- auch die erwähnte dezidierter linksliberale Minderheitsopposition entstehen. Der vorzeitige Rücktritt Zelles 1898 war das Ergebnis der ihn überfordernden Konflikte zwischen nach rechts gerückter Staatsverwaltung und wachsender Artikulation eines mehr nach links tendierenden Großstadtmilieus. Diese Spannungslage fand allerdings mit der Wahl des Freisinnigen Martin Kirschner, seit 1893 Zelles Stellvertreter und wie Hobrecht und Forckenbeck zuvor in der Breslauer Stadtpolitik tätig, im Juni 1898 kein Ende. Die erforderliche Bestätigung durch Wilhelm II. zog sich, verstärkt durch andere Konflikte wie insbesondere das öffentliche Gedenken an die Opfer einer Nie96 Vgl. Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 204 f. 97 Vgl. Goschler, Infrastruktur-Liberalismus, S. 54 u. 51 (Zitat Virchow).

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derschlagung der 1848er Revolution, bis Ende 1899 hin. Das führte zu einer gewissen Popularität Kirschners mit dem ihm zugeschriebenen Satz: „Ich kann warten“.98 Immerhin gelang am Ende seiner Amtszeit die Schaffung des Zweckverbands Groß-Berlin als Zwischenlösung für die Bewältigung der Infrastrukturübergänge zwischen Kernstadt und Vorstädten. Bereits in den Zählungsjahren von 1895 und 1905 hatte der Bevölkerungszuwachs in Berlin nur noch 0,36 Mio. auf (bis 1914 weithin stagnierende) 2,04 Mio. ausgemacht, während die Vororte um 0,55 Mio. auf nun schon 1,09 Mio. zulegten.99 Der mit seinem Eintreten für Besitzsteuererhöhungen an der grundbesitzfreundlichen Reichstagsmehrheit gescheiterte Finanzstaatssekretär Adolf Wermuth setzte als Berliner Oberbürgermeister erstmals – traditionellen Liberalen in dieser Weise zuvor fremde – stadtinterventionistisch profilierte sozialpolitische Akzente: Schon kurz nach Amtsantritt im Herbst 1912 ließ er zur Bekämpfung der Lebensmittelteuerung für damals stattliche ca. 12 Mio. Mark Fleisch aufkaufen und zu Selbstkosten unter das Volk bringen. Dieser Schritt war mit dem städtischen Schlachthof zwar infrastrukturell vorbereitet, konnte aber nicht mehr allein hygienisch und mit zumindest Kostenneutralität für den Kommunalhaushalt, sondern nur mehr aktiv sozialpolitisch gerechtfertigt werden. Insofern nun offizieller auch „sozialfortschrittliche“ Kommunalpolitik betreibend, stützte Wermuth sich für das Groß-Berlin-Projekt dann auf den Stadtrat Preuß, der so bereits Entwürfe zur Berliner Stadtverfassung beisteuerte.100 Außer in Hamburg mit auch bis über 60 % Reichstagsstimmen der SPD und kommunaler Wahlrechtsverschlechterung 1906101 war kaum irgendwo sonst das Privilegienwahlrecht in kommunalpolitischer Hinsicht so geradewegs lupenrein klassenpolarisierend wie gerade in Berlin. Warum dennoch nach der Jahrhundertwende auch partielle Annäherungstendenzen zwischen SPD und Linksliberalen zu verzeichnen waren, ist nur vielschichtig zu erklären. Zunächst mochte eine sich im Bestätigungskonflikt 1898/99 zeigende Spannungslage gegenüber den konservativen Herrschaftsträgern in Preußen zum Überdenken der Prioritäten führen, zumal der Revisionismusstreit in der SPD manche Erwartung zugunsten eines Kommunalreformismus nährte. Überdies 98 Dazu die Vossische Zeitung v. 12.5.1899: „,Kirschner, der Unbestätigte‘, ist seit geraumer Zeit eine stehende Figur in den Witzblättern. ‚Ich kann warten‘, ist unter seinem Bilde zu lesen.“ 99 Zu Bevölkerungsdaten vgl. Erbe, Berlin, S. 694; Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin in den Jahren 1889–1895/I, S. 214; 1901–1905/I, S. 215. 100 Vgl. die Erinnerungen von Adolf Wermuth, Ein Beamtenleben, Berlin 1922, S. 386; Felix Escher, Hugo Preuß und der steinige Weg zu einem Groß-Berlin, in: Detlef Lehnert (Hg.), Hugo Preuß 1860–1925, Köln 2011, S. 303–316. 101 Vgl. den Hinweis in der Einleitung zu diesem Band S. 10/Anm. 11.

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konnte die SPD mit ihren Erfolgen in der 3. Wählerklasse bis 1905 schon 35 der insgesamt 144 Berliner Stadtverordneten besetzen, und 1914 waren es dann sogar 44 Mandate.102 Auch zusammen mit dezidiert sozialfortschrittlichen Mandataren reichte das aber nur in Ausnahmefällen zu einer Mehrheitsbildung. Als im Herbst 1910 acht unbesoldete Stadträte gewählt wurden, zeigte sich weiterhin eine relativ stabile „kommunalfreisinnige“ Majorität von etwa 70 gegen höchstens 50 Stimmen der Linksopposition. Nur Preuß erhielt mit 63 gegen 51 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) eine dann auch von einem reichlichen Dutzend anderer Linksliberaler unterstützte Mehrheit.103 Niemand konnte aber zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass er nach einem grundlegenden Systemwechsel 1918/19 neben dem Groß-Berlin-Konzept auch den Entwurf für die Weimarer Reichsverfassung und 1920 für die neue republikanischdemokratische Preußische Verfassung liefern sollte.104

4. Hintergründe und Grenzen einer „Progressive era“105 in London Im Kontrast zu gemeinhin anzutreffenden Vorstellungen über englische parlamentarische Traditionen, dass Mehrheitsfraktionen einander relativ rasch abwechseln, lassen sich für London vier Langzeitperioden unterscheiden. Bis zur Bildung des LCC 1888 dominierten in den selbständig verwalteten Einzelgemeinden noch traditionelle lokale Honoratioren. Wegen des relativ größten Anteils von Ladeninhabern konnte dies geradewegs als kleinräumige „shopocracy“ auf der Basis von „parochial ratepayers’ associations“ gelten.106 Angesichts einer Vielzahl der Organe blieben die Mandatare durchschnittlich statusniedriger als in Berlin und Wien, zumal die Schwelle zum städtischen Hausbesitz über den gesamten betrachteten Zeitraum trotz relativ hoher Preise 102 Vgl. Bernstein, Geschichte, S. 218; Siegfried Grassmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965, S. 10. 103 Vgl. Stenographische Berichte über die öffentlichen Sitzungen der StadtverordnetenVersammlung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, 3.11.1910, S. 373 f. 104 Zu solchem Zusammenhang bereits Dian Schefold, Hugo Preuß (1860–1925). Von der Stadtverfassung zur Weimarer Staatsverfassung (1993), in: Ders., Bewahrung der Demokratie, Berlin 2012, S. 151–174. 105 Solche Kategorie verwendet eher beiläufig Pennybacker, Vision, S. 70, 113, 127 u. 168; zu diesem für die USA um 1900 geläufigen Stichwort als Nachschlagewerk: Catherine Cocks u.a., Historical Dictionary of the Progressive Era, Lanham/Md. 2009. 106 So Davis, Reforming London, S. 23 u. 25. Zur Interessenvertretung der Kommunalsteuerzahler vgl. Avner Offer, Property and Politics 1870–1914, Cambridge 1981, S. 297–307.

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wegen durchschnittlich absolut weitaus niedrigerer Gebäudeformate dennoch geringer war. Die Konservativen haben der Schaffung des LCC wohl auch deshalb geringeren Widerstand als wegen der lokalistischen Honoratiorenbasis zu vermuten entgegengesetzt, da sie 45 von 59 Londoner Unterhaussitzen in der Parlamentswahl von 1886 gewonnen hatten.107 Zwischen 1889 und 1907 bestand im LCC dann aber die Gestaltungsmehrheit der (links-)liberalen „Progressives“ gegenüber den konservativen „Moderates“.108 Letztere eroberten – zur „Municipal Reform Party“ umbenannt – 1907 ihrerseits neu formiert die Mehrheit und behielten diese, bis im Zeichen der Weltwirtschaftskrise 1934 die konservative Epoche beendet und von der Labour Party abgelöst wurde. Diese blieb dann bis zur noch weiträumigeren Überleitung in das Greater London Council 1965 kontinuierlich dominierend. Die suburbane Wachstumsdynamik hatte sich aber schon um die Jahrhundertwende in den Außenring um die neue LCC-Grafschaft verlagert: Zwischen 1861 und 1881 war mit dem Anstieg von 2,81 auf 3,83 Mio. zwar im (künftigen) LCC-London noch doppelt so viel Zuwachs wie in den äußeren Vororten zu verzeichnen. Danach war 1891 mit 4,23 und 1901/1911 mit jeweils knapp über 4,5 Mio. Einwohnern die innere Grenze erreicht. Jedoch kündigten 2,05 bzw. sogar 2,73 Mio. in den äußeren Vororten 1901/1911 die spätere Entwicklungsrichtung zu einem Greater London stadträumlich bereits frühzeitig an.109 Nach der Wahlreform von 1867, von der sich die Konservativen unter Premierminister Disraeli neue Chancen auch bei manchen berufsstolzen „Arbeiteraristokraten“ versprachen, fand ebenso die allmähliche Umformung der Liberalen statt. Eine besondere Rolle spielten dabei sich lokal organisierende „radikale“ (entschieden links- bzw. sozialliberale) Strömungen, die gleichermaßen weitere Schritte zur Demokratisierung wie auch öffentliche Interventionen zur Verbesserung der Infrastruktur und Bewältigung sozialer Probleme befürworteten.110 Mit Gladstones Wahlreform 1884/85 ging die landesweite 107 Vgl. Davis, Reforming London, S. 106. 108 Vgl. John Davis, The Progressive Council 1889–1907, in: Saint (Hg.), Politics, S. 27– 48; Susan D. Pennybacker, The Millenium by return of post: reconsidering London Progressivism, in: David Feldman/Gareth Stedman Jones (Hg.), Metropolis: London Histories and Representations since 1800, London 1989, S. 129–162. 109 Vgl. die Tabelle bei Philip J. Waller, Town, City and Nation. England 1850–1914, Oxford 1983, S. 25. 110 Vgl. John Davis, Radical clubs and London politics 1870–1900, in: Feldman/Stedman Jones (Hg.), Metropolis, S. 103–128; Detlev Mares, Auf der Suche nach dem „wahren“ Liberalismus. Demokratische Bewegung und liberale Politik im viktorianischen England, Berlin 2002.

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Präsentation eines „Radical Programme“ (1885) des ehemaligen Birminghamer Bürgermeisters und nunmehrigen Handelsministers Joseph Chamberlain parallel.111 Diesen wird man, gerade wegen des einer Entwicklungsdifferenz beider Länder entsprechenden Generationsunterschieds, richtungspolitisch in etwa mit Friedrich Naumann vergleichen können, weil auch Chamberlain sozialliberale und imperialistische Akzente verknüpfte. Allerdings brach Chamberlain wegen Dissidenz in der Home Rule-Frage für Irland mit den Liberalen und ging Bündnisse seiner „Unionisten“ mit Konservativen ein, was mit Naumanns vorübergehendem Einschwenken auf den Bülow-Block mit den Konservativen zu vergleichen etwas zu weit hergeholt wäre.112 Neben der weitere imperiale Ansprüche vorbereitenden nationalpolitischen Akzentuierung darf auch nicht übersehen werden, dass Irland für den Katholizismus stand und jedenfalls die Konservativen mit den Anglikanismus verbunden waren. Der Home Rule-Konflikt war so gesehen auch eine besondere Erscheinungsform von innerbritischem Kulturkampf. Die politische Janusköpfigkeit neuliberaler Tendenzen mag teilweise mit erklären, warum in London zum Unterhaus konservativ und 1889–1907 zum LCC progressiv gewählt wurde. Von 1885 bis 1900 kumuliert gingen in Arbeiterquartieren insgesamt 61 von 120 Londoner Unterhausmandaten an das konservativ-unionistische Bündnis mit seinen imperialen Zielen, aber 1892 konnten die konservativen Moderates dort gegen die sozialpolitisch aktiveren Progressives nur 2 von 48 LCC-Sitzen erobern. Tatsächlich fanden sich in den Reihen der grafschaftlichen Progressives auch Chamberlain-Gefolgsleute113, die im Unterhaus zur gegnerischen Fraktion gehört hätten. Zumal die traditionellen lokalen Führungsschichten viel Zeit außerhalb der Stadt verbrachten, bedeuteten die mit Bildung des LCC einhergehenden neuen metropolitanen Richtungsgruppierungen einen Mobilisierungseffekt; denn nun „in the 1890s party politics breathed life into the municipal system of a city where no identifiable élite existed“.114 Nicht immer wird die Suche nach Parteiwechselmotiven vorrangig sein müssen, wo zuweilen auch die unterschiedliche Mobilisierung der potenziellen Anhängerschaft eine mindestens gleichrangige Bedeutung hatte. Wenn nur 111 Detlev Mares, Goodbye Gladstone: Die Liberale Partei im spätviktorianischen Großbritannien 1886–1906, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 137– 162, hier S. 152. 112 Zu seiner politischen Entwicklung vgl. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983, hier S. 169 ff. 113 Vgl. Windscheffel, Popular Conservatism, S. 160. 114 Davis, Reforming London, S. 190 u. 20 (Zitat).

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die höchstens ein Jahr auseinander liegenden Wahlgänge zum Vergleich herangezogen werden, dann war der Rückstand der LCC-Moderates gegenüber den Unterhaus-Konservativen in London 1892 mit 40,6 zu 51,1 % sowie 1895 mit 48,9 % zu 55,2 % schon beträchtlich, 1900/01 aber mit 43 % zu 59,6 % geradezu dramatisch – und primär der imperialistischen Propaganda in den „Khaki-Wahlen“ während des Burenkriegs zuzuschreiben, was ersichtlich nicht auf die Grafschaftsebene abstrahlte. Die nächsten Wahlgänge 1906/07 brachten umgekehrt den Konservativen mit Rückgang auf 46,4 % eine Niederlage zum Unterhaus, hingegen mit 53,7 % die LCC-Mehrheit. Nur 1910 pendelten deren Ergebnisse sich auf beiden Ebenen um 52 % ein.115 Auf einen flüchtigen ersten Blick mochte die progressive Mehrheitsfraktion, nicht viel anders als in Berlin und Wien jener Zeit, als Repräsentation des honoratiorenpolitisch geprägten Hauptstadt-Liberalismus anmuten. Der Progressismus an der Themse konnte auch begrifflich als die englische Variante der Fortschrittspartei an der Spree oder des Fortschrittsklubs an der Donau erscheinen. Neben den rund 70 liberalen Grafschaftsvertretern waren 1889/92 nur wenige dezidierte Exponenten der gewerkschaftlichen bzw. reformsozialistischen Strömung gewählt worden, deren Prominenz allerdings die noch fehlende Breite teilweise kompensierte: Mit Sidney Webb zog 1892 der führende Kopf der 1884 gegründeten Fabian Society ins LCC ein, der als – in enger Kooperation mit seiner Ehefrau Beatrice – international bekannter Autor hier nicht näher präsentiert werden muss.116 Tagespolitisch noch bedeutsamer war die Einbeziehung des Gewerkschaftsführers John Burns, der im LCC-Konstituierungsjahr 1889 ebenso an der Spitze eines Großstreiks der Londoner Hafenarbeiter stand. Vom rhetorisch begabten Autodidakten (proletarischer Herkunft) Burns ist u.a. eine Definition des Munizipalsozialismus als „the effort of the people to do for all what private enterprise does for a few“ überliefert.117 Seine Zugehörigkeit zur Fraktion der Progressives, wo er besonders für möglichst faire Lohn- und Arbeitsbedingungen bei öffentlichen Aufträgen wirkte, zahlte sich auch landesweit für erweiterte Bündnisper-

115 Vgl. Schapiro, Public ownership, hier: www.nuff.ox.ac.uk/users/schapiro/ch%205%20 appendix.pdf, S. 1. 116 Vgl. Lisanne Radice, Beatrice and Sidney Webb: Fabian Socialists, London 1984; A. Emil Davies, The London County Council 1889–1937, London 1937, geht von fünf weiteren Fabiern neben Webb im LCC aus (S. 7). Zum hier nur gestreiften Anteil der Progressives an der Frühgeschichte der Labour Party vgl. immer noch Paul Thompson, Socialists, Liberals and Labour. The Struggle for London 1885–1914, London 1967. 117 Zit. nach Pennybacker, Vision, S. 3.

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spektiven eines „New Liberalism“ aus.118 Denn obwohl Burns 1892 zugleich Unterhausabgeordneter der entstehenden Independent Labour Party wurde, amtierte er nach dem liberalen Wahlsieg Anfang 1906 bis 1914 im Kabinett als Leiter des Lokalverwaltungsamts, bevor er als Kriegsgegner die neue Aufgabe im Handelsressort rasch wieder niederlegte.119 Als für den liberalen Progressismus deutlich repräsentativer können die Mehrheitsführer im LCC knapp vorgestellt werden. Für den Zeitraum von 1892 bis zu seinem Tod 1897 war dies Charles Harrison, der sich trotz besitzbürgerlicher Herkunft – und selbst geschäftlich erfolgreicher Anwalt – frühzeitig auch sozialen Anliegen widmete und darin reformliberale Ansichten vertrat.120 Ihm folgte im kompletten Rest der Majoritätsperiode bis 1907 Thomas McKinnon Wood, der gleichfalls der einflussreichen Londoner Handelsbourgeoisie entstammte, aber neben Geschäftstätigkeit auch sozialphilosophischen Interessen bis hin zur Mitwirkung an der Encyclopaedia Britannica professionell nachging. Politisch war er „a typical urban radical of his day, subscribing equally to the progressive social programme and the traditional Liberal causes of free trade and Irish home rule“.121 Das Kommunalprogramm der Mehrheitsfraktion hatte von vornherein klar gegenüber den Konservativen polarisierende Konturen: „Liberal Progressives had become firmly identified with municipal enterprise, with redistribution, and with metropolitan integration.“ Wie sein Generationskollege Burns verlagerte McKinnon Woods seit dem liberalen Wahlsieg 1906 (und gegenläufigem Richtungswechsel im LCC) seinen Arbeitsschwerpunkt ins Unterhaus, um dann in verschiedenen Ressorts bis 1911 zum Finanzstaatssekretär aufzusteigen. Wenn auch beide mit 30 bzw. 37 Jahren bei erstmaliger Wahl ins LCC besonders jung waren, lag dortiger Durchschnitt mit 46 weit unter jenem von 61 Jahren des MBW, was den Organisations- und Richtungs- mit einem Generationenwechsel verband.122 Ein grenzüberschreitender Blick auf Londoner Besonderheiten mag zusätzlich ausschlussreich sein. Im Mai 1905 schrieb der Berliner Sozialfortschrittler Preuß in einer politischen Wochenschrift, die neu gegründet unter dem ambitionierten Titel „Europa“ erschien: „Ein Deutscher, der ahnungs118 Für die Hauptstadt verwendet dieses Stichwort Davis, Reforming London, S. 119; zum Kontext Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1986. 119 Vgl. Kenneth D. Brown, John Burns, London 1977, von diesem Autor zusammengefasst in http://www.oxforddnb.com/templates/article.jsp?articleid=32194&back. 120 Vgl. http://www.oxforddnb.com/view/article/38891. 121 http://www.oxforddnb.com/view/article/37006 (Zitat des Autors John Davis). 122 Vgl. Davis, Reforming London, S. 139 (Zitat) u. 31.

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los das für die Wahlen zum Grafschaftsrat aufgestellte ‚Londoner Programm‘ liest, würde es für ein Dokument des Sozialismus halten. Und doch ist es von einer im Kern liberalen Parteigruppierung entworfen; und auf Grund desselben erhielt diese Gruppe die Mehrheit einer Wählerschaft, die bei den Parlamentswahlen überwiegend konservativ stimmt.“ Das „englische selfgovernment“ sei zwar ursprünglich von einer „ausgeprägten aristokratischen und plutokratischen Exklusivität“ gekennzeichnet, aber inzwischen mit einem „Prozeß der Demokratisierung“ verbunden, weshalb es sich nun schrittweise in Richtung eines „Munizipalsozialismus“ öffnete.123 Recht ähnlich beschrieb diesen Annäherungsprozess von sozialdemokratischer Seite Eduard Bernstein, der aus seinen Londoner Exiljahren bis zur Jahrhundertwende über persönliche Eindrücke verfügte: „Ein Progressist ist ein Liberaler mit sozialpolitischen Tendenzen ... Der Munizipalsozialismus ist das eigentliche Gebiet des Progressisten“.124 Gleich anderen zeitgenössischen Wortverbindungen wie (z.B. Bismarcks angeblicher) „Staatssozialismus“ oder der „Kathedersozialismus“ (z.B. im Verein für Socialpolitik) war damit jene ausgeprägt sozialpolitische Tendenz gemeint und insofern eher Sozialliberalismus thematisiert. Das im öffentlichen Leben prestigeträchtigste Vorhaben des munizipalsozialistischen Progressismus war die Übernahme der Straßenbahnen in LCCVerantwortung. Dies wurde 1891 beschlossen und bis 1896 auch schrittweise durch Ankäufe realisiert. Dabei profitierte die Öffentliche Hand von einer parlamentarisch bereitgestellten Regelung, dass solche privaten Verkehrsinvestitionen nach 21 Jahren Betriebsdauer zum Sachkapitalrestwert ohne zukünftige Gewinnerwartungen kommunalisiert werden konnten.125 Eine Nebenfolge dieses Übernahme-Vorbehalts gegenüber Privatbetreibern war es, dass erst daraufhin seit 1903 zielgenauer in die Elektrifizierung der Straßenbahnen investiert werden konnte. Für eine dazu passende weitere Kommunalisierung z.B. auch der Elektrizitätswerke fehlten den Progressives die geeigneten Mittel einschließlich der Mehrheitsbasis. Der konservative Sieg von 1907 bahnte sich bereits in einem Stimmungsumschwung des Vorjahrs an. Dazu trug die – wenn auch für mehr und bessere Angebote sorgende – wachsende Gesamtsteuerbelastung bei. Im Zeitraum vom letzten MBW-Rechnungsjahr 1888/89 bis 1899/1900 war ein Anstieg um 57 % gegenüber einem solchen von 41 % in gleicher MBW-Spanne 1877/78 bis 1888/89 zu verzeichnen; allerdings waren 123 Hugo Preuß, Zur sozialen Entwicklungstendenz städtischer Selbstverwaltung (1905), in: Ders., Ges. Schriften Bd. 5, S. 349. 124 Vorwärts, 10.3.1910. 125 Vgl. Schapiro, Public ownership, hier: www.nuff.ox.ac.uk/users/schapiro/chapter %206. pdf, S. 2 (ff.).

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es zuvor im sogar geringfügig kürzeren Zeitraum 1867/68 bis 1877/78 noch 70 % gewesen.126 Der zwischen 1889 und 1913 absolut und relativ größte Anstieg der Gemeindesteuerlasten von 1898 bis 1904 wird in seiner kumulativen Nachwirkung den Stimmungsumschwung der Folgejahre mit vorbereitet haben.127 Ein zusätzlicher Impuls der konservativen Gegenmobilisierung nach der Jahrhundertwende und mit einem seit 1905 verdichteten Organisationskern in „ratepayer associatons“ ging offenbar von Umverteilungseffekten aus.128 Denen zufolge hatten besser gestellte Stadtquartiere einen größeren Teil der Gesamteinnahmen aufzubringen, während die Ausgaben eher den zuvor Benachteiligten zugute kommen sollten.129 126 Prozentzahlen errechnet aus der „Grand Total“-Zeile bei Davis, Reforming London, S. 265–275; bei Pennybacker, Vision, S. 9, bezugnehmend auf jene Daten behauptete „increases of 160 percent“ können insofern nicht allein für die Zeit der progressiven Mehrheit oder nur Teilbereiche betreffend gemeint sein. 127 Vgl. Schapiro, Public ownership, hier: www.nuff.ox.ac.uk/users/schapiro/chapter %205. pdf, S. 17 (Schaubild). 128 Vgl. dazu Offer, Property, S. 301–307. 129 Ebd., S. 172 f. findet sich dazu eine detaillierte Auswertung für den Zeitraum bis 1900, die im Detail zu analysieren freilich über die Grundaussage einer Umverteilung

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Ein Übersprungeffekt von der Unterhaus- zur Grafschaftsebene ist hingegen in den Wahlziffern gerade nicht fassbar. So wie dem in der Hauptstadt siegreichen konservativ-unionistischen Bündnis gegen Home Rule für Irland 1886 eine progressistische Allianz sozusagen zugunsten von Londoner Home Rule im teilunitarisierenden LCC folgte, ist auch 1906/07 wiederum solche gegenläufige Tendenz ersichtlich. Nach den konservativen Erdrutschsiegen zum Unterhaus 1895 und 1900, im Zeichen einer nationalistischen und imperialistischen Propaganda mit je 51 Londoner Mandaten gegen nur 8 Liberale, kam der Pendelschlag 1906 mit einer Reduzierung der Konservativen auf nur 19 Londoner Unterhausabgeordnete.130 Neben dem bekannten Oppositionseffekt, dass bei regionaler Stimmabgabe eher die mit der landesweiten Politik Unzufriedenen zu mobilisieren sind, ist die Interessen- und Mentalitätsdifferenzierung vorrangig zu berücksichtigen. In der unteren Statushälfte der Stimmberechtigten waren unionistische sowie imperialistische Motive wenn nicht sogar zuweilen mehrheitsbildend, dann aber mit hinreichend neutralisierender Wirkung zusammen mit dem interessenbedingten konservativen Bias der oberen Statushälfte abrufbar. Hingegen mobilisierte zunächst die aktive sozialpolitische und stadtinterventionistische Programmatik der Progressives majoritätsträchtige Unterstützung, während zuletzt die konservative Gegenmobilisierung überwog. Für die Konzentration des Richtungswechsels 1907 auf Mittelklassenquartiere gibt es kompakte Datenbelege: Nur dort war der konservative Zugewinn gegenüber der Unterhauswahl 1906 mit nun 66,9 % nach 55,3 % (+11,6 %) sehr beträchtlich, während die Veränderung in Arbeiterquartieren mit 45,1 % nach 42,8 % (+2,3 %) nur ein Fünftel jenes Zuwachses ausmachte.131 Nach 45,7 % im Jahre 1904 fiel 1907 die Wahlbeteiligung zum LCC mit 55,5 % – und dies offenbar besonders in der Mittelklasse – auch zu dieser von Londoner Konservativen weniger geschätzten Regionalebene nun deutlich höher aus.132 Der Richtungswechsel hatte sich bereits mit deutlich über 20 konservativen zu nur 3 progressiven Mehrheitsfraktionen bei den Borough-(Einzelgemeinde)Wahlen im LCC-Gebiet Anfang November 1906 angebahnt.133 Die mit ho-

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von dem wohlhabenderen City- und West End-Bereich zum ärmeren East End hinaus die Möglichkeiten eines Überblicks mit LCC-Schwerpunkt überfordern würde. Vgl. Windscheffel, Popular Conservatism, S. 36. Vgl. Schapiro, Public ownership, hier: www.nuff.ox.ac.uk/users/schapiro/ch %20 5 %20appendix.pdf, S. 1. Vgl. Jules Philip Gehrke, Municipal Anti-socialism and the Growth of the Anti-socialist Critique in Britain 1853–1914, Diss. Univ. of Minnesota 2006, S. 242, bezugnehmend auf Gwilym Gibbon/Reginald W. Bell, History of the London County Council 1889–1939, London 1939, S. 675. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/London_local_elections,_1906.

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hem Plakatierungs- und Flugblattaufwand verbreitete Propaganda gegen die „Progessive-Socialist Party“, mit deren angeblichem steuerzahlerfeindlichen Hauptziel „It’s your money we want“134, erreichte dann auch wenige Monate später zum LCC ihr Ziel. Das Mehrheitswahlrecht auf beiden Ebenen ließ schon den Richtungswechsel (und sei es in die Nicht- oder Neuteilnahme) eines Zehntels der einen oder anderen Gruppierung zu großen Mandatsverschiebungen auswachsen. Die generell hohen Mobilitätsraten in London135 – nicht allein wohnungsbezogener Art – begünstigten eher den elektoralen Swing als die Verfestigung von zahlreichen uneinnehmbaren Parteihochburgen. Wenig zusätzlichen Analysewert bietet hingegen die Verlagerung des Sozialprofils der politisch umgruppierten Mandatare: Von 1889 bis 1907 blieb zwar die Beteiligung von (zumeist akademischen) „Professionals“ recht konstant hoch, hingegen traten die (liberalen) Geschäftsinhaber stark zugunsten von (konservativen) Privatiers und Berufspolitikern zurück136 – was die konservative Variante einer Professionalisierung auch der Grafschaftspolitik gewesen sein dürfte. Als letztlich durchaus folgerichtige Praxis eines Wechselspiels von Regierung und Opposition betrachtete es Preuß, dass in London weltanschaulicher Fanatismus kaum auftrete und demgemäß eine verbreitete Akzeptanz für unterschiedliche Perioden der Majoritäts- und Minoritätsposition vorhanden sei: „Als die Grafschaftswahlen von 1907 die bisherige progressistische Mehrheit des Londoner Grafschaftsrats gestürzt hatten, sagte mir ein Führer dieser Mehrheit und Mitglied der Fabian Society: Es ist gut so; der Steuerzahler muß sich auch mal verschnaufen; unser Tempo will er auf die Dauer nicht aushalten; unsere siegreichen Gegner werden nichts Wesentliches zerstören von dem, was wir geschaffen haben; aber sie werden eine Erholungspause eintreten lassen, nach deren Ablauf wir wieder an der Reihe sind.“137 Dies konnte als ein bemerkenswerter Ausdruck der auf die kommunale Ebene der englischen Hauptstadt ausstrahlenden parlamentarischen Traditionen verstanden werden. Der relativ behutsame Umgang mit den meisten Errungenschaf-

134 The Times, 26.9.1906; Davies, London County Council, S. 13 (dort auch Selbstkritik hinsichtlich einerseits zu puritanischer Haltung gegenüber Alkohol und Freizeitbanalitäten und andererseits unnötigen Fronten zu Konfessionseinflüssen in Schulfragen, ebd. S. 12 f.; diese mehr auf lokale Alltagswelt bezogenen Themen sind in entsprechenden Kapiteln bei Pennybacker, Vision, materialreich behandelt). 135 Vgl. Brodie, Politics, S. 61 f. 136 Daten bei Clifton, Members, S. 6. 137 Hugo Preuß, Ein sozialpolitischer Schwanengesang (1909), in: Ders., Ges. Schriften Bd. 5, S. 367.

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ten der Londoner „Progressive era“ seitens der Nachfolger wird übrigens von historischer Forschung bestätigt.138

5. Schlussbemerkungen Im klassischen Honoratiorenliberalismus der 1860er und 1870er Jahre dürften sich Berlin, London und Wien noch am meisten ähnlich gewesen sein, ohne im Rahmen dieses Bandes auch noch auf den vorausliegenden Frühliberalismus näher eingehen zu können. Der größte Unterschied bestand damals zunächst darin, dass es bis 1888 die Weltstadt London formell gewissermaßen nur als eine MBW-Überdachung von 29 Einzelgemeinden – einschließlich der Sonderexistenz der City (als das Ur-London) – gegeben hat. Doch auch Wien bis zur Eingemeindung 1890/92 oder selbst Berlin vor 1920 war in deren Fläche nicht gar so viel größer als manche Londoner Boroughs, wenngleich weitaus dichter besiedelt.139 Die wesentliche sozial-, kultur- und politikgeschichtliche Divergenz entwickelte sich in unterschiedlicher Bewältigung der neuen Formen von Massenbeteiligung in den 1880er Jahren und deren ökonomischen Hintergründen. Eine vergleichbare Erschütterung von liberalen Wirtschaftsgesinnungen wie im „Gründerkrach“ seit 1873/74 in Berlin und Wien hat sich im Welthandelszentrum London nicht vollzogen. Wesentlich auch deshalb gab es kein Londoner Gegenstück zu den während der 1880er Jahre die Liberalen herausfordernden Christlich-Sozialen Stoeckerscher oder Luegerscher Provenienz. Am ehesten noch die Chamberlain-Unionisten waren eine solche neuartige Kraft jenseits dezidiert linker Alternativen. Doch mit ihrem Doppelprofil des Sozialimperialismus, der regional progressive und landesweit konservative Verbündete fand, ähnelten diese wie erwähnt mehr der ein reichliches Jahrzehnt später auftretenden Naumannschen Variante einer „nationalsozialen“ Politik.140 138 Vgl. Schapiro, Public ownership, hier: www.nuff.ox.ac.uk/users/schapiro/chapter %205. pdf, S. 24 f. u. 34. 139 Ohne hier auf siedlungsgeografische Details eingehen zu können, dazu nur aus dem keines Spezialbelegs bedürftigen Nachschlagewissen: Jeweils im Konstituierungsjahr 1889 des LCC wiesen die äußersten südöstlichen bzw. südwestlichen Boroughs 33,5 bzw. 36,9 qkm Fläche auf, während es auch nur 54,4 bzw. 63,5 qkm für Wien und Berlin insgesamt waren. 140 Insofern sind die bei Stefan-Georg Schnorr, Liberalismus zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Reformulierung liberaler politischer Theorie in Deutschland und England am Beispiel von Friedrich Naumann und Leonard T. Hobhouse, Baden-Baden 1990, in den Blick genommenen Exponenten zwar einesteils Zeitgenossen, anderenteils in

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Etwas zugespitzt formuliert blieb in London die frühere liberale Hegemonie auch über die Zeitspanne einer Dominanz der liberalen Partei teilweise wirksam. Im Unterschied zu Berlin und Wien ist die Labour Party dort erst nach 1914 zur führenden Kraft in der Arbeiterbevölkerung geworden. Nicht zuletzt das Bündnis der Progressives trug mit dazu bei, vor Ort – und damit ohne die neuen Spaltungslinien der imperialistischen Regierungspolitik – ein Bündnis der an verbesserter regionaler Infrastruktur ebenso interessierten Mittelklasse und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter noch über Jahrzehnte zu erhalten. Doch auch die Moderates (bzw. seit 1907 Municipal Reform Party) vermieden auf Londoner Grafschaftsebene allzu sehr das Regionalmilieu der Mittelklasse provozierende antiliberale Tendenzen. Im Gegenteil: Mit Ausnahme der Trennlinie einer kirchenfreundlichen Haltung entsprach das Kommunalprogramm der Moderates eher dem traditionellen Liberalismus der Steuerzahlerbürger, wie er in Berlin noch bis über die Jahrhundertwende hinaus und in Wien nahe an diese heran sich dominierend erhalten hatte. Gegen die Massenmobilisierung gleichermaßen des Politischen Katholizismus und „Austromarxismus“ blieb dem Wiener Liberalismus im 20. Jahrhundert hingegen nur mehr die Randexistenz einer Splittergruppe. Daran gemessen konnte sich der Berliner Linksliberalismus mit seinen allmählich stärker hervortretenden progressistischen Teilen in Kooperation mit der SPD noch behaupten – und stellte in den 1920er Jahren auch noch unter neuen Bedingungen des allgemeinen und gleichen Stimmrechts aller erwachsenen Frauen und Männer den (DDP-)Oberbürgermeister.141

der Haltung gegenüber dem Imperialismus aber zu verschieden, um das „nationalsozialliberale“ Vergleichspotential bei Chamberlain zu verkennen. 141 Zu dieser späteren Entwicklung: Detlef Lehnert, Kommunale Politik, Parteiensystem und Interessenkonflikte in Berlin und Wien 1919–1932, Berlin 1991; Christian Engeli, Gustav Böß. Oberbürgermeister von Berlin 1921 bis 1930, Stuttgart 1971 (Böß war seit 1910 Stadtrat in Schöneberg, wo der spätere preußische DDP-Kurzzeit-Innenminister Alexander Dominicus – vgl. zu seiner Straßburger Herkunft S. 262 in diesem Band – 1911 Oberbürgermeister wurde).

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Zwischen Tradition und Fortschritt Kommunale Sozialpolitik und Bürgerschaft in Köln und Ōsaka1

Das Thema Liberalismus und Demokratie in der lokalen Selbstverwaltung vor 1945 in Japan ist bisher wenig erforscht, während zahlreiche Studien aus ideengeschichtlicher und auf einzelne Personen bezogener Perspektive zu prominenten Intellektuellen und Denkern der liberalen und demokratischen Strömungen von der Meiji (1868–1912)- bis zur frühen Shōwa (1926–1945)Zeit vorliegen.2 Auf der national- und ideengeschichtlichen Ebene wurden freilich in der letzten Zeit erstmals Versuche unternommen, die langfristigen Traditionslinien beider Strömungen epochenübergreifend in den Blick zu nehmen. Tatsächlich konzentrieren sich diese Versuche jedoch vor allem darauf, die Demokratie – hier im Sinne politischer Teilhabe – als kontinuierliche Traditionslinie unter den Kategorien „Meiji-Demokratie“, „Taishō-Demokratie“ und „Shōwa-Demokratie“ auf nationalstaatlicher Ebene im langen Bogen systematisch zu erfassen.3 Nach wie vor und nicht zuletzt auf kommunalpolitischer Ebene handelt es sich um ein Forschungsdesiderat, in analoger Weise die Traditionslinien des Liberalismus in der japanischen Geschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts – hier im Sinne des Eintretens für mehr individuelle Freiheit und Selbstbestimmung verstanden – herauszuarbeiten.4 1 Die vorliegende Darstellung geht aus meiner unveröffentlichten Dissertation (2011) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hervor: Hideto Hiramatsu, Armenwesen und Armenpflege in den Städten Köln und Ōsaka im Vergleich. 2 Dazu einführend Hiroshi Tanaka, Kindai nihon to riberarizumu, Tōkyō 1993. 3 Jyunji Banno, Kindai nihon no kokka kōsō, Tōkyō 2009; ders., Meiji demokurashī, Tōkyō 2005. 4 Bewusst möchte ich an dieser Stelle keine abschließende Definition des Begriffes „Liberalismus“ vornehmen. Zeitgenössisch schwankte der Bedeutungsgehalt der japanischen Begriffe jiyū (Freiheit) stark. Zu Beginn der Meiji-Zeit etwa war er zweideutig. Er war ein Schlüsselbegriff nationalstaatlicher Debatten, wo er häufig propagiert wurde, um ein aus dem Joch des Feudalismus befreites selbständiges Individuum zu schaffen. Diesem sollte es überlassen bleiben, staatliche Aufgaben zu übernehmen und als Bürger den Nationalstaat zu bilden. Aus der Perspektive des Volkes hingegen wurde der Begriff als ein Stichwort für Selbstbefreiung genutzt. Er meinte dabei die Befreiung von der ständegesellschaftlichen Fessel und wurde in der Bewegung für Freiheit

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1. Fragestellungen und Vergleichsdimensionen Solche Defizite müssen partiell darauf zurückgeführt werden, dass durch die Forschung die Entfaltungsmöglichkeiten des Liberalismus im politischen System Japans seit der Meiji-Zeit im Vergleich zu denen der Demokratisierung als geringer eingeschätzt wurden und werden. Während es der Demokratisierungsbewegung gelang, mit der Einführung des Parlamentarismus, mit Verfassung und Wahlrecht gewisse, wenn auch beschränkte institutionelle Kanalisierungsmöglichkeiten für Forderungen nach politischer Partizipation und für Rechtsansprüche gegenüber dem Staat zu etablieren, blieben im Vergleich dazu liberale Gedanken und Prinzipien in einem weit höherem Maße durch staatliche Einwirkungen verwundbar. Denn der Liberalismus wurde, so die Annahme, als eine staatsfeindliche Ideologie stets – insbesondere seit den 1930er Jahren in zunehmender Weise – zum Gegenstand der strikten Unterdrückung und Verfolgung durch den Staat.5 In jüngeren Studien zu Kommunalwahlen in der Stadt Ōsaka wird jedoch darauf verwiesen, dass es den „liberalen“ Gruppen im Laufe der 1920er Jahre gelungen sei, eine steigende Zahl von Mandaten im Kommunalparlament zu erringen und damit ihre politische Position auszubauen.6 Nach kurzem Erfolg änderte sich dies allerdings mit der Kommunalwahl im Jahre 1929, also nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer von 1925 und der daraus resultierten Abschaffung des Zensuswahlrechtes bei der Kommunalwahl. Angesichts des Aufschwungs der Arbeiterbewegung konnten Liberale sich nun nicht mehr gegen die von Gewerkschaften unterstützten Kandidaten durchsetzen. Dieser Befund legt nahe, dass die Institutionalisierung des demokratischen Systems und des Parlamentarismus seit dem Erlass der Meiji-Verfassung im Jahre 1889 – hier im Sinne von politischer Teilhabe – positive Impulse für das Zustandekommen und Volksrechte konkret mit Forderungen nach spezifischen Rechten wie dem Recht auf politischen Protest gegen staatliche Intervention oder für Versammlungs- und Assoziationsfreiheit verbunden. Wegen der Vieldeutigkeit ist eine begriffsgeschichtliche Herangehensweise an das Konzept des Liberalismus in Japan unabdingbar, um den Bedeutungsgehalt auszuloten. Zum Begriff der Demokratie liegt bereits eine begriffsgeschichtliche Untersuchung vor: Harald Meyer, Die „Taishō-Demokratie“. Begriffsgeschichtliche Studien zur Demokratierezeption in Japan von 1900 bis 1920, Bern 2005. 5 Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 3. Aufl. München 2009, S. 1089; zur traditionellen Schwäche der Autonomie von Mittelschichten gegenüber dem Staatswesen in Japan vgl. Masao Maruyama, Denken in Japan, hrsgg. u. übersetzt von Wolfgang Schamoni/Wolfgang Seifert, Frankfurt a. M. 1988, S. 54 f. 6 Atsuki Shibamura, Nihon kindai toshi no seiritsu, Kyōto 1998, S. 139–162.

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und die Entwicklung der Demokratie in der Vorkriegszeit setzte und auch Handlungsspielräume für liberale Strömungen eröffnet hat.7 Die Entstehung und Entwicklung der städtischen Sozialpolitik in Ōsaka, welche parallel zu dieser politischen Entwicklung verlief, kann erst in diesem Zusammenhang in ihrer vollen Spannweite und in ihrer tiefen Dimension für das Potenzial des Liberalismus und der japanischen Zivilgesellschaft vor dem Zweiten Weltkrieg verstanden werden. Auch wenn in der japanischen Geschichtsforschung immer noch die Ansicht vorzuherrschen scheint, in Japan habe es vor 1945 abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wie im Bereich der Wohlfahrtspflege oder der Philanthropie keine „Zivilgesellschaft“ gegeben,8 stellt die städtische Sozialpolitik und das hōmen iin-System9 in Ōsaka ein interessantes Fallbeispiel dar, um eine (mögliche) zivilgesellschaftliche Tradition bürgerschaftlichen Engagements und das Vorhandensein und

7 Hier bleiben aber zentrale Fragen wie die nach dem Sozialprofil der liberalen Gruppen und ihrer Wählerschaft, ihrem Wahlprogramm, der Verflechtung und dem Spannungsverhältnis mit anderen politischen Gruppierungen oder die Bedingungen für Erfolg oder Misserfolg weitgehend unbeantwortet und weiteren Forschungen vorbehalten. Dieser Befund zeigt auch, dass eine Untersuchung der Kommunalwahlen in der Vorkriegszeit hinsichtlich der Einflüsse von demokratischen und liberalen Strömungen im langen historischen Bogen ein neues Licht auf die gängige Annahme werfen könnte, wonach das Kommunalparlament eine bloße Honoratiorenversammlung der lokalen Oberschicht gewesen sei, die weder willens noch in der Lage war, ihre Forderungen zu formulieren und sich gegenüber der lokalen wie zentralstaatlichen Regierung durchzusetzen. Bereits in meiner Dissertation (vgl. Anm 1) konnte ich jedoch zeigen, dass die lokale Oberschicht in der Zeit der Taishō-Demokratie weder homogen noch gefügig war. Vor diesem Hintergrund scheint mir geboten, durch eine längerfristige sozial- und begriffsgeschichtliche Analyse von Kommunalwahlen den Stellenwert der Begriffe jiyū (Freiheit) und jiyūshugi (Liberalismus) in der Gesellschaft und Politik der Vorkriegszeit herauszuarbeiten, damit ihre Erfolge und ihr Scheitern sowie deren Auswirkung auf die Entwicklung der Demokratie und Bürgergesellschaft sowohl auf lokaler wie auch nationaler Ebene bis hin in die Nachkriegszeit erörtert werden können. 8 Vgl. Shūsaku Kanazawa, Wohltätigkeit und westlicher Einfluss im Japan der MeijiZeit 1868–1912, in: Rainer Liedtke/Klaus Weber (Hg.), Religion und Philanthropie in den europäischen Zivilgesellschaften. Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2009, S. 174–200. In der jüngeren Historiographie zur Entwicklung des modernen Stadtwesens findet der Begriff shimin shakai allmählich Verwendung, jedoch scheint man häufig mit ihm zu operieren ohne dabei dessen normativen Gehalt hinreichend zu hinterfragen. 9 Beim hōmen iin-System handelt es sich um eine Form kommunaler Armenpflege vor 1945, welche als Vorläufer des 1948 implementierten minsei iin-Systems, d.h. der von Bürgern getragenen lokalen Sozialfürsorge gilt.

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die Handlungsspielräume liberaler und demokratischer Strömungen vor dem Zweiten Weltkrieg in Japan zu untersuchen. Die Erkenntnisse aus den verschiedenen Arbeiten zum hōmen iin-System ermöglichen zunächst einen genaueren Einblick in den Penetrationsprozess der Mechanismen zur Etablierung und Stabilisierung des Kaiserlichen Herrschaftssystems durch städtische Sozialpolitik. Dieses reichte nicht nur in die lokalen Gesellschaften, sondern sogar ins alltägliche Leben einzelner Personen – nicht zuletzt derjenigen der unteren Schichten der Gesellschaft – sowie in deren Wertvorstellungen und Handlungsprinzipien hinein, um sie somit zu guten treuen Untertanen des Kaisers zu erziehen. Während dabei natürlich auch auf den Einfluss der Taishō-Demokratie und des Solidarismus als geistige Stütze des hōmen iin-Systems sowie die bedeutende Rolle des von Taishō-Demokratie und Solidarismus geprägten städtischen Mittelstandes für das Funktionieren des Systems aufmerksam gemacht wird,10 besteht nach wie vor ein großes Interesse an den Herrschaftsverhältnissen als entscheidendem Faktor für die Wirkungsweise des hōmen iin-Systems. In jüngeren Studien wird jedoch auf jene Handlungsprinzipien und Wertvorstellungen, wie etwa Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Selbstverwaltung, auf die in der Tätigkeit der Armenpflege großen Wert gelegt wurde, aufmerksam gemacht.11 In diesen Studien werden durch die Untersuchung einzelner Persönlichkeiten differenzierte Bilder über diejenigen sozialen Konstellationen möglich,12 welche bei den meisten älteren Untersuchungen offensichtlich bereits im Voraus als eine mehr oder weniger bereits existente Größe vorausgesetzt wurden: zum Beispiel soziale Konstellationen wie die „städtischen Honoratioren“, die „herrschende Schicht“ oder der „städtische Mittelstand“.13 Nicht gefragt wird hier allerdings danach, inwiefern und in welcher Weise diese Handlungsprinzipien und Wertvorstellungen nicht nur 10 Dazu Minoru Ōmori, Toshi shakai jigyō seiritsuki ni okeru chūkansō to minponshugi, in: Hisutoria 97 (1982), S. 58–76. Kritisch zur These von Ōmori siehe vor allem Takaaki Matushita, Ōsaka-shi gakku haishi mondai no tenkai, in: Nihonshi kenkyū 291 (1986), S. 51–86. 11 Tomohiro Yoshimura, Numata Kaichirō shōron, in: Historia 193 (2005), S. 79–102, hier S. 96. 12 Shimada lieferte ein differenziertes Bild innerhalb der städtischen Honoratioren um die Zeit der Reisunruhen, welches sich durch ein Spannungsverhältnis zwischen den altherkömmlichen Honoratioren und dem aufstrebenden neuen Mittelstand auszeichnet. Katsuhiko Shimada, Kome sōdō to toshi chiki shakai, in: Takashi Tsukada (Hg.), Ōsaka ni okeru toshi no hatten to kōzō, Tōkyō 2004, S. 226–252; vgl. auch Naoki Iida, Kome sōdō go no toshi chiiki shihai to hōmen iin no katsudō, in: Tadahide Hirokawa (Hg.), Kindai Ōsaka no chiiki to shakai hendō, Kyōto 2009, S. 209–225. 13 Vgl. etwa Ōsaka-fu (Hg.), Ōsaka hyakunen-shi, Ōsaka 1968, S. 852 ff.

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für das Funktionieren und die weitere Entwicklung des Systems, sondern auch für das ehrenamtliche Engagement der Bürgerschaft von Bedeutung gewesen sein sollen, ohne deren Engagement das gesamte System jahrzehntelang nicht hätte funktionieren können. Hier bietet sich an, das hōmen iin-System als Bühne für eine Vergesellschaftung des Mittelstandes zu verstehen, um die Handlungsprinzipien und Wertvorstellungen, welche in der Tätigkeit der Armenpflege zum Ausdruck gebracht wurden, nicht nur auf der Ebene einzelner Individuen zu erörtern, sondern sie auf der Ebene des gesamten Funktionierens des hōmen iin-Systems im Zusammenhang mit den Prozessen dieser Vergesellschaftung zu betrachten. Vor solchem Hintergrund scheint die Untersuchung des Systems aus vergleichender Perspektive mit der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland genaue und umfassende Einblicke in das Entfalten und Funktionieren dieses gesamten Prozesses zu ermöglichen, an dem diverse bürgerliche Akteure unmittelbar teilnahmen und die weitere Entwicklung mitprägten und mitgestalteten. Auch in Köln galt die kommunale Armenpflege als ein wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses des Kölner Bürgertums und stand im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Armenverwaltung der Stadt Köln bekräftigte dies in einem Bericht von 1830 über das städtische Armenwesen, in dem sie auf die besondere Bedeutung des kommunalen Armenwesens für das „Wohlbefinden der bürgerlichen Gesellschaft“ aufmerksam machte.14 Die kommunale Armenpflege war unmittelbar verknüpft mit der kommunalen Selbstverwaltung, so dass „kaum ein anderer Zweig der öffentlichen Verwaltung begründeteren Anspruch auf die allgemeine Teilnahme macht, als die Armenpflege“.15 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich jedoch in zunehmender Weise der Ausdifferenzierungsprozess in der bürgerlichen Gesellschaft angesichts der rapiden Urbanisierung und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Dementsprechend dehnte die Kölner Stadtverwaltung in den 1870er und 1880er Jahren weitgehender ihre Tätigkeitsbereiche aus. Sie machte damit einen entscheidenden Schritt von einer durch Honoratioren geführten und zurückhaltend handelnden bürgerlichen Selbstverwaltung hin

14 Bericht über die Armenverwaltung zu Köln über den Zustand der städtischen Armenpflege, Köln 1830. Zitat nach Gisela Mettele, Bürgertum in Köln 1775–1870. Gemeinsinn und freie Association, München 1998, hier S. 135; in ihrer Dissertation untersucht Mettele das kommunale Armenwesen in Köln um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf das Bürgertum und die kommunale Selbstverwaltung. 15 Mettele, Bürgertum, S. 135.

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zu einer fachlich qualifizierten modernen „Leistungsverwaltung“.16 Während zunehmender Professionalisierung, Bürokratisierung und Ausdifferenzierung der städtischen Verwaltung wurde auch eine große Anzahl der Bürger in den lokalen Angelegenheiten mobilisiert, vor allem in sozialen Bereichen. Die kommunale Selbstverwaltung erschien zunächst als Betätigungsfeld des aufstrebenden liberalen Bürgertums des 19. Jahrhunderts, das darin seine Aufgabe und Verantwortung sah, durch ehrenamtliches Engagement im Gemeindeleben unmittelbar zu Gemeinwohl und zur Abwehr sozialer Missstände und Bedrohungen beizutragen.17 Das kommunale Armenwesen lässt sich in diesem Zusammenhang als einer der wichtigsten Zweige der städtischen Selbstverwaltung verstehen. Dort bildete das ehrenamtliche Engagement der Bürger als Armenpfleger einen Hauptbestandteil der kommunalen Sozialfürsorge. Das Ziel der städtischen Armenpflege entsprach der politischen Orientierung im Sinne der liberalen Zielutopie.18 So strebte in Köln die von Liberalen dominierte Stadtverordnetenversammlung19 danach, die Gestaltung und Kontrolle der kommunalen Armenpflege in eigene Regie zu nehmen, welche vom Ende der französischen Herrschaft bis zur Integration derselben in die Stadtverwaltung im Jahre 1871 unter dem großen Einfluss der katholischen Kirche gestanden hatte.20 Auf der einen Seite kann man die Reform des städtischen Armenwesens im Jahre 1888 als Höhepunkt der jahrelangen Reformbestrebung der Liberalen verstehen. 16 Vgl. Friedrich Lenger, Bürgertum in rheinischen Großstädten, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990, S. 97–169, hier S. 130 ff.; Jürgen Reulecke, Von der Fürsorge über die Vorsorge zur totalen Erfassung. Etappen städtischer Gesundheitspolitik zwischen 1850 und 1939, in: Ders. (Hg.), Die Stadt als Dienstleistungszentrum, St. Katharinen 1995, S. 395–416, hier S. 403 ff. 17 Vgl. Jürgen Reulecke, Formen bürgerlich-sozialen Engagements in Deutschland und England im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert, München 1986, S. 261–285, hier S. 265 f. 18 Hans-Walter Schmuhl, Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1995, hier S. 36; zum liberalen Bürgertum und zur Genese des Wohlfahrtsstaates siehe Marcus Gräser, Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940, Göttingen 2009. 19 Zur Entwicklung der Kräfteverhältnisse der Stadtverordnetenversammlung im 19. Jahrhundert siehe Thomas Deres (Bearb.), Der Kölner Rat. Biographisches Lexikon, Bd. 1: 1794–1919, Köln 2001. 20 Zur Integration der bisher selbständig agierenden Armenverwaltung in die Stadtverwaltung von 1871 siehe Ulrike Dorn, Öffentliche Armenpflege in Köln von 1794–1871, Köln 1990.

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Diese Reform wäre aber auf der anderen Seite ohne reges Engagement und Interesse der städtischen Bürgerschaft nicht zustande gekommen. Der Stadt gelang es, ihr Reformvorhaben umzusetzen, erst mit der Unterstützung der als Armenpfleger beteiligten Bürger, die der liberalen Sozialpolitik der Stadt nicht immer kritiklos folgten.21 Durch diese Reform wurde nun die Grundlage für das bürgerschaftliche Engagement in Köln geschaffen, und dies bewährte sich bis in das 20. Jahrhundert hinein als ein wichtiges Betätigungsfeld der auf Gemeinwohl orientierten Bürger in der kommunalen Sozialfürsorge. In dieser Zeit war die städtische Bürgerschaft ebenfalls in zunehmender Weise der voranschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung ausgesetzt. Dies konfrontierte sie mit einem spürbaren Wandel, denn es veränderte sich nicht nur das Stadtbild, sondern auch die sozialen Verhältnisse der Stadtbevölkerung. Weitgehendere Differenzierungen und Spannungen zwischen verschiedenen Schichten, auch innerhalb der einzelnen Schichten rückten immer mehr in den Vordergrund.22 Die kommunale Armenpflege als Domäne für mit ausgeprägtem „Bürgersinn“ ausgestattete und am „Gemeinwohl“ orientierte „unbesoldete und gebildete Männer“ stand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend neuen Herausforderungen gegenüber.23

2. Städtische Armenpflege und die kommunale Selbstverwaltung vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Urbanisierung Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erreichte Japan einen hohen Grad der Urbanisierung und der Industrialisierung. Das rapide industrielle Wachstum sowie der damit verbundene hohe Bevölkerungszuwachs in den Großstädten waren auch hier begleitet von hohen Fluktuationsraten der Stadtbevölkerung und einer Zuspitzung der sozialen Frage. Die Beunruhigung der lokalen Ordnung und die Erschütterung der politischen Herrschaftssysteme durch u.a. das Heranwachsen der Taishō-Demokratie und der Arbeiterbewegung zeichneten sich immer deutlicher ab. Vor diesem Hintergrund stellte diese Periode einen 21 Grundlegend zum liberalen und katholischen Bürgertum sowie zur Entwicklung der Kräfteverhältnisse siehe Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914, Göttingen 1994. 22 Friedrich-Wilhelm Henning, Die Stadterweiterung unter dem Einfluss der Industrialisierung (1871 bis 1914), in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, Bd. 2: Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Köln 1975, S. 267–357. 23 Iris Schröder, Wohlfahrt, Frauenfrage und Geschlechterpolitik. Konzeptionen der Frauenbewegung zur kommunalen Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 368–390.

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Wendepunkt in der staatlichen Sozialpolitik dar, der im Jahre 1908 offiziell mit der staatlichen Reform- und Armenpolitik zum Ausdruck gebracht wurde. Die staatliche Reform- und Armenpolitik war gekoppelt mit der staatlichen Sozialreformpolitik. Primäres Ziel der Sozialpolitik war es, durch kaiserliche Wohltätigkeit die Entwicklung in Unabhängigkeit und Selbständigkeit der einzelnen Mitglieder des Volkes zu guten Untertanen zu fördern. Die Sozialreformpolitik ergänzte diese Maßnahmen durch die Förderung der lokalen Selbstverwaltung der Gemeinde zugunsten des Staates. Bei beiden Reformen standen sowohl die moralische wie auch die geistige Besserung des Einzelnen als auch eine Verbesserung der öffentlichen Sittlichkeit und Hygiene im Zentrum der Förderung, um damit eine Prävention der Armut im Gang setzen zu können.24 Der Staat versetzte sich jedoch nach dem Subsidiaritätsprinzip verstärkt in die Aufsichts- und Führungsrolle, indem tatsächliche Präventions- und Hilfsmaßnahmen zuerst dem Einzelnen, dann der Familie sowie der Nachbarschaft und schließlich noch den Gemeinden überlassen werden sollten. Insofern der Staat die Pflicht für die Armenpflege nicht auf sich nehmen wollte, musste diese Aufgabe privaten Händen und den Gemeinden überlassen werden. In Ōsaka wurden bereits in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche private Wohltätigkeitsorganisationen gegründet, welche zum nicht kleinen Teil auf Initiative religiöser – meist christlicher – Gruppen und Individuen, auch Frauen, zurückgingen. Denn Ōsaka entwickelte sich nach den 1880er Jahren zum Zentrum der industriellen Revolution und war bis in die 1930er Jahre die größte Industriestadt in Japan. Folglich waren soziale Missstände infolge der Industrialisierung und der voranschreitenden Verstädterung sehr groß. In den 1920er Jahren arbeitete etwa ein Drittel der Arbeiterbevölkerung in Ōsaka als Tagelöhner und befand sich in sehr schlechten Lebens- und Wohnungsverhältnissen. Die kommunale Verwaltung sah sich zunehmend dazu gezwungen, die Forderungen der Bevölkerung ernst zu nehmen und Gegenmaßnahmen gegen die sozialen Missstände zu ergreifen. Im Hinblick auf die lokale Herrschaftsstruktur büßten jedoch die Honoratioren, welche traditionell die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit sowie das Wohlergehen der lokalen Gesellschaft besorgt hatten, bereits vor der Jahrhundertwende ihre Macht und ihren Einfluss auf die lokale Politik ein.25 An ihre Stelle trat eine zunehmend bürokratisierte und professionali24 Vgl. Sheldon Garon, Molding Japanese Minds. The State in Everyday Life, Princeton 1997, S. 40 ff. 25 Seit der Einführung der Städte- und Gemeindeordnung im Jahre 1888, welche nach dem Vorbild der preußischen Städteordnung 1808 erlassen wurde, standen die städtischen Honoratioren im Zentrum der kommunalen Politik. Mit dem Begriff „Honoratioren“ zu bezeichnen sind in der japanischen Gesellschaft die Träger der bürgerlichen

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sierte Leistungsverwaltung unter der Leitung des Oberbürgermeisters. Mittels einer neuen Stadt- und Sozialpolitik versuchten diese, die erschütterte lokale Machtordnung wieder zu stabilisieren und mit einer Politik von „oben“ nach „unten“ der Erosion der alten Gesellschaftsordnung entgegen zu wirken.26 Um die in Frage gestellten gesellschaftlichen und politischen Ordnungs- und Herrschaftssysteme zu stabilisieren, griff die Kommunalverwaltung nicht nur auf die Polizeigewalt und die alte Honoratiorenstruktur, sondern vielmehr verstärkt auch auf die breiten Schichten der städtischen Bürgerschaft zurück. Bei den Reisunruhen im Jahre 1918 nach dem Russisch-Japanischen Krieg erreichten nun soziale und politische Spannungen und Unsicherheiten ihren Höhepunkt. Von den aus einem Dorf in Toyama ausgegangenen Unruhen war auch Ōsaka stark betroffen. Hunderte von Menschen gingen auf die Straße und forderten von den Reishändlern – auch unter Androhung von Gewalt – die Herabsetzung der Preise. Besonders stark betroffen waren die Randgebiete der Stadt und die Vororte, wo der Konzentrationsgrad der ärmeren Schichten der Bevölkerung, insbesondere der Tagelöhner und ungelernten Arbeiter besonders hoch war. Der Aufstand der in Not geratenen Bevölkerung verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit, vor allem durch die Massenmedien wie Zeitungen, aber auch persönliche Netzwerke. Die Aufständischen überfielen nicht nur Reishändler, Geschäfte und vermögende Bürger, sondern auch öffentliche Einrichtungen wie Polizeireviere. Es wurde geschätzt, dass mehr als 230.000 Menschen in Ōsaka an den Unruhen teilnahmen. Innerhalb der sechs Tage vom 11. bis 16. August wurden insgesamt 1794 Personen inhaftiert. Die Unruhen konnten erst durch massiven Militäreinsatz niedergeschlagen werHerrschaft in den Städten. Honoratioren waren diejenigen, die sowohl durch den Besitz und die Ansässigkeit, als auch durch ihre Verhandlungs- und Verwaltungsfähigkeit in der kommunalen Politik ein hohes Ansehen als Mitglieder der bürgerlichen Herrschaftsorganisation besaßen. Sie nahmen an der kommunalen Selbstverwaltung teil, sei es als Stadtverordnete oder sei es in Funktion eines Trägers verschiedener bürgerlicher Ehrenämter. Zu den Honoratioren gehörten nicht nur die sehr vermögenden Schichten der Bürgerschaft. Mittlere und kleinere Gewerbetreibende und Grundstücksbesitzer stellten vielmehr den Kern der städtischen Honoratioren dar. Während auf eine analoge Konstellation der Honoratioren in der selbstverwalteten Gemeinde im feudalen Zeitalter vor der Meiji-Restauration durchaus hinzuweisen ist, übten die Honoratioren in der Meiji- und Taishō-Zeit aufgrund der durch die Städte- und Gemeindeordnung von 1888 abgesicherten politischen Beteiligung an der kommunalen Selbstverwaltung lokale Herrschaft aus. Zur Definition und Funktion städtischer Honoratioren siehe Keiichi Harada, Nihon kindaitoshi-shi kenkyū, Kyōto 1997, S. 10 ff.; Atsuki Shibamura, Seki Hajime no toshi seisaku, in: Katsuhito Imai/Satoshi Baba (Hg.), Toshika no hikakushi, Tōkyō 2004, S. 91 ff. 26 Harada, Kindaitoshi-shi, S. 138.

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den. Diese Unruhen sind nicht nur als der Höhepunkt der sozialen und politischen Spannungen infolge der stetig zunehmenden Verarmung der unteren Schichten der Bevölkerung durch die rasch in die Wege geleitete Industrialisierung und die Urbanisierung zu verstehen; zugleich sind sie auch Ausdruck der Kritik an der Sozial- und Wirtschaftspolitik der japanischen Regierung. Als Anlass zur Einrichtung des hōmen iin-Systems in Ōsaka waren diese Reisunruhen ausschlaggebend. Denn nach diesen Unruhen erschienen sozialpolitische Maßnahmen nicht mehr als Vorsorge für die aufkommende Sozial- und Arbeiterfrage, sondern galten als Angelegenheit von allerhöchster Dringlichkeit, um die Aufspaltung der Gesellschaft in antagonistische Klassen abzuwenden oder zumindest zu entschärfen.27 Die Umsetzung umfangreicher und effektiver sozialpolitischer Maßnahmen rückte auf der politischen Agenda nach ganz oben. Die Reisunruhen hatten das Krisenbewusstsein der herrschenden Schichten und die Angst vor dem totalen Zusammenbruch der politischen und gesellschaftlichen Ordnung und Sicherheit geweckt. Die Schutzmaßnahmen für die Arbeiter vor der Proletarisierung wurden nun als das erste Ziel der Sozialpolitik angesehen. Bereits zwei Monate nach den Reisunruhen gab der Gouverneur der Präfektur Ōsaka, Hayashi Ichizō, kund, dass eine neue sozialpolitische Einrichtung unter dem Namen „hōmen iin“ ausgestaltet werde (was wortwörtlich übersetzt etwa Bezirkskomitee bedeutet). Das hōmen iin-System sollte nun als eine neue zentrale Institution der Sozialpolitik und der kommunalen Armenpflege in Ōsaka fungieren, von der erwartet wurde, neue sozialpolitische Grundlagen zu schaffen und bestehende Lücken zu schließen und Mängel zu beheben. Für Gouverneur Hayashi als oberster Verantwortlicher für das Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung in Ōsaka stand bei der Einführung des hōmen iin-Systems vor allem die Sicherheitsfrage im Vordergrund. Die Frage der Stabilität der öffentlichen Ordnung hatte für ihn zugleich eine moralische Dimension, die alle betraf, die für das Bewahren und Wiederherstellen der Ordnung ihrer lokalen Gemeinschaften mitverantwortlich waren. In diesem Sinne war es für Hayashi von entscheidender Bedeutung, dass die neue kommunale Armenpflege von einer elitären Praxis zu einem bürgerlichen Programm werden sollte, d.h. sie sollte über die bloße Wohltätigkeit der Angehörigen der Oberschicht hinaus breite Schichten der Bevölkerung für einen gemeinsamen Zweck zur kommunalen Armenpflege mobilisieren und somit zum Aufrechterhalten der öffentlichen Sicherheit in Ōsaka sowie des Staates beitragen. Zu diesem Zweck sollte eine gemeinsame 27 Vgl. Takeshi Ishida, Die Entdeckung der Gesellschaft. Zur Entwicklung der Sozialwissenschaften in Japan, hrsgg. u. aus dem Japanischen übersetzt von Wolfgang Seifert, Frankfurt a. M. 2008.

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Institution zwischen der Kommune und der Bürgerschaft geschaffen werden, um damit ein umfassendes und undurchdringliches Netzwerk in der kommunalen Armenpflege zu ermöglichen. Während Gouverneur Hayashi Richtlinien für die Organisation und Tätigkeit der hōmen iin ausgegeben hatte, spielte Ogawa Shigejirō – er war Präfekturbeauftragter für soziale Angelegenheiten und zugleich der Leiter der Armenverwaltung – eine zentrale Rolle bei der Projektentwicklung und der Umsetzung in die Praxis. Ogawa schrieb dem hōmen iin-System als einer neuen sozialen Einrichtung umfassendere Aufgaben zu, mit welchen die mit der sozialen Frage verbundenen Probleme endgültig gelöst werden sollten. In seiner Darlegung der Grundrisse des hōmen iin-Systems schenkte Ogawa dem Elberfelder Modell in Deutschland die größte Beachtung, neben anderen etablierten Modellen in westlichen Ländern und in Asien, wie dem Probation Officer im Nordamerika, dem Social Settlement Work in England, dem Block System bei der Juvenile Protective Association in Chicago, der Fünfergruppe in Japan oder deren Vorläufer, dem baojia System in China.28 Ogawa stellte sich das hōmen iin-System als eine rationale und umfassende Sozialeinrichtung vor, unter der unterschiedliche soziale Einrichtungen und Maßnahmen durch die Tätigkeit der hōmen iin als Vermittler integriert und vereinheitlicht durchgeführt werden können. Dies reichte von der Armen-, Kinder- und Jugendpflege, der Resozialisierung von Straftätern bis hin zu Einrichtungen für soziale Sanktionen durch die kommunale Selbstverwaltung wie der Fünfergruppe. Mit der Einführung des hōmen iin-Systems wurde der einzelne hōmen iin als Mitglied der Bürgerschaft in den Mittelpunkt des sozialen Kontroll- und Fürsorgesystems gerückt. Das Funktionieren und die Erfolge des Systems wurden vom Engagement und von der Fähigkeit einzelner hōmen iin abhängig gemacht.29 Ein Erfolg wäre nicht zu erwarten, wenn man sozusagen alten Wein in neue Schläuche gefüllt hätte. Jeder einzelne hōmen iin sollte sich selbst, so Ogawa, von seiner Pflicht zum sozialen Dienst überzeugen lassen, damit er sich bereit fühle, mit gutem Gewissen für das allgemeine Wohl zu arbeiten. Nur auf diese Weise würde es dem einzelnen hōmen iin gelingen, ein 28 Vgl. Maik Hendrik Sprotte, Ein „Einig Volk von Brüdern“? Techniken der Mobilisierung und Solidarisierung in Nachbarschaften, in: Ders./Tino Schölz (Hg.), Der mobilisierte Bürger? Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Partizipation im Japan der Kriegszeit (1931–1945), Halle 2010, S. 23–33. 29 Freilich stand die ehrenamtliche Tätigkeit der Armenpfleger auch im Vordergrund seiner Betrachtung des Elberfelder Modells. Hierbei war allerdings kaum von der bürgerlichen Selbstverwaltung in Deutschland die Rede, sondern es ging dabei vielmehr um das hohe gesellschaftliche Ansehen des Ehrenamtes.

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hohes soziales Ansehen und die nötige Autorität zu etablieren, um das hōmen iin-System in die Lage zu versetzen, als Zentrum gesellschaftlicher Sanktionen – nicht zuletzt den „unwürdigen“ Armen gegenüber – zu fungieren. Das hōmen iin-System galt demnach als eine neue Sozialeinrichtung sowohl für die unteren Schichten der Bevölkerung als auch für die als hōmen iin beteiligten Mitglieder der Bürgerschaft. Für die Armen bot es prinzipiell eine Hilfe zur Selbsthilfe an, für die beteiligten Helfer eine gemeinsame Plattform, wo jeder einzelne hōmen iin zu einem guten und tüchtigen Bürger werden konnte. Die Bevölkerungsentwicklung in Köln nach der Reichsgründung war unmittelbar bedingt durch das räumliche Wachstum der Stadt. Während die Bevölkerung der Stadt zwischen 1815 und 1871 von 49.276 bis auf 129.233 Einwohner zunahm, schwächte sich das Bevölkerungswachstum aufgrund der noch bestehenden Festungsanlagen zunächst ab.30 In der Zeit von 1871 bis 1880 hatte die Bevölkerungsentwicklung lediglich einen Zuwachs von 12 % zu verzeichnen, der im Vergleich zu anderen Städten während des wirtschaftlichen und industriellen Aufschwungs zu Beginn der 70er Jahre wesentlich geringer ausfiel.31 Weiteres Bevölkerungswachstum wurde erst wieder durch die Beseitigung der Festungsanlagen 1883 sowie die erste große Eingemeindung der bereits industrialisierten Vororte 1888 möglich. Die Bevölkerung verdreifachte sich bis 1900 nahezu von 129.233 auf 372.552. Zusätzlich spielte beim Bevölkerungswachstum neben dem Geburtenüberschuss und den Eingemeindungen auch die Zuwanderung nach Köln eine große Rolle. Köln besaß wegen seiner geographischen Lage, seiner wirtschaftlichen Entwicklung und vor allem seines kulturellen und großstädtischen Lebens eine große Anziehungskraft sowohl auf die näheren als auch auf entferntere Gebiete.32 Die Zuwanderer wiesen eine hohe Fluktuation auf, jährlich verließ etwa ein Drittel wieder die Stadt. Innerhalb Kölns lässt sich ebenfalls eine gesteigerte Binnenmobilität feststellen, die auch die innerstädtischen Quartiere betraf. Innerhalb Kölns wechselte mehr als ein Drittel der Bevölkerung den Wohnort, meistens infolge eines Arbeitsplatzwechsels.33 30 Vgl. Klara van Eyll, Wirtschaftsgeschichte Kölns vom Beginn der Preußischen Zeit bis zur Reichsgründung, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Zwei Jahrtausende Kölner Wirtschaft, Bd. 2, Köln 1975, S. 163–266, hier S. 165 ff.; Karlbernhard Jasper, Der Urbanisierungsprozess am Beispiel der Stadt Köln, Köln 1977, S. 37 ff.; Henning, Stadterweiterung, S. 269 ff. 31 Jasper, Urbanisierungsprozess, S. 37 ff. 32 Ebd., 54 f. 33 Die Umzugsquote der gesamten Bevölkerung lag nach Jasper im Durchschnitt der Jahre 1891 bis 1910 bei über 40 % (ebd., S. 59); vgl. auch Henning, Stadterweiterung, S. 283.

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Das rapide Bevölkerungswachstum führte auch zu einer deutlichen Veränderung der Berufs- und Sozialstruktur der Kölner Bevölkerung.34 Die Zusammenstellung der Einwohner nach Berufszugehörigkeit macht deutlich, dass sich der Anteil der Arbeiter durch die Eingemeindung der industrialisierten Vororte fast verdreifachte. Im Jahre 1895 stellten damit die Arbeiter mit ihren Angehörigen fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung Kölns. Der Anteil der Arbeiter überstieg jedoch die Marke von 50 % der Bevölkerung auch über die Jahrhundertwende hinaus nicht, während der Rückgang des Anteils der Selbständigen auffällig ist. Neben dem Rückgang des Anteils der Selbständigen ist ferner die Zunahme des Anteils der Angestellten nicht zu übersehen. Bis 1907 verdoppelte sich sowohl deren Anzahl als auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, während sich das Wachstum der Arbeiterschaft nach 1895 deutlich abschwächte. Der kräftige Anstieg des Anteils der Angestellten stützte sich sowohl auf die Entwicklung Kölns als Banken-, Versicherungs- und Handelszentrum als auch auf eine wachsende Gruppe von technischen und kaufmännischen Angestellten im industriellen Bereich.35 Für die Einkommensverhältnisse zwischen 1871 und 1914 hat Henning eine allgemeine Realeinkommensverbesserung um etwa 37 % bei den Lohneinkommensbeziehern festgestellt. Berücksichtigt werden müssen hierbei noch die allgemeine Erhöhung des Grundbedarfs und eine zunehmende Differenzierung des Lohnniveaus durch Spezialisierung sowie Qualitätsunterschiede.36 Im Jahre 1910 verdiente der größte Teil der Arbeiter etwa zwischen 900 und 1300 Mark, während Angestellte, untere Beamte sowie der überwiegende Teil der selbständigen Handwerker und Kleingewerbetreibenden ein Jahreseinkommen zwischen 1500 bis 3000 Mark hatten. Der oberste Teil dieser Berufsgruppen könnte damit bereits relativ gutsituierten Schichten zugeordnet werden.37 Ab 1860 tauchte der „neue Mittelstand“ als Bezeichnung für entlohnte Angestellte in den Statistiken der Stadt Köln auf, seit den 80er Jahren gewann

34 Vgl. Henning, Stadterweiterung, S. 248 ff.; vgl. auch Jasper, Urbanisierungsprozess, S. 99 ff. 35 Ebd., S. 285; vgl. auch Jasper, Urbanisierungsprozess, S. 101 ff. 36 Ebd., S. 334 ff. 37 Ebd., S. 338 f.; gegen die Jahrhundertwende rechnete Schmoller diejenigen zum gehobenen Mittelstand, deren Jahreseinkommen über 2700 Mark lag. Gustav Schmoller, Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Hat er im 19. Jahrhundert zu- oder abgenommen?, in: Die Verhandlungen des achten evangelisch-sozialen Kongresses. Abgehalten zu Leipzig am 10./11. Juni 1897, Göttingen 1897, S. 132–161, hier S. 157.

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er zunehmend an Bedeutung.38 Damit fungierte er zusammen mit dem altem Mittelstand als ein gesellschaftlicher Puffer oder als „Zwischenschicht“ gegen die Polarisierung zwischen Kapitalisten und proletarisierten oder sich proletarisierenden Arbeitern.39 Nicht zuletzt erwuchsen aus dem alten Mittelstand – Handwerker und kleine Kaufleute – ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die unternehmerischen Aufsteiger, die durch Erfindung oder Innovation vorhandener Technologien einen großen Erfolg erzielt hatten:40 Seit den 50er Jahren entwickelten sie sich allmählich zur treibenden Kraft des wirtschaftlichen Wachstums Kölns von unten. Ihrem wirtschaftlichen Erfolg entsprechend behaupteten sie sich nun in ihrer Stellung gegenüber den alten bürgerlichen Eliten. Für das Kölner Establishment war gesellschaftliche wie politische Präsenz dieser neuen Aufsteiger nicht mehr zu ignorieren.41 Was das politische Leben der Kölner Bürger angeht, verfügten nicht alle Einwohner der Stadt über das Bürgerrecht, was Voraussetzung für Rechte und Pflichten in der kommunalen Selbstverwaltung war. Das entscheidende Kriterium für den Zugang zum Bürgerrecht und das damit verbundene Wahlrecht für die Gemeindevertretung waren immer noch Vermögen und Hausbesitz. Das kommunale Wahlrecht beruhte auf dem durch die Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vom 23. Juli 1845 eingeführten Dreiklassenwahlrecht, das das politische Leben der Kölner Bürger bis zum Niedergang des Kaiserreichs wesentlich bestimmte.42 Dabei wurde das Wahlrecht nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugestanden. Innerhalb der Wahlberechtigten gab es zudem große Unterschiede in der Stimmgewichtung und eine starke Diskrepanz der sozialen Verhältnisse. Das wirtschaftliche Wachstum der Stadt von 1871 bis 1914 spiegelte sich in der Entwicklung der Wahlbevölkerung wider.43 Unmittelbar nach der Eingemeindung der Vororte von 1888 hat sich die Anzahl der Wahlberechtigten in der dritten Wählerklasse fast verdoppelt. Nach der Senkung des Zensus der dritten Wählerklasse im Jahre 1891 stieg die Zahl der Wahlberechtigten weiter.44 Der Anteil der in der dritten Wähler38 Pierre Ayçoberry, Köln zwischen Napoleon und Bismarck. Das Wachstum einer rheinischen Stadt, Köln 1996, S. 336; vgl. ders., Der Strukturwandel im Kölner Mittelstand 1820–1850, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 78–98. 39 Henning, Stadterweiterung, S. 286. 40 Mergel, Konfession, S. 118 ff. 41 Ebd., S. 120. 42 Vgl. Deres, Kölner Rat, S. 10 ff.; HAStK (Hg.), Stadtrat, Stadtrecht, Bürgerfreiheit. Ausstellung aus Anlaß des 600. Jahrestages des Verbundbriefes vom 14. September 1396, Köln 1996, S. 183 ff. u. 220. 43 HAStK, Stadtrat, 185 ff. 44 Vgl. ebd.; Lenger, Bürgertum, S. 117.

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klasse versammelten Wahlberechtigten an der gesamten Wählerschaft nahm damit deutlich von 79 % auf 91 % zu. Bis vor dem ersten Weltkrieg besaßen nun etwa 18 % der Gesamtbevölkerung das Wahlrecht. Damit verfügte auch ein größerer Teil der männlichen Arbeiter über die Möglichkeit zur politischen Partizipation.45 Seit dem Ende der französischen Herrschaft stand diese Kölner Bürgerschaft immer im Zentrum der öffentlichen Armenpflege, denn die Armenpfleger rekrutierten sich vor allem aus der Mitte der Kölner Bürgerschaft. Sie spielte eine Zentralrolle bei der Reform der kommunalen Armenpflege von 1888, neben der Initiative und Bestrebung der Stadtverwaltung und der von Liberalen dominierten Stadtverordnetenversammlung. Jahrzehntelang war ihr jedoch ein wesentlicher Teil von Mitbestimmungskompetenz und Selbständigkeit geraubt worden.46 Denn im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der Armenverwaltung und Stadtverwaltung respektive der Gemeindevertretung war die kommunale Armenpflege zwar dezentral und selbständig verwaltet. Hinsichtlich ihrer Binnenstruktur war jedoch eine hierarchische Aufgliederung, ein zentralisierter Geschäftsgang sowie die Einflusslosigkeit der Armenpfleger auf die Entscheidungsprozesse nicht zu übersehen. Zudem war eine untrennbare Verflechtung bürgerlicher und kirchlicher Elemente von wesentlicher Bedeutung für die öffentliche Armenpflege. Dieser bürgerlich-kirchlichen Armenpflege stand in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts die Stadtverwaltung immer konfrontativer gegenüber, die nach einer Integration der Armenverwaltung in die Stadtverwaltung und somit einer Kommunalisierung der Armenfürsorge strebte. Bei der Integration und der Kommunalisierung der Armenverwaltung ging es weder nur um die Ansprüche auf Führung und Vermögen der Armenverwaltung noch um eine Reform zur besseren Armenpflege, sondern es handelte sich dabei um nicht weniger als den Kampf zwischen zwei sich gegenüberstehenden bürgerlichen Wertvorstellungen – katholisch konservative und katholisch liberale – über die kommunale Armenpflege. Die Stadtverwaltung versuchte die kommunale Armenpflege durch die Beschränkung der Einflussmöglichkeiten der Geistlichen und Appelle an das Pflichtbewusstsein der Bürgerschaft zu einem reinen bürgerlichen System umzugestalten. Denn der Auffassung der Stadtverwaltung nach bestand in Köln eine Art „symbiotischer Beziehung“ zwischen der Geistlichkeit und den städtischen Armen, die zu einer erheblichen Demoralisierung der Notleidenden führe und damit eine

45 Vgl. Henning, Stadterweiterung, S. 338. 46 Vgl. Mettele, Bürgertum, S. 140.

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große Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft darstelle.47 Dagegen galt dem katholischen Glauben treuen Bürgern die kommunale Armenpflege als das Werk christlicher Karitas, und sie machten scharfe Front gegen die Ausschließung der religiösen Elemente aus der öffentlichen Armenpflege. Das Elberfelder System erschien der Stadtverwaltung als ein Vorbild zu einer Reorganisation der kommunalen Armenpflege von einer bürgerlichkirchlichen zu einer bürgerlichen Armenpflege. Denn das Elberfelder Modell wurde als Inbegriff einer auf Grundlage des Ehrenamtes getragenen städtischen Selbstverwaltung gesehen, worauf aufbauend sich eine von ehrenamtlichen Organen getragene Armenpflege entwickelte. Mit der Unterstützung der preußischen Regierung gelang es der Stadtverwaltung nun, die Armenverwaltung zu kommunalisieren. Bei der Integration der Armenverwaltung von 1871 wurde das Elberfelder Modell eingeführt, dessen Grundprinzip sich wesentlich auf die bürgerliche Selbstverwaltung stützte.48 Der Einfluss der katholischen Kirche auf die öffentliche Armenpflege wurde beseitigt. Das neue System der kommunalen Armenpflege wurde zwar nach dem Elberfelder Modell konstituiert, allerdings bis auf dessen Dezentralisierungsprinzip, denn die Selbständigkeit und die Mitentscheidungskompetenz über die Gewährung der Unterstützung seitens der Armenpfleger, die nun gesetzlich zur Übernahme dieses Ehrenamtes verpflichtet waren, wurde nicht im vollen Umfang eingeräumt, wie es dem Elberfelder Modell entsprochen hätte. Dafür war die Neigung zur Zentralisierung der kommunalen Armenpflege seitens vor allem der Gemeindevertretung nicht zu übersehen, welche nun unter eigener Regie die Umgestaltung der kommunalen Armenpflege ausführen wollte. Eine starke Zentralisierungstendenz und wenige Einflussmöglichkeiten der bürgerlichen Armenpfleger auf die öffentliche Armenpflege führten schließlich zu Dissonanzen zwischen der Armendeputation sowie der Gemeindevertretung einerseits und den Armenbezirken andererseits. Die öffentliche Armenpflege wurde nicht selten durch ihre Mängel oder Arbeitsniederlegung der Armenpfleger lahm gelegt. Es wurde auch für diesen Zeitraum ein Anstieg 47 Norbert Finzsch, Obrigkeit und Unterschichten. Zur Geschichte der rheinischen Unterschichten gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1990, S. 46. 48 Grundsätzlich dazu Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Stuttgart 1988; Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, 2. überarb. Aufl. Opladen 1994; Rolf Landwehr/Rüdeger Baron (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien ihrer Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, 3. Aufl. Weinheim 1995, hier bes. S. 22 ff.; vgl. auch Emil Münsterberg, Das Elberfelder System. Festbericht aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens der Elberfelder Armenordnung, Leipzig 1903.

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der Unterstützten und ein Steigen der Armenlast für die Stadt trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits begonnenen Auswirkungen der Sozialgesetzgebung festgestellt.49 Angesichts dieser Missstände wurde den Beteiligten klar, dass eine grundlegende Umgestaltung der kommunalen Armenpflege in die Wege geleitet werden musste. Die zentrale Aufgabe dabei war es, zwei anscheinend widersprüchliche Elemente in Einklang zu bringen, und zwar Dezentralisierung und Verbürgerlichung auf der einen Seite und Rationalisierung und Professionalisierung auf der anderen Seite.

3. Organisationsstruktur der städtischen Armenpflege Das hōmen iin-System in Ōsaka war konstruiert als eine gemeinsame Plattform für die Partizipation der städtischen Bürgerschaft an und Zusammenarbeit mit der Kommune. Es gründete sich auf vorhandene Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung. Dabei handelte es sich jedoch weder um einen Zusammenschluss der städtischen Einwohner auf freiwilliger Basis noch um die Wahrnehmung bürgerlicher Ehrenämter auf der Basis bürgerlicher Rechte und Pflichten, welche in der Städte- und Gemeindeordnung von 1888 vorgesehen waren. Das System lässt sich also weder als staatlich verordnete Institutionsgründung von oben beschreiben, noch als Initiative, die von der freiwilligen Basis städtischer Einwohner ausging. Auch wenn das System durch eine staatliche Maßnahme initiiert wurde, bleibt der Aspekt der bürgerschaftlichen Selbstbeteiligung als wesentliche Stütze unverkennbar. Bei der Zusammenarbeit und der Durchführung der Aufgaben wurden ein hohes Maß an Eigeninitiative und Engagement der als hōmen iin tätigen Bürger erwartet, ohne die das System auf Dauer nicht hätte funktionieren können. Das hōmen iin-System gewährte den einzelnen Bürgern große Spielräume, damit sie entsprechend den lokalen Bedürfnissen und Interessenverhältnissen eine individuelle Armenpflege gestalten und praktizieren konnten, auch wenn sie den gegebenen politischen und sozialen Rahmenbedingungen Rechnung tragen mussten. Der Träger des Systems, die städtische Bürgerschaft, ist deswegen nicht bloß als Objekt der politischen Mobilisierung zu verstehen. Sie engagierte sich auch aus eigener Initiative und eigenem Interesse für die Aufgaben der 49 Jakob Zimmermann, Die Armenpflege der Stadt Köln, in: Eduard Lent (Hg.), Köln in hygienischer Beziehung. Festschrift für die Teilnehmer an der XXIII. Versammlung des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege zur Feier des XXVjährigen Bestehens des Vereins, Köln 1898, S. 197–208.

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hōmen iin und gestaltete damit die kommunale Armenpflege aktiv mit. Die Organisation des hōmen iin-Systems war weder der Armenverwaltung der Präfektur Ōsaka untergeordnet noch galt sie als Exekutivorgan der Armenverwaltung. Das hōmen iin-System war als eine Art halbamtlicher Ausschuss unter der Autorität des Gouverneurs zu verstehen, in dem sich freiwillige Bürger und Beamte aus der Präfektur sowie der Stadt Ōsaka zusammenschlossen. Kurz nach der Bekanntmachung vom Gouverneur Hayashi wurden insgesamt 35 Armenbezirke, hier Hōmen genannt, eingerichtet und etwa 500 Bezirkspfleger als hōmen iin vom Gouverneur mit ihrer Aufgabe betraut. Die Bezirke waren zunächst in Industrie- und Arbeitervierteln sowie in Randgebieten angesiedelt, wo der Anteil von Zuwanderern und Arbeitern als besonders hoch eingeschätzt wurde. In den 35 Armenbezirken waren 155.049 Haushalte bzw. 621.872 Familienmitglieder erfasst, während im Jahre 1917 die gesamte Haushalts- bzw. Einwohnerzahl in der Präfektur Ōsaka 545.267 bzw. 2.754.090 betrug. Bei der Wahl des Bezirksvorstehers wurde ein Kooptationsprinzip eingeführt, d.h. Bezirksvorsteher sollten auf Grundlage der Empfehlung der hōmen iin durch den Gouverneur zum Vorsteher ernannt werden. Die Empfehlung der hōmen iin galt dabei als bindend, was zur Stärkung der Selbständigkeit der Bezirkskommission gegenüber der Verwaltung beitrug. Als eine zentrale Schnittstelle zwischen den Bezirken und der Präfektur bzw. der Stadt Ōsaka sollte in der Regel einmal im Monat eine Bezirksvorsteherversammlung stattfinden. In ihr waren alle Bezirksvorsteher sowie bis zu zwanzig hōmen iin aus den „Tsuki-ban“ (d.h. monatlich) diensthabenden Bezirken und die Präfekturbeauftragten mit gleichem Stimmrecht vertreten, die zum Erfahrungsaustausch und zur Beschlussfassung über alle Angelegenheiten der Unterstützungsleistungen zusammentrafen. Ebenfalls anwesend waren weitere Vertreter und Gäste aus allen Bereichen der Wohlfahrtspflege und Armenfürsorge. Auf diese Diskussionsrunden wurde großer Wert gelegt, wurde ihr Verlauf protokolliert und in gedruckter Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Bezirksvorsteherversammlung galt nicht nur als das zentrale Beschlussfassungsorgan, welches zur Vereinheitlichung der Aktivitäten des hōmen iin-Systems beitragen sollte. Sie galt vielmehr als eine der einflussreichsten Ausbildungsinstitutionen, die als eine praktische „Sozialuniversität“ (Ogawa) zu bezeichnen sei, in der die reine und erhabene Idee des Sozialdienstes und dessen praktischer Inhalt dem einzelnen hōmen iin wie auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und verbreitet wurde. Einerseits stand bei den Institutionalisierungsprozessen des hōmen iin-Systems die Initiative der Präfektur Ōsaka im Vordergrund. Dies wurde durch die Verwaltung stärker zum Ausdruck gebracht, indem sie die Einrichtung des Systems als

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„dankbare Gabe durch die Obrigkeit“ bezeichnete.50 Auf der anderen Seite war Streben nach Eigenständigkeit seitens der Bezirke auch nicht zu übersehen. Als Beispiele dafür sind hier die Gründung einer Stiftung sowie Einrichtung eines Hilfsorgans zu benennen, indem die Bezirke aus eigener Initiative nach Etablierung der Grundlage für ihre Tätigkeiten strebten. Auch einzelne Bezirksvorsteher versuchten ihre Eigenständigkeit soweit wie möglich über die Neugründung eines eigenen ständigen Organs abzusichern, welches zur Stärkung ihrer Eigenständigkeit und vor allem ihres Mitspracherechtes gegenüber der Armenverwaltung beitragen sollte. In jedem Bezirk waren in der Regel zehn bis fünfzehn hōmen iin zu bestellen, welche aus dem Kreis von Kommunalbeamten, Polizisten, Lehrern und freiwilligen Bürgern rekrutiert werden sollten. Jeder hōmen iin wurde direkt vom Gouverneur ernannt, die Übernahme des Amtes erfolgte ehrenhalber und unentgeltlich. Es bestand allerdings auch keine ausdrückliche Verpflichtung, das Amt des hōmen iin zu übernehmen. Unter den hōmen iin wurde die Überzeugung geteilt, dass sie unmittelbar unter der Autorität und dem Schutz des Gouverneurs standen. Dieses Verständnis diente ihnen einerseits als Quelle ihrer Existenzberechtigung sowie des Ehrgefühls und wirkte sich zugleich zugunsten der Wahrung ihrer Position gegenüber Dritten, insbesondere der Armenverwaltung aus. In Personalfragen hielt es die Armenverwaltung für schwierig, selbst desinteressierte hōmen iin durch ihre Verfügung zu entlassen, während seitens der Bezirksvorsteher die Ansicht vertreten wurde, dass Personalangelegenheiten eine Sache der Kompetenz der Bezirksvorsteher sein sollten. Hinsichtlich der Bedeutung des Ehrenamtes scheint man bei der Einführung des hōmen iin-Systems analog zu den Konstruktionsprinzipien des Elberfelder Systems vorgegangen zu sein. Das Prinzip der ehrenamtlichen Tätigkeit wurde als der geistige Grundpfeiler des hōmen iin-Systems postuliert. Von den hōmen iin wurde bei der Ausübung ihres Amtes der absolute Verzicht auf persönlichen Ehrgeiz und Belohnung jeglicher Art verlangt. Obwohl die Berufung durch den Gouverneur bereits faktisch als eine hohe Anerkennung galt und die hōmen iin selbst ihrem gesellschaftlichen Status entsprechendes Ansehen genossen, war darüber hinaus der Wunsch nach Anerkennung und Ansehen für Amt und Tätigkeit seitens der hōmen iin nicht zu übersehen. Ein gewisses Geltungsbedürfnis und der Wunsch nach Anerkennung der ehrenamtlichen Tätigkeit der hōmen iin wurden in gewissem Maße akzeptiert und honoriert. Es wurde dabei aber zugleich angemahnt, dass das Ehrenamt nicht rein eigennützig ausgeübt werden dürfe, um sein gesellschaft50 Ōsaka Prefectural Archives, Best. B1–2007–2, Nr. 86: Nishi-ku nai hōmen iin secchi ni kansuru ken chōsa fukumei.

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liches Ansehen zu steigern und daraus politisches Kapital zu schlagen. Eine Untersuchung der Ergebnisse der Stadtverordnetenwahl der Stadt Ōsaka von 1925 bis 1933 ergab jedoch, dass das Amt eines hōmen iins durchaus als Einstieg in eine erfolgreiche politische Karriere dienen konnte. Nach dieser Untersuchung stieg die Zahl der neugewählten Stadtverordneten, welche das Amt eines hōmen iins bekleideten, von 13 auf 20 unter den insgesamt 88 Stadtverordneten.51 Obwohl umgekehrt betrachtet der Anteil der Stadtverordneten unter den hōmen iin insgesamt verhältnismäßig gering war, welcher im Jahre 1925 den Anteil von etwa 2,5 % – allerdings mit steigender Tendenz – ausmachte, war die politische wie gesellschaftliche Bedeutung des Amtes im Vergleich zu anderen bürgerlichen Ehrenämtern in der kommunalen Selbstverwaltung nicht zu unterschätzen. In Köln wurden am 27. Januar 1888 die neue Armenordnung, die Geschäftsordnung für die Armendeputation sowie die Geschäftsanweisung für die Armenbezirksvorsteher und Armenpfleger nach längeren Vorberatungen und nach ausführlichen Verhandlungen umgesetzt. Durch die neue Armenordnung wurden 48 neue Armenbezirke eingerichtet und die hierfür benötigten Armenbezirksvorsteher und Armenpfleger aus der Bürgerschaft gewählt. Bei der Armendeputation fand auch eine Vereinfachung und Rationalisierung der Amtsgeschäfte statt, indem aus den bisherigen drei Abteilungen zwei größere, je aus acht Mitgliedern bestehende Abteilungen gebildet wurden. Dezentralisierung der Entscheidungskompetenz, Quartierarmenpflege und ehrenamtliche Tätigkeit der Armenpfleger, welche als wesentliche Grundprinzipien des Elberfelder Systems galten, stellten auch in Köln die Grundlage der neuen Armenordnung dar, um individualisierte und gezielte Unterstützungsleistungen zu gewährleisten. Anders als in Elberfeld wurden aber in Köln besoldete Fachkräfte eingeführt, denn die Armendeputation hielt die Beamten für zeitgemäß und für ein Funktionieren der bürgerlichen Armenpflege für unverzichtbar. Trotz der Institutionalisierung der Zusammenarbeit mit besoldeten Fachkräften blieb man aber dem ehrenamtlichen Prinzip der kommunalen Armenpflege weiterhin treu. Es wurde beabsichtigt, durch eine klare Arbeitsteilung zwischen den ehrenamtlich tätigen Bürgern und den Fachbeamten eine Grundlage effektiver und vertrauensvoller Zusammenarbeit zu schaffen, indem man den Fachbeamten eine unterstützende Rolle ohne jegliche Aufsichtsfunktion über die

51 Vgl. Ashita Saga, Ōsaka-fu hōmen iin no katsudō to toshi chiiki shakai, in: Ders., Kindai Ōsaka no toshi shakai kōzō, Tōkyō 2007, S. 257–288, hier S. 280 ff.

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ehrenamtlich tätigen Bürger zuschrieb.52 Ein gemeinsamer Geist und eine übereinstimmende Anschauung zwischen der Armendeputation und den ehrenamtlich tätigen Bürgern auf der Basis der kommunalen Selbstverwaltung sollten deswegen stets sorgfältig gepflegt werden,53 um damit das Engagement der Bürgerschaft für das öffentliche Armenwesen über die gesetzliche Pflicht hinausgehend dauerhaft aufrechterhalten zu können. Die Bedeutung des bürgerlichen Engagements für die kommunale Armenpflege wurde auch in den Debatten in der Stadtverordnetenversammlung deutlich zum Ausdruck gebracht. Solches Engagement war nicht nur deswegen wichtig, um die Armen durch das moralisch-sittliche Einwirken der Armenpfleger wieder zu einer selbständigen bürgerlichen Lebensführung anzuleiten. Durch die bürgerliche Armenpflege sollte gemeinwohlorientiertes bürgerliches Engagement belebt werden, um damit bürgerliche Wertvorstellungen und somit den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft zu bewahren. Während die Reform von 1888 eine Grundlage für die bürgerliche Armenpflege legte, sicherte die gesellschaftliche Einbettung durch das Engagement der Bürgerschaft die dauerhafte Funktionsfähigkeit des neuen Systems. Ohne das freiwillige engagierte Mitwirken der Bürger hätte das neue System leicht zum Erliegen kommen können, denn dem einzelnen Armenpfleger wurde nun mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortung übertragen. Bereits während der jahrelangen Zusammenarbeit und Auseinandersetzung zwischen den Armenbezirken und der Armendeputation seit der Kommunalisierung des Armenwesens von 1871 war durch die Armenbezirke nicht selten die Bereitschaft zur aktiven Beteiligung an der Mitgestaltung der kommunalen Armenpflege zum Ausdruck gebracht worden. So konnte sich z.B. die Armendeputation erst mit der Unterstützung durch die Bezirksvorsteher mit dem Vorhaben der Einführung besoldeter Fachkräfte gegenüber der Stadtverordnetenversammlung erfolgreich durchsetzen. Bei dem Reformprozess handelte es sich deswegen nicht um einen einseitigen Institutionalisierungsprozess von oben nach unten, sondern die Bürgerschaft hatte ebenfalls ihren Anteil am gesamten Gestaltungsprozess der neuen Armenordnung; sie übte sogar einen gewissen Einfluss auf die Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung aus. Ohne das Engagement der Bürgerschaft hätte die Reform von 1888 in ihrem vollen Umfang nicht umgesetzt werden können. Ein Misserfolg des neuen Systems der kommunalen Armenpflege hätte sich schnell als ein gravierender 52 Vgl. Karl Brinkmann/Jakob Zimmermann, Ehrenamtliche und berufsamtliche Thätigkeit in der städtischen Armenpflege, Leipzig 1894, hier S. 31 ff.; Sachße, Mütterlichkeit, S. 43 ff. 53 Bericht über die Verwaltung des Armenwesens von 1888/1889, S. 62.

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Fehlschlag der bürgerlichen Armenpflege erweisen können und zwangsläufig zur Folge gehabt, dass die kommunale Armenpflege hätte bürokratisiert und professionalisiert werden müssen.

4. Sozialstruktur der Bürger in der städtischen Armenpflege Hinsichtlich sowohl der Organisationsstruktur des hōmen iin-Systems in Ōsaka wie auch der Autoritäts- und Legitimationsmechanismen des Ehrenamtes eines hōmen iins treten auf den ersten Blick Momente vertikaler Kanalisierung und Implementierung gesellschaftlich sowie politisch dominanter Normen und Ordnungsvorstellungen in Erscheinung. Es sollten jedoch Aspekte horizontaler Kohäsion unter den hōmen iin als tragende Kräfte bürgerlicher Wertvorstellungen und Handlungsprinzipien nicht unterschätzt werden, ohne die das Funktionieren und Fortbestehen des hōmen iin-Systems nicht hätte verwirklicht werden können. Ebenfalls griffe es etwas zu kurz, wenn man die städtische Bürgerschaft als ein einheitliches soziales Gebilde verstehen und etwa von einer gemeinsamen Interessenlage oder gar von einer gemeinsamen Mentalität ausgehen würde. Die Vielfältigkeit der sozialen Verhältnisse und Interessenlage der städtischen Bürgerschaft spiegelte sich im Wandel der Konstellation der hōmen iin wider. In der Tat wurde der Großteil der ersten Generation der hōmen iin aus denjenigen Bürgern rekrutiert, welche als Honoratioren galten, die bereits ein oder mehrere weitere bürgerliche Ehrenämter bekleideten.54 Bei den Bezirksvorstehern im Jahre 1918 ist mit einem hohen Anteil Abgeordneter von mehr als 60 % deutlicher festzustellen, dass die Ober- und Führungsschichten der Stadt zu Bezirksvorstehern bestellt wurden. Sie machten mit den Bürgern in bürgerlichen Ehrenämtern etwa drei Viertel der gesamten Bezirksvorsteher aus. Bei den normalen hōmen iin sieht die Konstellation auf den ersten Blick etwas anders aus: Hier betrug der Anteil der Abgeordneten 21,6 %. Zusammen mit dem Anteil der Bürger in Ehrenämtern von 35 % nahm damit etwas mehr als die Hälfte der hōmen iin weitere öffentliche Funktionen wahr. Andererseits bildeten diejenigen, welche keine Funktionen in der kommunalen Selbstverwaltung inne hatten, mit einem Anteil von 43 % die größte Einzelgruppe. Hierbei bleibt jedoch unklar, in welchem Umfang Angehörige der Oberschichten unter den normalen hōmen iin 54 Bei den Führungsschichten handelte es sich nicht nur um die herkömmlichen Honoratioren der Gemeinde, sondern auch um aufstrebende Bürger, welche eine ihrer neuen wirtschaftlichen Kraft entsprechende Stellung in der Gemeinde in Anspruch nehmen wollten.

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vertreten waren, denn die Einkommensverhältnisse wurden hier nicht berücksichtigt. Um weitere Aussagen über die Sozialstruktur der hōmen iin treffen zu können, sind daher deren Einkommensverhältnisse genauer zu betrachten. Im Namensverzeichnis erstklassiger Zeitgenossen in Ōsaka von 1910 und 1926 sind diejenigen Bürger aufgelistet, die erstens in Ōsaka ansässig waren und zweitens entweder jährlich mehr als 21 Yen Einkommensteuer, oder mehr als 61 Yen Gewerbesteuer, oder mehr als 21 Yen Einkommensteuer und 51 Yen Gewerbesteuer zahlten (im Jahre 1918) sowie entweder mehr als 41 Yen Einkommensteuer, oder mehr als 61 Yen Gewerbesteuer gezahlt haben (im Jahre 1926). Für eine Jahreseinkommensteuer von 41 Yen musste man über ein Jahreseinkommen von mehr als 2300 Yen verfügen, während das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Haushalt von Arbeitern und Angestellten im Jahre 1934 bei etwa 1000 Yen lag.55 Man muss davon ausgehen, dass es natürlich auch Personen gab, die nicht in den Listen erfasst wurden, jedoch vom Einkommensniveau her ebenfalls den wohlhabenden Bürgern zugerechnet werden können. Anhand dieser Listen lassen sich trotzdem tendenzielle Aussagen über die Einkommensverhältnisse der hōmen iin treffen. Schaut man sich zunächst den Anteil der Bezirksvorsteher von 1918 an, die in den Listen auftauchen, fällt auf, dass bereits zwei Drittel der Bezirksvorsteher zu finden und somit dem gehobenen Bürgerstand zuzuordnen sind. Die überwiegende Mehrheit der Bezirksvorsteher entstammte der Oberschicht. Von den insgesamt 386 hōmen iin lassen sich 185 in den Listen nachweisen, was mit 47 % fast die Hälfte ist. Im Vergleich zu den Bezirksvorstehern fällt der Anteil der hōmen iin, die als Abgeordnete tätig waren, mit 61 % gegenüber 21 % deutlich geringer aus, wogegen der Anteil derjenigen, die ein weiteres Ehrenamt bekleideten, mit 35 % gegenüber 14 % zugunsten der hōmen iin höher ausfällt. Aus diesen Auswertungen ist zu folgern, dass der Großteil der Bezirksvorsteher tatsächlich aus den oberen vermögenden Schichten rekrutiert wurde, während bei den hōmen iin zwar eine ähnliche Tendenz festzustellen ist, dabei jedoch der städtische Mittelstand etwas mehr ins Gewicht gefallen sein dürfte. Um das Bild des städtischen Mittelstandes unter den hōmen iin mehr ins Licht zu rücken, muss die Berufsstruktur der hōmen iin in der Stadt Ōsaka konkreter in Betracht gezogen werden. Unter den Bezirksvorstehern stellen diejenigen, die einer Kategorie ohne Beruf oder Sonstiges zuzuordnen sind, mit 51 % die Mehrheit dar, und zwar mit großem Abstand zur nächst größeren Gruppe derjenigen, die in Handel 55 Kiyoko Eitō/Kayō Shintaku, Formation of Suburban Life Culture in Osaka and Kobe Region from the Viewpoint of Income Tax in the Gentleman Record, in: Kōshien tanki daigaku kiyō 28 (2010), S. 15–22, hier S. 17 ff.

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und Dienstleistung tätig waren (28 %). Genau die Hälfte der unter der Kategorie ohne Beruf und Sonstige Erfassten ist wiederum in den Listen erstklassiger Zeitgenossen zu finden, während zugleich fast alle Bezirksvorsteher, welche sich in die Kategorien Handel und Dienstleistung sowie Industrie und Unternehmer einordnen lassen, ebenfalls in den Listen zu finden sind. Die Bezirksvorsteher verfügten demnach sowohl über hohes gesellschaftliches Ansehen als auch über ein hohes Maß an freien Ressourcen wie Geld und auch Zeit. Im Kontrast zur beruflichen Struktur der Bezirksvorsteher haben unter den üblichen hōmen iin diejenigen, die in Handel und Dienstleistung tätig waren, mit einem Anteil von 35 % vor anderen Berufsgruppen eine Vorrangstellung. Die Gruppe ohne Beruf und Sonstige tritt hier als die zweitgrößte Gruppe auf, gefolgt von der dritten Gruppe der Beamten und Polizisten mit einem Anteil von 16 %. Die selbständigen Gewerbetreibenden und industriellen Klein- und Mittelunternehmer, zusammen mit den Vertretern aus Handel und Dienstleistung, Industrie und Unternehmerschaft sowie Grundstücks- und Hausbesitzern machen unter den hōmen iin von 1918 etwa 44 % aus. In Hinblick auf die Einkommensverhältnisse einzelner Berufsgruppen der hōmen iin lässt sich auch hier ein relativ hoher Anteil von Personen feststellen, die man im Allgemeinen als wohlhabend oder Mitglied der gehobenen Gesellschaft bezeichnen würde. Unter den normalen hōmen iin ist demnach eine analoge Tendenz zu den Bezirksvorstehern zu erkennen, auch wenn hier die Dominanz der wohlhabenden Schichten verhältnismäßig etwas geringer zum Vorschein kommt.56 Schaut man sich als nächstes die zeitliche Veränderung der Einkommensverhältnisse der hōmen iin zwischen 1918 und 1926 an, werden einige Auffälligkeiten deutlich. Sowohl bei den Bezirksvorstehern als auch den hōmen iin nimmt der Anteil der Abgeordneten von 61 % bzw. 21 % auf 7 % bzw. 2 % drastisch ab. In Hinblick auf die Einkommensverhältnisse ist ebenfalls eine große Abnahme des Anteils der Vermögenden unter den Bezirksvorstehern von 67 % auf 33 % festzustellen, während das Sinken des Anteils unter den hōmen iin von 47 % auf 40 % sich verhältnismäßig milder abzeichnet. Der Anteil der Vermögenden unter den gesamten hōmen iin einschließlich der Bezirksvorsteher sank dementsprechend von 49 % auf 40 % ab. Ein Wandel ist auch bei der Berufsstruktur nicht zu übersehen. Der Anteil der selbständigen Gewerbetreibenden und Unternehmer sowie Grundstücks- und Hausbesitzer 56 Diese Auswertung entspricht auch zum großen Teil der Selbsteinschätzung eines hōmen iins, der sich in seinen Lebenserinnerungen auch über die sozialen Verhältnisse der hōmen iin äußerte: Ōsaka-shi minsei iin seido gojyyushūnen kinen-shi henshū iinkai (Hg.), Ōsaka-shi hōmen iin minsei iin seido gojyūnen-shi, Ōsaka 1973, S. 218.

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nimmt sowohl bei den Bezirksvorstehern als auch bei den hōmen iin von 37 % bzw. 44 % auf 51 % bzw. 57 % zu, wobei allerdings eine relativ große Zunahme der Grundstücks- und Hausbesitzer auffällig ist. Der Anteil der Gruppe ohne Beruf und Sonstige sinkt von 51 % bzw. 22 % auf 31 % bzw. 13 %, während der Anteil der Polizisten und Beamten bei den hōmen iin ebenfalls von 16 % auf 11 % abnimmt. Diese Tendenz setzte sich im zunehmenden Maße fort.57 Im Jahre 1936 liegt der Anteil der selbständigen Gewerbetreibenden einschließlich der industriellen Unternehmer sowie Grundstücks- und Hausbesitzer bei etwa 74 %, während Ärzte, Angestellte und Geistliche etwa 8 % sowie diejenigen ohne Beruf etwa 6 % ausmachten. Polizisten und Beamte machen hierbei weiterhin konstant um die 10 % aus. Die Dominanz der selbständigen Gewerbetreibenden sowohl unter den Bezirksvorstehern wie auch unter den hōmen iin erscheint im Jahre 1936 unangefochten zu sein. Hierbei sollte man zwei unterschiedliche Kategorien unter den selbständigen Gewerbetreibenden und industriellen Unternehmern unterscheiden, auch wenn eine klare Trennlinie schwer zu ziehen ist.58 Bei der einen Kategorie handelt sich um diejenigen, die der vermögenden Oberschicht der selbständigen Gewerbetreibenden und Industriellen zuzuordnen sind. Sie schließt sich u.a. in der Industrie- und Handelskammer zusammen, so dass sie sich mehr durch ihre Engagements für Angelegenheiten auf nationalpolitischer Ebene wie etwa eine Initiative für die Abschaffung der Gewerbesteuer nach dem Russisch-Japanischen Krieg von 1905 kennzeichnen lässt. Bei der anderen handelt es sich um diejenigen selbständigen Gewerbetreibenden und Industriellen, welche im Vergleich zur ersten Kategorie als kleine und mittlere Gewerbetreibende sowie Unternehmer zu bezeichnen sind und die den Großteil dieser Gruppe ausmachen. Ihre Präsenz und Handlungsinteressen bewegten sich mehr auf lokaler Ebene. Sie engagierten sich für das Gemeinwohl und das öffentliche Interesse der Gemeinde, wie etwa eine Initiative für den Schutz der Pächter oder eine Initiative für eine anwohnergerechte Entwicklung der städtischen Infrastruktur durch Ausbau der Gas- und Elektrizitätsversorgung oder des öffentlichen Verkehrswesens. Diese Klein- und mittleren Gewerbe57 Zur Geschichte des hōmen iin-Systems im sog. Fünfzehnjährigen Krieg siehe Hideto Hiramatsu, Das kommunale Armenpflegesystem (hōmen iin seido) in der Kriegszeit Japans (1931–1945), in: Gesine Foljanty-Jost/Momoyo Hüstebeck (Hg.), Bürger und Staat in Japan, Halle a.d.S. 2013, S. 131–151. 58 Vgl. Matsuo, Taishō demokrashī, S. 126 f.; Ryūichi Narita, Taishō demokrashī, Tōkyō 2007, S. 11 ff.; Ishida, Entdeckung, S. 118 f.; zum Entstehungskontext der IHK nach dem Russisch-Japanischen Krieg vgl. Kazuhiko Mochizuki, Senkan-ki ni okeru „zaikai“ no keisei, in: Takenori Inoki (Hg.), Senkan-ki nihon no shakai shūdan to nettowāku, Tōkyō 2008, S. 239–282, vor allem S. 249 ff.

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treibenden und Unternehmer bildeten den Kern des städtischen Mittelstandes, dessen zentrale Rolle und Gewichtung in der städtischen Selbstverwaltung einst vom Journalisten und Kommunalpolitiker Miyake Iwao (1876–1935) idealerweise unter dem Begriff „Stadtbürger“ zum Ausdruck gebracht wurde.59 Anhand dieser Unterscheidung innerhalb der Kategorie „Selbständige Gewerbetreibende und industrielle Unternehmer“ wird es möglich, eine tendenzielle Verschiebung der Sozialstruktur der hōmen iin und der damit verbundenen Eigenschaften derselben noch präziser zu erörtern: Das Gewicht des städtischen Mittelstandes innerhalb des hōmen iin-Systems scheint zugenommen zu haben. Für Köln steht zur Analyse der sozialen Verhältnisse der Armenpfleger eine Liste sämtlicher Mitglieder der 24 Armenbezirke mit 24 Bezirksvorstehern und 316 Armenpflegern im Jahre 1871 zur Verfügung.60 Vergleicht man diese Liste mit dem Wählerverzeichnis (Bürgerrolle), ergibt sich über die berufliche Struktur hinaus ein genaueres Bild ihrer sozialen Verhältnisse.61 Hierbei ist eine starke Präsenz der dritten Wählerklasse bei den Armenpflegern festzustellen, während unter den Bezirksvorstehern dagegen Angehörige der ersten und zweiten Wählerklasse mehr als zwei Drittel stellten. Wenn man sich jedoch anhand der Steuerliste von 1868 und 1872 die Einkommensverhältnisse innerhalb der Armenpfleger in der dritten Wählerklasse – einschließlich der Armenpfleger, die zwar nicht im Wählerverzeichnis von 1871 zu finden, jedoch in den Steuerlisten zu identifizieren waren – genauer anschaut, treten die relativ stark differenzierten Verhältnisse auch innerhalb dieser Kategorie hervor.62 Es kamen 43 Armenpfleger allein durch ihren Hausbesitz zum Bürgerrecht. Hinzu kamen 18 Armenpfleger mit einem Jahreseinkommen von unter 400 Talern. Unter diesen 61 lagen 35 Armenpfleger unter der Schwelle eines Jahreseinkommens von 250 Talern, sie standen damit an bzw. unter der Grenze des Existenzminimums. Die zweite Gruppe der Armenpfleger verfügte über ein Jahreseinkommen von 400 bis 700 Talern und bildete mit 87 bzw. 59 Miyake geht bei seinem Stadtbürgerbegriff von denjenigen aus, welche das Bürgerrecht besitzen und somit an der kommunalen Selbstverwaltung aktiv teilnehmen (sollen). Iwao Miyake, Toshi, Tōkyō 1906, S. 89 ff. 60 HAStK, Best. 400 VIII 1B 17, Nr. 269 ff., Neues amtliches Verzeichnis der nach dem Gemeinde-Beschluss vom 15. und 22. Juni 1871 bestehenden 24 Ortsarmen-Bezirke der Stadt Köln nebst Personal-Nachweis. 61 HAStK, Best. 400 VIII 1B 17, Nr. 269 ff.; Verzeichnis der Gemeinde-Wähler der Stadt Köln, Köln 1871. 62 Namentliches Verzeichnis der für das Jahr 1868 bzw. 1872 zur Gemeinde-Einkommensteuer eingeschätzten Steuerpflichtigen der Stadt Köln.

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44 % die größte Gruppe. Die dritte Gruppe mit einem Jahreseinkommen von über 700 Talern blieb mit 42 Armenpflegern bzw. 21 % eine Minorität. Wenn man jedoch die relativ wohlhabenden Armenpfleger aus der oberen Hälfte der Wahlberechtigten der dritten Wählerklasse mit den Armenpflegern in der ersten und zweiten Wählerklasse zusammenrechnet, stellten sie mit 150 bzw. 47 % die stärkste soziale Gruppe dar. Dagegen machte die untere Hälfte der Armenpfleger in der dritten Wählerklasse lediglich gut ein Viertel der gesamten Armenpfleger aus. Was die Qualität und Quantität der Armenpfleger nach 1888 betrifft, hatte die neue Organisation der kommunalen Armenpflege viel mit unerfahrenen Armenpflegern zu tun. Denn die neue Armenordnung schrieb vor, einem Armenpfleger nicht mehr als vier Unterstützungsfälle zu überweisen.63 Dies hatte zur Folge, dass man 145 zusätzliche Armenpfleger einstellen musste. Die Gesamtzahl der Armenpfleger betrug nun 641, von denen aber lediglich 188 über mehr als die gesetzlich verpflichtenden drei Jahre hinaus ununterbrochen im Amt gewesen waren.64 Bereits nach fünf Jahren vermehrte sich jedoch die Zahl der Armenpfleger, die mehr als drei Jahre kontinuierlich im Amt waren, beträchtlich. So stieg sie im Jahre 1893 von 29 % auf 60 %. Im Jahre 1908 verfügten 71 % von insgesamt 848 Armenpflegern über die Erfahrung von mehr als drei Amtsjahren. Dementsprechend stieg auch die Zahl der erfahrenen Armenpfleger, die mehr als 10 Jahre ununterbrochen im Amt waren. Sie nahm von 5 % im Jahre 1889 auf 32 % im Jahre 1908 zu. In den zwanzig Jahren nach der Reform gelang es der Stadt Köln offensichtlich, einen breiten Teil der Bürgerschaft auf Dauer für die öffentliche Armenpflege zu mobilisieren. Bei der Analyse zu Einkommensverhältnissen der Armenpfleger in Bezug auf ihre Wählerklasse65 ist zunächst auffällig, dass in den Jahren 1893 und 1898 die zweite Wählerklasse deutlich unterrepräsentiert war. Dann ist allerdings der forcierte Wechsel zugunsten der zweiten Wählerklasse im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erstaunlich. Im Jahre 1903 nahm die Zahl der Armen63 Paragraph 84 der Geschäfts-Anweisung für die Armen-Bezirksvorsteher und Armenpfleger der Stadt Köln von 1888. 64 Vgl. Bericht über die Verwaltung des Armenwesens, 1888/89, 1893/94, 1897, 1902 und 1907; HAStK, Best. 400 VIII 1B 17, Nr. 269 ff. 65 Bedingt durch die Quellenlage ist es hier allerdings nur möglich, die Entwicklung der sozialen Verhältnisse der Armenpfleger nach 1888 anhand der namentlichen Listen derjenigen Armenpfleger, die mehr als 10 Jahre ununterbrochen im Amt waren, zu untersuchen. Als Stichjahre werden 1888, 1893, 1898, 1903 und 1908 zur Untersuchung herangezogen. Vgl. Bericht über die Verwaltung des Armenwesens, 1893/94, 1897, 1902 und 1907; Bürgerrolle oder Liste der stimmfähigen Bürger der Stadt Köln, 1893, 1898, 1903, 1907 und 1909; HAStK, Best. 400 VIII 1B 17, Nr. 269 ff.

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pfleger aus der zweiten Klasse plötzlich zu, und im Jahre 1908 kletterte sie auf 59 %. Sie stellten nun eine klare Mehrheit dar, während der Anteil der Angehörigen aus der dritten Klasse schrumpfte. Diese verwirrende Erscheinung dürfte offensichtlich mit dem preußischen Einkommensteuergesetz von 1891 sowie der Neuordnung des Wahlrechtes von 1900 eng zusammenhängen.66 Die kräftige Erhöhung des Zensus zur zweiten Wählerklasse von 1891 minderte die Zahl der Wahlberechtigten in der zweiten Wählerklasse und stufte viele Bürger in die dritten Klasse herab, welche früher in der zweiten Klasse hätten wählen dürfen. Die Senkung des Zensus für die dritte Wählerklasse öffnete dagegen den Zugang zum Wahlrecht für diejenigen mit niedrigeren Einkommen. Diese gesetzlichen Regelungen hatten zur Folge, dass es in der dritten Wählerklasse eine gewaltige Diskrepanz der Einkommensverhältnisse gab.67 Die Neuordnung von 1900 ermöglichte es dagegen vielen Bürgern der vormaligen dritten Wählerklasse, deren Steuerleistung über dem Durchschnitt lag, in der zweiten Wählerklasse zu wählen, während eine weitere Absenkung des Zensus zur dritten Wählerklasse von 900 auf 660 Mark im Jahre 1907 eingeführt wurde. Die Auswirkungen der Neuordnung von 1900 werden deutlich, wenn man beachtet, dass 21 von 99 Armenpflegern in der dritten Wählerklasse von 1898 nach fünf Jahren im Jahre 1903 in die zweite Wählerklasse wechselten, sowie 23 von 113 Armenpflegern in der dritten Wählerklasse von 1903 im Jahre 1908. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich auch unter den Armenpflegern in der dritten Klasse in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl relativ wohlhabender Bürger befand. Insgesamt ist eine starke Präsenz von Armenpflegern aus der zweiten Klasse nicht zu übersehen. Deren Einkommensverhältnisse erschienen sogar noch privilegierter als in den 70er und 80er Jahren. Durch die weiteren Senkungen des Zensus für die dritte Wählerklasse erhielten weite Teile der Bevölkerung das Bürgerrecht. Sie bekamen damit auch das Recht und die Pflicht, Gemeindeämter ehrenamtlich wahrzunehmen, in unserem Fall das bürgerliche Ehrenamt eines Armenpflegers. Denn um die Jahrhundertwende war die Tür zu diesem Ehrenamt breiter geöffnet als je zuvor. Die Bürger in der dritten Wählerklasse waren allerdings unserem bisherigen Ergebnis nach nicht als Hauptdarsteller der kommunalen Armenpflege anzusehen, obwohl sie zahlenmäßig einen überwiegenden Teil der wahlberechtigten Bürger der Stadt darstellten. Die 66 HAStK, Stadtrat, S. 185. 67 In Köln wählten 1898 sowohl Arbeiter mit einem Jahreseinkommen von 900 Mark als auch der Regierungspräsident und der Oberlandesgerichtspräsident in der dritten Wählerklasse. Vgl. Lenger, Bürgertum, S. 117.

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relativ wohlhabenden Bürger vor allem aus der zweiten Wählerklasse spielten die Hauptrolle in der städtischen Armenpflege. Ihr Gewicht nahm Jahr für Jahr über die Jahrhundertwende hinaus zu. Was die Berufsstruktur betrifft,68 entstammte die Mehrheit der Kölner Bezirksvorsteher dem Wirtschaftsbürgertum. Ihre Einkommensverhältnisse lassen darauf schließen, dass sie sich in den gehobenen Kreisen des Großbürgertums bewegten.69 Tendenziell nahm der Anteil der bürgerlichen Wirtschaftselite unter den Bezirksvorstehern jedoch ab, während sich dagegen die Präsenz akademisch gebildeter, bildungsbürgerlicher Vertreter bemerkbar machte. Der Anteil des alten Mittelstandes blieb eher konstant im Vergleich zur langsamen Zunahme des neuen Mittelstandes. Insgesamt ist der Zuwachs des alten sowie des neuen Mittelstandes nicht zu übersehen, der nun etwa ein Viertel der Bezirksvorsteher ausmachte. Eine ähnliche Entwicklung ist auch bei den Armenpflegern festzustellen.70 Der Anteil des alten Mittelstandes verdoppelte sich von 23 % im Jahre 1871 auf 46 % im Jahre 1908. Die Anteile sowohl des neuen Mittelstandes als auch der Bildungsbürger gewannen aber kein bemerkenswertes Gewicht im Vergleich zu den Verhältnissen unter den Bezirksvorstehern. Der Rückgang des Anteils der Wirtschaftsbürger war dagegen stärker als es unter den Bezirksvorstehern der Fall war, er sank von 39 % im Jahre 1871 auf 30 % im Jahre 1908. Nun stellte der alte Mittelstand nach der Jahrhundertwende als die stärkste Gruppe fast die Hälfte der engagiertesten Armenpfleger. Unter den Armenpflegern des alten Mittelstandes um die Jahrhundertwende befanden sich deutlich mehr Wohlhabende als unter denen, die in der Jahrhundertmitte das Amt ausgeübt hatten.71 Die Gründe, warum der Anteil des alten Mittelstandes unter den Armenpflegern zu- und der der Wirtschaftsbürger abnahm, lassen sich nur teilweise erklären: Im Vergleich zu den meist überregional handelnden Wirtschaftsbürgern war der Handlungsraum des alten Mittelstandes meist lokal beschränkt. Als Handwerksmeister oder Kleinhändler pflegte der alte Mittelstand direkten Kundenkontakt. Seine Interessen waren daher auch stärker örtlich gebunden als bei den Wirtschaftsbürgern, die ihre Zeit häufig außerhalb ihres Wohnortes verbrachten. Die häufige Abwesenheit der Wirtschaftsbürger ließ es nicht zu, 68 Die Analyse der Berufsstruktur erfolgt nach den von Manfred Hettling entwickelten Kriterien zur Binnengliederung bürgerlicher Schichten: Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 353 ff. 69 Bericht über die Verwaltung des Armenwesens, 1893/94, 1897, 1902 und 1907; HAStK, Best. 400 VIII 1B 17, Nr. 269 ff. 70 Ebd. 71 Vgl. Mettele, Bürgertum, S. 139 f.

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die anspruchsvollen Aufgaben eines Armenpflegers zu übernehmen, der mit den Unterstützten täglich zu tun hatte. Dagegen fiel den Wirtschaftsbürgern die Übernahme des Bezirksvorsteheramtes womöglich leichter, weil dessen Aufgaben nicht den direkten und täglichen Kontakt mit den Armen erforderten und die Stellung zudem mit höherem Ansehen verbunden war. Die zunehmende Beteiligung und Bereitschaft des alten Mittelstandes in Köln, sich langjährig als Armenpfleger zur Verfügung zu stellen, kann auch als ein Ausdruck eines Bewusstseins verstanden werden, ihrem wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Aufstieg entsprechend sich als Träger der bürgerlichen Gesellschaft zu bewähren.

5. Fazit Mit der Rezeption des Elberfelder Modells fand eine Transferleistung bürgerschaftlicher Handlungs- und Deutungsformen von Deutschland nach Japan statt. In Japan war die Gefahr besonders hoch, dass die kommunale Armenfürsorge nur als gesellschaftlicher und politischer Unterdrückungs- und Exklusionsmechanismus praktiziert würde, da sowohl ältere Formen bürgerschaftlicher Tätigkeit im kommunalen Kontext deutlich schwächer ausgebildet waren als in Deutschland, als auch die liberalen Gedanken und Prinzipien selten über institutionelle Kanalisierungsmöglichkeiten verfügten und sie in höherem Maße gegenüber den staatlichen Einwirkungen verwundbar waren. Im Laufe der Modernisierungsprozesse erwuchs jedoch in den aufstrebenden bürgerlichen Mittelklassen das Selbstbewusstsein als selbständig handelnde Akteure im kommunalpolitischen Handlungshorizont. In Ōsaka fungierte das Leitbild des Elberfelder Modells, vor allem das freiwillige Engagement und die ehrenamtliche Tätigkeit, als Vehikel ihres Engagements für soziale Belange. Es diente somit als Grundlage für die allmähliche Genese eines neuen – man kann sagen bürgerlichen – Selbstverständnisses in den städtischen Mittelklassen. In beiden Städten wurde der Kern der kommunalen Armenpflege vom alten Mittelstand gestellt. In Köln wurden bis 1914 das freiwillige Engagement und die ehrenamtliche Tätigkeit der städtischen Bürgerschaft schwerpunktmäßig von den mittleren Besitzenden getragen. In Ōsaka ist nach 1918 eine ganz analoge Entwicklung zu beobachten. Der ehrenamtlichen Tätigkeit kam in beiden Städten die gleiche Bedeutung zu. Die Armenpflege mit dem neuen ehrenamtlichen Schwerpunkt fungierte dabei sowohl mobilisierend als auch legitimierend. Denn breitere Kreise als zuvor wurden nun zum Engagement, zu durchaus anspruchsvollen Handlungen zum Wohl des Gemeinwesens ge-

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führt. Die kommunale Armenfürsorge fungierte dadurch als eine Bühne für die Vergesellschaftung der städtischen Mittelklassen. Alle Beteiligten, die Armenpfleger wie die Armen, sollten dadurch die Wert- und Ordnungsvorstellungen sowie Verhaltensmuster der bürgerlichen Gesellschaft vermittelt bekommen und internalisieren. Wer sich unwillig oder unfähig zeigte, an diesem Lernprozess teilzunehmen, schloss sich aus der bürgerlichen Gesellschaft aus. Mehr noch als durch die materielle Dimension wirkte das Armenwesen dadurch als Legitimationsquelle der bürgerlichen Gesellschaft. Die kommunale Armenfürsorge stabilisierte in Köln die bürgerliche Gesellschaft in der Dynamik der Hochmoderne und gegenüber der zunehmenden Herausforderung durch die arbeitende Klasse. Das Bürgerengagement fungierte hier sowohl als Schutzmauer gegen die Armut wie als Stützpfeiler gegen eine Erosion der bürgerlichen Gesellschaft. Demgegenüber war die Konstellation in Ōsaka anders: Durch die Teilnahme an der kommunalen Armenfürsorge gelangten die städtischen Mittelklassen erstmals in größerem Maße in verantwortungsvolle Handlungspositionen, die bis dahin der Oberschicht vorbehalten gewesen waren. Daraus erwuchs in den städtischen Mittelklassen zunehmend ein auf das Gemeinwohl orientiertes Selbstverständnis und -bewusstsein und ein Zusammengehörigkeits- wie ein Zugehörigkeitsgefühl zum Gemeinwesen als politisch mündige und ökonomisch selbständige Stadtbürger über ihre ursprünglich lokal begrenzten partikularen Interessen hinaus. Auch im Ultranationalismus vor 1945 wurden Grundprinzipien des hōmen iin-Systems – Selbständigkeit, Selbstverwaltung und Eigenverantwortung – im Kern bewahrt. An diese konnte das minsei iin-System von 1948, die neue Form der öffentlichen Wohlfahrtspflege Japans, anschließen. Dabei wurde ein Großteil der Trägerschaft aus der des hōmen iin-Systems rekrutiert, welche die Prinzipien des altbewährten Systems weiterhin treu pflegte. Das hōmen iin-System galt als eine historische Wurzel des – modern gesprochen – bürgerschaftlichen Engagements in der sozialen Wohlfahrtspflege, und es war für die Ausbildung der Bürgergesellschaft im modernen Japan von großer Bedeutung. Hierbei sollte die Frage allerdings stets vor Augen behalten werden, inwieweit und in welcher Hinsicht tatsächlich von politischer Mündigkeit gesprochen werden kann in einem System der Vorkriegszeit Japans, das keine konventionelle politische Partizipation im Sinne der heutigen demokratischen Gesellschaft vorsah und auch im Bereich der kommunalen Armenpflege nur sehr beschränkt eigenständige Entscheidungsbefugnisse der Armenpfleger einräumte. Diese Frage soll in der weiteren Forschung systematisch thematisiert werden im breiteren Kontext der Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung nach 1868, und zwar im Spannungsfeld zwischen bürgerlichem

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Anspruch an Selbstregulierung einerseits und staatlichem Regulierungsanspruch an bürgerliche Selbstregulierung andererseits. Hier kann man auf diese Frage zunächst nur partiell antworten: In den Aktivitäten als Armenpfleger erwuchs in einzelnen von ihnen durch Beschäftigung z.B. mit sozialen Minderheiten durchaus ein politisches Bewusstsein. Das hōmen iin-System bot ihnen dabei, wenn auch begrenzt und nicht selten ambivalent, in legitimer Weise eine Artikulationsmöglichkeit dieses Bewusstseins.

RALF ROTH

Bürgergesellschaft und moderner Liberalismus Frankfurt am Main im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert

Wenn man von Frankfurt am Main und seiner Bürgergesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert sprechen will, muss man als erstes auf den Bruch verweisen, den die Stadt 1866 erfahren hat: ihr Ende als Freie Stadt und ihre Einverleibung in den preußischen Staat. Daraus folgten eine umfangreiche Transformation und die Neupositionierung im preußischen Staatsverband.1 Die Transformation gelang unter dem ersten der drei bedeutenden Oberbürgermeister, die die Stadt vor dem Ersten Weltkrieg hervorgebracht hat, dem unverständlicherweise meistens ungenannten Daniel Heinrich Mumm.2

1. Oberbürgermeister Mumm und die Zäsur der preußischen Annexion Mumm entstammte einer alteingesessenen Frankfurter Familie und hatte in Berlin und Heidelberg Jura studiert; er war nach seiner Promotion zunächst als Rechtsanwalt in Frankfurt tätig. 1856 trat er in den städtischen Dienst ein, und zwar erst am Stadtgericht, seit Anfang 1865 dann am Appellationsgericht. Am Ende des Jahres 1865 gelang ihm die Wahl in den freistädtischen Frankfurter Senat. Nach dem Verlust der Freistädtigkeit und Einführung der preußischen Gemeindeverfassung erfolgte am 27. November 1867 die Wahl zum Ersten Bürgermeister. Die Wahlperiode betrug zwölf Jahre, die er antreten konnte, nachdem der preußische König Wilhelm I. am Vorweihnachtstag 1867 die Frankfurter Wahl gebilligt hatte.3

1 Vgl. Ralf Roth, Die Herausbildung einer modernen bürgerlichen Gesellschaft. Geschichte der Stadt Frankfurt am Main 1789–1866, Ostfildern 2013, S. 447–503. 2 Ralf Roth, Von der freien Republik zur preußischen Provinzstadt – Die Bürgermeister Carl Konstanz Victor Fellner und Daniel Heinrich Mumm, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 73 (2012), S. 143–154. 3 Vgl. Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon, Im Auftrag der Frankfurter Historischen Kommission hrsgg. von Wolfgang Klötzer, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1994, S. 75–77.

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Er kam in einer Zeit tiefster Depression in dieses Amt. Der Verlust der politischen Selbständigkeit hing nach. Dazu kam die unscheinbare Stellung der Stadt in der Städtehierarchie Preußens.4 Angesichts der tiefen Verunsicherung und Ablehnung weiter Kreise des Frankfurter Bürgertums resultierte daraus die erste große Aufgabe Mumms: die Bürgerschaft mit den neuen politischen Rahmenbedingungen zu versöhnen und Vertrauen in die neuen Institutionen, den Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung, zu schaffen. Weiter benötigte die Stadt dringend eine Zielperspektive, und hier blieben im Grunde nur zwei Felder: Das war zum einen die Wirtschaft und zum anderen die Kultur. Mit dem Glanz wirtschaftlicher Stärke und kulturellen Attraktivitäten sollte die verlorene politische Identität eines freistädtischen Kleinstaates im Deutschen Bund kompensiert werden. Genau für diese beiden großen Problemfelder trat Daniel Heinrich Mumm mit überzeugenden Antworten hervor. Im Vordergrund stand erst einmal die Versöhnung der Stadt mit Preußen. Die Verhandlungen über die Kriegsschulden mussten zu einem Ende geführt und das städtische Vermögen in Staats- und Stadteigentum geteilt werden, dem sogenannten Teilungsrezess. Beides wurde zum Beginn des Jahres 1869 vertraglich geregelt und ging nach langem Feilschen einigermaßen glimpflich – wenn auch nicht ohne Aufregung – für die Stadt zu Ende.5 Weiterhin hat schon bald die Effizienz der 1867 eingeführten preußischen Gemeindeverfassung überzeugt, also Magistrat und Stadtverordnetenversammlung. Insbesondere die Stadtverordnetenversammlung erwies sich als großer Integrationsfaktor der verschiedenen politischen Richtungen des Liberalismus. In diesem Kontext erwies sich das von Mumm verfolgte Investitionsprogramm in den Umbau der Stadt als zweite große Klammer. Er hat es in einem Vortrag vor der Stadtverordnetenversammlung folgendermaßen zusammengefasst: „Die Zeiten sind vorüber, wo Frankfurt in einer gewissen Selbstgenügsamkeit, getragen von dem Gefühl der beiwohnenden Bedeutung, sich auf sich selbst zurückziehen und seine Entwicklung gemächlich der Zeit und der Gunst der Umstände überlassen möchte. Frankfurt hat alle Ursache, sich ernstlich zu rühren und in richtiger Erfassung der Lage und der gebotenen Mittel zu streben, einer der Zentralpunkte jenes großen Welt- und Verkehrslebens zu werden, das durch die Anreize, welches es dem

4 Roth, Herausbildung, S. 474 ff. 5 Vgl. Karl Maly, Die Macht der Honoratioren. Geschichte der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung, Band I: 1867–1900, Frankfurt a.M. 1992, S. 55–57.

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Vermögenden bietet, fähig ist, die Vorteile der Freizügigkeit in umfassender und nachhaltiger Weise der Stadt zuzuwenden.“6

Im Einzelnen ging es um den Ausbau der Systeme für die Daseinsfürsorge, um Investitionen für eine Verbreiterung der wirtschaftlichen Basis der bis dahin fast ausschließlich vom Handel geprägten Stadt und um den Ausbau der Stadt als ein Kultur- und Wissenschaftszentrum. Die nun forciert betriebene Industrialisierung wurde zudem als Antwort auf den Umbruch der Stadtrepublik zur preußischen Provinzstadt angesehen, der für sich genommen bereits gravierende Folgewirkungen mit sich gebracht hatte. Dazu gehörte an erster Stelle der Wegfall der Zuzugsbeschränkung und damit einhergehend eine Beschleunigung der Bevölkerungsentwicklung. Allein in den vier Jahren von 1867 bis 1871 wuchs die Stadt um 16.000 Einwohner, nachdem sie zwischen 1864 und 1867 infolge der Annexion über 2000 Einwohner verloren hatte. Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung Frankfurts von 1846 bis 1914 Jahr 1846: 1852: 1858: 1864: 1871: 1875: 1880:

Einwohner 57.724 61.869 67.967 77.372 91.040 103.136 136.831

Jahr 1885: 1890: 1895: 1900: 1905: 1910: 1914:

Einwohner 154.441 180.020 229.279 288.989 334.978 414.576 444.900

Das Wachstum hielt seitdem bis zum Ersten Weltkrieg an und wurde zwischen 1870 und 1910 nur von den Städten Charlottenburg, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Kiel und Leipzig übertroffen. Verschärft wurde dieser Prozess durch die Eingemeindungen, die durchgeführt wurden, um Siedlungsland für die neue Bevölkerung zu erhalten. Dagegen standen durchaus Bedenken der Stadtverordneten, die aufgrund der Bevölkerungsstruktur in diesen Gemeinden erhebliche kommunale Folgekosten auf sich zukommen sahen. In diesem 6 Bericht des Magistrats, betr. die Verwaltung und den Stand der Gemeindeangelegenheiten, erstattet in öffentlicher Sitzung an die Stadtverordneten am 14. December 1869. Vgl. zum Hintergrund Wilfried Forstmann, Frankfurt am Main in wilhelminischer Zeit, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt, Sigmaringen 1991, S. 349–422, hier S. 384 ff. Das Programm ging nicht allein vom Magistrat aus. Bereits in ihrer ersten Sitzung wies die Stadtverordnetenversammlung auf die Notwendigkeit großer Investitionen hin. Vgl. Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 38.

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Prozess verdoppelte sich die Fläche der Stadt von 7000 auf über 13.000 Hektar; vor allem jedoch kam mit den Eingemeindungen verstärkt Industrie nach Frankfurt. Binnen weniger Jahre reicherte sich die Frankfurter Bürgergesellschaft also mit fremden Bevölkerungsteilen an. Ein Ring von Fabrikvierteln begann sich um Frankfurt zu schließen.7 Bei der Industrialisierung der Stadt, die spät aber nachhaltig erfolgte, handelte es sich vor allem um Fabriken für Metallverarbeitung, Maschinenbau und Elektrotechnik. Nur in diesem Bereich lassen sich in Frankfurt wirklich große Fabriken ausfindig machen.8 Es siedelte sich also vor allem eine Industrie an, die auf einem Potential hochqualifizierter Facharbeiter und technischer Angestellter beruhte. Trotz einer beträchtlichen Anzahl von großen Fabriken blieb jedoch die durchschnittliche Beschäftigtenzahl pro Betrieb niedrig. Sie lag 1882 immer noch bei 5,4 und 1895 bei 7,4. Auch für den Rest der Industrie galt: Vier Fünftel aller Betriebe beschäftigten nur zwei bis fünf Personen und können nicht als Fabriken angesehen werden.9 Wenn über den Charakter der Frankfurter Industrie gesprochen wird, ist zudem unerlässlich hinzuzufügen, dass der Aufbau der Industrie ebenso unter weitgehender Beibehaltung 7 Die Zuwanderer, vor allem aus den ländlichen Gebieten Hessen-Nassaus, Hessens, Bayerns und Badens, verschoben die Zusammensetzung der Bevölkerung erheblich. 1880 standen 56.000 ortsgebürtigen Frankfurtern bereits 81.000 Zugewanderte gegenüber, und um die Jahrhundertwende waren von 290.000 Einwohnern nur noch 119.000 in Frankfurt geboren. Die Zahlen demonstrieren, in welchem Ausmaß sich die frühere Frankfurter Bürgergesellschaft binnen weniger Jahre mit fremden Bevölkerungsteilen anreicherte. Lebten in Hessen-Nassau 1871 nur 13,8 % der Bevölkerung in Städten größer als 20.000 und fehlte eine Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern, so betrug der Anteil der großen Städte 1910 35,1 %, davon 30,5 % mit mehr als 100.000 Einwohnern. Damit lag Hessen-Nassau über dem Reichsdurchschnitt; vgl. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760 bis 1914, München 1996, S. 567. 8 Vgl. Wolfgang Klötzer, Das Wilhelminische Frankfurt, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst (53) 1973, S. 161–182, hier S. 170 ff.; Geschichte der Handelskammer zu Frankfurt am Main 1707–1908. Beiträge zur Frankfurter Handelsgeschichte, Frankfurt a.M. 1908, S. 1253 ff., und Eric Lee Hinderliter, Worker Protection in Imperial Germany, Ph. D. Providence 1982, S. 19 ff. 9 Vgl. Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt. NF, Erg. Blatt Nr. 3, Frankfurt a.M. 1895, S. 4, und Statistische Jahresübersichten. Erg. H. 1, Frankfurt a.M. 1908, S. 89 – und so überlebten auch im metallverarbeitenden Gewerbe Produktionsstätten von bescheidenerer Größe. Von den knapp 27.000 Lohnabhängigen arbeiteten nicht einmal 15.000 in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten, also 12.000 in kleinen Werkstätten. Die Konzentration nahm zwar zu, aber nur langfristig. Noch ein Viertel Jahrhundert später verfügte lediglich ein Viertel aller Betriebe über mehr als zehn Beschäftigte; vgl. Hinderliter, Worker Protection, S. 21 f.

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des traditionellen Handelssektors erfolgte. Vergleicht man die wirtschaftliche Struktur Frankfurts zwischen 1882 und 1895 mit Städten wie Berlin, Hamburg, München und Köln, so fällt sofort auf, dass nur Hamburg einen ähnlich hohen Anteil von Erwerbstätigen im Handel und Verkehr aufwies. Im Gegensatz zu den drei restlichen Städten, in denen dieser Bereich maximal 25 % betrug, kamen die beiden Handelsstädte auf über 35 %. Frankfurt besaß neben Stettin und Hamburg den drittgrößten Anteil an Erwerbstätigen im Handelssektor. Umgekehrt betrachtet lag der Anteil des sekundären Sektors in Städten mit entwickelter Gewerbestruktur, wie etwa Berlin, bei 60 %, in Hamburg und Frankfurt dagegen deutlich unter 50 %. Frankfurts Wirtschaft war also noch Jahrzehnte nach der Einführung der Gewerbeordnung Preußens stark von seiner Vergangenheit als Handelsstadt geprägt. Darauf deutet auch der Umstand hin, dass 1895 fast die Hälfte der 20.000 Betriebe im Handel angesiedelt war.10 Deshalb ist bei der Charakterisierung Frankfurts als Industriestadt Vorsicht geboten. Industrie von nennenswertem Umfang entwickelte sich erst spät und führte nur allmählich zur Verschiebung der städtischen Sozialstruktur. Damit waren es auch in preußischer Zeit nicht die Fabrikanten, die als Sozialgruppe einen entscheidenden Einfluss auf die bürgerliche Gesellschaft der Stadt ausübten. Im Zentrum dieser Periode stand eine Gruppe, die bereits am Ende des 18. Jahrhunderts einen Sonderstatus innerhalb des Handelsbürgertums gewonnen hatte – die Frankfurter Bankiers. Vor allem bei ihnen bündelten sich die elitenrelevanten Mandate und sammelte sich der Reichtum der prosperierenden Metropole am Main. Auf der anderen Seite entwickelte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Entfaltung der Arbeiterklasse durchaus eine deutliche Sozialverschiebung der städtischen Gesellschaft und bildeten sich besondere Arbeitermilieus und separierte Arbeiterviertel aus, die klar von den Vierteln des Bürgertums, etwa im Westend oder in den Villenkolonien am Taunusrand geschieden waren. Die dritte Modernisierung, die das Programm von Mumm anstieß, betraf die Stellung als Verkehrszentrum und -knotenpunkt. Dazu gehörten der Umbau der gesamten damaligen Eisenbahninfrastruktur im Frankfurter Gebiet und der Bau der größten Bahnstation im damaligen Europa, die 600 Meter vor der Stadt, im freien Feld errichtet wurde.11 Weitere große Investitionen flos10 Vgl. Franz Adler, Soziale Gliederung der Bevölkerung, Verfassung und Verwaltung der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1906, S. 95, und Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt am Main. NF Erg. Blatt Nr. 3, Frankfurt a.M. 1895, S. 5. 11 Bereits seit den sechziger Jahren wurde eine Zusammenfassung der an sechs verschiedenen Bahnhöfen ankommenden acht Strecken überlegt. Alle Pläne jedoch, die für den zu errichtenden Zentralbahnhof eine Lage in der Mitte der Stadt vorsahen, wurden

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sen in die Kanalisierung des Mains, die Vorbereitung einer Wasserstraße vom Rhein zur Donau und den Bau zweier Binnenhäfen im Westen und Osten der Stadt, sowie ein halbes Dutzend neuer Brücken über den Main. Die vierte Zielperspektive betraf den Ausbau der Stadt als kulturelles Zentrum. Hier könnte man als Ergebnis des Mummschen Programms auf den Neubau der Oper, auf das Städel-Museum und natürlich – wenn auch etwas später – auf die Gründung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften hinweisen, aus der dann wiederum die Universität hervorgegangen ist. Vor allem aber müssen hier die zahlreichen Vereine und Stiftungen genannt werden, das kulturelle Kapital der Stadt und die Rolle der jüdischen Stifter – ohne die die Einrichtungen nicht hätten geschaffen werden können. Das Vereinswesen erwies sich ja generell als eine Bildungsstruktur, die sich in einem Zeitraum von über hundert Jahren langfristig ausformte. Die Vereine hinterließen zahlreiche Einrichtungen wie Vereinshäuser, Versammlungsstätten, Veranstaltungsforen, Theater und Museen, Konzertsäle, Forschungsstätten und wissenschaftliche Institutionen, Beratungsstellen, Einrichtungen der Massen- wie Fachbildung, der Kultur und auch der körperlichen Bildung und sogar Akademien und Universitäten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kam auch die politische Bildung hinzu. Weiterhin stand das Netzwerk der Vereine in einem auffallenden Spannungsverhältnis zur staatlichen und kommunalen Verwaltung. Es kann ab 1900 mit der Kommunalisierung von Sozialeinrichtungen, Kulturinstitutionen und Wirtschaftsbetrieben wieder eine deutliche Verlagerung der Initiative hin zu den Verwaltungen bzw. Bürokratien festgestellt werden. In dieser Zeit schwächte sich auch deutlich die Dynamik des Vereinswesens ab.12 Zu den zahlreichen Vereinen und ihren Einrichtungen sind die Stiftungen mit einer ganz ähnlichen Infrastruktur an Institutionen, Gebäuden, Forschungsstätten, von den Selbstverwaltungsgremien immer wieder verworfen, weil für ein derartiges Projekt ein ganzes bürgerliches Wohnquartier sowie ein zentraler Platz der Stadt hätte aufgegeben werden müssen. Daran änderte auch der neue Magistrat erst einmal kaum etwas. Auch nachdem die Frankfurter Bahnen aufgrund des Teilungsrezesses zwischen 1868 und 1872 in preußischen Staatsbesitz gekommen waren, wurde der sich bereits vorher abzeichnende Trend einer Herausverlagerung des Zentralbahnhofs aus der Stadt in den Plänen zur Reorganisation des gesamten Schienenverkehrs um Frankfurt konsequent weiter verfolgt. Zur Diskussion um den Bahnhofsbau vgl. Heinz Schomann, Der Frankfurter Hauptbahnhof. 150 Jahre Eisenbahngeschichte und Stadtentwicklung (1838–1988), Stuttgart 1983 (1988), S. 41 ff. u. 149 ff. Zur Stellung der Stadtverordnetenversammlung zu diesem Projekt vgl. Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 87 f. 12 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Hermann Heimpel (Hg.), Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1972, S. 1–44, hier S. 30.

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Museen und Sammlungen hinzuzuzählen. Die Besonderheit Frankfurts in dieser Zeit bestand darin, dass rund ein Drittel der insgesamt 400 Stiftungen von jüdischen Stiftern stammte, die seit der Mitte des Jahrhunderts enorme Anstrengungen unternommen hatten, diese Seite des kulturellen Kapitals der Stadt auszubauen.13

2. Die Politische Macht in der Kommune Bei alledem war Frankfurt kein politisches Zentrum im Sinne einer besonderen politischen Verwaltungsaufgabe. Politisches Zentrum war es nur im symbolischen Sinn als Wahrer der Gedenkstätte Paulskirche und anderer politischer Monumente sowie dann natürlich als Schaukasten einer gelungenen bürgerlich-liberalen Lebenswelt, in der sich der Transfer von einer Handelsrepublik zu einer preußischen Großstadt nahezu „geräuschlos“ vollzogen hatte.14 Auch wenn es kein politisches Machtzentrum war, hatte Frankfurt natürlich eine politische Machtstruktur. Das war seit 1867 in der Magistratsverfassung geregelt, die einige Besonderheiten gegenüber der üblichen Gemeindeverfassung Preußens aufwies. Es fehlte das typische preußische Dreiklassenwahlrecht, und die Magistratsmitglieder bedurften bis auf den Oberbürgermeister keiner königlichen Bestätigung. An die Stelle des Bürgerrechts der Constitutions-Ergänzungs-Akte von 1816 war nun ein politisches Wahlrecht mit Zensusbestimmungen getreten. Die Einwohner, die genügend Steuern zahlten – oder eine Reihe weiterer Bestimmungen erfüllten – wählten eine Stadtverordnetenversammlung, die relativ autonom über die Zusammensetzung des Magistrats entschied. Dieser Magistrat war nicht mehr die Regierung einer Republik, sondern bildete die untere Verwaltungseinheit eines Königreiches mit Konstitution, rechtsstaatlicher Praxis und konservativer Bürokratie. Das grenzte den Spielraum deutlicher und strikter ein als bei der Staatsregierung 13 Vgl. Ralf Roth, Crisis, Decline and Elimination: Frankfurt Jewish Philanthropy and the Impact of World War One, Inflation and Aryanisation, in: David Cesarani/Peter Mandler (Hg.), Jewish Philanthropy in Europe 1850–1940, Cambridge (demnächst), und Ralf Roth, Verflechtungen von Vereins- und Verwaltungstätigkeit als Form kommunaler Selbstregulierung, in: Peter Collin u.a. (Hg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert. Zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, Frankfurt a.M. 2011, S. 293–309, sowie Ralf Roth, Verein und bürgerliche Gesellschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Werner Plumpe (Hg.), Bürgertum und Bürgerlichkeit 1870–1930, München 2009, S. 121–135. 14 Ralf Roth, Frankfurt am Main als Erinnerungsort des Liberalismus, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 21 (2009), S. 7–37.

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der vorherigen Freien Republik. Dem Ersten Bürger-, später Oberbürgermeister kam nun eine Vermittlerrolle zu, die er gegenüber der Stadtverordnetenversammlung geschickt für eigenständiges Verwaltungshandeln ausnutzen konnte. Tabelle 2: Parteipolitische Struktur der Stadtverordnetenversammlung von 1881 bis 1914 15 Nationalliberale Jahr 1881 1888 1898 1900 1902 1904 1906 1908 1910/1 1910/2 1912

15 12 23 20 20 12 13 10 11 12 12

Demo- Frei- Mittelkraten sinnige standsbwg. 28 33 25 23 23 23 24 17 34 34 32

12 12 13 11 12 11 13 12 – – –

– – – 7 6 15 8 7 4 3 3

Zentrum – – – 2 2 – – 1 1 – 1

Unab- Sozialhängige demokraten 2 – 3 – – – – 2 1 – –

– – – 1 1 3 6 15 20 22 23

gesamt 57 57 64 64 64 64 64 64 71 71 71

Weiterhin erfuhr das Stadtparlament eine Aufwertung. Die Stadtverordnetenversammlung wählte die Stadtregierung. Ihr oblagen alle Gemeindeangelegenheiten. Sie hatte die Entscheidungsbefugnis über die Nutzung des Gemeindevermögens und das Recht, Steuern zu beschließen. Daran kamen Magistrat und Oberbürgermeister nicht vorbei.16 Wichtig war zudem die vergleichsweise hohe personelle Kontinuität in der Politik. Mit den ersten Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung zog die liberale und demokratische Bewegung, die sich seit den späten 1850er Jahren entfaltet hatte und deren Wurzeln bis in den Vormärz zurückreichte, bruchlos in die neuen Gremien der preußischen 15 Zur Tabelle vgl. John D. Rolling, Liberals, Socialists, and City Government in Imperial Germany. The Case of Frankfurt am Main 1900–1918, Ph.D. Madison/Wisc. 1979, S. 180, u. Klötzer, Das Wilhelminische Frankfurt, S. 164. Im Jahre 1910 vereinigten sich Demokratischer Verein und Verein der Fortschrittspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei. Vgl. Siegbert Wolf, Liberalismus in Frankfurt am Main. Vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg (1866–1914), Frankfurt a.M. 1987, S. 68 ff. 16 Vgl. §§ 45, 54 u. 62 des Gemeinde-Verfassungs-Gesetzes für die Stadt Frankfurt am Main vom 25. März 1867, Frankfurt a.M. 1898, S. 15 ff., und Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 19 f.

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Stadt ein – also in den Magistrat und in die Stadtverordnetenversammlung. Zusammen mit den Fortschrittsliberalen verfügten die Demokraten spätestens ab Mitte der siebziger Jahre über die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung und verteidigten diese Position bis ins 20. Jahrhundert hinein (vgl. Tabelle 2). Die Positionen der demokratisch-linksliberalen Mehrheit gehörten im parlamentarischen Bereich zum Konsequentesten, was bürgerliche Politik im Kaiserreich hervorgebracht hatte.17 „Man dürfe nicht dulden, daß sich der Magistrat über die Bürgerschaft erhebe. Diejenigen, die dem Magistrat am wirksamsten den Daumen aufs Auge hielten, seien ihm am liebsten“, äußerte der Frankfurter Demokrat Friedrich Stoltze.18 Dieser linksliberalen Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung standen die gemäßigten Liberalen im Magistrat gegenüber, und in diese politische Richtung fügten sich auch die Bürgermeister im Kaiserreich ein. Der linke Flügel der Bewegung gründete, nachdem die Freie Stadt 1866 ihre Souveränität verloren hatte, am 3. Februar 1868 den Demokratischen Wahlverein, der eine preußische Hegemonie in Deutschland ablehnte. Die Demokraten hielten an einer großdeutsch-republikanischen Politik fest, worunter sie eine konsequente Parlamentarisierung der politischen Strukturen und eine föderativ aufgebaute deutsche Republik verstanden. Innerhalb der Demokraten existierten mit den Altdemokraten um Nikolaus Hadermann und den Neudemokraten um Leopold Sonnemann zwei Strömungen; später kam noch ein Demokratischer Klub hinzu. Einig waren sich die Fraktionen in der Ansicht, dass die deutsche Einheit nur über eine Revolution zustande kommen könne. Unterschiede ergaben sich bei der Wahl des Weges. Die Gruppe um Hadermann trat zur Erreichung dieses Ziels für eine engere Zusammenarbeit mit der Arbeiterbewegung Lassalles ein, während dies von den Kräften um Sonnemann strikt abgelehnt wurde. Die Gegensätze schliffen sich mit der Reichseinigung ab. Im Wahlkampf zur zweiten Reichstagswahl im Jahre 1874 vereinigten sich die demokratischen Gruppen zum Demokratischen

17 Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 124 f. Zu allgemeinen Untersuchungen der Selbstverwaltung vgl. Helmuth Croon/Wolfgang Hofmann (Hg.), Kommunale Selbstverwaltung im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1971, und Wolfgang Hofmann, Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung von 1848 bis 1918, in: Günter Püttner (Hg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Praxis, 2. neu bearb. Aufl. Berlin 1981, S. 71–85. Für einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Selbstverwaltung empfiehlt sich noch immer Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, S. 474 ff. 18 Nikolaus Hadermann zit. nach Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 100.

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Verein, der sich als örtlicher Verein der süddeutschen Deutschen Volkspartei verstand. Im Gegensatz zu den Demokraten traten die gemäßigten Liberalen nicht für eine Republik, sondern für eine konstitutionelle Monarchie ein, stimmten jedoch nur zum Teil mit der Anerkennung der preußischen Reichseinigungspolitik von Bismarck überein. Aus diesem Grund entwickelten sich zwei Richtungen, die sich ebenfalls, wie der Demokratische Verein, aus Anlass der zweiten Reichstagswahl festere organisatorische Formen gaben. Aus der einen bildete sich am 4. Oktober 1873 der Nationalliberale Wahlverein, der die Ziele des konservativen Liberalismus der Nationalliberalen Partei teilte.19 Auf kommunaler Ebene trat der Wahlverein, um die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zu fördern, für eine rasche Normalisierung der Beziehungen zur preußischen Verwaltung ein. Dabei sollte der Parteienkampf nicht im Vordergrund stehen. Ebenso wie der Demokratische Verein betonte auch der Nationalliberale Wahlverein die Überparteilichkeit des kommunalen Engagements, was ihn allerdings nicht daran hinderte, alles zu unternehmen, um den Demokratischen Verein auf lokaler Ebene zu isolieren. Zu diesem Zweck verfolgte er in den ersten Jahren eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem dritten großen liberalen Verein Frankfurts, dem Verein der Fortschrittspartei, der sich ebenfalls aus Anlass der zweiten Reichstagswahl am 11. März 1874 gegründet hatte. Dieser Verein setzte die Tradition der Casinofraktion um von Gagern von 1848 fort. Viele Mitglieder der Alt- und Neugothaer der fünfziger und sechziger Jahre sammelten sich in diesem Verein. In der nationalen Frage teilte er den Standpunkt der Deutschen Fortschrittspartei und trat wie der Nationalliberale Wahlverein für eine konstitutionelle Monarchie ein, die jedoch stärker parlamentarisiert sein sollte. Auch sollte Preußen Deutschland nicht dominieren. Mit dem Demokratischen Verein und gegen den Nationalliberalen Verein, dafür im Einklang mit den Traditionen Frankfurts lehnte der Verein der Fortschrittspartei eine preußische Hegemonie über Deutschland ab.20 Auf kommunaler Ebene trat der Verein für die Wahrung der bestehenden Rechte und die Ausgestaltung freiheitlicher Beziehungen ein, wobei dies als ein langfristiger Prozess angesehen wurde. Ferner forderte er konfessionslose Schulen, setzte sich für mehr Koalitionsrechte der Arbeiter ein und strebte eine gerechte Verteilung der Steuerlast an, ohne wie die Demokraten für eine progressive Einkommensteuer einzutreten. Obwohl programmatisch einiges 19 Zu den Gründern des Vereins und zu seinen programmatischen Positionen vgl. Wolf, Liberalismus, S. 81 ff. 20 Zu den programmatischen Positionen vgl. ebd., S. 59 ff.

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für ein Bündnis mit dem Demokratischen Verein sprach, arbeitete der Verein der Fortschrittspartei im ersten Jahrzehnt vor allem mit dem Nationalliberalen Verein zusammen. Erst bei der Landtagswahl von 1879 wurde dieses Bündnis aufgelöst und in den folgenden Jahren durch eine immer intensivere Kooperation mit dem Demokratischen Verein ersetzt. Somit stand dem Nationalliberalen Wahlverein ab den achtziger Jahren in der Stadtverordnetenversammlung ein Bündnis aus Demokraten und Mitgliedern des Fortschrittsvereins gegenüber. Der Einfluss der Nationalliberalen beschränkte sich hinfort auf seine Vertreter im Magistrat. Abgesehen von einzelnen Abgeordneten, die zeitweilig in der Stadtverordnetenversammlung vertreten waren, scheiterten die Konservativen und auch die Zentrumspartei bei dem Versuch, sich parteipolitisch in Frankfurt zu etablieren, obwohl rund ein Drittel der Bevölkerung katholisch war. Kommunalpolitik war deshalb per se und fast uneingeschränkt liberale Politik, und zwar als Arrangement der verschiedenen Richtungen des Liberalismus untereinander. Im Einzelnen vollzog sich das als Ausgleich zwischen Magistrat und Stadtverordnetenversammlung.21

3. Wer gestaltete die Stadt – der Magistrat oder das Stadtparlament? Man kann dies anhand der herausragenden Persönlichkeiten der Stadtgeschichte verdeutlichen. Dazu gehören zweifelsohne die beiden Oberbürgermeister Johannes Miquel und Franz Adickes. Dem rechtsliberalen Spektrum angehörend, werden sie gemeinhin als die Gestalter der Stadt angesehen. Johannes Franz Miquel (1828–1901) stammte nicht aus Frankfurt, sondern wurde in Neuenhaus/Westfalen geboren. Er studierte wie Mumm Jura in Heidelberg und Göttingen, engagierte sich 1848 im Bund der Kommunisten, galt als radikaler Demokrat und betätigte sich ab 1854 als Rechtsanwalt. Er war 1859 Mitbegründer des Deutschen Nationalvereins. Acht Jahre später trat er der Nationalliberalen Partei bei, nachdem er 1865 zum Oberbürgermeister von Osnabrück gewählt worden war, ein Amt, das er bis 1876 ausübte. Von 1867 bis 1882 saß er zudem im Preußischen Abgeordnetenhaus und von 21 Zur sozialen Struktur ist festzustellen, dass sowohl die Berufe als auch die Besitzverteilung breit gestreut waren. Der Liberalismus in Frankfurt am Main war fest im bürgerlichen Milieu verwurzelt. Zum quantitativen Umfang des organisierten Liberalismus vgl. Wolf, Liberalismus, S. 42, 66 u. 83. Zur Sozialstruktur vgl. Roth, Stadt und Bürgertum, S. 507–511.

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1871 bis 1877 und 1887 bis 1900 im Deutschen Reichstag. 1880 wurde er als Nachfolger Mumms zum Frankfurter Oberbürgermeister gewählt und war erst einmal damit beschäftigt, die Sanierung des defizitären Frankfurter Haushalts durchzusetzen. Danach widmete Miquel sich den von Mumm begonnenen Großprojekten. Dazu gehörten die Mainkanalisierung sowie der Bau des Sicherheitsund Handelshafens (Westhafen). In seiner Amtsperiode wurden zahlreiche Großprojekte der Daseinsfürsorge zu Ende gebracht. Dazu zählten der Schlacht- und Viehhof (1885), das Grundwasserwerk „Forsthaus“ (1885) und die erste europäische Großkläranlage (1887). Hinsichtlich der Übernahme der Straßenbahnen, der Gaswerke und des geplanten Elektrizitätswerks diktierte Miquel im Gegensatz zu den Stadtverordneten der Kommune Zurückhaltung. Weiter ordnete er das Armenwesen neu. Die von ihm entworfene Armenordnung von 1883 integrierte die bestehenden Stiftungen in die kommunale Armenpflege, begründete das Armenamt und überzog nach dem Elberfelder System die Stadt mit einem Netz von Armenpflegern. Zwei Jahre vor dem Ablauf der zwölfjährigen Amtszeit – und nachdem er wesentlich mit die Annäherung der Nationalliberalen an einen nun dezidierter konservativen Bismarck betrieben hatte (u.a. im Heidelberger Programm 1884 und mit dem Wahlkartell 1887) – wechselte Miquel als Finanzminister nach Berlin. Dort erwarb er mit der Durchführung der preußischen Steuerreform in den Jahren 1891 bis 1893 neue Meriten.22 Noch länger ist die Liste der Infrastruktur- und kommunalen Großprojekte bei seinem Nachfolger Franz Adickes, in dessen Amtszeit auch die Gründung der Frankfurter Universität fiel. Das kann hier im Einzelnen nicht entfaltet werden.23 Es stellt sich somit die Frage nach der Rolle dieser Oberbürgermeister Mumm, Miquel und Adickes. Gemeinhin gelten die erwähnten Errungenschaften als ihre Taten. Dabei wird ihre Abhängigkeit vom Gremium des Stadtparlaments und den politischen Strömungen ausgeblendet. Denn über jedes einzelne Projekt wurde dort ausführlich diskutiert und abgestimmt. Häufig ging auch die Initiative von dort aus. Spätestens bei der Finanzierung endete die Macht des Oberbürgermeisters. In Frankfurt hatte er sich zudem 22 Frankfurter Biographie, Bd. 2, S. 56–58. 23 Zu Franz Adickes vgl. Frankfurter Biographie, Bd. 1, S. 11–14, Rainer Koch, Franz Adickes, in: Günther Böhme (Hg.), Geistesgeschichte im Spiegel einer Stadt. Frankfurt am Main und seine großen Persönlichkeiten, Frankfurt a.M. 1986, S. 101–121, Wolfgang Klötzer, Franz Adickes. Frankfurter Oberbürgermeister 1891–1912, in: Klaus Schwabe (Hg.), Oberbürgermeister, Boppard 1981, S. 39–56, und Heinrich Bleicher, Franz Adickes als Kommunalpolitiker, in: Franz Adickes. Sein Leben und sein Werk, Frankfurt a.M. 1929, S. 255–271.

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mit einer linksliberalen Mehrheit in diesem Gremium zu arrangieren. Die Einzelheiten der notwendigen Konsenspolitik kann man in Karl Malys „Die Macht der Honoratioren“ nachlesen.24 Damit kommt eine weitere Persönlichkeit des kommunalen Liberalismus ins Spiel, ohne die Frankfurt seine herausragende Stellung als liberale Stadt in dieser Zeit nicht erreicht beziehungsweise verteidigt hätte: Leopold Sonnemann, der langjährige Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung.25 Als Mitglied der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung von 1869 bis 1880 und von 1887 bis 1904 engagierte er sich faktisch für alle Belange des kommunalen Gemeinwesens, die bisher angeführt wurden.26 Sonnemann war kein gebürtiger Frankfurter, sondern wurde 1831 in Höchberg bei Würzburg geboren. Seine Familie zog es jedoch in das Rhein-Main-Gebiet und ließ sich 1840 im benachbarten Offenbach nieder. Der Vater, Meyer Sonnemann, eröffnete einen kleinen Handwerksbetrieb, die Firma M. S. Sonnemann.27 Doch die Lehre in diesem Betrieb füllte Sohn Leopold nicht aus. Er setzte sich intensiv mit Literatur und Theater sowie Geschichte und Politik auseinander.28 Schon damals ordnete sich Sonnemann am linken Spektrum der liberalen Bewegung ein; er forderte Reformen des Rechtsstaats sowie der Verfassung und erkannte früh die Bedeutung der sozialen Frage für den Li24 Vgl. Anm. 5. 25 Ralf Roth, Leopold Sonnemann und seine Stadt. Kommunalliberalismus am Beispiel von Frankfurt am Main, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 83–99. 26 Seine feste Verwurzelung zeigt auch seine Betätigung als Stifter. So war er an der Finanzierung des Frankfurter Opernhauses beteiligt. Er förderte die Senckenbergische und Rothschildsche Bibliothek, gründete 1899 den Städelschen Museumsverein und unterstützte den Aufbau des Kunstgewerbemuseums. Sonnemann blieb – auch wenn er von 1871 bis 1884 Frankfurt im Reichstag vertrat – sein ganzes Leben lang in den Traditionen eines lokalen liberalen Milieus des Frankfurter Liberalismus befangen und das prägte ihn und seine Politik. Zu Leopold Sonnemann vgl. Frankfurter Biographie, Bd. 2, S. 397–399, sowie Klaus Gerteis, Leopold Sonnemann. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Nationalstaatsgedankens in Deutschland, Frankfurt a.M. 1970, und Wolf, Liberalismus, S. 51 ff. Zu den weiteren Lebensstationen vgl. Roth, Herausbildung, S. 397–407. 27 Vgl. Michael Lennarz, Der Jude, in: Anna Schnädelbach u.a. (Hg.), Frankfurter Demokratische Moderne und Leopold Sonnemann. Jude–Verleger–Politiker–Mäzen, Frankfurt a.M. 2009, S. 14–57, hier S. 14. Das Geschäft der Sonnemanns wandelte sich in wenigen Jahren von einer Manufaktur zu einem Unternehmen im Textilzwischenhandel, das eng mit der Frankfurter Firma Strauß zusammen arbeitete. Vgl. ebd. S. 15 f. 28 Vgl. Heinrich Simon, Leopold Sonnemann. Seine Jugendgeschichte bis zur Entstehung der „Frankfurter Zeitung“, Frankfurt a.M. 1931, S. 68 u. 77, und Lennarz, Der Jude, S. 16 u. 20 f.

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beralismus.29 Die Revolution 1848 begrüßte der Siebzehnjährige wie viele Frankfurter enthusiastisch. Doch die Ernüchterung folgte nach wenigen Monaten mit den Juniereignissen in Paris. Im Dezember zog er unter seine politischen Ambitionen einen – wenn auch vorläufigen – Schlussstrich und wollte sich nur noch auf das Geschäft konzentrieren. Doch das lief schlecht. Die Familie dachte an Auswanderung, erst nach Amerika, dann doch nur nach Frankfurt.30 Sonnemann selbst erwarb das Bürgerrecht der Stadt schon im Jahre 1849. Mit Elan setzte er ab 1853 das Geschäft seiner Eltern unter dem Namen M. S. Sonnemann Nachf. fort, vollzog jedoch einen strategischen Kurswechsel und begann ab Mitte der 1850er Jahre den Aufbau einer Bank mit Filialen in Wien, Berlin, Brüssel und Paris. Seine Hauptbetätigungsfelder umfassten das Wechsel-, Kommissions- und Speditionsgeschäft. Dazu kam noch das Wechsel- und Arbitragegeschäft sowie die Spekulation in Staatspapieren und Eisenbahnaktien.31 Die entscheidende Wende in seinem Leben leitete der Konflikt mit dem Kölner Bankhaus B. H. Goldschmidt ein, mit dem Sonnemann ernsthaft aneinander geriet. In diesem Zusammenhang scheiterte er bei dem Versuch, sich die Presse für seine Sicht des Konflikts dienstbar zu machen. Das gab den Anstoß für eine neue Initiative. Mitte der 1850er Jahre kehrte er mit dem Projekt einer eigenen Zeitung – und zwar nicht nur für geschäftliche Zwecke – auf die Bühne der Politik zurück.32 Damit hatte Sonnemann ein Betätigungsfeld gefunden, das ein großes Potential in sich barg. Die Zeitung bot ihm Möglichkeiten, die weit über die momentanen Entscheidungsgründe hinausreichten. Aus ihr entstand die Frankfurter Zeitung, die sich Ende der fünfziger Jahre zu einem Zentrum konsequenter Reformpolitik und zu einem Kristallisationskern der demokratischen Bewegung entwickelte.33 Sein Schwerpunkt aber lag durchaus nicht im Publizieren und Kommentieren, sondern in der praktischen Politik. Sonnemann beteiligte sich maßgeblich an der Gründung des Frankfurter Zweigvereins des 1859 gegründe29 Vgl. Egon Schwarz, Aus Wirklichkeit gerechte Träume: Utopische Kommunen in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1985, S. 411–431, hier S. 416 f., und Jürgen Steen, Der Demokrat, in: Schnädelbach u.a. (Hg.), Frankfurter Demokratische Moderne, S. 220–249, hier S. 221. 30 Simon, Leopold Sonnemann, S. 107 f. u. 128, und Lennarz, Der Jude, S. 17. 31 Vgl. Lennarz, Der Jude, S. 19 f. u. 22, und Frank Berger, Der Bankier, in: Schnädelbach u.a. (Hg.), Frankfurter Demokratische Moderne, S. 58–77, hier S. 59. 32 Vgl. Berger, Der Bankier, S. 60 f. 33 Ebd., S. 61, und Sabine Hock, Der Verleger, in: Schnädelbach u.a. (Hg.), Frankfurter Demokratische Moderne, S. 100–135, hier S. 101 u. 103.

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ten Nationalvereins.34 Zwischen 1860 und 1864 ließ er sich ins Wahlkolleg wählen, errang aber erst 1869 ein Mandat in der Stadtverordnetenversammlung, nachdem er 1868 den Demokratischen Verein aus der Taufe gehoben hatte. Er begleitete alle Frankfurter Großprojekte, die ohne seine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Magistrat kaum erfolgreich gewesen wären. Zu seinen bleibenden Verdiensten gehörte neben seiner politischen Rolle die Gestaltung der Frankfurter Industrialisierung in Richtung auf moderne Industrien wie vor allem die Elektrotechnik, deren Bedeutung für die Frankfurter Industrie schon genannt wurde, und die Sonnemann mit seiner Initiative für die Internationale Elektrotechnik Ausstellung, die 1891 in Frankfurt stattfand, mächtig befeuerte. An kulturellen Großprojekten hängen an seinem Namen ebenfalls der Neubau der Frankfurter Oper und der Ausbau des Städels zu einer modernen Kunstgalerie. Im Einzelnen hat Maly sein Wirken dokumentiert.35 Das politische Milieu der Frankfurter Bürgergesellschaft weist neben der starken Stellung des Linksliberalismus noch eine zweite Besonderheit auf, seine Offenheit für die soziale Frage.

4. Der Umgang mit dem proletarischen Milieu Die einzige Bedrohung dieses liberalen Milieus resultierte aus dem Erfolg des eigenen Tuns und hier auch gerade Sonnemanns Engagement, nämlich der erfolgreichen Industrialisierung. Mit ihr erfolgte die Ausbildung von separierten Arbeitermilieus und mit ihnen der Aufstieg der Sozialdemokratie, der lange Zeit auf kommunaler Ebene nicht wirksam werden konnte, weil der Zensus (700 Gulden/1200 Mark Jahreseinkommen und weitere Bestimmungen) des kommunalen Wahlrechts den Einzug von Arbeiterrepräsentanten in das Stadtparlament verhinderte (vgl. Tabelle 3).

34 Er trat weiterhin für umfassende soziale Reformen ein, träumte immer noch von einer sozialen Republik nach dem Vorbild Étienne Cabets. Vgl. Jürgen Steen, Der Abgeordnete, in: Schnädelbach u.a. (Hg.), Frankfurter Demokratische Moderne, S. 136–167, hier S. 137. 35 Vgl. die Einträge zu Sonnemann in Maly, Die Macht der Honoratioren, S. 450.

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Tabelle 3: Vergleich der Anzahl der Wähler bei Kommunal- und Reichstagswahlen36 1871/72 1874 1876/77 1878/80 1881/82 1884 1887/88 1890 1892/93 1898 1902/03 1906/07 1912

Kommunalwahlen 5.326 ca. 7.000 7.894 11.024 11.198 11.932 12.464 12.807 13.536 18.903 24.027 33.139 60.929

Reichstagswahlen 20.151 20.272 27.398 29.257 31.328 34.201 36.103 41.138 48.159 59.891 73.233 77.164 88.584

Da es sich jedoch um einen relativ milden Zensus handelte und die Arbeiter seit den frühen 1890er Jahren immer besser in Gewerkschaften organisiert waren und erfolgreiche Lohnkämpfe führten, war absehbar, wann diese Barriere ihre Wirksamkeit verlieren würde. Tatsächlich zog nach 1900 der erste Sozialdemokrat in die Stadtverordnetenversammlung ein, und dann wuchs ihre Fraktion von Wahl zu Wahl rasch an (vgl. Tabelle 2).37 Da das so war und weil sich die Frankfurter Liberalen früh – z.T. schon in der Revolution 1848, in den 1860er Jahren unter Sonnemanns Vereinigung Deutscher Arbeiterbildungsvereine und während des Sozialistengesetzes – mit der Arbeiterfrage auseinandergesetzt hatten, ist noch eine weitere Persönlichkeit zu nennen, die zwar keinem der drei großen liberalen Vereine angehört hatte, sich aber im Sinne einer liberalen Bürgergesellschaft der sozialen Frage und ihrer 36 Institut für Stadtgeschichte, Stadtverordneten-Akten Nr. 79, Blatt 114, Anlage D; Karl-Heinz Müller, Preußischer Adler und Hessischer Löwe. Hundert Jahre Wiesbadener Regierung, Wiesbaden 1966, S. 135; Statistisches Handbuch der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 1 (1905/06), Frankfurt a.M. 1907, S. 264 u. 269; Statistische Jahresübersichten der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1907/08, S. 114, 1910/11, S. 110, 1911/12, S. 134, 1912/13, S. 121; J. D. Rolling, Liberals, S. 178, und Wolf, Liberalismus, S. 175. – Die Jahresdaten der (nahe an einer Reichstagswahl liegenden) Kommunalwahlen sind in der Tabelle kursiv gesetzt. 37 Siehe Ralf Roth, Gewerkschaftskartell und Sozialpolitik in Frankfurt am Main. Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg zwischen Restauration und liberaler Erneuerung, Frankfurt a.M. 1991, S. 78.

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politischen Implikationen praktisch und theoretisch gestellt hat wie in dieser Intensität kein anderer in Frankfurt. Es handelt sich um den Lenker eines Großkonzerns von weltweiter Bedeutung – Wilhelm Merton. Wilhelm Merton hatte mitten in der Revolution am 14. Mai 1848 in Frankfurt am Main das Licht der Welt erblickt, als der junge Sonnemann von einer Cabetschen Sozialreform träumte, und starb mitten im Ersten Weltkrieg am 15. Dezember 1916 in Berlin. In seiner frühen Kindheit nannte man ihn William Moses. Sein Vater war ein jüdischer Kaufmann, der in den 1830er Jahren aus London nach Frankfurt eingewandert war. Zusammen mit der Namenskonversion seines Vaters hieß er dann ab den 1850er Jahren William Merton und 1899, nach seiner Konversion zum protestantischen Glauben, deutschte er seinen Vornamen in Wilhelm Merton ein. Nach der Schule strebte er kein Studium an, sondern sammelte in der väterlichen Metallhandlung und im Londoner Handelshaus seines älteren Bruders erste berufliche Erfahrungen. Die Gründerkrise von 1873 bot dem 25jährigen dann Gelegenheit, sich zu bewähren. Das brachte ihm drei Jahre später die Teilhaberschaft ein. Um 1880 schritt Merton zur großen Unternehmensreform und gründete die Metallgesellschaft AG, mit der er den Muff der väterlichen Metallhandlung hinter sich lassen, auf dem Weltmarkt vordringen und das ganze Feld der Erzerschließung und -verhüttung mit dem Handel verbinden wollte. Das alles gelang innerhalb von 10 Jahren. Die Zeitumstände waren für einen rasanten Aufstieg des Unternehmens günstig. Die Nachfrage nach Metallen und Erzen aller Art stieg in der Entwicklungsphase der Hochindustrialisierung sprunghaft an, und zwar nicht nur in Europa und den USA, sondern weltweit. Genau dieses „weite Feld“ der Welt hatte sich William Merton für seine unternehmerische Betätigung ausgesucht und in kurzer Zeit einen Konzern aufgebaut, der im Deutschen Reich im Handel mit Kupfer, Zink, Zinn, Quecksilber, Antimon, Aluminium und Blei sowie in Edelmetallen seinesgleichen suchte. Schon bald hieß es: „Der Frankfurter Metallhandel … umfaßt also mit seinen Unternehmungen, namentlich denen des Merton-Konzerns, tatsächlich die ganze Welt.“38 Die Expansion zahlte sich aus. Als vielfacher Millionär rangierte er vor dem Krieg regelmäßig unter den zehn größten Steuerzahlern Frankfurts und gehörte zur Elite der Stadt. Aber es trieb ihn etwas an, weiterzugehen, und so baute er ab 1890 neben seinem Weltkonzern einen zweiten Konzern auf, einen Konzern ganz eigener Art, der aus gemeinwohlorientierten Unternehmen bestand. Seine gemeinnützigen Unternehmungen hatten bald einen so großen Umfang erreicht, 38 Robert Liefmann, Die internationale Organisation des Frankfurter Metallhandels, in: Weltwirtschaftliches Archiv 1 (1913), S. 108–122, hier S. 122.

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dass ihn – in seinen eigenen Worten – seine „sozialpolitischen Interessen“ immer mehr „auf Kosten der wirtschaftlichen“ zu beschäftigen begannen. Mehr noch, er schuf Einrichtungen, in denen die soziale Frage nicht nur in vielen Teilbereichen des Lebens praktisch gemildert, sondern auch theoretisch untersucht werden sollte. Die Frage stellt sich: Warum? Merton war mit der damaligen „Arbeiterfrage“ und mit den neuesten Debatten in der Nationalökonomie vertraut, die von einer zunehmenden Kartellisierung und einem sich ausbildenden Monopolkapitalismus warnten. Ihm waren auch die mit diesen Fragen zusammenhängenden politischen Implikationen bekannt, dass in den Kreisen der sozialistischen Arbeiterbewegung diese Tendenz als Bestätigung ihres Wegs hin zum Sozialismus gedeutet wurde. Merton war nicht einfach Philanthrop, er war überzeugter liberaler Bürger in einer turbulenten Zeit, in der viele an ein „fin de siècle“ dachten und nicht mehr an die Zukunft des Liberalismus und einer nach demokratischen Grundsätzen gestalteten Gesellschaft glaubten. Er teilte die Prognose eines Untergangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht, sondern ging von der Möglichkeit aus, die schroffen sozialen Gegensätze einzuebnen. Er wollte die Arbeiter mit dem Kapital versöhnen, die Arbeiterbewegung pazifizieren, sie von der sogenannten „proletarischen Demokratie“ (Gustav Mayer), der Vision vom Zusammenbruch des Kapitalismus und dem Aufbau eines egalitären Volksstaats zurückholen und sie in die bürgerliche Gesellschaft integrieren. Das hieß für Merton in erster Linie, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die auf den Arbeitern lasteten, einer praktischen Lösung zuzuführen. Seiner Meinung nach bedurfte es dazu auf Seiten der Unternehmer und Politiker wie auf Seiten der Arbeiter viel Aufklärung. Voraussetzung sei vor allem ein rationaler und wirtschaftlicher Umgang mit den Ressourcen der Sozialreform und Sozialpolitik. „Mit der Um- und Neugestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens mußte auch die Natur der Aufgaben des Vereins- und Stiftungswesens einschneidende Veränderungen erfahren“, schrieb er in einem seiner Berichte für das Institut für Gemeinwohl.39 Vor allem mussten sie effizienter und besser miteinander vernetzt werden, und sie mussten professionelle Hilfe anbieten. Merton begann diese Einsicht ab 1890 praktisch in die Tat umzusetzen. In diesem Jahr gründete er das Institut für Gemeinwohl. Auf diesem Fundament wurden in den folgenden Jahren immer mehr Stockwerke aufgesetzt. Die weitere Entwicklung kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Nur soweit: Das Institut für Gemeinwohl, in das Merton in den Jahren zwischen 1896 und 1914 fast drei Millionen Mark investierte, entwickelte sich rasch zu einer weit über Frankfurt hinaus wirkenden Stätte, an 39 Berichte des Instituts für Gemeinwohl 9 (1905), S. 1.

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der nicht nur praktische Hilfe angeboten wurde, sondern über Ursachen und Verhütung der sozialen Missstände geforscht wurde.40 Das Institut erzielte Erfolge auf dem Feld der empirischen Sozialforschung, führte Enqueten durch und beschrieb soziale Milieus. Es leistete darüber hinaus praktische Hilfe und sammelte systematisch Informationen zur öffentlichen und privaten Fürsorge in Frankfurt. Außerdem war das Institut strategisch vernetzt. Das begann mit der Kontaktaufnahme zur Gesellschaft für Soziale Reform, die 1896 in Berlin gegründet worden war.41 Wenig später richtete das Institut für Gemeinwohl ein eigenes Büro für Sozialpolitik in Berlin ein, das als Verbindungsstelle zwischen dem Verein für Socialpolitik, der Gesellschaft für Soziale Reform, der Zeitschrift Soziale Praxis und Mertons Institut dienen sollte. Merton konnte auf diese Weise eine Schlüsselposition besetzen.42 Dazu wurde eine ganze Serie weiterer Institute wie die Gesellschaft für Wohlfahrtseinrichtungen, die Arbeitsvermittlungsstelle und in Kooperation mit ihr die Rechtsauskunftsstelle, die Centrale für private Fürsorge oder das Soziale Museum gegründet. Das von Merton geschaffene Konglomerat an Vereinen und Instituten verknüpfte nicht nur zahlreiche Problemfelder der Sozialreform miteinander, sondern es verband überdies bürgerliche Sozialreformer mit christlichen und sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen. Sie schufen so ein Klima der politischen Annäherung. Doch all das zwischen 1890 und 1900 Geschaffene war ihm immer noch nicht genug. Im Zuge der von ihm geforderten wissenschaftlichen Durchdringung des Problems suchte er nach noch besser geeigneten Organisationsformen, um diese Aufgabe zu bewältigen. Genau wie bei der permanenten Fortentwicklung seines Konzerns von einer Handelsgesellschaft zu einer Wissensschmiede und einem Technologieunternehmen, das Wissen und Anwen40 Merton förderte dabei auf seine Weise die wissenschaftliche Auseinandersetzung. So kaufte er im Jahre 1892 von dem Sozialdemokraten Heinrich Braun dessen sozialpolitische Zeitschrift, setzte sie unter dem Titel „Blätter für Soziale Praxis“ fort und veräußerte dieses Organ Mitte der neunziger Jahre an einen Herausgeberkreis in Berlin, dem unter anderen der frühere Handelsminister Hans-Jörg Freiherr von Berlepsch angehörte, der wiederum aus der aufgekauften Zeitschrift die „Soziale Praxis“ schuf – eine der wichtigsten Zeitschriften für die sozialpolitische Diskussion im Wilhelminischen Kaiserreich. 41 Der erste gedruckte Bericht über die Entwicklung des Instituts aus dem Jahre 1897 hob ausdrücklich hervor, dass „in Bezug auf Arbeiterpolitik und kommunale Sozialpolitik“ ein „gemeinsames Vorgehen“ angestrebt wurde. Berichte des Instituts für Gemeinwohl 1 (1897), S. 9. 42 Zufrieden notierte sein Mitarbeiter Stein: „Die Wege der Arbeit führten hinüber zu den großen Gebieten der staatlichen Sozialpolitik.“ Zit. nach Hans Achinger, Wilhelm Merton in seiner Zeit, Frankfurt a.M. 1965, S. 127.

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dungen rund um den Bereich Metalle generierte, so suchte Merton seit der Gründung des Instituts für Gemeinwohl nach einer Wissensschmiede für die sozialen Probleme der Gesellschaft und drang dabei immer mehr zu den Defiziten der Sozialwissenschaften vor, die er besonders im Bereich der Anwendungen und praktischen Relevanz sah. Deshalb kam ihm die sich um 1897 entwickelnde Diskussion um eine Hochschule für Frankfurt gerade recht. Daraus ging, um es kurz zu machen, 1902 die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften hervor.43 Merton ging es dabei, wie Philipp Stein überliefert hat, um „die Herausbildung sozial und wirtschaftlich geschulter Männer, die in ihrem Berufe in erster Linie praktisch, dann aber durch Wort und Schrift daran arbeiten, daß unsere Gewerbetreibenden sozial, unsere Sozialpolitiker ökonomisch denken lernen“.44 Die Akademie war wiederum der Gründungskern der Frankfurter Universität, in der wiederum die jungen Sozialwissenschaften – dank Merton – eine Schlüsselrolle spielten.45 Noch wichtiger aber war, dass mit dem Akt Mertons und seiner Einbindung zahlreicher ähnlich gelagerter Stiftungen und Lehr- und Forschungseinrichtungen zur sozialen Frage ein dichtes Netz von Beziehungen zwischen Arbeiter- und Bürgermilieu geknüpft wurde. Das hatte bereits 1912 die Einbindung einzelner Sozialdemokraten in die politische Verwaltung der Stadt ermöglicht und bereitete damit direkt die Weimarer Koalition zwischen Linksliberalen und Sozialdemokraten nach dem Ersten Weltkrieg vor, die sich dann unter Ludwig Landmann zur vollen Blüte entfaltete.

5. Fazit Eine von der Bürgergesellschaft getragene moderne liberale Bewegung bewältigte die Transformation von der Handelsrepublik zur preußischen Stadt. Sie erkannte und akzeptierte die Notwendigkeit weitreichender Wirtschaftsreformen. Sie entwickelte eine für vier Jahrzehnte gültige Zielperspektive und 43 Franz Adickes, Persönliche Erinnerungen zur Vorgeschichte der Universität Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1914, S. 34. 44 Philipp Stein im April 1897 über die Ziele des Instituts. Zit. nach Richard Wachsmuth, Die Gründung der Universität Frankfurt, Frankfurt a.M. 1929, S. 8. 45 Sie bildeten zusammen mit den Wirtschaftswissenschaften den „ältesten hochschulmässig organisierten Teil“ der Universität; vgl. Geschichte der Entstehung der Universität Frankfurt, und Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Frankfurt. UAF, Akten des Rektors, 100-1, Bl. 23–27 u. 50. Die Rolle von Mertons Institut für Gemeinwohl wurde dabei hervorgehoben. Als einzige Stiftung war das Institut für Gemeinwohl mit fünf Vertretern im Großen Rat berücksichtigt.

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lernte auch mit den damit einhergehenden Folgeproblemen umzugehen. Die Realisierung zahlreicher kommunaler Großprojekte gelang in einer parteiübergreifenden pragmatischen Konsenspolitik zwischen den verschiedenen Flügeln der liberalen Bewegung und in einer Zusammenarbeit von Stadtregierung und Stadtparlament. Dazu gehörte auch das langfristige Angebot einer Konsenspolitik mit der Arbeiterbewegung.

KARL HEINRICH POHL

Ein sozialliberales „Modell“? München vor dem Ersten Weltkrieg1

Die Kommunalpolitik ist im deutschen Kaiserreich eine wichtige, aber häufig unterschätzte Ebene der Gesamtpolitik gewesen.2 Gerade im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde sie infolge der fortschreitenden Verstädterung und damit einhergehender Urbanisierung des gesellschaftlichen Lebens mit massiven Problemen konfrontiert.3 Im Mikrokosmos der Kommune gab es eine Fülle politischer, ökonomischer und kultureller Anforderungen, die das Kaiserreich insgesamt kennzeichneten. Wenn man so will, spiegeln die Kommunen in vielen Bereichen das Reich mit seinen großen Problemen geradezu wie in einem Brennglas wider. Auffällig ist jedoch, dass sie sich dabei, und das unterscheidet sie vom Reich und von den Ländern, viel stärker zu einem Experimentierfeld für den Versuch entwickelten, die neue Zeit mit ihren gewaltigen Anforderungen durch neue Strategien zu bewältigen. 1 Dieser Aufsatz ist die schriftliche Form eines Vortrags, den ich am 1.6.2012 in Potsdam auf der Tagung „Kommunaler Liberalismus in Europa“ gehalten habe. Die Vortragsform wurde weitgehend belassen, die Anmerkungen sind auf ein (notwendiges) Minimum reduziert. 2 Auch heute immer noch lesenswert und weiterführend: Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, besonders S. 200–211. Ferner: Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland 1850–1980, Frankfurt a.M. 1995 und ders. (Hg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen Stadtgeschichte, 2. Aufl. Wuppertal 1980; Wolfgang R. Krabbe, Kommunalpolitik und Industrialisierung. Die Entfaltung der städtischen Leistungsverwaltung im 19. und 20. Jahrhundert. Fallstudien zu Dortmund und Münster, Stuttgart 1985. Glänzende Fallstudie zu Nürnberg und Braunschweig: Hans-Walter Schmuhl, Die Herren der Stadt. Bürgerliche Eliten und städtische Selbstverwaltung in Nürnberg und Braunschweig vom 18. Jahrhundert bis 1918, Gießen 1998, insb. S. 304 ff. 3 Zur Bedeutung der Kommunalpolitik und des kommunalen Wahlrechtes für den deutschen Liberalismus vgl. u.a. Karl Heinrich Pohl, Kommunen, Liberalismus und Wahlrechtsfragen: Zur Bedeutung des Wahlrechts für die „moderne“ Kommunalpolitik in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 13 (2001), S. 113–130, und ders., „Einig“, „kraftvoll“, „machtbewußt“. Überlegungen zu einer Geschichte des deutschen Liberalismus aus regionaler Perspektive, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 7 (1994), S. 61–80.

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In den Kommunen wurden bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, das ist die These der folgenden Ausführungen, Lösungsstrategien für soziale, kulturelle und ökonomische Probleme entworfen und z.T. bereits verwirklicht, die auch gegenwärtig für sinnvoll erachtet werden – Strategien, denen die Politik im Reich und den Ländern erst wesentlich später oder überhaupt nicht folgte. Insofern weist die Kommunalpolitik weit über ihren engen Rahmen hinaus: Sie zeigt die Chancen, die im Kaiserreich vorhanden waren, um Probleme der Moderne gewaltfrei und weitgehend einvernehmlich zu lösen. An der Kommunalpolitik lag es jedenfalls am Wenigsten, wenn man dem Kaiserreich insgesamt einen „Modernisierungsstau“ vorwirft.4 Diese spezielle Politik in den Kommunen wird meist mit den Begriffen „Munizipalsozialismus“ oder auch kommunaler „Sozialliberalismus“ umrissen.5 Damit ist, so das Selbstverständnis der Akteure, eine am Gemeinwohl orientierte Politik gemeint, die sich in der Regel durch deutlich erkennbare sozialreformerische Aktivitäten auszeichnete. Sie förderte etwa den Ausbau der Daseinsvorsorge, versuchte zumindest ansatzweise ein allzu enges kapitalistisches Profitdenken zu überwinden, wollte einem rein parteipolitischen Egoismus widerstehen und die Bedürfnisse aller Schichten, also auch der Arbeiter, berücksichtigen. Dies galt für alle Ebenen, also für Politik, Wirtschaft und Kultur. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang auch eine nach gegenwärtigen Maßstäben moderne Schulpolitik und eine in manchem innovative kommunale Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dies zeigte sich konkret etwa in der Installierung von kommunalen Arbeitsämtern und Gewerbegerichten oder in der Bindung städtischer Aufträge an die Einhaltung tarifvertraglicher Regelungen. Hinzu kam eine Fülle von weiteren Versuchen, den Abbau von Spannungen zwischen Unternehmern und Arbeitern zu bewirken, um so den sozialen und kulturellen Frieden zu fördern. Dies alles sind wichtige Faktoren auf dem Weg zu einem modernen Sozial- und Rechtsstaat, wie wir ihn heute kennen. Dieser Weg wurde allerdings in Deutschland, um es noch einmal zu betonen, vor allem in vielen Kommunen, kaum jedoch im Reich oder in Preußen beschritten. Was diese Kommunalpolitik für die Liberalismusforschung interessant macht, ist die Tatsache, dass dort eine originär liberale Politik betrieben wurde. In den Kommunen kann man fast flächendeckend von einer fast unbeschränkten liberalen Vorherrschaft und einer hohen politischen Aktivität sprechen. In den Kommunen der Jahrhundertwende dominierte der Liberalis4 In diesem Kontext sei nur auf die „Sonderwegdebatte“ und die damit verbundene, nahezu uferlose Literatur hingewiesen. 5 Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 210 ff.

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mus jedoch nicht nur, sondern er gestaltete die dortige Politik auch in hohem Maße, verwirklichte seine politischen Vorstellungen in der Praxis – und das in einer zukunftsweisenden Art und Weise.6 Diese Politik fand allerdings in den verschiedensten Formen und Facetten und in den verschiedensten Kooperationsformen statt. Der so häufig als machtfern gescholtene Liberalismus stellte sich dort jedenfalls als (häufig) einig und zugleich machtbewusst dar, fähig zu konkreter Politik. Und: Dieser Liberalismus war der eigentliche Vater des oben skizzierten Sozialliberalismus. Im Reich hingegen hatte der Liberalismus seit Ende der 1870er Jahre seine Vorherrschaft weitgehend verloren, und auch in vielen Ländern schwand sein Einfluss mehr und mehr.

1. Problemstellung: München als „sozialliberale Stadt“? Die folgenden Ausführungen stehen unter der Fragestellung, wie sich unter diesen Voraussetzungen die Kommunalpolitik in München entwickelte.7 Wurde in dieser Stadt bereits um die Jahrhundertwende eine „moderne“ sozialliberale Politik verwirklicht? Kann man gar von „modernen“ Problemlösungsstrategien sprechen? Und wenn ja, wie sahen sie aus? Was beförderte diesen Weg? Welche Rolle spielte speziell in München die katholische Konfession? Gefragt werden soll vor allem aber auch danach, inwieweit die Unterschichten und ihre politischen Organisationen in die Münchner kommunale Politik integriert waren und tatsächlich eine Politik „von allen“ und „für alle“ gestaltet worden ist. Wurde mithin in München, wie von den Liberalen postuliert, eine Politik des „Gemeinwohls“ betrieben, die nicht nur alle Schichten betraf, sondern auch alle Schichten mitgestalten konnten? Sollte und konnte dort also tatsächlich eine reine, die eigenen Interessen fördernde Honoratiorenherrschaft überwunden werden?8 6 Pohl, „Einig“, „kraftvoll“, „machtbewusst“, S. 61 ff. 7 Vgl. dazu und zum Folgenden: Karl Heinrich Pohl, Die Münchener Arbeiterbewegung. Sozialdemokratische Partei, Freie Gewerkschaften, Staat und Gesellschaft in München 1890–1914, München 1992. Ferner: Anneliese Kreitmeier, Zur Entwicklung der Kommunalpolitik der bayerischen Sozialdemokratie im Kaiserreich und der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung Münchens, München 1985. 8 Vgl. die stark sozialgeschichtlich orientierte Arbeit von Gerhard Neumeier, München um 1900. Wohnen und Arbeiten, Familie und Haushalt, Frankfurt a.M. 1995, und Wilfried Rudloff, Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge- und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910–1933, 2 Bde., Göttingen 1998. Beide Studien gehen allerdings auf die hier behandelte Problematik nur am Rande ein. Ferner:

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Zwei Aspekte stehen bei den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt. Zum einen geht es um ein Problem, das nahezu alle deutschen Kommunen betraf, das kommunale Wahlrecht.9 Ein ungerechtes Wahlrecht stellte nämlich in der Regel den Hauptgaranten für die Dominanz der Liberalen und deren erfolgreiches Wirken in den Kommunen fast überall im Deutschen Reich dar. Im weiteren Sinne geht es hier also um das prinzipielle Problem der angemessenen Partizipation aller gesellschaftlichen Gruppen an der kommunalen Politik. Zum anderen sollen zwei konkrete Einzelbeispiele sozialliberaler Kommunalpolitik in München etwas näher untersucht werden. Hervorgehoben werden sollen die Gesundheits- und die Pressepolitik der Münchner Kommunalliberalen. Hier handelt es sich um zwei Bereiche, die im Allgemeinen nicht so stark im Mittelpunkt stehen. Sie sind aber deswegen nicht von geringer Bedeutung für den Erfolg sozialliberaler Politik in den Kommunen. Vor allem gab es hier, neben erheblichen Differenzen, von vornherein auch eine Reihe von sachlichen Annäherungspunkten zwischen Liberalen und Sozialdemokratie.

2. Die Stadt München um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert10 Die bayerische Landeshauptstadt war um die Jahrhundertwende eine Großstadt mit knapp 500.000 Einwohnern.11 Sie stellte eine wichtige (regionale) Elisabeth Angermair, Münchner Kommunalpolitik. Die Residenzstadt als expansive Metropole, in: Friedrich Prinz/Marita Krauss (Hg.), München–Musenstadt mit Hinterhöfen–Die Prinzregentenzeit 1866–1912, München 1988, S. 36–43, und Merith Niehuss, Parteien, Wähler, Arbeiterbewegung, ebd., S. 44–53. 9 Vgl. dazu schon sehr früh Merith Niehuss, Strategien zur Machterhaltung bürgerlicher Eliten am Beispiel kommunaler Wahlrechtsänderungen im ausgehenden Kaiserreich, in: Heinrich Best (Hg.), Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989, S. 60–91. 10 Richard Bauer (Hg.), Geschichte der Stadt München, München 1992. Darin insbesondere Elisabeth Angermair, München als süddeutsche Metropole. Die Organisation des Großstadtausbaus 1870 bis 1914, S. 307–335. Weiterhin: Karl Bosl, München. Bürgerstadt, Residenzstadt, heimliche Hauptstadt Deutschlands, Stuttgart 1971. 11 Vgl. hierzu den guten Überblick bei Prinz/Krauss (Hg.), München. Ferner Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz von 1860 bis 1918, Habil Ms. Bielefeld 1997. In der Buchfassung wurden die wichtigen Teile über den Liberalismus in München weggelassen. Ferner, Pohl, Münchener Arbeiterbewegung.

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Metropole dar, in der die Wittelsbacher, in dieser Periode Prinzregent Luitpold, regierten. Die Stadt war zudem ein wichtiges Kunstzentrum, so wie auch heute noch. Sie war eine Hochburg des Tourismus und galt (und gilt) als weltoffen und „liberal“. Das zeitgenössische Schlagwort: „München leuchtet“ oder aber die Überschrift einer neueren Studie, „Musenstadt mit Hinterhöfen“ drücken dies sehr deutlich aus. Auch die verklärende Erinnerung an die „schöne Prinzregentenzeit“ in Bayern spielt auf diesen Aspekt an.12 Dominierend, kulturell, politisch und ökonomisch, war bis Ende des 19. Jahrhunderts ein breit gefächertes liberales Bürgertum mit einem höchst lebendigen Vereinswesen. Die Industrialisierung verlief eher zögerlich und „verspätet“. Die Arbeiterbewegung spielte zwar schon in den 90er Jahren eine Rolle, trat jedoch längst nicht so stark hervor wie etwa in den Städten des Ruhrgebiets, in Berlin oder in Sachsen. Immerhin: Sie wuchs auch in München noch vor dem Ersten Weltkrieg zur stärksten politischen Kraft heran, auch wenn dies bei den Kommunal- und Landtagswahlen noch nicht zum Ausdruck kam. Die beiden Reichstagswahlkreise hingegen fielen fast regelmäßig an die Sozialdemokratie. Der langjährige Abgeordnete und Vorsitzende der bayerischen Sozialdemokratie, Georg von Vollmar, war eine weit über Süddeutschland hinaus bekannte sozialdemokratische Persönlichkeit.13 Ob die Sozialdemokratie aber jemals stärkste Partei in Bayern werden konnte, war angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Struktur (Bayern war stark agrarisch geprägt) sowie des Dominierens der katholischen Konfession mehr als fraglich. Das Zentrum stellte nicht nur auf dem Lande, sondern auch in München (etwa 70 % der Bevölkerung waren dort katholisch) einen bedeutenden Machtfaktor dar, der auch bei den Arbeitern der Residenzstadt einen erheblichen Anhang besaß. München war nicht zufällig lange Zeit eine Hochburg der Christlichen Gewerkschaften im Kaiserreich, die gerade in der Landeshauptstadt den Freien Gewerkschaften erhebliche Konkurrenz machten.14 Da die Angst vor einer „roten Machtergreifung“ in Bayern eher gemäßigt war, spielten allerdings auch Berührungsängste zwischen Bürgertum und Sozialdemokraten keine unüberwindbare Rolle. Man konnte als Liberaler (aber auch als Mitglied der Zentrumspartei) auf die Sozialdemokraten zugehen, ja sogar, wie der Linksliberale Ludwig Quidde, in ihren Veranstaltungen als Redner auftreten, ohne sich wirklich „fürchten“ zu müssen. Und auch Sozi12 Prinz/Krauss (Hg.), München. 13 Zu von Vollmar ist immer noch maßgeblich die ältere Biographie von Reinhard Jansen, Georg von Vollmar. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1958. 14 Dorit-Marita Krenn, Die Christliche Arbeiterbewegung in Bayern vom Ersten Weltkrieg bis 1933, Mainz 1991; Hans Dieter Denk, Die Christliche Arbeiterbewegung in Bayern bis zum Ersten Weltkrieg, Mainz 1980.

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aldemokraten war es in einzelnen Fällen durchaus möglich, in linksliberalen Veranstaltungen aufzutreten. Wie die Broschüre der Sozialdemokratie aus dem Jahre 1904 zum Parteitag der deutschen Sozialdemokratie verkündete, betonte die bayerische Sozialdemokratie, im Gegensatz zu ihren preußischen Genossen, daher auch eher das Übereinstimmende als das Trennende: „Im Umgang [in München] herrscht ein gewisser demokratischer, ungebundener Zug; die gesellschaftlichen Unterschiede spielen keine große Rolle, und bei Krug und Vergnügen verkehren die Stände und Klassen friedlich miteinander, ohne dass sich der Eine um Beruf und Vermögen des Anderen viel kümmert, Überhebung oder Unterwürfigkeit zu Tage tritt“.15 In einem solchen Umfeld betrieben die Sozialdemokraten daher eine eher gemäßigte, reformorientierte Politik, in der auch die Agitation gegen die katholische Religion sehr dezent blieb. Sie hoffte, auf diesem Wege koalitionsfähig zu werden und ihren Einfluss auf diese Weise angemessen durchsetzen zu können. Das dürfte übrigens für Bayern und die Politik der bayerischen Sozialdemokratie, besonders in München, auch nach 1945 und bis heute gelten. Die strukturelle Schwäche der Sozialdemokratie, die Politische Kultur des Landes, sowie ein gewisses Verständnis der liberalen Regierung Podewils für die Belange auch der Arbeiter und ihre politischen und wirtschaftlichen Organisationen, all dieses führte zu einem relativ reformfreundlichen Umfeld und verdeckte zumindest partiell die ebenfalls vorhandenen Klassengegensätze. Allerdings bremste die unerschütterliche Dominanz des Zentrums auf dem Lande – die bis in die Landeshauptstadt hineinwirkte – alle zu weitgehenden Innovationen bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges ab. Der Spielraum der Münchner Kommunalpolitik blieb, vor allem im Bereich der Kultur, deutlich begrenzt. Er konnte prinzipiell nur durch ein gemeinsames Agieren von Liberalen und Sozialdemokraten vergrößert werden. Dies alles hatte zur Konsequenz: Die reformorientierten Sozialdemokraten waren in München und Bayern zwar keine gern gesehene, aber doch eine weithin akzeptierte politische Kraft. Zweckbündnisse (mit dem Zentrum zu Beginn des Jahrhunderts) und regelrechte Koalitionen (1912 mit den Libera-

15 München-Festschrift der bayerischen SPD zum Parteitag der deutschen Sozialdemokratie, 14. bis 20. September, München 1902, S. 26. Vgl. dazu auch Karl Heinrich Pohl, Die Sozialdemokratie in München: Zur Vorstellungswelt und sozialen Struktur der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in der bayerischen Landeshauptstadt (1890–1914), in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 28 (1992), S. 293–319.

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len) waren schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt möglich.16 Dass Münchner Sozialdemokraten bei Hofe zu Gast waren, war allerdings selbst für das liberale Süddeutschland eher ungewöhnlich. Das Fazit daraus lautet: All diese Faktoren stellten zweifellos eine hervorragende Grundlage für eine mögliche Kooperation zwischen Liberalen und Sozialdemokraten dar.

3. Das Kommunalwahlrecht im „sozialliberalen“ München Die Ausgangsvoraussetzungen für eine breite politische Partizipation der gesamten Bevölkerung waren, auf den ersten Blick, für fast alle Kommunen im deutschen Reich sehr schlecht. Dies gilt vor allem im Vergleich mit dem Reich und seinem relativ demokratischen Wahlrecht, es gilt aber auch im Vergleich mit einigen Ländern, nicht allerdings gegenüber Preußen mit seinem Dreiklassenwahlrecht. Fast alle Kommunen zeichneten sich durch ein besonders restriktives Wahlrecht aus. Dieses wurde, im Gegensatz zu den Wahlrechtsreformen in verschiedenen Ländern des Reiches (auch in Bayern), im Laufe der Zeit kaum, und wenn, dann eher marginal demokratisiert. Fast überall verhinderten die lokalen Honoratioren durch ihre massive Blockadepolitik gegenüber Wahlrechtsverbesserungen jeden Ansatz einer „kommunalen Demokratisierung“. Kommunale Wahlrechtspolitik lässt sich daher als eine durch und durch undemokratische Strategie zur Machterhaltung der liberalen kommunalen Eliten bezeichnen.17 Das gilt prinzipiell auch für München. Allerdings fällt auch auf, dass diese strikt antidemokratische Haltung in Bezug auf das Wahlrecht zugleich oft mit einem ausgeprägten Verständnis von konkreter „kommunaler Kooperation“ gepaart war. Wer einmal in die kommunalen Gremien gelangt war, gehörte oft – allerdings nicht immer – „dazu“. Zwar wurde Kommunalpolitik in der Regel als „Unpolitik“ definiert, also als ein Handeln, das durch „reinen“ Sachverstand geleitet wurde und pflichtgetreues Ausführen von „neutralen“ Sachhandlungen im Rahmen der herrschenden Gesetze intendierte. Trotzdem aber gab es in vielen Städten des deutschen Reiches durchaus Ansätze, die Gleichberechtigung aller Vertreter der durch die restriktiven Kommunalwahlen gewählten Stadtverordnetenversammlung anzuerkennen, alle Mitglieder in die kommunale Arbeit einzubinden und über alle ideologischen Gräben hinweg miteinander zu kooperieren. 16 Anneliese Kreitmeier, Zur Entwicklung der Kommunalpolitik der bayerischen Sozialdemokratie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung Münchens, in: Archiv für Sozialgeschichte/AfS 25 (1985), S. 103–135. 17 Vgl. hierzu Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 206 ff.

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Es galt hier: Der Sachverstand der gewählten Bürger, gleich welcher politischen Färbung, wurde akzeptiert. Das Problem für Sozialdemokraten war nur: Sie kamen sehr selten in diese städtischen Gremien hinein und waren dort fast immer und überall in der Minderheit. Insgesamt kann man jedoch in verschiedenen Kommunen kurz vor dem Ersten Weltkrieg so etwas wie einen funktionierenden „kommunalen Parlamentarismus“ erkennen, wenn man den Begriff Parlamentarismus etwas weiter fasst und berücksichtigt, dass in den Kommunen ja kaum Entscheidungen wie in einer parlamentarischen Demokratie gefällt wurden.18 Es gab jedoch, wie in den Ländern und im Reich, Fraktionsbildungen, die von allen „Parteien“ akzeptiert wurden und auch die (meist wenigen) Sozialdemokraten einschlossen. Es gab Diskussionen auf Augenhöhe und kaum Diskriminierungen, wohl aber das Hantieren mit allen möglichen Geschäftsordnungstricks, meist zu Ungunsten der Sozialdemokraten. Alles in allem ist aber festzuhalten: Das politische Klima war in einer Reihe von Kommunen in der Zeit des Kaiserreiches durchaus fortgeschritten im Sinne offener Diskussionen, fairer Verhandlungen und Gleichberechtigung der Partner, fortgeschrittener jedenfalls als im Reichstag und den meisten Länderparlamenten. Inwieweit diese weitgehende kommunale Kooperation vielleicht gerade mit dem undemokratischen Wahlrecht zusammenhängt, wäre zu untersuchen. Manches könnte aber dafür sprechen, da ohne die wahlrechtsprivilegierten Liberalen keine vitalen Interessen der Sozialdemokraten oder Zentrumskatholiken durchsetzbar waren. Wie sah nun gemessen an diesen skizzierten allgemeinen Standards die Situation in München aus? Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Die Stadt war, trotz der mehrheitlich katholischen Bevölkerung, seit „jeher“ nicht nur bürgerlich geprägt, sondern auch politisch liberal. Insofern entspricht sie dem typischen Bild vom kommunalen Liberalismus in einer Stadt des Reiches. Es entwickelte sich dort ein breit gefächertes liberales Spektrum, das sich vom (meist) dominierenden rechten Nationalliberalismus bis zu den (eher wenigen) Linksliberalen um Ludwig Quidde erstreckte. Dieser kommunale Liberalismus beherrschte die kommunale Politik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast allein. Der gemeinsame „Feind“ war weniger die reformorientierte, noch relativ schwache Sozialdemokratie als vielmehr das „klerikale“ 18 Vgl. dazu Pohl, „Einig“, „kraftvoll“, „machtbewusst“, S. 61–80, sowie Merith Niehuss, Die Stellung der Sozialdemokraten im Parteiensystem Bayerns, Baden-Württembergs und Badens, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften im Parteiensystem und Sozialmilieu des Kaiserreichs, München 1990, S. 103–126.

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Zentrum, das immer dann als Feindbild herhalten musste, wenn es notwendig war, die divergierenden Elemente im Liberalismus zusammenzubinden. Der Liberalismus sah sich seit den 1890er Jahren allerdings einer immer stärkeren sozialdemokratischen und mehr und mehr auch einer katholischen Konkurrenz ausgesetzt. Nicht zuletzt daraus resultierte der verbissene, aber letztlich erfolglose Kampf gegen eine auch nur partielle Demokratisierung des kommunalen Wahlrechtes. Auch dies entspricht gewissermaßen der „kommunalen Norm“. Das belegen eine Reihe von Beispielen auch aus Bayern, wie etwa Nürnberg.19 Bis zum Jahre 1908 schützten ein hoher Zensus und die Einteilung der Stadt München in zwanzig – speziell zugeschnittene – Wahlkreise die Position der dominierenden Liberalen. Die Wahlkreise in der Landeshauptstadt waren jeweils so konstruiert worden, dass sich in ihnen vor allem Zentrum und Sozialdemokraten Konkurrenz machten, während die Wahlbezirke, in denen die Liberalen besonders chancenreich waren, das bürgerliche Lager kompakt umfassten oder aber so ausgelegt waren, dass Sozialdemokratie und Zentrum halbwegs sicher nicht überwiegen würden.20 Auch das gehört zur allgemeinen Politik der liberalen Wahlrechtsgeometrie in den Kommunen. Nürnberg ist erneut ein sehr gutes Beispiel für diese Tatsache und vor allem für die Energie und den Aufwand, der für diese Wahlkreisgeometrie zu Ungunsten der Sozialdemokratie aufgewendet wurde.21 Die dann doch erzwungene, allerdings eher bescheidene kommunale Wahlrechtsreform von 1908, in der das Zensuswahlrecht gemäßigt, aber noch nicht vollständig abgeschafft, vor allem aber das Verhältniswahlrecht für Gemeinden über 4000 Einwohner eingeführt wurde, entsprang dementsprechend auch den gemeinsamen Bemühungen der Bayerischen Regierung Podewils, des Zentrums und der Sozialdemokratie. Sie wurde gegen den massiven Widerstand der Liberalen initiiert. Hervorzuheben ist jedoch auch, dass die endgültige Reformvorlage aus den Händen des Linksliberalen Ludwig Quidde stammte, allerdings viele Wünsche der „Koalitionäre“ deutlich verwässerte.22 Aber selbst die kleinen schließlich übrig gebliebenen Veränderungen brachten bereits einen erheblichen politischen Umschwung. Die Zusammensetzung des Gemeindebevollmächtigten-Kollegiums begann sich nun deutlich zugunsten der Sozialdemokratie (und des Zentrums23) 19 Dieter Rossmeissl, Arbeiterschaft und Sozialdemokratie in Nürnberg 1890–1914, Nürnberg 1977, S. 179 ff. 20 Kreitmeier, Kommunalpolitik, S. 122. 21 Schmuhl, Herren der Stadt, S. 253 ff. 22 Ebd., S. 304. 23 Niehuss, Strategien, S. 85.

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zu verändern. Nach den Wahlen von 1911, den letzten vor dem Kriege, bestand das 60köpfige Kollegium der Gemeindebevollmächtigten in München nur noch aus 24 Liberalen, aber schon 14 Zentrumsmitgliedern, zwei Hausagrariern, einem Antisemiten und nun immerhin stattlichen 19 Sozialdemokraten, die im übrigen fast alle der katholischen Konfession angehörten.24 Die Tendenz war zudem insgesamt deutlich steigend, denn auch im Magistrat konnte die Sozialdemokratie allmählich Fuß fassen.25 Das liberale Stadtregiment hatte allerdings, dies unterscheidet München von anderen Städten, diese Entwicklung bereits seit der Jahrhundertwende antizipiert und rechtzeitig mit einer Politik der Annäherung an die Sozialdemokratie reagiert: Der Münchner Liberalismus betrieb schon seit der Jahrhundertwende mehr und mehr eine Politik der kommunalpolitischen Kooperation, die vor allem die politische Linke einschloss. Aus diesem Grunde setzte sich in München seitdem immer stärker ein politisches Miteinander durch, bei dem die Sozialdemokratie (fast) ebenbürtig behandelt wurde. Dass es von Seiten der Liberalen allerdings immer wieder Versuche gab, die Arbeiterbewegung zu benachteiligen, darf nicht unerwähnt bleiben. Von politischer Sympathie oder gar „Liebe“ konnte nie die Rede sein, wohl aber von politischer Klugheit und Einsicht in die Realitäten. Nach 1908 gelangten die Sozialdemokraten daher, mit Unterstützung oder doch zumindest mit Duldung durch die Liberalen, immer stärker in wichtige kommunalpolitische Machtpositionen: In der Versammlung der Gemeindebevollmächtigten brachte es der ehemalige Kohlenträger Sebastian Witti zum zweiten (und während des Krieges dann zum ersten) Vorstand. Im Verwaltungs-, im Handels- und Finanz- sowie im Bau- und im Schul- und Sanitätsausschuss stellte die Sozialdemokratie den Vorsitz und besetzte ein Drittel aller Mandate. Auch in der Lokalschulkommission und im Armenpflegschaftsrat war sie präsent. Ihre Mitarbeit wurde von den anderen Parteien nahezu problemlos anerkannt. Nur Ehrenmedaillen wollten die Sozialdemokraten (noch) nicht annehmen. Ansonsten waren sie voll in das kommunale System integriert.

24 Zur sozialen Schichtung der sozialdemokratischen Mandatsträger: Von den 24 sozialdemokratischen Kommunalpolitikern waren 14 Selbständige, zehn mehr oder weniger der Sozialdemokratie wirtschaftlich verbunden (Arbeitersekretäre, Redakteure und Angestellte der Krankenkasse); fünf Kommunalpolitiker waren Akademiker. Insgesamt zeichnet sich hier also ein stark kleinbürgerliches Profil ab: Pohl, Arbeiterbewegung, S. 439. 25 Ebd., S. 434 ff.

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4. Zur kommunalen Gesundheitspolitik: Die Münchner „Kommission für Arbeiterhygiene und -statistik“ Im Folgenden wird ein Aspekt des Sozialliberalismus in München vorgestellt, der geradezu typisch für München stehen kann und das enge personelle Geflecht innerhalb der Stadt besonders deutlich sichtbar macht: die kommunale Gesundheitspolitik. Hier zeigte sich, dass die vorhandene Segregation der verschiedenen sozialen Gruppen durchaus überwunden werden konnte – und auch praktisch überwunden wurde.26 An dieser Stelle soll allerdings keine allgemeine Bewertung und Darstellung der Problematik von Gesundheitspolitik im Kaiserreich und der damit verbundenen Probleme wie etwa soziale Disziplinierung der Arbeiterschaft, Professionalisierung des Ärztewesens, Krankenkassenpolitik oder Sozialhygiene im Allgemeinen im Mittelpunkt stehen.27 Es geht vielmehr ganz konkret um „sozialliberale“ Gesundheitspolitik in München: Wie und auf welche Weise gelang es also in München, trotz unterschiedlicher Vorstellungen eine von den meisten gesellschaftlichen und politischen Kreisen getragene kommunale Gesundheitspolitik zu betreiben? Kann man von einem Erfolg dieser Bemühungen sprechen, einem Erfolg, der die Bedeutung des Sozialliberalismus in München belegt und die Stadt geradezu zur sozialliberalen Musterkommune machte? Zwischen sozialdemokratisch-freigewerkschaftlicher Arbeiterbewegung und bürgerlichen Reformbestrebungen bestanden erhebliche grundsätzliche Differenzen über Funktionen und Ziele des staatlichen Gesundheitswesens.28 Trotzdem aber gelang es in München, diese Distanz zu überwinden und zu einer weitgehenden Übereinstimmung in gesundheitspolitischen und sozialhygienischen Bestrebungen zu gelangen. In München arbeiteten Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Ärzte und (bürgerliche) Kommunalpolitiker eng zusammen, um eine gemeinsame Gesundheitspolitik zu ermöglichen. Die Münchner „Kommission für Arbeiterhygiene und -statistik“ stellt für diesen Bereich ein Paradebeispiel dar. Sie ist ein überzeugender Beleg für das Münchner Modell einer partei-, klassen- und konfessionsübergreifenden kom26 Ganz allgemein zu diesem Thema Jürgen Reulecke u.a. (Hg.), Stadt und Gesundheit. Zum Wandel von „Volksgesundheit“ und Kommunaler Gesundheitspolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1991. 27 Alfons Labisch, Die gesundheitspolitischen Vorstellungen der deutschen Sozialdemokratie von ihrer Gründung bis zur Parteispaltung (1863–1917), in: AfS 20 (1980), S. 431–470. 28 Florian Tennstedt, Vom Proleten zum Industriearbeiter. Arbeiterbewegung und Sozialpolitik in Deutschland 1800 bis 1914, Köln 1983.

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munalen Zusammenarbeit in wichtigen Sachfragen. Hierbei spielte vor allem die Besonderheit des Münchner Vereinswesens eine erhebliche Rolle. Zwar gab es auch in München, wie in den meisten anderen Kommunen des Deutschen Reiches, ein lebendiges und ausgeprägtes Vereinswesen, das sich vor allem auf spezielle Milieus bezog. Diese Segregation aber konnte – wie sich zeigte – im Laufe der Zeit durch milieuübergreifende Kooperationen überwunden werden. In München dominierten im Prinzip das katholische, das bürgerliche und das Arbeitermilieu. Dementsprechend existierten etwa die katholischen Elisabethen- und Vinzenzvereine neben der sozialdemokratischen Arbeiterwohlfahrt oder dem liberalen Bürgerverein, der sich sozialer Probleme annahm, ohne dass diese Vereine intensiv miteinander kommunizierten. Ungeachtet dessen gab es jedoch auch eine große Anzahl milieuübergreifender Vereine, etwa im Bereich der Presse- und der Bildungspolitik und vor allem, das ist hier von großer Bedeutung, im Bereich des Gesundheitswesens, die die Gräben überwinden konnten und sich parallel zu den milieugebundenen Vereinen entfalteten. Im Gesundheitswesen spielten für diese Entwicklung die persönlichen Kontakte zwischen den Akteuren der verschiedensten politischen Couleur eine ganz wichtige Rolle. Die am 18. Juli 1904 von dem aus Preußen ausgewiesenen Arzt Mieczyslaw Epstein ins Leben gerufene „Münchner Kommission für Arbeiterhygiene und -statistik“ war ein besonders hervorragender informeller, partei- und milieuübergreifender Zirkel. Sie machte es sich zur Hauptaufgabe, die sozialen und hygienischen Missstände in München zu bekämpfen und als zentrale Stelle für hygienische Fragen aufzutreten. In diesem Kreis hatte auch die Stimme der Sozialdemokraten Gewicht. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die seit Beginn des Jahres 1904 von dem Sozialdemokraten Sebastian Witti geleitete neue Münchner Ortskrankenkasse in hohem Maße auf die Interessen der meist bürgerlichen Ärzte einging und ein breites Interessenband zwischen Ärzten und Sozialdemokratie herstellte – im allgemeinen ein eher ungewöhnliches Bündnis.29 Außer Sozialdemokraten, Freien Gewerkschaften, Gewerkschaftssekretariat und Gewerkschaftskartell umfasste es eine breite Schicht von Ärzten aus allen politischen Lagern, zu denen neben den Sozialdemokraten wie Epstein, Adams Lehmann und Lehmann auch konservative Universitätsprofessoren und Hofräte gehörten.30 Ferner zählten dazu Ortskrankenkassenvorstände, Vertreter des Statis29 Vgl. dazu: Die Errichtung von Ortskrankenkassen in München und ihre Entwicklung, München 1926. 30 Marita Krauss, Hope. Dr. Hope Bridges Adams Lehmann – Ärztin und Visionärin. Die Biografie, 2. Aufl. München 2010.

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tischen Amtes der Stadt München und der Gewerbeaufsicht für Oberbayern, die durch den Gewerbearzt direkt mit der Münchner Ärzteorganisation verbunden war. Die Beziehungen dieser Gruppe reichten dank der verschiedenen Funktionen ihrer Mitglieder bis zum Magistrat der Stadt München und zur Landesregierung. Sie alle einten die Ziele, die deren langjähriger Vorsitzende, der sozialdemokratische Arzt Epstein, folgendermaßen skizzierte: „Die Krankenversicherungsgesetzgebung hat die Ärzte vor neue Probleme gestellt, nicht nur das kranke Individuum bietet sich dem Arzt als Objekt der Behandlung dar, ein großer Volkskörper mit komplizierten, sozialen, ökonomischen und hygienischen Beziehungen präsentiert sich den ärztlichen Aufgaben. Daher genügen nicht mehr die Fragen individueller Therapie, Fragen der Volkgesundheit treten gebieterisch an uns heran. Nichts hat uns das mehr zu Bewusstsein geführt als die Zentralisation der Ortskrankenkassen, die in München über 100.000 Mitglieder zu einer großen Gemeinschaft zusammengeschmiedet hat. Die gleichzeitige Einführung der freien Arztwahl in München hat der Mehrzahl der gesamten Ärzteschaft gleichsam die Verantwortung für die Gesundheit dieses großen Volkskörpers zugewiesen. Daraus erklärt sich zur Genüge, weshalb die Abteilung freie Arztwahl es unternommen hat, eine Kommission zu gründen, welche die Aufgaben der Prophylaxe der Versicherten in großem Stil zu verfolgen berufen ist. Ist der Satz, dass die Verhütung von Krankheiten dankbarer ist als die Heilung bereits ein Gemeinplatz geworden, so hat er noch ganz besondere Geltung den Versicherten gegenüber, die sich zum größten Teil in schlechten hygienischen Verhältnissen befinden, bei denen die Vorbedingungen für Erkrankungen in der Unterernährung, den langen Arbeitszeiten, den schlechten Wohnungs- und Werkstättenverhältnissen, der Beschäftigung mit gesundheitsschädlichen Stoffen in hohem Maße gegeben sind“.31

Aufgrund dieser Überlegungen stellte sich die Kommission die konkrete Aufgabe, die sozialen und hygienischen Verhältnisse im Arbeitermilieu zu erforschen, die dortigen hygienischen Mängel aufzudecken und ihre Beseitigung (auf gesetzgeberischem Wege) anzustreben. Die Kommission wollte die Professionalisierung der Ärzte fördern, die Versicherten aufklären und zugleich zu allen gesundheitspolitischen Fragen öffentlich Stellung beziehen. Gemeinsam verfolgten die Mitglieder dabei auch originär sozialdemokratische Forderungen. Dazu gehörte etwa die Einführung der Familienversicherung, die 31 Referat von M. Epstein, Ein Programmentwurf für die Kommission für Arbeiterhygiene und -Statistik, in: Berichte der Kommission 1904–1906, S. 5. Zur Bedeutung dieser Kommission vgl. auch Tennstedt, Vom Proleten, S. 563 ff.

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Krankenhauspflege für Schwerkranke, eine sechswöchige Unterstützung für Wöchnerinnen und die Erarbeitung von Krankheitsverhütungsvorschriften.32 Die Kommission war aber nicht nur ein Debattierklub, wie man aus dem Namen vielleicht schließen könnte, sondern sie war auch höchst aktiv und konnte sehr konkrete Erfolge vorweisen. Um die Säuglingssterblichkeit zu senken, setzte sie etwa eine gezielte Wöchnerinnenunterstützung durch, erreichte eine intensive Beratung der jungen Mütter, konnte die Bereitstellung von verbilligter Milch erwirken und eine Prämierung für stillende Mütter durch die Krankenkassen durchsetzen. Sie war maßgeblich daran beteiligt, dass die Kommune 1905 immerhin 18 neue Schulärzte einstellte, zu denen 1914 erstmalig auch ein Schulzahnarzt hinzukam. Nicht zuletzt engagierte sie sich intensiv beim Aufbau eines Frauenheimes, wie es die Ärztin Adams Lehmann initiierte.33 Für diese konkreten Erfolge sind zwei strukturelle Momente von Bedeutung gewesen: Zum einen ist es die besondere Eigenart eines reformorientierten Ansatzes der Münchner Ärzteschaft, der sich milieuübergreifend durchsetzte und der bereit war, auf die Interessen aller sozialen Gruppen einzugehen. Zum anderen ist es die Erkenntnis, dass die sozialdemokratische Gesundheitspolitik in München maßgebend von der Bismarckschen Arbeiterversicherungsgesetzgebung beeinflusst wurde. Die Sozialdemokratie in München integrierte sich weitgehend in das von ihr lange abgelehnte Bismarcksche System und versuchte nun, es in der kommunalen Sozialpolitik mit immer neuen Zusätzen zu verbessern. Mit dieser Pragmatik gab sie es allerdings auch auf, gesundheitspolitische Vorstellungen zu entwickeln, die die Möglichkeiten des Gegenwartsstaates gesprengt hätten. Sie orientierte sich vielmehr vor allem an den Notwendigkeiten praktischer Krankenkassenpolitik, die sie in München allerdings weitgehend selbst bestimmen konnte. Insofern war sie, und das ist ein Ergebnis gemeinsamer sozialliberaler Kommunalpolitik, nur noch für systemimmanente Reformen offen. Zweifellos können also die in München initiierte Gesundheits- und Sozialpolitik sowie die Art ihrer Praktizierung mit Beteiligung der verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen, einschließlich der Sozialdemokratie, als Versuch gewertet werden, Ansätze eines Sozialstaates zu verwirklichen, und zwar durch ein von Vertretern aus fast allen Schichten getragenes gemeinsames Konzept. Die Interessen der Arbeiter wurden insofern berücksichtigt, als ihnen z.B. das Prinzip der freien Arztwahl persönliche 32 Pohl, Arbeiterbewegung, S. 353 ff. 33 Krauss, Hope, S. 140 ff.

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Bewegungsfreiheit bot und die von ihnen beeinflussten Krankenkassen ein Instrument darstellten, ihre gemeinsamen Forderungen nicht nur zu artikulieren, sondern auch durchzusetzen. Zugleich wurden durch eine solche Politik aber auch Bestrebungen nach einem gesundheitsgerechten Verhalten nach bürgerlichen Vorstellungen und Maßstäben gefördert. Die gemeinsame Politik zielte mithin auf eine „kulturelle Formung“ aller Bürger, auch der Arbeiter, eine Zielsetzung, die zweifellos ein starkes Moment von Sozialdisziplinierung enthielt.34 Was im Reich und in den meisten deutschen Ländern offenbar nicht gelang, in der Kommune München setzte es sich durch: eine Integration der reformorientierten Arbeiterbewegung in das bestehende gesellschaftliche und politische System. Das war allerdings nur möglich, weil die Erfolge der sozialliberalen Politik auch für die Arbeiter sichtbar überwogen. Sie ließen daher Einschränkungen, Disziplinierungen und Anpassungen als das geringere Übel erscheinen.

5. Pressepolitik in München: Der Landesverband der bayerischen Presse Eine in Vielem vergleichbare Entwicklung zeichnete auch das Pressewesen in der Landeshauptstadt (und in Bayern insgesamt) aus. Auch hier gelang es, divergierende Positionen zwischen Liberalen und Sozialdemokraten allmählich zu überwinden, die Interessen von bürgerlicher und sozialdemokratischer Presse zu bündeln, verschiedene Standesvertretungen zusammenzuführen und schließlich eine gemeinsame Interessenvertretung zu gründen. Deren Ziel bestand darin, gegen Übergriffe von Staat, Religion und Justiz Schutz zu bieten, sowie die journalistischen Einengungen durch die katholische Sozialmoral gemeinsam zu bekämpfen. Es war in diesem Falle also vor allem das katholische Umfeld, das Liberale und Sozialdemokraten trotz aller internen Gegensätze darin bestärkte, eine größtmögliche Pressefreiheit, unabhängig von der katholischen Werteordnung und der durch sie bedingten Restriktionen, gemeinsam durchsetzen zu wollen. Dieses katholische „Feindbild“ half entscheidend, die erheblichen Divergenzen zwischen Sozialdemokratie und Liberalen im Bereich des Pressewesens 34 Vgl. dazu Ute Frevert, „Fürsorgliche Belagerung“: Hygienebewegung und Arbeiterfrauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 420–446, und Christoph Sachßse/Florian Tennstedt, Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zur historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1986.

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zu überwölben und eine gemeinsame Grundlage für die Zusammenarbeit zu finden. Die Zielsetzungen von bürgerlicher und sozialdemokratischer Presse deckten sich allerdings in der Regel nur sehr partiell.35 Dies gilt auch für München. Die sozialdemokratische Presse besaß, nach ihren eigenen Vorstellungen, vor allem eine politisch „aufklärerische“ und agitatorische Funktion. Sie war sozialistische Parteipresse, wollte – so ihr politischer Auftrag – gegenüber der bürgerlichen und der Zentrumspresse eine Gegenöffentlichkeit herstellen. Sie sollte Waffe im Kampf gegen das Kapital sein, ein geistiges Band unter den sozialdemokratischen Genossen herstellen, den Zukunftsstaat vorbereiten – und zudem möglichst wenig kosten. Diese Vorstellungen der Sozialdemokratie wurden wiederum von der bürgerlich-liberalen Presse massiv bekämpft. Diese vertrat z.B. in den Fragen von Besitz, Kapital und Wirtschaftsordnung eine ganz andere Wertordnung. Von „Kollektivismus“ hielt sie schon gar nichts. Kurzum: Sie vertrat ein liberales Weltbild. Die liberale Presse besaß allerdings gegenüber der sozialdemokratischen Presse den Vorteil, gewisse kapitalistische Methoden (Abonnentenversicherung, Kleinanzeigen u.ä.) nutzen zu können, um so Leser anzulocken, die eigene Auflage zu verbreitern, die wirtschaftlichen Grundlagen zu stabilisieren und die Preise niedrig zu halten. Das war ein Vorteil, der viele sozialdemokratische Redakteure zeitweise an dem Erfolg der eigenen journalistischen Arbeit zweifeln ließ.36 Da die sozialdemokratische „Münchner Post“ mit den (kapitalistischen) Methoden der Gewinnung von neuen Abonnenten lange Zeit nicht mithalten 35 Vgl. dazu Dieter Fricke, Zur Organisation und Tätigkeit der deutschen Arbeiterbewegung 1890–1914. Dokumente und Materialien, Leipzig 1962, S. 362–478, und Kurt Koszyk, Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Die sozialdemokratische Presse von 1914–1933, Heidelberg 1958. Zeitgenössisch: Albert Südekum, „Über die Presse“, BA Koblenz, NL Südekum 109, Süd 9, Br 40. Zu München: Münchner Post, 6.2.1905: „Die Parteipresse als Machtmittel“. 36 Vgl. dazu die Polemik von Kurt Eisner, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1919, S. 455. „Einer Frau waren zu wenig Wohnungsanzeigen im Parteiblatt, einer anderen zu wenig Traueranzeigen, einer dritten zu wenig Käufe und Verkäufe. Anstatt auf diese Einwendungen sorgfältig zu hören, nennt man sie spießbürgerlich, rückständig. Aber jeder Blick in ein bürgerliches Inseratenblatt beweist doch gerade durch die Unzahl proletarischer Inserate der Art, dass dies Bedürfnis vorhanden ist. Und da die Befriedigung dieses Bedürfnisses obendrein die finanzielle Leistungsfähigkeit des Blattes erhöht und damit die redaktionelle Ausgestaltung ermöglicht, ist es wirklich bei einigem Nachdenken unerfindlich, warum man auf das Bedürfnis schilt, anstatt es zu befriedigen. Auch das schärfst entwickelte Klassenbewusstsein hindert nicht, dass ein Proletarier gelegentlich ein Kanapee zu kaufen oder verkaufen wünscht“.

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konnte, war sie nicht nur das teuerste Blatt am Ort – und das in einem von den Liberalen beherrschten (Presse-)Umfeld –, sondern sie konnte auch in keiner Phase ihrer Entwicklung mit den großen liberalen Blättern (Münchner Neueste Nachrichten/MNN, 60.000 Abonnenten) in Umfang und Auflage mithalten. Da half auch der große Rückhalt bei den sozialdemokratischen Genossen und den Freien Gewerkschaften sowie die Qualität der Berichterstattung wenig. Seit dem Parteitag der bayerischen SPD in Regensburg im Jahre 1892 stabilisierte sich immerhin die Position der sozialdemokratischen „Münchner Post“ insofern, als sie in das Eigentum der Partei überging. Auf dieser Basis gelangen ihr im Laufe der Zeit ein kontinuierlicher Aufschwung, eine Stabilisierung der Finanzen und auch eine allmähliche Erweiterung des Umfangs und des Leserkreises.37 Die Stärke der liberalen Presse erreichte sie jedoch nie. Beide Seiten schienen sich also politisch, ökonomisch und als Konkurrenten unversöhnlich gegenüberzustehen. Auch der Druck einer starken Zensur schweißte sie nicht unbedingt zusammen. Gilt schon ganz allgemein, dass das politische Klima in München eher ausgeglichen war, so trifft das in besonderem Maße auch auf die Pressezensur zu. Polizei und Justiz schritten hier nur in Einzelfällen gegen Presseorgane ein. Das hing u.a. damit zusammen, dass in Bayern Schöffengerichte für solche Vergehen zuständig waren, die trotz ihrer einseitigen Zusammensetzung eine gewisse Liberalität der Rechtsprechung bewirkten. Hinzu kam eine gewisse Anpassung des sozialdemokratischen Organs an die politische Realität, trotz aller Skandalisierungen der bestehenden sozialen und politischen Umstände. Es ist allerdings schwer zu beurteilen, inwieweit dafür eine vorbeugende Vorsicht oder aber auch eine reine Pragmatik eine Rolle spielten. Ein Faktor half dann jedoch, das Trennende allmählich zu überwinden und die gemeinsamen Interessen zu bündeln: Das war die (steigende) Macht des Katholizismus und seiner Presse. Der beiderseitige (Haupt-)Gegner war dementsprechend, das stellte sich auf beiden Seiten heraus, nicht die sozialdemokratische oder die liberale Presse, sondern die immer stärker werdende Zentrums-Presse, mit ihrer – aus der Sicht von Liberalen und Sozialdemokraten – beschränkten Auffassung von den aufklärerischen Aufgaben der Presse im 20. Jahrhundert. Die Gründung des Landesverbandes der Bayerischen Presse ist das beste Beispiel für diese Entwicklung und den Schub, den die gemeinsame Frontbildung gegen das Zentrum einer Einigung zwischen Liberalen und Sozi37 Vgl. zu diesem Komplex auch Elisabeth Angermair, Eduard Schmid (1861–1933). Ein sozialdemokratischer Bürgermeister in schwerer Zeit, München 2001.

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aldemokraten gab, trotz aller vorhandenen Differenzen. Hervorzuheben ist nämlich, dass generell im wilhelminischen Reich die sozialdemokratischen Journalisten und ihre Organisationen mit den bürgerlichen Schriftsteller- und Journalistenvereinigungen kaum kooperierten und ihnen auch nur sehr selten beitraten. Das traf eine zeitlang, wenngleich mit deutlichen Abstrichen, auch auf München zu. Auf der einen Seite stand hier der staatlich subventionierte (bürgerliche) Journalisten- und Schriftstellerverein, der seit seiner Gründung im Jahre 1883 allerdings, trotz des geltenden Sozialistengesetzes, immerhin auch einige Sozialdemokraten als Mitglieder besaß. Neben dem Polizeipräsidenten von Welser, Bürgermeister von Borscht und Innenminister von Feilitzsch waren etwa zugleich die Sozialdemokraten Viereck, Ernst und Jordan vertreten. Die erste Garde der „Münchner Post“ hielt sich jedoch zurück, bis im Jahr 1903 zugleich deren Chefredakteur, Adolf Müller38, und der Syndikus der Bayerischen Industriellenvereinigung Kuhlo beitraten. Andererseits organisierte sich die sozialdemokratisch beherrschte Presse, wie erwartet, lange Zeit vor allem im Verein Münchner Berufsjournalisten.39 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte es sich jedoch, dass dieser Verband – wenn es darum ging, die Interessen gegenüber Staat und Justiz durchzusetzen – wegen der geringen Zahl seiner Mitglieder und der geringen Zahl der Presseorgane, die von ihm vertreten wurden, mehr und mehr ins Hintertreffen geriet. Zu betonen ist dabei allerdings, dass dies nicht wegen seiner ideologischen Ausrichtung, sondern allein wegen seiner relativen Bedeutungslosigkeit geschah. In München wurde nun möglich, was anderswo unvorstellbar war: Im Februar des Jahres 1912 fusionierten die beiden miteinander konkurrierenden und sehr ungleichen Verbände Münchner Journalisten- und Schriftstellerverein (liberal) sowie der Verein Münchner Berufsjournalisten (sozialdemokratisch) zum neuen Landesverband der Bayerischen Presse. Ziel der neuen Vereinigung, die Organisation aller im Hauptberuf tätigen Redakteure und Journalisten, war es, die gemeinsamen Berufs- und Standesinteressen sowie die wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder zu fördern. Die bayerische Staatsregierung beeilte sich sofort, „den Zusammenschluß der in der bayrischen

38 Zu Adolf Müller vgl. Karl Heinrich Pohl, Adolf Müller. Geheimagent und Gesandter in Kaiserreich und Weimarer Republik, Köln 1995. Dort auch weitere Hinweise zur „Pressepolitik“ des Journalisten und Politikers, S. 77 ff. 39 Münchner Post, 25.02.1909: „Der Verein Münchener Berufsjournalisten und seine Zielsetzungen“.

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Presse tätigen Kreise zu begrüßen“40 und sie bei allen sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen. Die staatliche Unterstützung war damit gesichert. Aus sozialdemokratischer Sicht stellte die Gründung des Landesverbandes, trotz der damit verbundenen gesellschaftlichen Einbindung und der manchmal notwendigen Zurückhaltung, einen großen Erfolg dar. Sie stellte mit dem Chefredakteur der Münchner Post, Adolf Müller, den zweiten Vorsitzenden sowie den Schriftführer, und zwei weitere Mitglieder der Münchner Post saßen im Vorstand. Die vor dem Ersten Weltkrieg liberalen MNN und die sozialdemokratische Münchner Post stellten damit den Kern des Vorstandes, trotz der höchst unterschiedlichen Stärke der Blätter. Damit war die geplante Eroberung eines großen Teiles der Macht in der Organisation der bayerischen Presse aus sozialdemokratischer Sicht gelungen, trotz einer deutlichen zahlenmäßigen Unterlegenheit.41 Sozialdemokratische Pressearbeit wurde nun verstärkt möglich und durch die Liberalen (mit)gedeckt. Auch inhaltlich trug die Vereinigung in wichtigen Fragen eine sozialdemokratische Handschrift. So wurden etwa gewerkschaftliche Forderungen explizit in den Aufgabenkatalog des Verbandes aufgenommen.42 Die Liberalen wiederum begrüßten die Vereinigung vor allem deswegen, weil sie mit den Sozialdemokraten einen wichtigen Kooperationspartner im Kampf gegen mögliche journalistische Einschränkungen gewonnen hatten, die mit der Übernahme der Regierung des Katholiken Hertling zu drohen schienen.43 Gleichzeitig stand hinter den weitgehenden Zugeständnissen auch die Hoffnung, eine gewisse Kontrolle über das sozialdemokratische Pressewesen zu erreichen und die Konkurrenz damit besser einbinden zu können. Mit der neuen Organisation wurde also neben der Erhöhung der Schlagkraft des Verbandes zugleich auch das gemeinsame Ziel von liberaler und sozialdemokratischer Presse erreicht: Der Einfluss der Zentrumspresse war entschieden zurückgedrängt worden. Die Zentrumspresse war nun in eine Situation geraten, die im wilhelminischen Kaiserreich in der Regel der Sozialdemokratie vorbehalten blieb: Sie war von den Standesorganisationen prak40 Von Podewils an den Landesverband der Bayerischen Presse, 22.2.1911, HStA München, MA 92179. 41 Die „Münchner Post“ besaß 1913 etwa 30.000 Abonnenten. Zur Struktur der Presse in Bayern: Vor dem Ersten Weltkrieg waren rund 43 % der Blätter parteilos, 26,5 % zentrumsnah, 18 % liberal und etwa 1,8 % sozialdemokratisch (50 Jahre Verband Bayerischer Zeitungsverleger e.V. 1913–1963, S. 34). 42 Ausführungen Adolf Müllers bei der Gründung des Landesverbandes, 12.2.1911, MNN, 14.2.11. 43 Mitteilungen des Reichsverbandes der Deutschen Presse, HStA München, M Ju 17430, S. 14.

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tisch ausgeschlossen und wurde dementsprechend von den Ministerien als Faktor zweiter Klasse behandelt.44 Damit war das Zentrum in München zum „Außenseiter“ geworden, während die neue Presseorganisation geradezu ein Musterbeispiel für sozial-liberale Politik darstellte.

6. Fazit Ohne große Übertreibung wird man von einem sozialpolitisch „milden“ und parlamentarisch „fortgeschrittenen“ Klima in München der Vorkriegszeit sprechen können, freilich ohne dabei die durchaus vorhandenen gravierenden Probleme unterschlagen zu wollen. Es entwickelte sich in dieser Stadt so etwas wie ein „sozial-liberales“ kommunales Politikmodell. Dieses kann als in Vielem wegweisend bezeichnet werden. Vor allem galt dies in der Sozial-, Presse und Schulpolitik45 (hier vor allem gegen das Zentrum), aber auch bei dem Versuch, die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit zu entschärfen (weitgehende Durchsetzung des Tarifvertrages, im Sinne der vom in München lehrenden sozialliberalen Ökonomen Lujo Brentano seit Jahrzehnten vertretenen Ziele46). Ein solches Modell kam vor allem dadurch zustande, dass Kommune (und Bayerischer Staat), Unternehmer und Gewerkschaften, Liberale und Sozialdemokraten (und auch das Zentrum) nahezu gleichberechtigt nebeneinander und miteinander agierten und auf diese Weise in vielen Fällen Konflikte bereits im Entstehen beseitigten oder aber doch ihre Folgen gering hielten. Freie Gewerkschaften und Sozialdemokratie waren dabei ein geachteter und anerkannter Partner, auch wenn ihre Gleichberechtigung immer wieder neu und mühsam erkämpft werden musste. Aus liberaler Sicht ist dabei hervorzuheben, dass die Liberalen sich rechtzeitig auf eine (allmähliche) Öffnung

44 Beide Mitglieder der katholischen Presse schieden nach der ersten neunmonatigen Amtsperiode aus. Mitteilungen des Reichsverbandes der Deutschen Presse, Nr. 6 (1.11.12), S. 21. 45 Karl Heinrich Pohl, Sozialdemokratie und Bildungswesen. Das „Münchner Modell“ einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Schulpolitik und die Entwicklung der Volksund Fortbildungsschulen im Bayern der Jahrhundertwende, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 53 (1990), S. 79–101. 46 Vgl. hierzu zuletzt Detlef Lehnert, Lujo Brentano als politisch-ökonomischer Klassiker des modernen Sozialliberalismus, in: Ders. (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 111–134. Dort auch eine Fülle von weiteren Literaturhinweisen.

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des kommunalen Wahlrechtes einstellten, selbst wenn sie massiv gegen eine solche Entwicklung intervenierten. Die Frage ist, welche Faktoren diese Entwicklung in München begünstigt haben. Zum einen spielte ganz offensichtlich der aufgeklärte Kurs der Münchner Liberalen eine entscheidende Rolle: In München initiierte er, und eben nur er, eine vorbildliche „moderne“ Politik, die alle Bereiche, auch die des Wahlrechtes, betraf. Denn: Sozialliberalismus stellte keineswegs eine generelle und allgemeine kommunale Eigenart dar, sondern war vor allem eine Leistung des jeweiligen kommunalen Liberalismus. Hinzu kam eine reformorientierte Arbeiterbewegung, die bereit war, einen langen Weg zur Emanzipation zu gehen und der es gelang, die Arbeiter auf diesem Weg mitzunehmen. Zum anderen spielte das politische Umfeld eine bedeutende Rolle, auch für die kommunale Politik. Lange Zeit unterstützte das liberale bayerische Regiment die kommunale Politik in München, wenngleich immer mit einem „wachsamen Auge“. Die später dominierende Zentrumspolitik und die katholisch beeinflusste oberbayerische Regionalpolitik konnten die Münchner Kommunalpolitik offensichtlich nur sehr partiell „bremsen“. Als die katholische Regierung Hertling schließlich im Jahre 1912 in Bayern ans Ruder kam, war das Münchner System bereits so gefestigt, dass die Stadt auch weiterhin strikt reformorientiert blieb. München hielt im Kaiserreich auch nach 1912 den „sozialliberalen“ Kurs.

HOLGER STARKE

Dresden im Kaiserreich Liberalismus in einer konservativen Stadt?

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Residenz Dresden auch zu einer Groß- und Industriestadt.1 Die Dynamik des Prozesses von Urbanisierung und Industrialisierung kam vor allem seit der Mitte des Jahrhunderts in Gang: Hatte sich die Bevölkerungszahl in der ersten Hälfte des Jahrhunderts „nur“ verdoppelt, so erhöhte sie sich zwischen 1850 und 1910 auf über das Fünffache, von 100.000 auf 550.000 Einwohner. Hierbei lassen sich drei Phasen unterscheiden: Die entscheidende Wachstumskomponente war anfangs die Zuwanderung, später die Differenz zwischen stark rückläufigen Sterbeziffern und langsamer absinkenden Geburtenzahlen und schließlich die Eingemeindung von Vororten. 1907 wurde ermittelt, dass 43 % der Bewohner in Dresden, ein weiteres Drittel in anderen Orten Sachsens geboren worden waren. Einwanderer aus dem weiteren Reichsgebiet (16 %) stammten überwiegend aus Schlesien, Reichsausländer mehrheitlich aus Böhmen, davon zur Hälfte aus dem deutschsprachigen Nordböhmen. 2400 Personen waren aus dem Russischen Reich und mehrere hundert aus Großbritannien, Frankreich und der Schweiz gekommen.

1. Strukturdaten und ihre Veränderung Im Ergebnis der Entwicklung zur Halbmillionenstadt entstand ein über die administrativen Grenzen hinausreichender Großstadtorganismus mit einem Geschäfts-, Verwaltungs- und Kulturzentrum („City“), neuen Industriegebieten an den Eisenbahnlinien, Wohnvierteln der Mittel- und Oberschicht im Süden, im Osten und in der Seevorstadt (Ausländer), Arbeitervierteln im Westen und Norden. Es gab Erholungs- und Kurgebiete, einen Hochschul- und Garnisonbezirk, wobei die Albertstadt zum selbstständigen Gutsbezirk erklärt wurde, was der Sonderrolle des Militärs im Kaiserreich entsprach. Ein sol1 Vgl. Holger Starke, Das Werden der Großstadt, in: Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart, Hg. ders./Mitw. Uwe John, Stuttgart 2006, S. 23–39, hier S. 33–39.

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ches zuvor beispielloses Stadtwachstum war nicht nur mit einer tiefgreifenden Veränderung der Lebensweise und des Lebensstils der Einwohner verbunden, sondern erforderte auch eine Neuorganisation der Verwaltung und die Anpassung der Mitwirkungsrechte der Bewohner. Im Prozess des Übergangs zur Industriegesellschaft veränderten sich die Erwerbsverhältnisse.2 Die industrielle Entwicklung gelangte in Dresden etwas später als in anderen Regionen Sachsens zum Durchbruch. In den 1860er Jahren gewann sie an Breite, wobei nicht wenige Unternehmen an das gewachsene Gewerbeprofil anknüpften, das auf den Bedarf von Hof, Behörden, Militär und Fremdenverkehr ausgerichtet war. Schokoladen-, Zigaretten- und Konservenherstellung machten Dresden zu einem reichsweit führenden Standort der Genussmittelindustrie mitsamt ihren Hilfsindustrien. In der zweiten Industrialisierungsphase entstanden seit den 1880er Jahren Unternehmen, die auf den Konsumbedarf ausgerichtet waren, darunter die Kamera- und Fotoindustrie und die Pharmazie. Um 1910 war Dresden die sechstgrößte Industriestadt im Reich. Der Anteil der Industriearbeiter an der beruflich aktiven Bevölkerung lag jedoch unter dem Landesdurchschnitt, was auf die großstadttypische Bedeutung des tertiären Sektors zurückzuführen war: Im kommunalen Dienst, der erst im Kaiserreich einen umfassenden Ausbau erfahren hatte, arbeiteten um 1914 bereits nahezu 6000 Beschäftigte. In der Industrie waren Heimarbeit und Verlagswesen weit verbreitet, ehe die nach der Jahrhundertwende vom Reich erlassenen Verbrauchssteuergesetze diese Formen zurückdrängten. Die relativ geringe Betriebsgröße weist auf das Vorherrschen des inhabergeleiteten Klein- und Mittelbetriebes hin. Spezialisierte Privatbanken betreuten die mittelständische verarbeitende Industrie, wobei sich die größten im Eigentum jüdischer Inhaber befanden. Als „Haupt- und Residenzstadt“ war Dresden eine Verwaltungsstadt, in der nicht nur der König als Staatsoberhaupt, sondern auch der Hof seinen Sitz hatte. Die Zentralen von Parteien und Vereinen, Landes- und Regionalinstitutionen, Vertretungskörperschaften und Behörden, darunter der Landtag, Ministerien, Konsulate, Kreis- und Amtshauptmannschaften, die EvangelischLutherische Landeskirche, der Sächsische Gemeindetag und die Spitzen von Wirtschaftsverbänden und Stiftungen waren ebenfalls in Dresden vertreten. Neun Zehntel der Einwohner bekannten sich zur evangelisch-lutherischen Konfession. Die Landeskirche erfuhr mit der Bildung neuer Gemeinden, dem 2 Vgl. ders., Dresden als Verkehrs- und Wirtschaftszentrum, in: Ebd., S. 59–72; ders., Grundzüge der Wirtschaftsentwicklung in Dresden, in: Jugendstil in Dresden. Aufbruch in die Moderne, Dresden 1999, S. 14–30.

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Bau vieler Kirchen und einer Reform des Gemeindelebens eine Anpassung an die großstädtischen Verhältnisse. Im Gefolge der Zuwanderung entstanden auch neue katholische Kirchen sowie russisch-orthodoxe, anglikanische und Gemeinden anderer Religionsgemeinschaften. Im Dresdner Bürgertum blieb das Bekenntnis zum Luthertum ein Grundwert wie das Bekenntnis zur Nation oder zum Herrscherhaus; zugleich begünstigte es den sozialen Aufstieg.3

2. Parteien und Vereine4 In Sachsen und Dresden waren, abgesehen von der im protestantischen Sachsen bedeutungslosen Zentrumspartei, alle wesentlichen politischen Kräfte aktiv, die auch auf Reichsebene agierten. Um das Banner der Konservativen scharten sich die staatstragenden Eliten, Teile der Industrie und des „alten“ Mittelstandes. Die Haus- und Grundbesitzer, Handwerker und Kleinhändler bildeten eine relativ stabile Massenbasis. Daneben verfügten die Konservativen über starke Positionen in der Verwaltung, am Hof, in der Landeskirche und im Offizierskorps. Die Bildung des in Sachsen ungewöhnlich stabilen Kartells der „staatstragenden Parteien“ war ein Werk des konservativen Reichs- und Landespolitikers Karl Gustav Ackermann, der über drei Jahrzehnte auch Vorsteher der Dresdner Stadtverordneten war.5 In der Kommunalpolitik vertraten die Konservativen die Interessen des ansässigen Grundbesitzes und des auf den lokalen Markt ausgerichteten Handwerks und Handels. Ein bevorzugtes Ziel ihrer Agitation war die Aufgaben- und Ausgabenexpansion der großstädtischen Verwaltung. 3 Exemplarisch die Entscheidung des katholischen Kamerafabrikanten Heinrich Ernemann, seine Kinder entgegen der Gepflogenheit lutherisch erziehen zu lassen. Vgl. Holger Starke, Heinrich Ernemann. Bürger und Unternehmer, in: Fotoindustrie und Bilderwelten. Die Heinrich Ernemann AG für Camerafabrikation in Dresden 1889 bis 1926, Hg. Kirsten Vincenz/Wolfgang Hesse, Bielefeld 2008, S. 29–35, hier S. 29 f. Zu den Religionsverhältnissen in Dresden s. Abschnitt „Kirche und Religion“ (Sebastian Kranich u.a.), in: Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 3, S. 104–125. 4 Vgl. Holger Starke, Stadtgefüge, Parteien und Politiker in Dresden im Kaiserreich, in: Dresdner Hefte, Hg. Dresdner Geschichtsverein, H. 80, Dresden 2004, S. 25–35; Sächsische Parlamentarier 1869–1918. Die Abgeordneten der II. Kammer des Königreichs Sachsen im Spiegel historischer Photographien. Ein biographisches Handbuch, Bearb. Elvira Döscher/Wolfgang Schröder, Düsseldorf 2001; Bernhard Rackwitz, Biographischer Anhang zur Geschichte der Stadtverordneten zu Dresden 1837–1947, Dresden 1949, Ms. im StADD. 5 Nach der Jahrhundertwende wurde sein Schwiegersohn Paul Mehnert Führer der sächsischen Konservativen; er galt als der „ungekrönte König von Sachsen“.

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Parteien der Antisemiten, die sich zumeist „Reformer“ nannten, entstanden seit dem Ausgang der 1870er Jahre. Hintergrund war die Strukturkrise, die Selbstständige in bedrängten Gewerbezweigen in Existenznöte brachte. 1881 fand der reichsweit erste Antisemiten-Kongress in Dresden statt. In Sachsen existierten enge ideologische und organisatorische Kontakte zwischen Konservativen und Antisemiten; die konservativen Bewegungen brachten sogar selbst viele antisemitische Führer hervor.6 In der Stadtpolitik konstituierte sich ein reformerisch-konservatives Bündnis, dessen soziale Basis der „alte Mittelstand“ darstellte.7 Die Nationalliberalen galten als Interessenvertreter von Industrie und Großhandel, hatten aber auch Anhänger im Bildungsbürgertum und öffentlichen Dienst. Gemeinsamkeiten mit den Konservativen gab es vor allem beim Kampf gegen die Sozialdemokratie. Am Ausgang der 1870er Jahre gerieten die Nationalliberalen in die politische Defensive, ehe mit der Übersiedlung des Chemnitzer Textilfabrikanten Paul Vogel 1887 die Umwandlung zu einer schlagkräftigen Partei begann. Der Wendepunkt war die Aufkündigung des Kartells der „nationalen“ Parteien 1903, was insbesondere dem jungliberalen Flügel um Handelskammersyndikus Paul Schulze und VSI-Syndikus Gustav Stresemann8 zu danken war. Die Linksliberalen, die bei den Reichstagswahlen 1878 in Dresden fast ein Fünftel der Stimmen erhalten hatten, verloren seit den 1880er Jahren stark an Einfluss. Bedrängt von der antisemitischen Stimmung und benachteiligt vom Kommunal- und Landtagswahlrecht, gelang es ihnen erst am Jahrhundertende wieder Fuß zu fassen. Mit der Vertretung der Interessen von Mietern und Konsumenten ergriffen sie die Chance, die sich angesichts der veränderten Sozialstruktur ergab. Im gesamten liberalen Lager stellten die Linksliberalen, also vor allem Freisinnige und Fortschrittler, immer eine Minderheit dar. Die Sozialdemokraten verfügten in ihrem Stammland Sachsen frühzeitig über eine Massenbasis bei Arbeitern und Kleinstunternehmern. Politische Isolierung und staatliche Repression änderten nichts am wachsenden Rückhalt 6 James Retallack, Herrenmenschen und Demagogentum. Konservative und Antisemiten in Sachsen und Baden, in: Ders. (Hg.), Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Dresden 2000, S. 115–141, hier S. 125; vgl. auch Matthias Piefel, Antisemitismus und völkische Bewegung im Königreich Sachsen 1879–1914, Göttingen 2004. 7 Karl Heinrich Pohl, Nationalliberalismus und Kommunalpolitik in Dresden und München vor 1914, in: Sachsen in Deutschland, S. 171–188, hier S. 178 f. 8 Vgl. Holger Starke, Dresden in der Vorkriegszeit. Tätigkeitsfelder für den jungen Gustav Stresemann, in: Karl Heinrich Pohl (Hg.), Politiker und Bürger. Gustav Stresemann und seine Zeit, Göttingen 2002, S. 87–113.

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für die Sozialdemokraten, die bald eine fest gefügte Organisation und zentrale Instanzen aufgebaut hatten. Seit 1898 erhielten die SPD-Kandidaten bei Reichstagswahlen vor 1914 in Dresden immer über die Hälfte, bei der Protestwahl 1903 sogar fast zwei Drittel der gültigen Stimmen. Neben den Parteien waren die Bezirks- und Bürgervereine, aber auch die Gewerbe-, Mieter-, Bildungs- und Kulturvereine sowie die Freimaurerlogen von Bedeutung. Das Beziehungsgeflecht, das die Stadtgesellschaft durchzog, schloss üblicherweise Mehrfachmitgliedschaften in Vereinen und manchmal auch in Parteien ein. Der 1867 gegründete Allgemeine Hausbesitzerverein hatte um 1910 nahezu 4500, der 1883 entstandene Allgemeine Mietbewohnerverein etwa 6500 und die Vereinigten Bezirks- und Bürgervereine knapp 4000 Mitglieder. Der Hausbesitzer- und der Mietbewohnerverein, beide in der amtlichen Statistik unter der Rubrik „kommunale Interessenvereine“ geführt, waren die großen Antipoden in der Dresdner Kommunalpolitik. Als Gegenpol des konservativ geprägten Allgemeinen Handwerkervereins kann die 1909 gebildete Ortsgruppe des Hansa-Bundes betrachtet werden, die 1913 etwa 4000 Mitglieder zählte. Die Ortsgruppe des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie verfügte 1910 über etwa 1000 Mitglieder. Die wichtigsten Verbündeten des politischen Liberalismus waren die Organisationen der verarbeitenden Industrie, vor allem der sich nach seiner Gründung 1902 rasch entwickelnde Verband Sächsischer Industrieller. Der Alldeutsche Verband hatte in Dresden eine besondere Ausrichtung. Als Hauptgegner im Inneren des Reichs galten die Sozialdemokraten, im Äußeren das Slawentum. Der jüdische Bankier und Vorsitzende der Dresdner Börse Max Arnhold war seit 1902 Mitglied.9 Er war schon gestorben, als in der Ortsgruppe völkisch-rassistische Tendenzen stärker hervortraten.10

3. Stadtverfassung und Kommunalwahlrecht Die Verwaltung und Vertretung der Stadt Dresden nach der Revidierten Städteordnung von 1873 beruhte auf dem in Sachsen üblichen Zwei-KollegienSystem aus ehrenamtlich wirkenden Stadtverordneten und teils hauptberuflich tätigen Ratsmitgliedern. Der Staat behielt sich die Zustimmung zur Wahl des Oberbürgermeisters, die Dienstaufsicht über die Amtsführung des Rates und 9 StADD, Alldeutscher Verband, Ortsgruppe Dresden, 46, Bl. 44, 45 u. 60. 10 Vgl. Gerald Kolditz, Rolle und Wirksamkeit des Alldeutschen Verbandes in Dresden zwischen 1895 und 1918, Diss. TU Dresden 1994; Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband 1890 bis 1932, Hamburg 2003.

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die Billigung der von den städtischen Gremien getroffenen Entscheidungen vor. Im rechtlichen Sinne umfasste die Dresdner Bürgerschaft immer nur einen kleinen Teil der Einwohner: männliche Haushaltvorstände mit Bürgerrecht und einem bestimmten Einkommen, wobei die An- gegenüber den Unansässigen bevorrechtet waren. Bedeutsam waren vor allem Handwerker und Hausbesitzer, die ob ihres Einflusses in den mitgliederstarken Bürgerund Bezirksvereinen und in der Stadtverordnetenversammlung maßgeblich die Stadtpolitik bestimmten. Obgleich die Zahl der Wahlberechtigten in der Kommune nach der Aufhebung der Bürgerrechtsgebühren 1870 stark anstiegen war, verfügten zur Jahrhundertwende erst fünf Prozent der Bevölkerung bzw. ein Fünftel der Haushaltvorstände über das Stimmrecht. Der Anteil war geringer als in anderen deutschen Großstädten11 und lag zwei Drittel unter dem Wert bei den nach einem Zensuswahlrecht durchgeführten Landtagswahlen.12 Das Wahlrecht zementierte die Herrschaft der ansässigen Hausbesitzer, was wiederum zur Quelle eines tiefgreifenden Konflikts mit dem Rat wurde. Ausgestattet mit dem Zustimmungsrecht zum Haushaltsplan, zu Ortsgesetzen und Gemeindesteuern verweigerte das seit den 1870er Jahren von den Konservativen und den 1880er Jahren von Hausbesitzern und Antisemiten dominierte Stadtverordnetenkollegium dem Rat unter dem Nationalliberalen Stübel ausreichende Mittel zum Ausbau der Infrastruktur und der großstädtischen Verwaltung. Sie suchten die Entwicklung der Großindustrie und die Eingemeindung bevölkerungsreicher Arbeitervororte zu verhindern. 13 Mit dem unter Ägide des späteren sächsischen Finanz- und Gesamtministers Wilhelm Rüger, eines Konservativen, entwickelten Gemeindesteuergesetz von 1886 wurden moderne Grundsätze der Finanzverwaltung eingeführt. Eine allgemeine Einkommensteuer stellte den Haushalt wieder auf eine verlässliche Grundlage. Die ansässigen Hausbesitzer und Handwerker, die die Entwertung ihres Grundbesitzes, die Beeinträchtigung ihres Wohnumfeldes und ihrer beruflichen Existenz durch mittellose Zuwanderer bzw. den Großbetrieb fürchteten, strichen die politische Dividende für ihre Agitation ein. Die Lasten 11 Nach Merith Niehuss, Strategien zur Machterhaltung bürgerlicher Eliten am Beispiel kommunaler Wahlrechtsveränderungen im ausgehenden Kaiserreich, in: Heinrich Best (Hg.), Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989, S. 60–91, hier S. 64 u. 66, waren in Frankfurt a.M. 1900 7,4 % der Einwohner stimmberechtigt, in München 1905 etwa 6 %, in Hamburg 1901 5,5 %. Angaben zit. nach Gunda Ulbricht, Kommunale Vertretung und Verwaltung, in: Geschichte der Stadt Dresden, Bd. 3, S. 40–50, hier S. 43/Anm. 18. 12 Vgl. Ulbricht, Kommunale Vertretung, S. 43. 13 Vgl. Pohl, Nationalliberalismus und Kommunalpolitik, S. 171–188, hier S. 179.

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hatten vor allem andere zu tragen: Industrie und Großhandel über Wettbewerbsnachteile gegenüber der auswärtigen Konkurrenz, Mieter und Verbraucher über höhere Lebenshaltungskosten und beide Gruppen über viele bürokratische Hürden.

4. Zum politisch-kulturellen Stadtprofil14 Dresden war die Hauptstadt eines Staates, der 1871 nur deshalb zum Bundesstaat im deutschen Kaiserreich werden konnte, weil Österreich nach dem verlorenen Krieg von 1866 die Annexion Sachsens durch Preußen verhindert hatte. Fortan stand der sächsische König fest an der Seite Preußens. Das liberale Bürgertum vollzog den Schwenk des Königshauses mit. Während dasselbe im Maiaufstand 1849 noch die Reichsverfassung gegen den König verteidigt hatte und in den 1860er Jahren gegen Bismarcks Politik des Rechtsbruchs hervorgetreten war, arrangierte sich die Mehrheit seit 1867 und vor allem seit 1871 mit den neuen Verhältnissen, die für viele wirtschaftliche Vorteile mit sich brachten. Das Dresdner Bürgertum nahm fortan das preußisch dominierte Reich als engere politische Einheit ebenso in seinen Wertekanon auf wie das weiter gefasste Deutschtum, das auch außerhalb der Reichsgrenzen existierte, und verteidigte den autoritären, preußisch dominierten Staat gegen den politischen Aufsteiger jener Zeit: die Sozialdemokratie. Die Identität der Bürgerschaft speiste sich über den Status als Residenzund Kulturstadt, was Dresden von der Industriestadt Chemnitz und der Universitäts- und Handelsstadt Leipzig unterschied. Von Zeitgenossen wurde Dresden oft als „konservative Kulturstadt“ mit einengenden Traditionen beschrieben. Die prägenden Institutionen der Hochkultur, Treffpunkte der „gehobenen Gesellschaft“, waren auf den Hof bezogen und von ihm abhängig. Die „vornehmen“ Kreise waren für Aufsteiger nur schwer zugänglich, die Nobilitierung eines Bürgerlichen war in Sachsen die Ausnahme.15 Dresden war eine Stadt des Ausgleichs und der Konventionen, kaum offen für revolutionäre Ideen. Die Tradition bot zwar Reibungspunkte, wie die Ent14 Weiterführend: Gabriela B. Christmann, Dresdens Glanz, Stolz der Dresdner. Lokale Kommunikation, Stadtkultur und städtische Identität, Wiesbaden 2004; Rolf Lindner/ Johannes Moser (Hg.), Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenzstadt, Dresden 2006; Jochen Guckes, Konstruktionen bürgerlicher Identität. Städtische Selbstbilder in Freiburg, Dresden und Dortmund 1900–1960, Paderborn 2011. 15 Michael Schäfer, Wirtschaftsbürger und Residenzstadt. Dresdner Unternehmer im 19. Jahrhundert, in: Dresdner Hefte, Hg. Dresdner Geschichtsverein, H. 93, Dresden 2008, S. 25–34, hier S. 30–34.

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stehung der Künstlergruppe „Brücke“ und der Gartenstadt Hellerau zeigen. In das geistige Klima passte jedoch, dass die Brücke-Künstler bald ins weltoffenere Berlin übersiedelten und die völkerverbindende Vision von Hellerau mit Ausbruch des Weltkrieges ad acta gelegt werden musste. In der Vorkriegszeit stellten die Uraufführungen der Opern von Richard Strauss am Hoftheater jenes Maß an Innovation dar, das im Hochkulturbereich akzeptiert wurde. Dies fand seine Entsprechung im Städtebau: Stadtbaurat Hans Erlwein entwarf über Jahrzehnte Zweckbauten im Stil einer „gebremsten“ Moderne: technisch auf der Höhe der Zeit, im Äußeren jedoch so gestaltet, dass sie keinen Widerspruch hervorriefen. War Dresden also gar keine „richtige“ Großstadt? Als der Soziologe Georg Simmel 1903 in der von der Gehe-Stiftung zur Deutschen Städteausstellung initiierten Vortrags- und Aufsatzreihe über „Die Großstädte und das Geistesleben“ nachdachte16, hatte er nicht Dresden, sondern die Weltstadt Berlin im Blick. Dem Umbruch der Gesellschaft zur Moderne stand das Bürgertum mehrheitlich noch ablehnend gegenüber, wenngleich sich in jener Zeit eine Wandlung vollzog. Dieselbe spiegelt sich in der Veränderung der Stiftungstätigkeit. An die Seite traditioneller Mildtätigkeit, wie sie der durch Immobiliengeschäfte reich gewordene Apotheker Hermann Ilgen praktizierte17, oder der Inszenierung als „feudalisierter Unternehmer“ (Nähmaschinenfabrikant Bruno Naumann18) traten neue Formen: Der Odol-Fabrikant Karl August Lingner suchte der Dominanz der vom Hof abhängigen Hochkultur bürgerliche Ideen (Hygiene-Ausstellung) und Institutionen (Schauspielhaus) entgegenzusetzen. Der Möbelfabrikant Karl Schmidt ging noch einen Schritt weiter: Seine Vision einer Gartenstadt stellte ein Konzept für die künftige Gesellschaft dar. Die Projekte stehen für die Suche nach Zukunft im Bürgertum, aber auch für die Ambivalenz der hierbei entwickelten Ideen. Sie stellten das Kaiserreich nicht in Frage, gingen aber über jene Vorstellungen hinaus, die dem Verein „Volkswohl“ zugrunde lagen: Der von Nationalliberalen gegründete Verein beabsichtigte, durch Bildung und „sittliche Erziehung“ die Arbeiterschaft an Staat und Kirche zu binden beziehungsweise heranzuführen. Interessanter16 Vgl. Johannes Moser, Dresden 1903. Georg Simmels Städte-Vortrag, die Gehe-Stiftung, die Deutsche Städteausstellung und der Erste Deutsche Städtetag, in: Volkskunde in Sachsen, Hg. Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Bd. 16 (2004), S. 189–229. 17 Vgl. Holger Starke, Philanthrop und Egomane. Hermann Ilgen in Dresden, in: Friedrich Hermann Ilgen. Eine Biografie. Hg. Wurzener Geschichts- und Altstadt-Verein, Leipzig 2013. 18 Vgl. Hubert Kiesewetter, Bruno Naumann – ein feudalisierter Unternehmer?, in: Sächsische Heimatblätter 37 (1991), H. 1, S. 32–35.

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weise fielen die Ideen des in Sachsen geborenen Friedrich Naumann in Dresden nie auf fruchtbaren Boden. Das Fehlen einer Universität mit geisteswissenschaftlichem Profil19 beeinflusste den Inhalt der städtischen Diskurse und die Zusammensetzung der Eliten. Diese Besonderheit wurde durchaus als Mangel wahrgenommen. Der in der Vorkriegszeit von Oberbürgermeister Beutler mit Vehemenz verfolgte Plan einer Stiftungsuniversität kam allerdings nicht mehr zur Ausführung. So rekrutierte sich das Führungspersonal der bürgerlichen Vereine und Parteien, abgesehen von wenigen Ausnahmen, vor allem aus Juristen und Ärzten, Fabrikanten und Handwerkern, Händlern und Hausbesitzern. Üblicherweise waren die Großstädte im Reich eine Bastion des Liberalismus. In Dresden beherrschten hingegen seit Ende der 1870er Jahre konservativ-antisemitische Gruppen die Stadtverordnetenversammlung. Mit Karl Gustav Ackermann (1865 bis 1898) und Georg Stöckel (1899 bis 1919) stellten die Konservativen über die gesamte Zeit des Kaiserreiches den Vorsteher. Als Oberbürgermeister amtierten der Nationalliberale Paul Alfred Stübel (1877 bis 1895) und der konservativ gesinnte Gustav Otto Beutler (1895 bis 1915).

5. Dresdner Kommunalpolitik und liberaler Aufbruch An der Wende zum 20. Jahrhundert war eine Entscheidungssituation herangereift.20 Die Nationalliberalen forderten angesichts des internationalen Wettbewerbs die Aufhebung der Ortsgesetze gegen den Warenhaus- und Filialbetrieb („Wandergewerbe“) sowie eine Reform des Kommunalwahlrechts. Öffentliche Arbeitsnachweise lehnten sie ab. Die konservativ-antisemitische Allianz suchte Eingemeindungen zu verhindern, von denen sie höhere Steuerlasten und den Verlust ihrer Dominanz in der Stadtverordnetenversammlung befürchtete. Die Linksliberalen beabsichtigten, ein demokratisches Wahlrecht einzuführen. Ebenso wie die Sozialdemokraten sprachen sie sich gegen die enge Verbindung von Kirche und Schule und für die Forderungen der Konsumenten (Aufhebung der Verbrauchsabgaben) und Mieter (Aufnahme kommunaler Wohnungsbauförderung) aus. Die Sozialdemokraten äußerten Kritik an der Armenfürsorge nach Elberfelder Vorbild und sprachen sich für Arbeits19 Das 1890 zur Technischen Hochschule erhobene Polytechnikum oder die höheren Kunst(hoch-)schulen stellten hierfür (noch) keinen gleichwertigen Ersatz dar. 20 Vgl. Christoph Nonn, Soziale Hintergründe des politischen Wandels im Königreich Sachsen vor 1914, in: Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar 1997, S. 371–392.

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nachweise aus, die unabhängig von den Arbeitgebern sein sollten. Die Vertreter der bei Reichstagswahlen stärksten Partei forderten zugleich eine Reform des Landtags- und des Kommunalwahlrechts, da deren undemokratische Ausgestaltung durch die Kartellparteien eine sozialdemokratische Mitwirkung im Landtag und in der Stadtverordnetenversammlung unmöglich gemacht hatte. Eigene Interessen verfolgten auch der Rat der Stadt und die Regierungen von Reich und Land. Die Stadtpolitik verharrte unter der lähmenden Dominanz der konservativ-reformerischen Fraktion. Wie verhärtet die Fronten waren, zeigt der für ein kommunales Gremium in jener Zeit ungewöhnlich scharfe Ton, der dort seit zwei Jahrzehnten herrschte. Die Redebeiträge der Antisemiten und Hausbesitzer enthielten persönliche Anwürfe und demagogische Behauptungen. In der Wirtschaftskrise 1900/01 wurde über den Antrag des Gewerkschaftskartells auf Arbeitslosenunterstützung und Notstandsarbeiten beraten. Auf der öffentlichen Sitzung am 7. November 1901 lehnte Baumeister Gustav Hartwig21 die Unterstützung der „Hetzer und Schreier“ und Buchdrucker Woldemar Glöß22 eine solche der „Italiener, ... Tschechen u.s.w.“ ab. Stadtverordneten-Vizevorsteher Häckel (antisemitische Reformpartei) plädierte für eine strenge Auswahl, damit „der Zuzug [nicht] noch schlimmer und … Dresden [erneut] den zweifelhaften Ruf genießen [würde], [im Reichstag] durch einen Socialdemokraten noch dazu jüdischer Abstammung vertreten zu sein, wie zur Zeit“.23 Nicht wenige Ortsgesetze standen der sozialökonomischen Entwicklung entgegen. Der „alte Mittelstand“ konnte sich seiner Macht sicher sein und teilte die Stadtverordnetensitze im Vorfeld der Wahlen einträchtig untereinander auf. Das Kräfteverhältnis im Kollegium, in dem kein Sozialdemokrat vertreten war, stand im krassen Gegensatz zum Wählerwillen, wie ihn die Reichstagswahlen besser abbildeten. Das Verhältnis zwischen Rat und Stadtverordneten war gespannt. Die Haus- und Grundbesitzer verzögerten im Interesse ihrer Renditen immer wieder die Verabschiedung der Bebauungspläne. Die dadurch beschleunigte Randwanderung von Industrie und Wohnungsbau ließ den Rat die baldige wirtschaftliche Dominanz des Umlandes befürchten. Da sich die Zuwanderung in den Großraum Dresden als Etappenwanderung vor allem in die Vororte richtete, ging der Anteil der 21 Vgl. Retallack, Herrenmenschen und Demagogentum, S. 137–140. 22 Vgl. Thomas Gräfe, Antisemitismus in Gesellschaft und Karikatur des Kaiserreichs. Glöß’ Politische Bilderbogen 1892–1901, Norderstedt 2005. 23 Zit. nach: Stadtarchiv Dresden, Maßregeln zur Steuerung der Arbeitslosigkeit in Dresden betr. Ausführung von Notstandsarbeiten, Arbeitslosenfürsorge, 1901 ff., StADD, StV. A. 67, Bd. I.

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Stadtbevölkerung in der Agglomeration zwischen 1871 und 1890 von etwa 70 auf 63 % zurück. Dresden blieb in seiner Entwicklung zusehends hinter anderen Großstädten zurück. Um dem entgegenzusteuern, betrieb der Rat unter Oberbürgermeister Beutler eine energische Eingemeindungspolitik, in deren Folge sich die Stadtfläche von 2860 (im Jahre 1892) auf 7195 Hektar (1913) vergrößerte.24 Die Einbeziehung bevölkerungsreicher Arbeitervororte veränderte die städtische Sozialstruktur. Die Nationalliberalen versuchten seit 1898, wenn auch wenig erfolgreich, mit der Kandidatur bekannter Sozialreformer wie Victor Böhmert25 und Paul Scheven Anklang unter den Neubürgern zu finden. Die Sozialdemokratie startete unter den „Arbeiterbürgern“ eine Kampagne zum Erwerb des Bürgerrechts. Da Gerichte die restriktive Ratspraxis für rechtswidrig erklärt hatten und die Hürden für das Bürgerrecht in den Eingemeindungsverträgen noch niedriger angesetzt waren, wuchs das sozialdemokratische Wählerpotential stark an. In die lauen Kommunalwahlkämpfe zog ungewohnte Schärfe ein. Es bedurfte eines weiteren Anstoßes, ehe die Erstarrung der Kommunalpolitik ihr Ende fand. Mit dem vom Reichstag 1902 beschlossenen Zusatz zum Zolltarifgesetz drohte der Wegfall der indirekten Kommunalabgaben, womit ein Sechstel des Stadthaushaltes ungedeckt war. Oberbürgermeister Beutler gelang es, die Umsetzung bis 1910 zu verzögern; auf der Städteausstellung von 1903 schmiedete er eine Koalition der betroffenen Kommunen. Eine Gemeindesteuerreform war unumgänglich. Die Nationalliberalen waren gewarnt durch frühere Erfahrungen in der Kommune und alarmiert von den Plänen der Regierung, die konservative Mehrheit im Landtag für eine steuerliche Entlastung der Agrarier und eine Belastung der Industrie zu nutzen. Sie erkannten, dass sie handeln mussten, um die Initiative zurückzugewinnen. Die Position der industriefreundlichen Strömung um den jungliberalen Dresdner Handelskammersyndikus und stellvertretenden Ortsgruppenchef Paul Schulze wurde gestärkt, als die im Kartell vereinigten „Ordnungsparteien“ bei der Reichstagswahl im Sommer 1903, die in Sachsen den Charakter einer Protestwahl gegen das Dreiklassenwahlrecht im Landtag annahm, eine vernichtende Nie-

24 Holger Starke, Eingemeindungen nach Dresden – ein historischer Überblick, in: Dresdner Geschichtsbuch, Hg. Stadtmuseum Dresden, Bd. 6, Altenburg 2000, S. 7–44, hier S. 24–28. 25 Vgl. Sebastian Kranich, Victor Böhmert. Nationalökonom, Jurist, Politiker, Publizist, Hochschullehrer, Staatsbeamter, Sozialreformer und Laientheologe, in: Klaus Tanner (Hg.), Selbsthilfe, Bruderhilfe, Staatshilfe, Gotteshilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000, S. 71–88.

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derlage erlitten.26 Zusätzlich Auftrieb erhielten die „modernen“ Kräfte innerhalb der Nationalliberalen, als bei der Landtagsnachwahl im Wahlkreis Dresden-Altstadt der überraschend aufgestellte Kandidat Schulze den konservativen Hofrat Paul Osterloh deutlich aus dem Felde schlug.27 Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Kommunalwahlen, die am Jahresende 1903 stattfanden und bei denen die Bewohner kurz zuvor eingemeindeter bevölkerungsreicher Arbeiterviertel wahlberechtigt waren. Erstmals wurde eine hohe Wahlbeteiligung registriert. Der preußische Gesandte meldete an den Reichskanzler, dass alle Parteien im Dresdner Kommunalwahlkampf eine wochenlange Agitation unternommen haben, „wie sie aus diesem Anlaß in solcher Heftigkeit hier bisher noch nicht betrieben worden ist“. Er resümierte, dass die herrschende antisemitische Reformpartei mit ihrer Basis im Kleinbürgertum (hauptsächlich selbstständige Handwerker, kleine Kaufleute, Detailhändler) von zwei Seiten hart bedrängt werde: einerseits vom „Handelsjudentum und den Großbazaren“ (gemeint waren die Nationalliberalen) und andererseits von den „sozialdemokratischen Konsumvereinen“. Aufgrund des „Sezessionsgeistes, der jetzt die nationalliberale Partei beherrscht“, sei es sogar fast zu einem Sieg der Sozialdemokraten gekommen.28 An anderer Stelle hieß es, dass ohne das von Oberbürgermeister Beutler 1903 eingeführte, vom Wahl- und Listenamt „trefflich ausgebaute“ Personalkartensystem schon 1904 die „sozialdemokratische Kandidatenliste ... glatt durchgekommen“ wäre.29 Die mit hohem Risiko vollzogene Abnabelung von den Konservativen zog im Ortsverein der Nationalliberalen heftige Diskussionen und Zerwürfnisse nach sich. Zeitungen aller Couleur berichteten ausführlich über die Auseinandersetzungen, die mit dem Sieg der Kräfte um Paul Vogel, Paul Schulze, Rudolf Heinze und Gustav Stresemann endeten. Die Stadtverordnetenfraktion 26 Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreiches 1871–1918, München 1980, S. 166; ders., Wahlen und Wahlpolitik im Königreich Sachsen 1867–1914, in: Sachsen im Kaiserreich, S. 29–86, hier S. 68 f. 27 Karl Heinrich Pohl, Die Nationalliberalen in Sachsen vor 1914. Eine Partei der konservativen Honoratioren auf dem Wege zur Partei der Industrie, in: Lothar Gall/Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 195–215, hier S. 202. 28 Zit. nach: Bericht des Gesandten Carl von Dönhoff an Außenminister Bernhard von Bülow zur Dresdner Stadtverordnetenwahlen vom 2.12.1904, in: Allg. Angelegenheiten des Kgr. Sachsen vom 1.7.1904–31.12.1917, PA AA Berlin, R 3226. 29 Zit. nach: StADD, Stadtverordneten-Akten, die Abänderung des Wahlsystems betr., St II, Nr. 186, Bd. I.

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unter dem Ortsgruppenvorsitzenden Rudolf Heinze stellte in ihrer Argumentation gegen die Antisemiten und Hausbesitzer öffentlichkeitswirksam deren Interessenpolitik bloß; die weitgehend passiven Konservativen betrachtete sie nur noch als deren Anhängsel. Bereits Ende 1902 war es den Nationalliberalen gelungen, den Wortführer der Hausbesitzer Gustav Hartwig, der nahezu zwei Jahrzehnte das Kollegium dominiert hatte, in den Rat abzuschieben, womit ihm das Rederecht genommen war. 1904 griff Heinze öffentlich den Führer der Antisemiten und Vorsitzenden der Vereinigten Bezirks- und Bürgervereine Emil Ahlhelm an.30 Ahlhelm wehrte sich gegen den nach seiner Ansicht „ehrverletzenden“ Vorwurf der „Cliquenwirtschaft“ und sorgte dafür, dass Heinze das Schicksal Hartwigs teilte: Er wurde gegen seinen Willen in den Rat abgeschoben.31 Der Rat hatte derweil mehrjährige Untersuchungen zur Wirkung des Kommunalwahlrechts in anderen Städten abgeschlossen und den Stadtverordneten das komplizierte Berufswahlrecht, das sich in der Arbeiterstadt Chemnitz „bewährt“ hatte, empfohlen. Die Sozialdemokraten forderten vergeblich den Erhalt des Listenwahlsystems, die Freisinnigen erfolglos die Einführung von Bezirks- und Stichwahlen bei Wahrung des gleichen und direkten Wahlrechts. Immerhin fand das Verlangen der antisemitischen Reformpartei, ein reines Pluralwahlrecht nach der Dauer des Bürgerrechts einzuführen, keine Mehrheit. Anfang 1905 drängte Beutler die Stadtverordneten zur Eile, wolle man nicht „die Herrschaft der Massen“ etablieren. Um das Stadtparlament vor der „Ueberfüllung mit ungeeigneten Elementen zu schützen“32 und eine bürgerliche Mehrheit für die Gemeindesteuerreform zu Stande zu bringen, akzeptierten die größten bürgerlichen Parteien schließlich den modifizierten Ratsentwurf. Allgemeiner Konsens war, dass das Wahlrecht „unter den bürgerlichen Gruppen eine möglichst gerechte Verteilung“ herstellen und den Sozialdemokraten eine Vertretung „in gewisser beschränkter Zahl“ bringen sollte.33

30 Dresdner Journal. Königlich Sächsischer Staatsanzeiger. Verordnungsblatt der Ministerien und der Ober- und Mittelbehörden, 28.11.1904, S. 2241. 31 Nach: Äusserungen des Herrn Stadtrat Dr. Heinze über die städt. Verwaltung, StADD, Hauptkanzlei, D.R. 621. 32 So die Formulierung in der Druckschrift der Rechten: Krumbiegel und Genossen, Betr. Änderung des Stadtverordneten-Wahlrechts in Dresden, Mitte 1905, in: StADD, St II, Nr. 186, Bd. I, Bl. 195–201. 33 Rückblick von Stadtverordneten-Vizevorsteher Paul Häckel auf der 20. öffentlichen Sitzung am 18.6.1908, in: Verhandlungen der Stadtverordneten zu Dresden 1908, S. 733.

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Von dem Ende November 1905 erstmals angewandten Berufswahlrecht profitierte die industrielle Klientel der Nationalliberalen am stärksten: Die Abteilung „Selbständige Kaufleute und Fabrikanten“ wurde fortan zu ihrer festen Domäne. Ende 1905 wurde das liberale „Urgestein“ Paul Vogel mit nicht mehr als 234 Stimmen gewählt, ein Jahr später der Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller Gustav Stresemann mit 374 Stimmen. Nominell war eine Stimme für Stresemann mehr als 14mal so viel wert wie eine Stimme für einen unansässigen Kandidaten der Abteilung „Arbeiter und Gewerbsgehilfen“. Aufgrund der weit höheren Wahlbeteiligung der SPD-Anhänger erhielt der Sozialdemokrat Emil Nitzsche sogar die 25fache Stimmenzahl Stresemanns. Dass die Nationalliberalen dieses Wahlrecht gegen Angriffe von links und rechts verteidigten, versteht sich. Seit 1910 war es den Nationalliberalen möglich, mit wechselnden Mehrheiten Kommunalpolitik zu gestalten. Die antisemitisch-konservative Fraktion verfügte seitdem nur noch über 37 Sitze (23 Konservative, 4 Hausbesitzer, 10 Antisemiten), denen 47 Mandatsträger anderer Richtungen gegenüberstanden: 28 Liberale, 15 Sozialdemokraten, 4 „Wilde“.34 Eine den Verhältnissen im Landtag entsprechende Position in der Stadtverordnetenversammlung konnten die Nationalliberalen jedoch erst in der unmittelbaren Vorkriegszeit erringen, da die Mandatszahl der stark benachteiligten SPD beschränkt blieb. 1913 verfügten die Sozialdemokraten über 16 und die Liberalen aller Schattierungen über 37 Sitze (33 Nationalliberale, 3 Fortschrittler, 1 „Wildliberaler“). 34 Stadtverordnete gehörten dem „alten“ Bündnis aus Konservativen und Reformern (Antisemiten) an.35 1915 sollte das veränderte Kräfteverhältnis mit der Berufung des Nationalliberalen Bernhard Blüher zum Oberbürgermeister eine Entsprechung an der Ratsspitze finden. Zwar war der Kreis der Wahlberechtigten 1910 noch immer enger als in anderen Großstädten, jedoch war die politische Regsamkeit des Kollegiums ungleich größer geworden, wie der Vizevorsteher der Stadtverordneten Paul Unrasch (Konservative) feststellte. Im Kollegium waren die Verhältnisse bald wie im Landtag, über den der preußische Gesandte 1910 nach Berlin berichtete, dass die Nationalliberalen jetzt „stark liberal gefärbt“ seien und „GroßBlock-Ideen“ haben. Wie die Freisinnigen würden sie sich „zu den Sozialdemokraten hingezogen“ fühlen.36 34 Dresdner Journal, 22.1.1910, S. 5. 35 Johannes Herrmann, Das politische Dresden, in: Dresdner Kalender 1914, S. 129. 36 Bericht des sächsischen Gesandten Graf von Hohenlohe an Außenminister BethmannHollweg, 27.5.1910, in: Allgemeine Angelegenheiten des Königreichs Sachsen vom 1. Juli 1904 bis 31. Dezember 1917, PA AA, R 3226.

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Das gegen Konsumvereine und Kaufhäuser gerichtete Ortsgesetz zur „Besteuerung der Großbetriebe im Kleinhandelsgewerbe“ (1910) war der letzte Sieg der „alten“ Kräfte. Sozialdemokraten und Nationalliberale hatten gegen die Vorlage votiert. Die Abstimmung ergab ein Patt, die Stimme des antisemitischen Vizevorstehers den Ausschlag.37 Nationalliberale und Sozialdemokraten votierten auch gemeinsam bei der Abstimmung über den Religionsunterricht an den Volksschulen, jedoch aus weltanschaulich konträrer Position. Während der Teuerungsdebatten 1910/11 stand anfangs ein MitteRechts-Block gegen Sozialdemokraten und Freisinnige, dem später ein fraktionsübergreifender Konsens folgte. 1910 verteidigten die SPD-Vertreter geradezu staatsmännisch die Erhöhung der Schlachthofgebühren – ein Vorgang, der fünf Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.

6. Fazit Dresden war keine liberale Stadt, aber ein Ort, von dem der Ausbruch der Nationalliberalen aus dem Kartell mit den Konservativen in Sachsen seinen Anfang nahm. Im Ergebnis dieser Aktion erhielt der Liberalismus wieder eine politische Perspektive. Seitdem wurden alle bedeutsamen Parteien in den politischen Wettstreit einbezogen. Für die Entwicklung einer modernen politischen Kultur waren die Auseinandersetzungen unumgänglich. Die neue Qualität zeigte sich schon in den Wahlkämpfen, die von den Nationalliberalen unter Einsatz moderner Werbeformen und Technik (Automobile) sowie mit persönlicher Ansprache der Wähler geführt wurden. Anfangs waren die Sozialdemokraten und die Liberalen die einzigen, die Redner der gegnerischen Parteien auf ihren Veranstaltungen zuließen. Die bis dahin praktizierte Isolierung und Stigmatisierung der bedeutendsten politischen Kraft war damit beendet; die Sozialdemokratie wurde in den gesellschaftlichen Diskurs einbezogen. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, es seien nur die Wirtschaftsliberalen gewesen, die ihre Interessen gesichert hätten. Auf den zweiten Blick wird jedoch offenbar, dass innerhalb der Partei die Erkenntnis gereift war, dass bürgerliche Freiheiten nicht nur für den ökonomischen Erfolg notwendig waren, sondern auch für den Zusammenhalt und die Gestaltung der Gesell-

37 Vgl. Verhandlungen der Stadtverordneten zu Dresden 1910, 27. öff. Sitzung vom 10.11.1910, S. 1041–1085.

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schaft der Zukunft, für die man freilich auch die „nationale Rückeroberung der Arbeiterschaft“38 in Angriff nahm. Aus einer Minderheits- und Randposition heraus war es den Nationalliberalen mit taktischem Geschick, elastischem Handeln und der Nutzung der Macht der Wirtschaftsverbände in Land und Stadt gelungen, wieder in das Zentrum des politischen Geschehens vorzudringen. Im Ergebnis des liberalen Aufbruchs waren die Konservativen gezähmt, die Antisemiten marginalisiert und die Sozialdemokraten gestoppt worden. Die Nationalliberalen entfalteten damit eine Anziehungskraft für die liberale Idee, was von den Sozialdemokraten und Konservativen aufmerksam registriert und respektiert wurde. In der Folgezeit gelang es den National- und den Linksliberalen, die Liberalisierung der Gesellschaft, etwa im vernachlässigten Schulwesen, voranzutreiben. Die Sozialdemokratie beabsichtigte mittlerweile, den Staat von innen heraus zu verändern, was ebenso von ihrer Entwicklung spricht wie der Verlauf der Wahlrechtskämpfe.39 Eine Schlüsselrolle im politischen Modernisierungsprozess war, eher unfreiwillig, dem konservativ gesinnten Dresdner Oberbürgermeister Beutler40 zugefallen. Während er die Autonomie der Gemeindefinanzierung gegen die zentralisierenden Steuerpläne von Reich und Land und die rührige Bewegung der Mieter und Konsumenten nicht verteidigen konnte, führte er die von seinem nationalliberalen Amtsvorgänger Stübel eingeleitete Erweiterung und Professionalisierung der Stadtverwaltung mit Tatkraft und Weitblick weiter. Mit den Großeingemeindungen sicherte der Rat unter seiner Leitung das wirtschaftliche Übergewicht der Stadt in der Region und ermöglichte eine moderne Raumplanung. Das Wahlrecht von 1905, dessen Ausgestaltung und Einführung Beutler moderiert hatte, löste die Erstarrung in der Kommunalpolitik: Zum einen wurde die Herrschaft der bürgerlichen Parteien gefestigt, 38 Aufruf von Hermann Barge zur Reichstagswahl, 22.1.1907, in: Der Wahlkampf in Dresden nach der Reichstagsauflösung am 13. Dezbr. 1906. Ein Spiegelbild der Anschlagsäulen vor der Hauptwahl am 25. Januar 1907 und bis zur Stichwahl am 5. Februar 1907, zgst. nach den Unterlagen des Dresdner Anschlagwesens, Dresden o.J., S. 20. 39 Vgl. Simone Lässig, Der „Terror der Straße“ als Motor des Fortschritts? Zum Wandel der politischen Kultur im „Musterland der Reaktion“, in: Sachsen im Kaiserreich, S. 191–240, bes. S. 213 ff.; dies., Wahlrechtskämpfe im Kaiserreich. Lernprozesse, Reformimpulse, Modernisierungsfaktoren: das Beispiel Sachsen, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 65 (1994), S. 137–168, hier bes. S. 166–168. 40 Vgl. Christel Hermann, Oberbürgermeister der Stadt Dresden Gustav Otto Beutler, in: Dresdner Geschichtsbuch, Hg. Stadtmuseum Dresden, Bd. 3, Altenburg 1997, S. 95– 107.

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zum anderen einer Pluralität Raum gegeben, die einen politischen Lern- und Ausgleichsprozess im gesamten Kollegium in Gang setzte. Zugleich hatte sich eine Entwicklung innerhalb der nationalliberalen Partei vollzogen. Paul Vogel, Rudolf Heinze und Gustav Stresemann, die die Veränderung der Verhältnisse im Landtag, in den kommunalen Gremien bzw. in den Industrieverbänden und in der Reichspolitik vorangetrieben hatten, standen bald im Zenit einer eindrucksvollen politischen Karriere. Ihre Ideen wurden maßgebend für die „sächsische Variante“ des Liberalismus in jener Zeit, wie er sich nach der Novemberrevolution in der Deutschen Volkspartei organisatorisch verselbstständigen sollte. Kurzum: Dresden war im Kaiserreich keine Hochburg des Liberalismus, aber eine Stadt, in der sich die Kampfkraft und Zukunftsfähigkeit dieser Idee unter den Bedingungen dieser Zeit erwiesen hatte.

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Bürgertum und Freisinn in Basel vor dem Ersten Weltkrieg In Deutschland war der Liberalismus in den Städten stark und auf Reichsebene schwach. In der Schweiz dagegen präsentierten sich die Verhältnisse teilweise geradezu umgekehrt: Um 1830 setzten sich die Liberalen als ländliche und kleinstädtische Opposition gegen die Hauptorte durch und erst 1848 dann auch auf nationaler Ebene. In den größeren Städten, insbesondere in Basel und Bern, aber nicht in Zürich, konnten sich die Konservativen jedoch noch längere Zeit halten.1 Die nachfolgende kleine Studie geht der Frage nach, wie sich der Liberalismus in der Stadt Basel etabliert und seinen Einfluss geltend gemacht hat. In einer Betrachtung der schweizerischen Verhältnisse muss man zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die zeitgenössischen Selbstbezeichnungen nicht mit unseren analytischen Kategorien übereinstimmen. Die Liberalen, die wir an sich im Auge haben, waren in der Zeit eher die Radikalen, sie nannten sich Freisinnige und wurden zuweilen auch als Fortschrittspartei bezeichnet; man kann sie auch im Gegensatz zu den Altliberalen die Neuliberalen nennen. Und die Kräfte, die sich bis heute in aller Form „Liberale“ nennen, sind die Konservativen, Liberal-Konservativen oder eben die Altliberalen.2

1 Auch Lionel Gossman, Basel in der Zeit Jacob Burckhardts. Eine Stadt und vier unzeitgemässe Denker, Basel 2005 (engl. 2000), ist der Meinung, dass Basel eine Hochburg des Konservatismus war (S. 34). In der Stadt Bern konnten sich die Konservativen, die sich einem doppelten Gegensatz des liberalen Kantons- und des Sitzes des liberalen Bundesstaates gegenüber sahen, sogar bis 1886 halten. Vgl. Emil Ernes Beitrag in: Bern – die Geschichte einer Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Bern 2003, S. 120 ff. 2 Die „Basler Nachrichten“, die den konservativen Liberalen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Verfügung standen, waren in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch dem Freisinn zugetan. In jener Zeit war das Blatt der konservativen Liberalen die „Allgemeine Schweizer Zeitung“. – Erst in jüngster Zeit sind die Freisinnigen und die Liberalen auf der Bundesebene und in den Kantonen der französischen Schweiz, nicht aber in Basel eine Gemeinschaft eingegangen und nennen sich „FDP. Die Liberalen“.

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1. Drei Phasen im Überblick Gemessen am Status nun der Basler Freisinnigen sind für die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg drei Phasen zu unterscheiden: die Zeitspanne der konservativen Dominanz 1833–1875, die Epoche der freisinnigen Dominanz 1875–1905 und die Jahre deren Rückgangs 1905–1914. Das Jahr 1833 ist hier nur insofern ein Ausgangspunkt, als von da an die konservative Stadt und die radikalfreisinnige Landschaft nach einem blutigen Bürgerkrieg je eigene Teilstaaten bildeten. Diese Teilung hatte zur Folge, dass das konservative Stadtregime in seinem Wirkungsbereich zwar reduziert, aber zugleich auch gestärkt wurde. Die politische Partizipation wurde mit der Wiedereinführung des Zensuswahlrechts in einem Moment eingeschränkt, da andere Kantone dieses aufhoben.3 In dieser Phase bildeten die Freisinnigen eine kleine, aber kontinuierlich wachsende Minderheit. 1846 war sie immerhin so stark, dass sie mit einer Petition eine Verfassungsrevision forderte und die konservative Mehrheit pro forma darauf einging, ohne den Freisinnigen wirklich entgegenzukommen. Der Moment wurde im Gegenteil genutzt, um – statt die Gewerbefreiheit einzuführen (bzw. den Zunftzwang aufzuheben) – die Einführung der Gewerbefreiheit ausdrücklich zu verbieten. Es brauchte auf Bundesebene den freisinnigen Sieg von 1874 mit der gesamtschweizerischen Verfassungsrevision, dass der Freisinn auch in BaselStadt 1875 mit einer neuen Kantonsverfassung und einer neuen Wahlordnung die Mehrheit erlangen konnte. Eine weitere Zäsur bildete 1905 die Einführung des vom Freisinn bekämpften Proporzwahlrechts, das den nichtfreisinnigen Minderheitskräften eine bessere Vertretung im Kantonsparlament gewährleistete. Über die Parteistärken im Kantonsparlament (Grossen Rat) seit 1875 gibt die nachfolgende Tabelle Auskunft. Wissenschaftlich zuverlässige Angaben zu den Kräfteverhältnissen in der Legislative vor 1875 sind praktisch nicht existent, die Zusammensetzung bleibt so obskur wie die von den Zünften abhängigen Wahlen. Immerhin konnte ein norddeutscher Emigrant wie Peter Feddersen4 1858 als Radikaler in den Grossen Rat Einsitz nehmen.5 Von den Wahlen von 1870 heißt es, dass die Gruppe der Freisinnigen „nur“ ein 3 Martin Schaffner, Die Basler Arbeiterbevölkerung im 19. Jahrhundert, Basel 1972; ders., Geschichte des politischen Systems von 1833 bis 1905, in: Lukas Burckhardt u.a. (Hg.), Das politische System Basel-Stadt. Geschichte, Strukturen, Institutionen, Politikbereiche, Basel 1984, S. 37–53, hier S. 41. 4 Feddersen war Verfasser einer Geschichte der Schweizerischen Regeneration von 1830 bis 1848, Zürich 1867. 5 Paul Burckhardt, Geschichte der Stadt Basel, Basel 1942, S. 282.

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Bürgertum und Freisinn in Basel vor dem Ersten Weltkrieg

Viertel der Parlamentssitze hatte.6 Die Konservativen gewährten bei der Bestellung des Kleinen Rats einen freiwilligen Proporz und räumten den Freisinnigen 3 Sitze von 15 Sitzen ein. 1873 befanden sich die beiden Bürgermeistermandate in der gleichen Familie Burckhardt-Iselin. Das eine lag beim Konservativen Karl Felix, das andere beim Freisinnigen, der nur Karl hieß. Tabelle 1: Sitzverteilung im kantonalen Parlament7 LDP Liberaldemokraten bzw. Konservative FDP Freisinnigdemokraten CVP Christliche Volkspartei SP Sozialdemokraten BGP Bürger- und Gewerbepartei8 Wahljahr

LDP

FDP

CVP

SP

1875 1878 1881 1884 1887 1890 1893 1896 1899 1902 1905 1908 1911 1914

53 64 41 38 41 38 37 42 44 35 30 27 23 22

64 54 83 87 82 74 72 69 68 67 51 42 36 30

1 2 4 3 3 3 10 17 17 17

2 5 6 11 12 22 38 43 47 44

andere (v.a. Zentrum) 13 12 6 5 4 11 11 5 3 3 1 1 7 (6 BGP) 17 (17 BGP)

6 Ebd., S. 285. 7 Vgl. auch Walter Lüthi, Der Basler Freisinn von den Anfängen bis 1914, Basel 1983, S. 173; ders., Die Struktur des Basler Grossen Rates nach politischer Parteizugehörigkeit und sozialer Schichtung, Teil I, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 62 (1962), S. 125–164, und Teil II ebd. 63 (1963), S. 125–177; ders., Parteien, in: Burckhardt u.a. (Hg.), Das politische System Basel-Stadt, S. 318–332. 8 1911 bildete sich eine Hausbesitzerpartei heraus, die sich später zunächst Bürgerpartei, dann Bürger- und Gewerbepartei nannte (Erich Gruner, Die Parteien in der Schweiz, Bern 1969, S. 150).

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Georg Kreis

2. Der politische Wandel als Resultat des sozialen Wandels Wie erklären sich die Veränderungen der politischen Verhältnisse, wie sie in der Zusammensetzung des Kantonsparlaments der Jahre 1875–1914 zum Ausdruck kommen? Sieht man davon ab, dass eine Idee – der Liberalismus – wegen ihres Werts ihren Weg macht und Konservative sich dem Liberalismus zuwenden, muss die Erklärung vor allem im sozialen Wandel und in der angepassten politischen Ordnung gesucht werden. Die Wohnbevölkerung erfuhr in den Jahren 1870–1910 beinahe eine Verdreifachung. Das starke Bevölkerungswachstum bildete den Ausgangspunkt und erklärt sich als Folge des gleichzeitigen Wirtschaftswachstums wie auch als dessen Voraussetzung. Das Bevölkerungswachstum ergab sich in geringem Maß aus Geburtenüberschuss sowie rückläufiger Sterblichkeit und in erster Linie aus der starken Zuwanderung infolge Landflucht. Tabelle 2: Wohnbevölkerung Kanton Basel Stadt9 1837 1847 1860 1870 1880 1888 1900 1910

24.316 28.067 40.680 47.040 64.207 73.749 112.227 135.918

Die Ursachen dieser wachstumsbestimmenden Zuwanderung sind wenig abgeklärt.10 Man weiß zwar, dass es sich um Wanderungsgewinne handelt, man weiß aber nichts Bestimmtes, warum es zu einer derartigen, offenbar

9 Stadt und 3 Landgemeinden; Philipp Sarasin, Stadt der Bürger. Struktureller Wandel und bürgerliche Lebenswelt. Basel 1870–1900, Basel 1990 (2. Aufl. mit Randdaten 1846–1914, Göttingen 1997), S. 433; Regina Wecker, 1833 bis 1910: Die Entwicklung zur Grossstadt, in: Georg Kreis/Beat von Wartburg (Hg.), Basel. Geschichte einer städtischen Gesellschaft, Basel 2000, S. 196–224, hier S. 198; Georg Kreis, Orte des Wissens. Die Entwicklung der Universität Basel entlang ihrer Bauten, Basel 2010. 10 Hans Bauer, Basel, gestern – heute – morgen. Hundert Jahre Basler Wirtschaftsgeschichte, Basel 1981, der einzigen vorhandenen Basler Wirtschaftsgeschichte, enthält nur Zahlen zu den sich verändernden Anteilen der Wirtschaftssektoren, nicht aber zur absoluten Zunahme insbesondere der Beschäftigungen bzw. der Arbeitsplätze der einzelnen Sektoren.

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allzu selbstverständlich erachteten Zuwanderung gekommen ist.11 Der wachsende Arbeitsmarkt im städtischen Ballungsraum, neben der Industrie speziell auch im Baugewerbe dürfte gewiss anziehend gewirkt haben. Zudem mag auch eine allgemeine Attraktivität der Stadt für die Landflucht bestimmend gewesen sein. Schließlich ging von der Zuwanderung eine selbstverstärkende Wirkung aus, weil diese nach weiteren Kräften für die Deckung des Wohnungsbedarfs und des Güterkonsums rief.12 Die Arbeitsnachfrage resultierte aus dem anteilsmäßig bei etwa 50 % zwar einigermaßen gleichbleibenden, aber leicht zurückgehenden Industriesektor (hauptsächlich Textil-, später langsam wachsend als Folgeindustrie aus der Textilfärberei auch Chemie- und Pharmaindustrie) und vor allem auch dem stark wachsenden Dienstleistungssektor.13 Beträchtlich war auch die in den Statistiken sonderbarerweise separat aufgeführte Kategorie der Dienstboten, die im Laufe der Jahrzehnte zurückging. Die Textilindustrie (vor allem Seidenbändel) blieb bis ins 20. Jahrhundert Leitindustrie. Die Fabrikdichte auf städtischem Boden entsprach einerseits allgemeinen Gegebenheiten, sie wurde aber durch den Verlust des Hinterlands (im Zuge des erwähnten Bürgerkriegs von 1830/33) gefördert. Man kann die anhaltende Dominanz des älteren Industriesektors mit dem Hinweis unterstreichen, dass er gemäß Betriebszählung von 1905 sogar 61,3 % gegenüber dem jüngeren Dienstleistungssektor mit „nur“ 37,7 % ausgemacht habe.14 Dieser Sektor erlebte aber, wie die folgende Tabelle zeigt, einen stark zunehmenden Anteil. Tabelle 3: Beschäftigungssektoren (in %)15 Sektor Urproduktion Industrie/Handwerk Dienstleistungen Dienstboten

1870 4,5 52,4 27,9 15,1

1880 4,2 54,2 27,4 14,2

1888 3,8 52,4 31,5 12,3

1900 2,4 51,8 34,2 11,6

1910 1,8 49,2 39,9 9,0

11 Allgemein zum Thema: Hans-Jörg Gilomen u.a. (Hg.), Migration in die Städte. Ausschluss–Assimilierung–Integration–Multikulturalität, Zürich 2000. 12 Neben den anziehenden Pull-Faktoren wirkten sicher auch abstoßende Push-Faktoren im nichtstädtischen Siedlungsraum, denen hier keine weitere Beachtung geschenkt werden kann. 13 Dienstleistungen (Handel, Verkehr, öffentliche Verwaltung/wissenschaftliche und freie Berufe). 14 Philipp Sarasin, Basel auf dem Weg zur modernen Industriestadt (1833–1914), in: Basel 1501–2001, Basel 2001, S. 141–152, hier S. 149. 15 Sarasin, 1990, S. 81, übernommen von Wecker, 2000, S. 205.

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Um 1900 stellte der Kantonsstatistiker fest, dass Basel die industriell am stärksten entwickelte Großstadt der Schweiz und der Anteil der Erwerbstätigen in Industrie und Gewerbe höher sei als der Durchschnitt von 28 deutschen Großstädten.16 Basel war also entgegen bestehender Vorstellung weniger eine Handelsstadt als eine Industriestadt und damit eine Arbeiter- und bis zu einem gewissen Grad auch eine Ausländerstadt.17 Die starke Präsenz der Industrie ist auch durch mehrere Abbildungen belegt. Man beachte die im Hintergrund rauchenden Schlote auf dem Cover-Bild, im Vordergrund mit Blick auf den kleinbaslerischen Stadtteil die erneuerte Mittlere Brücke von 1900 und – wichtig – die 1912 fertiggestellte und die Bundespräsenz markierende Kaserne.18 Hier zwei weitere Basler Industriebilder, ein reales und ein stilisiertes.

Fabrikareal der Gesellschaft der Chemischen Industrie Basel (später CIBA, später Novartis) in den 1920er Jahren (Novartis Archiv). Industriebauten konnten als etwas Schönes gesehen und dargestellt werden: Hier, wie eine stilisierte Kopie des nebenstehenden Bildes, die Vignette auf dem Umschlag des Katalogs der Basler Chemischen Industrie an der Schweizerischen Landesausstellung 1914 in Bern (so in: INSA-Band, vgl. Anm. 17, S. 37). 16 Sarasin, 2001, S. 149. 17 Das Bild von der Handelsstadt gründet auf den vorindustriellen Verhältnissen. Im INSA-Kapitel zu Basel ist nur von der Handelsstadt und nicht von der Industriestadt die Rede (S. 73): Inventar der neuen Schweizer Architektur 1850–1920 (INSA), Bd. 2: Zu Basel, Bellinzona und Bern, Bearb. Othmar Birkner/Hanspeter Rebsamen, Bern 1986, S. 25–241. 18 David Trefas, Die Kaserne in Basel, Basel 2012.

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Der Ausländeranteil variierte nach Branchen stark: Bei einem Durchschnitt von 37 % betrug er in der Industrie durchschnittlich 42 % (mit nur 27 % in der alteingesessenen Textilindustrie, dagegen mit 55 % im boomenden Baugewerbe), im Transport 34 % und im Handel dagegen nur 29 %.19 Die Zuwanderung bewirkte Veränderungen in der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung und führte zu einer Zunahme des katholischen Bevölkerungsteils und zu einer entsprechenden Abnahme des als autochthon verstandenen reformierten Bevölkerungsteils. Tabelle 4: Konfessionen in Basel20 Jahr 1870 1880 1888 1900 1910

Ref. 72,1 68,0 67,9 65,1 63,4

Kath. 25,8 29,6 30,0 33,1 33,3 (inkl. 3,3 Christkath.)

Basel war seit 1529 eine reformierte Stadt. 1837 gehörten 84,4 % der Wohnbevölkerung dieser Konfession an. Bis 1838 wurden nur Reformierte eingebürgert, nach 1838 konnten immerhin auch Lutherische eingebürgert werden. Die Katholiken mussten bis 1848 warten. In den ersten 18 Jahren nach 1848 wurden aber nur gerade 72 Personen dieser Konfession eingebürgert. Von bi-konfessionellen Paaren verlangten die Behörden, dass die Kinder reformiert erzogen würden. 1859 erklärte der Kleine Rat offen: Katholische Bürger brächten Übelstände und Schwierigkeiten für den ungestörten gedeihlichen Fortbestand der inneren bürgerlichen Verhältnisse, in Schulen, im Spital und im Waisenhaus.21 Auch nach 1900 noch konnte auf die Frage, ob man katholisch sei, die Antwort lauten, nein, man sei Basler.22 Die meisten Katholiken waren, zumal sie in der Regel der Unterschicht angehörten, sofern sie Schweizer waren, Bürger zweiter Klasse, und soweit sie Ausländer waren, eben Nichtbürger.

19 20 21 22

Bauer, 1981, S. 74. Wecker, 2000, S. 201, gemäß Stat. Jahrbuch 1925. Burckhardt, 1942, S. 284. Persönliche Überlieferung von Fritz Fulda, der vor 1914 in Basel die Schulen besuchte. Der erste Eigenbau einer katholischen Kirche wurde erst 1883/86 mit der am Rande des Zentrums errichteten Marienkirche verwirklicht. Zuvor stand nur, typischerweise in dem von vielen Zuwanderern bewohnten Kleinbasel, die St. Clarakirche zur Verfügung. Die zentral stehende Barfüsserkirche wurde ihnen, obwohl freistehend, trotz mehrfacher Anträge (1869, 1872 und 1880) verweigert.

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Tabelle 5: Einwohnerstatus der Kantonsbevölkerung23 Jahr 1870 1880 1888 1900 1910

Kantonsbürger 12.646 (28,2 %) 17.259 (28,1 %) 20.003 (28,5 %) 27.511 (25,1 %) 43.507 (32,9 %)

sonst. Schweizer 18.556 (41,4 %) 23.142 (37,7 %) 26.004 (37,0 %) 39.908 (36,3 %) 38.766 (29,3 %)

„Fremde“ 13.632 (30,4 %) 20.998 (34,2 %) 24.256 (34,5 %) 42.391 (38,6 %) 50.003 (37,8 %)

Total 44.834 61.399 70.303 109.810 132.272

Die Zunahme der letzten Kategorie (die der „Fremden“) ist für die Ursachen des Erfolgs der Freisinnigen nur insofern von Bedeutung, als damit die Zahl der Einbürgerungswilligen ebenfalls anstieg, was in der ersten Kategorie ebenfalls zu einem Anstieg der Zahl der Kantonsbürger führte. Die mittlere Kategorie der Schweizer Bürger ohne Basler Kantonsbürgerrecht überwog in den Jahren 1870–1910 die der Basler Bürger. Die Zuwanderung kam in erster Linie aus dem Umland. Wegen seiner Grenzlage bestand das städtische Umfeld zu zwei Dritteln aus Ausland, und das andere Drittel gehörte wegen der Kantonstrennung von 1833 zu einem anderen Kanton (Basel-Landschaft, BL). Tabelle 6: Zugewanderte nach Herkunft (in % am Total der Eingewanderten) übrige Schweiz davon BL/Aargau

1888 51,6 16,9

1900 49,2 21,7

1910 46,8 19,5

Ausland davon Deutschland davon Elsass davon Frankreich davon Italien

48,3 38,1 6,8 1,0 0,6

50,8 36,6 7,4 1,1 3,2

53,2 36,1 8,5 1,1 4,1

In den absoluten Bevölkerungszahlen ist die enorme Fluktuation von Ein- und Auswanderungen nicht berücksichtigt. Philipp Sarasin, dem dieser Aspekt zu Recht besonders wichtig erscheint, betont, dass in den 1890er Jahren die Summe der Mobilen, gemessen an der Gesamtbevölkerung, fast 40 % pro Jahr betrug.24 Die nomadisierenden Menschen, aber auch die bleibenden Zuwan23 Wecker, 2000, S. 200. Fremde: Ausländer und Heimatlose. Alle Zahlen ohne die drei kleinen, vernachlässigbaren Landgemeinden. 24 Sarasin, 2001, S. 145. Ähnlich der Beitrag von René Lorenceau, Nombre et durée des séjours de deux groupes de migrants à Bâle. Comparaison entre les arrivants de l’année

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derungen gehörten größtenteils der Unterschicht an und stammten je etwa hälftig aus der übrigen Schweiz und aus dem Ausland. Für eine differenziertere Betrachtung der Ausländeranwesenheit müsste übrigens (wie heute) die Verteilung auf die Stadtquartiere und die entsprechende territoriale Segregation beachtet werden. 1910 verzeichnete man im ganzen Kanton 37,8 %, in Kleinbasel (auf der Nordseite des Rheines) aber 48,6 % Ausländer. Die meisten waren Deutsche, es gab aber auch zahlreich Italiener (7000).25

3. Zur Bedeutung des Vereinswesens Die Vereine nehmen im sozialen Wandel eine wichtige Stellung ein, weil sich die gesellschaftlichen Kräfte in ihnen formell und zugleich informell organisieren. Parteien gingen bekanntlich aus ad hoc entstandenen Wahlvereinen hervor und verstetigten mit der Zeit ihre Tätigkeit, indem sie feste Programme entwickelten. Von ebenfalls politischer Bedeutung waren die Vereine, die nicht primär politischer Natur waren, aber der Stärkung des politischen Einflusses dienten. Manfred Hettling macht zu Recht deutlich, dass sich Bürgerlichkeit nicht nur und nicht einmal in erster Linie in politischen Parteien organisierte, sondern auch in nur indirekt parteipolitisch wirksamen Vereinen: den Schützenvereinen, Gesangsvereinen, Lehrervereinen, Museumsvereinen, Gemeinnützigen Gesellschaften etc.26 Die Konservativen wussten in besonderem Maß das Vereinswesen zur Aufrechterhaltung ihres informellen Wirkens zu nutzen. Die Basler Unternehmer behielten einen großen Teil ihres früheren Einflusses, indem sie an Stelle der 1875 mit dem Regimewechsel verloren gegangenen Regierungsinsti-

1870 et ceux de l’annére 1900, in: Hans-Jörg Gilomen u.a. (Hg.), Migration in die Städte, S. 213–224. 25 Die jüngere Forschung hat für diese Zeit die übliche Fremdenfeindlichkeit festgestellt, mit der Ghettoisierung in Italienerquartieren, den negativen Etikettierungen als „Polentafresser“, mit der Angst vor ansteckenden Italienerkindern, mit dem Vorschlag, streikende Arbeiter sogleich über die Grenze zu stellen. Peter Manz, Emigrazione italiana a Basilea (1890–1914), Diss. Basel 1988; Kurzbeitrag in: Basel. Geschichte einer städtischen Gesellschaft, Basel 2000, S. 264–266. 26 Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und in der Schweiz von 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 251 ff.

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tution, dem so genannten Handelskollegium, als Ersatz 1876 den Handelsund Industrieverein gründeten.27 Für die Gegenseite, die Freisinnigen, waren die Vereine aber ebenfalls wichtig, nicht zur Gestaltung von Sachgeschäften, aber zur Mobilisierung von Wählern. 1845 konstituierten sich die Basler Freisinnigen als Patriotischer Verein. In dieser Zeit bildete auch der Artillerieverein Basel-Stadt eine Stütze der freisinnigen Agitation. Diese lokale Formation ging dann, was eine weitere Stärkung bedeutete, 1858 in einem gesamtschweizerischen Verein gleichen Namens auf. Von Erfolgen auf gesamtschweizerischer Ebene dürften stärkende Rückwirkungen auf die lokale Position ausgegangen sein. Der Anwalt Carl Brenner, einer der führenden Basler Freisinnigen, hatte es, weil diese politische Kraft in Basel noch zu schwach war, 1848 nicht geschafft, den einzigen Basler Nationalratssitz zu gewinnen; er wurde aber, weil der Freisinn auf schweizerischer Ebene die stärkste Kraft war, 1852 Zentralpräsident des Eidgenössischen Sängervereins.28 Im Vereinswesen wirkte ein informeller Druck zur freiwilligen Vergesellschaftung. Philipp Sarasin hat am Fall des Bandfabrikanten Reinhold SarasinWarnery dessen 85 relevante Vereinsmitgliedschaften aufgeführt: Aus beruflichen Interessen war er Mitglied im Basler Bandfabrikanten-Verein, im Basler Handels- und Industrieverein und in der Statistisch-Volkswirtschaftlichen Gesellschaft. Aus politischem Interesse gehörte er dem konservativen Quartierverein St. Alban und damit auch dem alle konservativen Quartiervereine überdachenden Eidgenössischen Verein an, ferner war er Mitglied der ehrwürdigen Schlüsselzunft. Hinzu kamen eher gesellige und kulturelle Gesellschaften wie der Basler Kunstverein, die Basler Liedertafel, der Freiwillige Museumsverein, die Evangelische Missionsgesellschaft. 40 der 85 Vereine hatten caritative Zwecke wie die Freiwillige Armenpflege, die örtliche Taubstummenanstalt oder das Asyl für weibliche Obdachlose.29 Die freiwillige Fürsorge der kon27 Walter Hochreiter, 125 Jahre Handelskammer Beider Basel: die letzten fünfzig Jahre, Basel 2001 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur). 28 Peter W. Heer, Politischer Liberalismus der ersten Stunde – Carl Brenner-Kron (1814– 1883), in: Ders. (Hg.), Vom Weissgerber zum Bundesrat. Basel und die Familie Brenner, 17.–20. Jahrhundert, Basel 2009, S. 198–226, Zit. S. 201. – 1848 ging der einzige Nationalratssitz an den liberal-konservativen Achilles Bischoff. Der Freisinn erlangte erst 1863 mit Wilhelm Klein ein Nationalratsmandat, nachdem die freisinnige Anhängerschaft zugenommen und Basel wegen der Bevölkerungszunahme einen zweiten Sitz in Bern zugeteilt bekommen hatte. 29 Sarasin, 2001, S. 141. Der Vf. nimmt an, dass mit den letzteren Engagements auch eine „Ablenkung des Blicks vom eigenen Luxus auf die Bedürftigkeit der anderen“ praktiziert wurde (S. 143).

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servativ-bürgerlichen Kräfte nahm nach deren Machtverlust von 1875 noch zu und hatte auch die Funktion der Selbstlegitimation dieses Milieus.

4. Der Freisinn zwischen rechts und links Die Basler Freisinnigen gründeten 1845, als Schachgesellschaft getarnt, in einem Hinterzimmer eines Wirtshauses („Harmonie“) den Patriotischen Verein. 1866/67 hielten sie in der Kantine der neuen Kaserne stark besuchte Reformbankette und erhoben mit dem so genannten „Klingentalprogramm“ die folgenden Forderungen, die in der Folge mehrheitlich umgesetzt werden sollten30: • Erweiterung der Volksrechte • Weltlicher Zivilstand • Wahlreform für den Grossen Rat • Abstimmungen am freien Sonntag • Besoldete Regierungsräte • Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichts • (darum Auflösung der Universität) • Gründung einer Kantonalbank • Reform des Vormundschaftswesens (ohne Zünfte) • Formelle Aufhebung der Todesstrafe • Trennung von Kirche und Staat • Allgemeines Arbeitsgesetz • Beteiligung am Armenwesen • Initiative und Referendum (erst zwei Jahre später als Ergänzung). In den Anfängen gab es keine ausformulierten Parteiprogramme, an denen man die Positionen des konservativen oder freisinnigen oder gar sozialistischen Liberalismus ablesen könnte. Zunächst standen vor allem die Wahlen von Persönlichkeiten im Vordergrund, die sich in allgemeiner Weise zum Liberalismus bekannten. Auf der Rückseite der Wahllisten waren nur allgemeine Formulierungen abgedruckt: 1881 etwa, man solle die Anhänger des Fortschritts wählen, „welche ... für diejenigen zahlreichen Bevölkerungskreise, die gegenüber den Folgen von Krankheit und Ausbeutung hilflos dastehen, ein warmes, tatkräftiges Herz haben“.31

30 Lüthi, 1983, S. 17; Burckhardt, 1942, S. 283 ff. 31 Lüthi, 1983, S. 43.

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Die Freisinnigen als die Neuliberalen profilierten sich vor allem in Sachpositionen gegen Rechts, und sie verteidigten sich später in den Wahlen gegen Links, indem sie moderate sozialdemokratische Postulate übernahmen und für sich in Anspruch nahmen, dass sie, auch wenn nicht Teil der Unterschicht, doch die besseren Interessenvertreter der Linken seien.32 Die Tendenzen der liberalen Konservativen und der liberalen Freisinnigen verliefen gegenläufig: Die Konservativen forderten Zurückhaltung im Beschließen von Staatsausgaben und wehrten sich gegen die stärkere Steuerbelastung der oberen Einkommen.33 Sie wollten statt auf staatliche Zwangsleistungen auf freiwillige Privatleistungen setzen, und diese waren in der Tat nicht unbeträchtlich (vgl. oben den Abschnitt zu den Vereinen). Die Konservativen, die in wirtschaftlicher Hinsicht offen, ja kosmopolitisch eingestellt waren, wollten die Stadt klein halten und einen geschlossenen Stadtstaat behalten, während die Freisinnigen für Öffnung und Wachstum waren. Das ließ die Aufgaben der öffentlichen Hand wichtiger werden und rief insbesondere nach einem Ausbau der Infrastruktur, was zur Folge hatte, dass die Regierung mehr Geld brauchte.34 Der Konservative Geigy kämpfte 1885 im Grossen Rat mit dem Argument gegen Steuererhöhungen, der Staat soll sparen, statt schröpfen, zudem gingen mit den Erhöhungen die freiwilligen Spenden zurück. Zwei Jahre später warnte der gleiche Politiker, wenn man zu weit gehe, dann würden die freiwilligen Leistungen der Wohltätigkeit erstickt werden.35 Die Freisinnigen wollten, mit entsprechenden Konsequenzen für den Staatshaushalt, die öffentlichen Leistungen (im sozialpolitischen wie im städtebaulichen Bereich) ausbauen und steuerlich die unteren Einkommen entlasten, die oberen Einkommen jedoch stärker belasten. Die Tendenzen der Freisinnigen und Sozialdemokraten waren im Grunde gleichlaufend, wenn auch unterschiedlich weit gehend. In den Jahren zwischen 1894 und 1905 wurde den freisinnigen Neuliberalen von den stets klassenkämpferischer auftretenden Sozialdemokraten das Steuer aus der Hand genommen.36 Mit dem Aufkommen der Sozialdemokraten nahm der Freisinn eine Mittelstellung zwischen diesen und den konservativen Altliberalen ein und musste sich gegen beide Seiten wehren. Der seit den 1840er Jahren nach und nach auch in Basel Fuß fassende freisinnig-radikale Neuliberalismus brauchte Jahre, bis er, indirekt unterstützt 32 Ebd., S. 66. 33 Ebd., S. 76 ff. 34 Sven Steinmo, „Government needs money. Modern governments need lots of money“. Zit. nach Jakob Tanner in: Staatsfinanzierung und Sozialkonflikte (14.–20. Jh.), Zürich 1994, S. 123. 35 Lüthi, 1983, S. 77. 36 Ebd., S. 108.

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von den gesamtschweizerischen Verhältnissen, die Konservativen verdrängen konnte. Bemerkenswert ist, dass Freisinnige sich in der Zeit des bis 1875 dauernden Zunftregimes punktuell überhaupt etablieren konnten. Der erwähnte Carl Brenner erhielt bereits 1839 mit 25 Jahren als Delegierter der Zunft zu Schiffleuten einen Sitz im Grossen Rat. Als 1845 wegen seines auf Bundesebene angesiedelten freisinnigen Engagements ein Verfahren gegen ihn lief und von liberal-konservativer Seite deswegen sein Ausschluss aus dem Kantonsparlament gefordert wurde, da waren es wiederum andere, vom angesehenen Professor Rudolf Merian angeführte Liberal-Konservative, welche sich mit Erfolg dagegen wehrten, Brenner ehrenwerte Motive abzusprechen, womit sie einem radikalen Gegenspieler politische Existenzberechtigung zubilligten.37 Die Freisinnigen hatten vor allem die Unterstützung der zugewanderten Schweizer und der eingebürgerten Deutschen. Einer ihrer wichtigsten Führer, Wilhelm Klein, vor 1875 Mitglied des Kleinen Rats, nach 1875 Regierungsrat, auch Nationalrat und später Ständerat, war Sohn eines aus Württemberg eingewanderten reformierten Lehrers; er war im Revolutionsjahr 1830 als Fünfjähriger in die Stadt gekommen und verheiratete sich später mit einer Deutschen.38 Unterstützt wurden die Freisinnigen anfänglich auch von den Arbeitern, soweit sie Stimmrecht hatten. Die Altliberalen diffamierten die Neuliberalen als Freunde der Internationale, die 1869 erstmals in Basel tagte. Klein wurde als „Priester der äussersten Sozialdemokratie“ diskreditiert, obwohl er sich explizit von deren Expropriationsprogramm distanziert hatte.39 In den Jahren 1875–1905 verfügten die Freisinnigen über eine absolute Mehrheit im 130 Sitze umfassenden Kantonsparlament (dem Grossen Rat).40 Auch die Neuliberalen hatten ihre illiberale Seite, wenn es um Machterhaltung ging. Die Einführung des Proporzwahlrechts, das eine gerechtere Abbildung des vielfältigen Wählerwillens ermöglicht hätte, bekämpften sie entschieden, in einem Fall (1897) sogar, indem sie die Vorlage bewusst mit dem unpopulären Stimmenzwang koppelten, damit sie nicht angenommen würde. 37 Burckhardt, 1942, S. 241. 38 Heirat mit Elisabeth Schabelitz. Vgl. Eduard His, Basler Staatsmänner des 19. Jahrhunderts, Basel 1930, S. 207–229; ferner Heinz Isenschmid, Wilhelm Klein 1825–1887. Ein freisinniger Politiker, Basel 1972. 39 Was die Bildung einer Basler Sektion der Internationalen Arbeiter-Assoziation bedeutete, drückt Paul Burckhardt (1942, S. 302) mit dem Satz aus: „Es war das erste Mal, dass sich eine fremde Hand in den sicheren Raum altbaslerischen Herrentums eindrängte.“ 40 Die dritte Zäsur war 1910 die hier nicht weiter erörterte Trennung von Kirche und Staat.

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Umgekehrt war die Reform von den drei Minderheitengruppierungen (den alten Liberal-Konservativen, den zugewanderten Katholiken und den jungen Sozialdemokraten) befürwortet worden. Trotz des Durchbruchs von 1875 behielten die traditionellen Kräfte darüber hinaus ihren Einfluss auf die Basler Politik.41 Philipp Sarasin, der sich in seiner Studie vor allem mit dem konservativen Großbürgertum befasst hat, stellte fest, dass um 1900 das bevölkerungsmäßig kleine, nur 2,15 % ausmachende Großbürgertum im Parlament mit 47 Abgeordneten noch 38,2 % der Stimmmacht innegehabt hat.42 Von den 130 Grossräten waren stets mehr als 100 entweder Selbständige oder obere Angestellte, und 1914 gehörten trotz der starken Vertretung der Sozialdemokraten mit 44 Sitzen nur 15 Arbeiter dem Parlament an.43 Die frühen Sozialdemokraten waren noch in der Formation der Freisinnigen tätig, und die Katholisch-Konservativen spannten vor allem in der Spätzeit gegen die aufkommende Linke mit den Protestantisch-Konservativen, die eben die Altliberalen waren, teilweise zusammen. Nach der Überwindung der Kulturkampfkonstellation und mit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung rückten die Freisinnigen, die Liberal-Konservativen und die Katholiken näher zusammen und bildeten, was seit 1898 belegt ist, die „bürgerlichen Parteien“; ein Plural, der sich um 1918 dann als „Bürgerblock“ formierte.44

5. Die Beziehungen zum Nationalstaat Der Basler Stadtstaat bildete, wie bereits angedeutet, eine eigene, vom Umland stark abgegrenzte Einheit. Im Zuge der ersten liberalen Revolution von 1830 hatte er in einem blutigen Bürgerkrieg sein Hinterland verloren, weil er der Untertanenbevölkerung nicht nach dem liberaldemokratischen one 41 Der mit dem konservativen Milieu sympathisierende Paul Burckhardt hielt in seiner Basler Geschichte fest, dass trotz der zunehmenden Randständigkeit in der Politik die Konservativen „im gesellschaftlichen, gemeinnützigen, wissenschaftlichen und zum Teil auch im kirchlichen Leben eine Macht [blieben], die dem kulturellen Wesen der Stadt weiterhin ihre eigene Färbung gab“ (1942, S. 323). 42 Sarasin, 1990, S. 305. 43 Andreas Staehelin, Basel in den Jahren 1905–1945, in: Burckhardt u.a. (Hg.), Das politische System Basel-Stadt, S. 55–85, hier S. 58. Vor dem Umbruch von 1875 setzte sich der Grosse Rat mit 134 Sitzen zusammen aus 58 Rentiers oder Handelsherren, etwa 30 Akademikern, zirka 30 Handwerkern und Landwirten, 7 Verwaltungsbeamten und einem Arbeiter (Burckhardt, 1942, S. 282). 44 Burckhardt, 1942, S. 337; Hettling, 1999, S. 259.

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man-one vote-Prinzip das Stimmrecht geben wollte, da dies eine Majorisierung der Stadtbevölkerung durch die Landbevölkerung bedeutet hätte. Der 1833 gleichsam übriggebliebene liberal-konservative Stadtkanton befand sich auch gegenüber der gesamtschweizerischen Mehrheit in einer Abseitsposition. Schon vor 1848, aber auch danach unterstützte eine liberal-radikale Mehrheit der Eidgenossenschaft den radikal-liberalen Landschaftskanton. Bemerkenswert ist, dass sich der Stadtkanton trotz seiner liberal-konservativen Ausrichtung im Sommer 1848 mit 88 % Ja-Stimmen für die gesamtschweizerische Verfassung aussprach.45 Dies sollte sich im April 1874 bei der Totalrevision der Bundesverfassung mit 86,4 % Ja-Stimmen wiederholen. Edgar Bonjour erklärt diese zweite Zustimmung damit, dass der Zentralismus wegen der suggestiven Wirkung, die von der Einigung des benachbarten Deutschland ausging, auch bei den schweizerischen Föderalisten einen nachahmenden Zuspruch erfahren habe und dass man damit auch den Einfluss in der Schweiz habe steigern wollen. Auch Nichtfreisinnige hätten „aus rein vaterländischen Motiven“ die vereinheitlichende Revision gutgeheißen.46 Die Vorbehalte gegen den liberalen Bundesstaat hatten Exponenten der Liberal-Konservativen nach 1848 nicht davon abgehalten, im jungen Bundesstaat konstruktiv mitzuarbeiten.47 Nicht nur repräsentierten sie den Basler Stadtkanton in den beiden eidgenössischen Kammern (Stände- und Nationalrat), sie stellten auch ihr Fachwissen beim Aufbau des Bundesstaats zu Verfügung. Der Unternehmer Achilles Bischoff organisierte den Übergang der kantonalen Zölle zur eidgenössischen Zolleinheit; der Bankier Benedikt La Roche schuf die nationale Postorganisation und war vorübergehend der erste und einzige Generalpostdirektor; und Johann Jakob Speiser, ein anderer Bankier, verwirklichte die schweizerische Münzeinheit und setzte sich (allerdings vergeblich) für ein nationalstaatliches Eisenbahnwesen ein.48 45 1848 waren von rund 26.000 Einwohnern 2500 stimmberechtigt. 1550 beteiligten sich an der Abstimmung, 1364 stimmten zu, 186 lehnten ab. Die schweizerischen Niedergelassenen durften offiziell nicht abstimmen, sie führten aber eine informelle Abstimmung durch. 46 Edgar Bonjour/Albert Bruckner, Basel und die Eidgenossen. Geschichte ihrer Beziehungen zur Erinnerung an Basels Eintritt in den Schweizerbund – 1501, Basel 1951, S. 324 ff. 47 Ebd., S. 295 ff. 48 Speisers Vater kam von der Landschaft in die Stadt und betätigte sich als Kaufmann. Der Sohn war Mitglied des Finanzkollegiums der Konservativen, gehörte aber der hier nicht weiter erfassten Mittepartei an, die sich zwischen Konservativen und Freisinnigen positionierte. 1853 wurde er der erste Zentralbahndirektor; Eduard His, Basler Handelsherren des 19. Jahrhunderts, Basel 1929, S. 100–115.

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6. Stimmrecht, Stimmbeteiligung und Direkte Demokratie „Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsbürger Bürger im vollen Sinne sind.“49 Der Historiker Jacob Burckhardt hätte mit diesem bekannten Satz auch und insbesondere seinen kleinen Basler Stadtstaat meinen können. Die baslerische Realität blieb indessen weit hinter dem Ideal zurück. Einerseits verfügte nur ein Teil der Wohnbevölkerung über politische Rechte, und andererseits übte nur ein Teil derjenigen, die diese Rechte hatten, sie auch aus. Der Stadtstaat war keine Polis, sondern eher, wie ein Freisinniger kritisch bemerkte, ein „Conglomerat“, das sich aus einer verschiedenartigen Bevölkerung und einem politischen Kern zusammensetze.50 Die konservative Elite störte dies weniger, weil eine Verbesserung der Staatsbürgerquote zwangsläufig zu einer Stärkung des Freisinns und damit zu einer Schwächung der Konservativen führte. Letztere konnten bis 1875 die Staatsgeschäfte weitgehend alleine und darum in ihrem Sinn regeln. Für sie war es völlig in Ordnung, dass sich die politische Partizipation auf einen engen Kreis und die Staatstätigkeit auf eine möglichst kleine Zahl von Geschäften beschränkte. Die Erweiterung der Staatsbürgerquote, die zugleich eine Stärkung des Freisinns bedeutete, ergab sich aus der doppelten Zuwanderung, einmal von schweizerischen Staatsbürgern und zum anderen von Ausländern, die eingebürgert wurden. Der Tabelle 5 zur Zusammensetzung der Kantonsbevölkerung kann man entnehmen, dass sich die Zahl der Schweizerbürger ohne Kantonszugehörigkeit in Basel in den Jahren 1870–1910 von rund 19.000 auf rund 39.000 verdoppelt hatte. Die Bundesverfassung von 1848 hatte zunächst nur zu einer politischen Gleichberechtigung in gesamtschweizerischen Angelegenheiten geführt. In Basel durften zugezogene Schweizer nach zwei 49 Weltgeschichtliche Betrachtungen, Berlin 1905 (posthum publiziertes Manuskript). Nicht überraschend ebenfalls zitiert bei Bonjour/Bruckner, 1951, S. 314. 50 Das Wort wird dem aus Bayern stammenden Mathematikprofessor Hermann Kinkelin zugeschrieben. Dieser wurde erst 1867 Basler Bürger, im gleichen Jahr aber bereits als Freisinniger Mitglied des Grossen Rats, den er in der Folge zweimal (1870 und 1880) präsidierte. Kinkelin befürwortete eine großzügige Einbürgerungspolitik; daher die ihm zugeschriebene Mahnung, dass Basel ohne weitestgehende Öffnung des Bürgerrechts sehr schnell in einen Zustand gelangen werde, „der keine Bürgerschaft mehr, sondern nur noch ein Conglomerat von Einwohnern kennt“. (Zit. bei Gossman, 2005, S. 592, mit Hinweis auf Feodor Föhr, Basel’s Bürgerschaft, Basel 1886, wo allerdings nichts dergleichen zu finden ist.) Kinkelin gründete die Schweizerische Statistische Gesellschaft, er leitete 1870 und 1880 die Eidgenössische Volkszählung in Basel und war 1890 bis 1899 im Nationalrat.

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Jahren in kantonalen, aber nicht in kommunalen Dingen politisch mitstimmen. Von dieser Möglichkeit wurde nur beschränkt Gebrauch gemacht, weil man vor jeder Abstimmung eine spezielle Ermächtigung einholen musste.51 Erst die Bundesverfassung von 1874 bestimmte, dass den Niedergelassenen aus anderen Kantonen nach drei Monaten Karenzzeit die Mitsprache auch in Gemeindeangelegenheiten gewährt werden musste. Für den Basler Stadtstaat war es bezeichnend, dass er relativ spät, erst 1860, seine Befestigungsmauern einreißen ließ. Die politische Mauer zwischen Bürgern und Einwohnern hielt man Jahrzehnte darüber hinaus aufrecht. Wie sehr Altbasler ihre Miteidgenossen weiterhin als Fremdlinge einstuften, zeigt beispielsweise der folgende Disput: Der Konservative Johann Rudolf Geigy-Merian, Mitbegründer der Basler Handelskammer und deren späterer Präsident, versuchte 1887 in der Steuerdebatte des Grossen Rates, dem Freisinnigen Placid Weissenbach, immerhin Zentralbahndirektor, wegen seiner Aargauer Herkunft als Auswärtigen die Legitimität abzusprechen, den Baslern in Steuerfragen „Vorschriften zu machen“. Der so Zurechtgewiesene hielt ihm entgegen, dass er immerhin schon 13 Jahre in Basel Steuern bezahle.52 Wie sehr die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen auch zu einem späteren Zeitpunkt noch wichtig war, zeigte die am 26. Oktober 1899 eingereichte Interpellation, die sich nach der Beschäftigung von „Kantonsfremden“ im Staatsdienst erkundigte. Die Parlamentswahlen waren durch einen festen dreijährigen Rhythmus gegeben und wurden von den Wahlberechtigten mit einer Teilnahme von über 60 % auch recht rege genutzt. Es wurde aber als nicht weiter störend empfunden, dass die „Volksentscheide“ nicht nur wegen der beschränkten Stimmberechtigung, sondern zudem auch wegen der geringen Stimmbeteiligung jeweils auf einer recht schmalen Basis gefällt wurden und die einfache Vorstellung, dass in der schweizerischen Demokratie der „Demos“ entscheide, relativiert werden muss.53 Dazu ein paar Beispiele aus einer bisher nicht aufgearbeiteten Geschichte: •  An einer Abstimmung von 1887 über eine umfassende obligatorische Krankenkasse hätten sich bei einer Einwohnerschaft von rund 70.000 etwa 10.000 beteiligen können, was gut 14 % der Wohnbevölkerung ausmachte;

51 Burckhardt, 1942, S. 278. 52 Lüthi, 1983, S. 77. 53 Auf die spezielle Problematik der neben der Einwohnergemeinde bestehenden Bürgergemeinde kann hier nicht eingegangen werden.

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es nahm aber nur ein gutes Drittel, also etwa 5 % teil, 2210 Bürger lehnten ab, 1346 nahmen an.54 •  Ähnlich ein paar Jahre später: Um 1899 gab es bei einer Wohnbevölkerung von 110.000 Menschen etwa 15.000 Stimmberechtigte, die zur Abstimmung gelangende Vorlage zur Sanierung der Hauptbrücke mobilisierte wiederum nur etwa ein Drittel (34 %), sodass der so genannte „Volksentscheid“ (mit 3016 Ja und 2170 Nein) innerhalb von bloß 5 % der Bevölkerung ausgemacht wurde. •  1903 wurde in einer Referendumsabstimmung das vom Grossen Rat beschlossene Projekt einer Handelshochschule mit überwältigender Mehrheit (4583 zu 752) abgelehnt. Die Stimmbeteiligung betrug 30,2 % (von 17.643 Stimmberechtigten). In Relation zur Gesamtbevölkerung, für die das Schulprojekt hätte von Bedeutung sein können, wurde der Entscheid wiederum unter weniger als 5 % gefällt. •  An der Abstimmung zur Einführung des Proporzwahlrechts von 1905 nahmen immerhin rund 10.000 Bürger teil, was bezogen auf etwa 15.000 Stimmberechtigte eine Teilnahme von 66 % ausmachte, bezogen auf eine Wohnbevölkerung von rund 120.000 Menschen aber auch nur etwa 8 %, die an diesem wichtigen Entscheid mitwirken konnten (und wollten). Beizufügen ist, dass diese Reform mit nur gerade 25 Stimmen Unterschied (5338 gegen 5313) zustande kam.55 Ihr waren drei Anläufe vorausgegangen (1889, 1897 und 1900).56 Auf nationaler Ebene gelang den Befürwortern des Proporzes der Durchbruch leicht zeitverschoben erst 1918 nach zwei vorausgegangenen Versuchen (1900 und 1910).57 Diese Reform verweist auf zwei generalisierbare Vorgänge: Zum einen ermöglichte ein demokratisches Grundinstrumentarium (insbesondere das Mittel der Initiative) den weiteren Ausbau der Demokratie; zum anderen waren Reformen auf kantonaler Ebene häufig wegbereitende Vorläufer für entsprechende Reformen auf nationaler Ebene. Warum war die Zahl der Stimmberechtigten, wie die vier Fallbeispiele gezeigt haben, derart niedrig? Immerhin lebten um 1900 etwa 67.000 Menschen mit schweizerischer Staatsbürgerschaft in der Stadt. Wegen des nicht vorhandenen Frauenstimmrechts muss man etwa die Hälfte davon abziehen, und von 54 55 56 57

Lüthi, 1983, S. 73. Ebd., S. 60. Burckhardt, 1942, S. 338; Lüthi, 1983, S. 96 ff. Georg Kreis, Konfliktreiche Wege zur Konkordanzkultur. Ursprünge des schweizerischen Parteienpluralismus, in: Detlef Lehnert (Hg.), Demokratiekultur in Europa. Politische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2011, S. 85–104, insbes. S. 89 ff.

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den verbleibenden ca. 33.000 müssen die Minderjährigen und als besondere Gruppe unter den rund 20.000 außerkantonalen männlichen Schweizern (hier die Minderjährigen eingerechnet) diejenigen abgezogen werden, die wegen des bürokratischen Aufwands von der Einschreibung in Wahlregister absahen. Gemäß Dorothea Roth hatte aus dieser Kategorie faktisch nur der zehnte Teil das Stimmrecht.58 Den in Basel-Stadt wohnhaften Stimmberechtigten standen seit 1875 (eingeführt durch die neue Verfassung) in kantonalen Angelegenheiten als direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeit das Referendum (gegen beschlossene Gesetze) und die Initiative (für neue Gesetze) mit je 1000 Unterschriften zur Verfügung. In den 40 Jahren von 1875–1914 wurde recht häufig davon Gebrauch gemacht. So kam es zu 21 Referenden (13 erfolgreiche/8 gescheiterte) und zu 14 Gesetzesinitiativen (5 erfolgreiche/9 gescheiterte).59 Die Sachabstimmungen betrafen: •  Bauvorhaben (wie Straßenkorrektionen, Kanalisationen, öffentliche Bauten), •  Sozialpolitische Vorhaben (wie Krankenkassenobligatorium, Arbeitslosenversicherung), •  Wahlgesetze (zu Regierungs- und Richterwahlen, Proporzwahlrecht).60 Das von den freisinnigen Kräften eingeführte direkt-demokratische Instrument des Referendums stand nicht nur dem so genannten „Fortschritt“ zur Verfügung, sondern auch den Konservativen, die jetzt im Kantonsparlament in der Minderheit waren und darum das neue Instrument häufiger nutzten. Die allererste kantonale Referendumsabstimmung von 1876 war diesbezüglich typisch: Sie richtete sich gegen ein vom Grossen Rat verabschiedetes Gesetz zur Sanierung der archaischen Methode der Abwasserentsorgung und führte trotz leidvoller Erfahrungen mit vorangegangenen Epidemien zu einer Ablehnung des Kanalisationsgesetzes im Verhältnis von 4:1 bei einer hohen Stimmbeteiligung von 69 %.61 Die Oppositionsmotive waren: a) die Hausbesitzer 58 Dorothea Roth, Zur Vorgeschichte der liberal-konservativen Partei in Basel 1846– 1874, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 68 (1968), S. 181; dies., Die Politik der Liberal-Konservativen in Basel 1875–1914, Basel 1988; Sarasin, Stadt der Bürger. 59 Schaffner, 1984, S. 48. 60 Eine erfolgreiche Initiative von 1887 sorgte für die Einführung der bürgerlichen Feiertage Ostermontag und Pfingstmontag. 1893 und 1909 regelten Gesetze die Sonntagsund Festtagsruhe, sprachen aber nicht mehr wie früher von Sonntagsheiligung. 61 Aufschlussreiche Studie zur vorangegangenen Entwicklung in diesem Bereich: Markus Haefliger, Christliche Obrigkeit, Nachwächterstaat, Staatsunternehmen. Bedürf-

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scheuten Kosten; b) die Mittel sollten besser für eine zweite Rheinbrücke (die 1879 eingeweihte Wettsteinbrücke) verwendet werden.62 Das Resultat erstaunt nicht, wenn man bedenkt, dass nur etwa 10 % das Stimmrecht hatten, darunter der Anteil der Hausbesitzer hoch war und die wenigen Nichtbesitzenden mit Stimmrecht daran interessiert waren, dank einer zusätzlichen Brücke kürzere Fußwege zu haben. Das von der freisinnigen Bewegung eingeführte Instrument des Referendums wurde von dieser, als sie einmal an der Macht war, auch kritisch beurteilt, jedenfalls wurde seine häufige Inanspruchnahme beanstandet: Die vielen Referenden würden lähmend auf den „initiativen Geist unserer Behörden“ wirken. Überall würden die Arbeiten in den Vorstadien liegen bleiben und sich anhäufen. Nachdem zwei Volksentscheide vom Sommer 1899 im Sinne der Regierung ausgegangen waren (zum Erweiterungsbau des Rathauses, vgl. unten, und zum Neubau der Hauptbrücke), lautete der Befund, diese Entscheide hätten wieder Vertrauen erweckt und Bahn gebrochen: „Sie haben zu positivem Schaffen ermutigt.“63 Auch die Konservativen hatten, nicht verwunderlich, gegenüber dem Initiativrecht ihre Vorbehalte. Auf eine Initiative für den Bau einer weiteren Rheinbrücke reagierten sie 1877 mit der Kritik: „Das Recht der Initiative ist ein gefährliches Instrument, dessen Spitze man wohl etwas abstumpfen dürfte. Erweiterte Volksrechte legen dem Volke auch Pflichten auf. Wir müssen diesem zum Bewusstsein bringen, dass, wie es das Recht hat, dem Gemeinwesen kostspielige Werke zu oktruieren (sic), so auch verpflichtet sein wird, die betreffenden Kosten, eine doppelte, ja mehrfache Steuer zu tragen, zu welcher es ganz gewiss auch kommen wird.“64 Welche Seite wurde durch die direkt- oder halbdirekt-demokratische Ordnung gestärkt: die konservative oder die fortschrittliche? Martin Schaffner, der sich intensiv mit den politischen Verhältnissen dieser Zeit beschäftigt hat, zögert, die gegebene Ordnung vorschnell einfach als „fortschrittlich“ zu bezeichnen. Sein Befund lautet, dass diese Ordnung den Problemen einer modernen Industriestadt einfach angemessen sei, und er meint damit, dass bei nisse und Versorgung im Wandel der Modernisierung der Basler Wasserversorgung 1860–1875, Manuskr. Basel 1982 (Liz.-Arbeit). Kurzfassung in Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 84 (1984), S. 129–206. 62 Andere Referendumsabstimmungen am 17./18. Februar 1900 zur Arbeitslosenversicherung, am 22./23. Juni 1900 zur Arealabtretung für die Kantonalbank sowie zum Wohnbaugesetz mit je etwa 43 % Stimmbeteiligungen. 63 National-Zeitung 136 vom 13. Juni 1899. 64 Grossratsvotum von Karl Vischer-Merian vom 9. April 1877, zit. nach Lüthi, 1983, S. 58.

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zwangsläufig antagonistischen Interessenlagen damit demokratische legitimierte Konfliktaustragungen möglich waren und die staatliche Ordnung damit auch eine Integrationsleistung erbracht habe.65 Nähere Abklärungen zur Nutzung der Volksrechte auf Kantons- wie auf Bundesebene und der Interdependenz zwischen den Vorgängen dieser beiden Ebenen mit gerade im sozialpolitischen Bereich ähnlichen Vorlagen stehen indessen aus.66

7. Städtebauliche Leistungen und andere „Werke“ Mit der kommunalen Selbstverwaltung wird idealtypisch die gemeinsame Zuständigkeit für die Öffentliche Ordnung einer Gemeinde verstanden, von der Gewerbe- und Ruheordnung über das Erziehungswesen bis zum Steuersystem und zur Stadtplanung – alles zusammen visibles and invisibles. Die Forschung hat bisher jedoch bloß elementare Vorstellungen dazu entwickelt, wie die städtische Gesamtentwicklung vorangetrieben wurde. Obwohl auch die weniger sichtbaren „Werke“ wie Gewerbeordnungen, Arbeitsgesetze, Sozialwerke etc. dazu gehören, hat bisher vor allem die leichter fassbare bauliche Entwicklung eine gewisse Beachtung. Dies geschah aber wiederum, ohne damit die Fragen zu verknüpfen, welche politischen Kräfte wofür eingestanden und verantwortlich gewesen sind. An verschiedenen Stellen ist bereits sichtbar geworden, dass die Konservativ-Liberalen die kommunalstaatliche Bautätigkeit eher bremsten, die Freisinnigen sie eher förderten. Bei den Bauten von „kommunaler“ Bedeutung ist zu unterscheiden, welche Einrichtungen privat-öffentlichen Status (z.B. Börse, Theater, Kunsthalle, Zoologischer Garten) und welche staatlich-öffentlichen Status (z.B. Schlachthof, Brausebäder, Straßenverbreiterungen und -Pflasterungen, Brückenbau-

65 Schaffner, 1984, S. 52. Vgl. auch Hanspeter Schüepp, Die Diskussion über die schweizerische Demokratie von 1904–1914, Zürich 1969. Zur Haltung des Freisinns: Olivier Meuwly, L’unité impossible. Le parti radical-démocratique suisse à la Belle Epoque 1891–1914, Hauterive 2007. 66 Erstaunen mag in einer Zeit, da man meint, alles per Knopfdruck abrufen zu können, dass es keine greifbaren Listen der im Grossen Rat und in Volksabstimmungen entschiedenen Sachgeschäfte gibt. Diese müssen entweder im Kantonsblatt oder aus einer Stadtchronik (Jahrbuch Basel-Stadt, Chronik von Fritz Baur) mit kunterbunten Angaben zu Professorenwahlen, Ableben herausragender Personen, Konzerten, Festanlässen, Durchreisen von Berühmtheiten, Wetterberichten u.a. herausgesucht und mit den so gewonnenen Daten über entsprechende Zeitungsberichte identifiziert werden.

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ten) hatten.67 Wie bereits erwähnt, spielten vor allem in der Frühzeit private Kräfte (Einzelpersonen, Vereine, Stiftungen) bei der Ermöglichung des Ausbaus der Infrastruktur eine wichtige Rolle. In den Jahren 1837–1842 und in einer weiteren Etappe 1857–1860 entstand so das neue Spital im Markgräflichen Hof, dies größtenteils mit Hilfe zahlreicher freiwilliger Spenden, während in Zürich das Kantonsspital aus Staatsmitteln errichtet wurde.68 Eine wichtige Rolle in der Stadtentwicklung spielte die von der Bürgergemeinde teilbeaufsichtigte und seit 1886 bestehende gemeinnützige Christoph Merian Stiftung mit dem Zweck, „das Wohl der Menschen in der Stadt Basel [zu fördern]“. Sie ermöglichte, zum Teil von der Bürgergemeinde kontrolliert, zum Beispiel den Bau der Irrenanstalt „Friedmatt“ und den Neubau der Mittleren Rheinbrücke (1903–1905).69 Für die Universitätspolitik war die in den 1830er Jahren gegründete „Freiwillige Akademische Gesellschaft“ von zentraler Bedeutung. In der uns speziell interessierenden Zeit ermöglichte sie wichtige Bauten wie die beiden der Naturwissenschaft gewidmeten Gebäude „Bernoullianum“ (u.a. mit einer „modernen“ Sternwarte) 1871/74 und „Vesalianum“ 1885 sowie das erste große Bibliotheksgebäude 1894/96.70 Die heute 650 Jahre alte Universität war von Anfang an eine kommunale Bürgerhochschule. In den Jahrzehnten vor 1914 wurde sie aber, wie die Leidensgeschichte des Hauptgebäudes zeigt, von den freisinnigen Erziehungsdirektoren nur wenig gefördert. Diese zogen es vor, große Schulpaläste zu bauen, weil dies bei den Wählern viel besser ankam: etwa 1877/79 das Knabenprimarschulhaus „Zum Jugendfleiss“ im Spalenquartier oder 1882/83 das Kleinbasler Bläsischulhaus für Knaben und Mädchen.71 Bereits 1851 hatten die freisinnig-liberalen Politiker (z.B. Wilhelm Klein), wenn auch erfolglos, die Aufhebung der Universität gefordert, damit man mit dem eingesparten Geld die Unentgeltlichkeit der Volksschulen 67 Zu den vier um 1900 geschaffenen öffentlichen Badeanstalten gibt es einen kleinen Hinweis bei Josef Mooser, Konflikt und Integration – Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der „Wohlfahrtsstadt“ (Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts), in: Kreis/v. Wartburg, 2000, S. 227–263, hier S. 240. 68 Dies betont Burckhardt (1942, S. 220), der generell eine mit den Konservativen sympathisierende Haltung einnimmt. Vgl. auch Edmund Wyss, Die soziale Politik des konservativen Bürgertums in Basel (1833–1875), Weinfelden 1948. 69 Rudolf Suter, Die Christoph Merian Stiftung 1886–1986, Basel 1985; Robert Labhardt, Kapital und Moral. Christoph Merian. Eine Biografie, Basel 2011. 70 Caspar Zellweger, 175 Jahre Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel, Basel 2010; Georg Boner, Geschichte der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft der Stadt Basel während der ersten 100 Jahre ihres Bestehens, Basel 1935. 71 Kreis, Orte des Wissens, S. 33 ff.

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verwirklichen könne.72 Die Universität wurde als Hort der Konservativ-Liberalen eingestuft, zudem die Schaffung einer Gewerbe- und Handelsschule als nützlicher erachtet. Aus den mehrmals im Jahr durchgeführten kommunalen Volksabstimmungen seien hier abschließend zwei kurz vorgestellt: eine zu einem konkreten und zugleich innerstädtisch hoch symbolischen Gegenstand, nämlich dem Rathaus, und eine zu einem abstrakteren gesellschaftspolitischen Thema, der Arbeitslosenversicherung. Dabei sollten weniger die sachlichen Kontroversen interessieren als die daran ablesbaren Parteiprofile. Diese treten aber kaum in Erscheinung. Abklärungen auf dieser Ebene sind, wie gesagt, bisher noch keine unternommen worden. Die beiden Mini-Fallstudien können immerhin aufzeigen, wie „kommunaler Liberalismus“ jenseits der an sich wichtigen Beratungen der kommunalen Legislativen in der direkten Demokratie konkret gelebt wurde.

7.1. Juni 1899: Rathaus (Fertigstellung 1904) Für die fortschrittsfreudige Regierung und Grossratsmehrheit war es klar, dass das rund 400 Jahre alte Rathaus erweitert werden und so für die Verwaltung der nötige Platz geschaffen werden sollte.73 Das offizielle Projekt sah auf beiden Seiten Erweiterungsbauten vor: auf der einen Seite einen hohen Turm mit Verkündungsbalkon und auf der anderen Seite ein viergeschossiges Gebäude mit steilem Walmdach. Dieses Projekt traf auf eine unterschiedlich motivierte Gegnerschaft. Zum Teil war man grundsätzlich gegen jede Erweiterung, zum Teil gefiel einfach die Art der Erweiterung nicht. Einen Erweiterungsbau mit gleicher Giebelhöhe wie das alte Rathaus hätte man allenfalls hingenommen. Das Referendumscomité74 sprach von einem „ganz unnützen Turm“. Er sei von falscher Wucht und passe „in seiner aufdringlichen Gestalt schwerlich 72 Edgar Bonjour, Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460– 1960, Basel 1960, S. 426. 73 Die Modernisierungsfreudigkeit hätte beinahe zur Beseitigung der Barfüsserkirche geführt: 1882 wurde der Abbruchantrag im Grossen Rat mit nur zwei Stimmen Mehrheit verhindert. Die Mehrheit der Freisinnigen wollte auf dem Areal der Kirche das „Töchterschulhaus“ errichten, das dann oben am Kohlenberg gebaut wurde. Um 1880 wurde die Kirche als provisorisches Postlokal genutzt. An weiteren Nutzungsvarianten für die Kirche, in der 1890 schließlich das Historische Museum untergebracht wurde, standen in der Diskussion: Markthalle, Gewerbeausstellung, Staatsarchiv, Truppenbereitschaftslokal, das an Zürich vergebene Nationalmuseum (INSA, 1986, S. 131). 74 10. April 1899 Beginn der Referendumslaufzeit; 3. Mai 2200 Unterschriften.

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zu unseren demokratischen Anschauungen“. Zudem sei er in diesen Dimensionen bei keinem anderen schweizerischen Rathaus zu finden. Als „Stein des Anstosses“ ärgere das Projekt einen großen Teil der Einwohnerschaft, „während doch das in seinem Stil harmonische Rathaus ein Sinnbild des friedlichen Zusammenlebens sein sollte“.75

Postkarte aus den Jahren vor 1914 (Dok. GK)

Die Anhänger der geplanten Neubauten machten darauf aufmerksam, dass nicht nur die Bedürfnisse der modernen Verwaltung (mit der allerdings trügerischen Idee, endlich und sogar für immer „alles“ unter einem Dach zu haben), sondern auch der stark vergrößerte Marktplatz und die zu erwartenden privaten „Monumentalbauten“ auf der Gegenseite und der einen Kopfseite nach größeren Rathausbaulichkeiten rufen würden. „Freunde des Regierungsprojekts“ erklärten, man solle nicht einer „kleinen Schar Unzufriedener zu liebe unserem Gemeinwesen unnötige und zwecklose Schwierigkeiten und Kosten bereiten“ und eine Lösung unterstützen, die einer Stadt von der Größe und Bedeutung Basels würdig sei.76 Ein Befürworter verwahrte sich zudem dagegen, dass die Gegner in der Grossratsdebatte befürwortende Experten als

75 Aufruf des Referendumscomités in den Basler Nachrichten 163 vom 17. Juni 1899. 76 National-Zeitung 140 vom 17. Juni 1899 (Sa).

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Ausländer abgetan hätten, die kein richtiges Verständnis für „unsere schweizerische Verhältnisse“ haben könnten.77 Am Tag vor der Abstimmung setzte sich die freisinnige „National-Zeitung“ mit einem redaktionellen Kommentar für die Neubauten ein, welche von „pietätvoller Wahrung des Bestehenden“ ausgingen. Ein weiteres Argument lautete: Eine Verwerfung der Vorlage würde die Zahl des unerledigten Geschäfte im Kanton vergrößern. Und am Abstimmungstag selber holte das Blatt zu einem letzten Aufruf aus, in dem unter anderem gesagt wurde: „Der vielangefochtene Turm, der vielleicht im jetzigen Zeitpunkt noch als etwas Störendes empfunden wird, hat den Zweck, das Rathaus aus seiner Umgebung hervorzuheben und dieses Gebäude als das hervorragendste des ganzen Marktplatzes zu markieren“; der Fremde habe bisher das Rathaus auf dem Platz stets suchen müssen.78 Die Abstimmung bekräftigte mit einem Verhältnis von 3:2 (3524:2416), was als „erhebliches Mehr“ bezeichnet wurde, die Regierungsvorlage. Im konservativsten Quartier „Sevogel“ war das Stimmenverhältnis allerdings umgekehrt (184:264, d.h. 2:3).79 Im kurzen Abstimmungskommentar zeigte sich die „National-Zeitung“ erfreut und überzeugt, dass ein richtiger Entscheid gefällt worden sei und dass sich nach Vollendung des Werks auch die Gegner damit aussöhnen würden.80 Obwohl der Abstimmung eine öffentliche Debatte, wie es in den Medien hieß, im zum Teil „gereizten Ton“ vorausgegangen war, blieb die Beteiligung an der Abstimmung vom 18. Juni 1899 mit rund 30 % (total 5940) schwach. Die „Basler Nachrichten“ bedauerten dies, die Zahl der ablehnenden Stimmen sei sogar kleiner gewesen als die der Referendumsunterschriften, die ästhetischen Fragen hätten ratlos gemacht. Der skeptische Redaktionskommentar schloss mit der Bemerkung: „Aber dem Zug der Demokratie muss in unserer Zeit nun einmal gefolgt werden.“81 77 National-Zeitung 138 vom 15. Juni 1899. Der Architekt A. F. Bluntschli äusserte sich positiv zu den Expertisen der Professoren Thiersch/München und Schäfer/Karlsruhe und negativ zum Gutachten des Kunsthistorikers J.R. Rahn, dem er Unkenntnis und Irrtümer vorwarf. 78 National-Zeitung 141 vom 18. Juni 1899. 79 National-Zeitung 142 vom 20. Juni 1899 (keine Montagsausgabe). Es gibt recht aufschlussreiche, auf einzelne Stimmlokale bzw. Quartiere ausgerichtete Abstimmungsanalysen, vgl. Werner W. Pommerehne, Politischer Stadtatlas, in: Burckhardt u.a. (Hg.), Das politische System Basel-Stadt, S. 187–212. 80 National-Zeitung 142 vom 20. Juni 1899. 81 Basler Nachrichten 166 vom 20. Juni 1899. Das Referendumskomitee hatte auch darum zunächst größeren Erfolg bei der Unterschriftensammlung, weil es mit einer

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7.2. Februar 1900: Obligatorische Arbeitslosenversicherung (Einführung 1926).82 Der Grosse Rat beschloss am 9. November 1899 mit 73 zu 30 Stimmen ein Gesetz zur Einführung einer obligatorischen Versicherung für Fabrik- und Bauarbeiter. Wegen des dagegen ergriffenen Referendums mit 1283 Unterschriften musste am 18. Februar 1900 das Gesetz einer Volksabstimmung unterbreitet werden. Im Parlament waren die Freisinnigen mehrheitlich dafür, die Konservativen hälftig gespalten, die Sozialisten geschlossen dafür und die Gewerbler geschlossen dagegen. Die Freisinnigen setzten sich auch in den ihnen zur Verfügung stehenden Zeitungen ein, sie versahen ihre mehrfach publizierte warme Empfehlung mit einem Schweizerkreuz, obwohl es sich um eine kantonale Vorlage handelte. Die Konservativen waren nicht aktiv gegen das Gesetz, der Handwerker- und der Gewerbeverein bekämpfte es jedoch. Ablehnung kam von beiden Seiten: von den Arbeitsgebern wie den Arbeitnehmern, die jeweils Kassenbeiträge hätten leisten müssen, und von einer dritten Seite, welche die Kassensubventionierung durch den Staat ablehnte. Noch am Abstimmungssonntag erging vom freisinnigen Blatt (der „National-Zeitung“) ein letzter Appel: Man sehe dem Entscheid mit Vertrauen entgegen und erwarte ein „vieltausendstimmiges Ja“. Daraus wurde nichts: Nur 1119 unterstützten die Vorlage, 5458 oder 83 % der Teilnehmer verwarfen sie. Abgelehnt hätten, wurde bemerkt, auch Wahllokale, die sonst „stramm nach der freisinnigen Parole“ stimmten. Die Stimmbeteiligung lag etwa bei 40 %, aber die 16.098 Stimmberechtigten machten nur 14,7 % der Wohnbevölkerung aus. Warum die massive Ablehnung? Der gewichtigste Grund lag in der guten Wirtschaftslage, das heißt im stark verbreiteten Eindruck, dass eine solche Versicherung nur Zusatzlasten bringe und keiner Notwendigkeit entspreche. Freisinnige und konservative Stimmen betonten, dass die Vorlage auch in Wahllokalen von Arbeiterquartieren deutlich verworfen worden sei und sich nicht korrekten Darstellung operierte und das befürwortende Komitee diese Fehlinformation berichtigen konnte. 82 Als Ersatz für die Ablehung wurde im gleichen Jahr eine freiwillige Arbeitslosenkasse eingerichtet, die kantonale Subventionen und private Gönnerzuschüsse erhielt, 1910 aber eingestellt werden musste. Das Obligatorium kam erst 1926 mit einem Grossratsbeschluss zustande. Vgl. Bernard Degen, Von Pionier- und Zusatzleistungen. Kantonale Sozialpolitik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Josef Mooser/Simon Wener (Hg.), Armut und Fürsorge in Basel. Armutspolitik vom 13. Jahrhundert bis heute, Basel 2011, S. 144–165. Ferner im gleichen Band: Josef Mooser, Armenpflege zwischen „Freiwilligkeit“ und Verstaatlichung. Träger und Reformen der Armenpolitik im Umbruch zur Grossstadt um 1900, S. 178–204.

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am Schluss keine Partei etwas vorzuwerfen habe. Im weiteren kann man – etwas simpel – sagen, dass die befürwortenden Argumente einfach weniger Zuspruch gefunden hätten als die ablehnenden. Auf der befürwortenden Seite wurde gesagt, alle Parteien – außer den Ultramontanen – seien dafür, die Ablehnung des Handwerker- und Gewerbevereins blieb unerwähnt. „Humane Behandlung“ würde die Arbeitsfreude steigern; eine Ablehnung wäre eine Verneinung des „Gefühls der Solidarität“. Es gehe um eine Frage, die bereits vor 100 Jahren diskutiert worden sei. Basel solle seinen alten Ruf als soziales Gemeinweisen wahren. Die Kosten seien gering im Vergleich zu den horrenden Summen für Bauliches. Es wurde an die notorische „Hilfsbereitschaft des Basler Volkes“ appelliert und die Erwartung ausgesprochen, dass das „aufgeklärte fortschrittlich gesinnte Basler Volk“ sich nicht durch „reaktionäre und haltlose Einwendungen“ verleiten ließe, das Gesetz würde bei Kennern im Ausland Anerkennung finden und Basel „zur Ehre“83 gereichen. Auf der ablehnenden Seite konnte man die Befürchtung hören, dass diese kantonale Versicherung „fremde Elemente“ anziehen würde, was sich insbesondere gegen die italienischen Bauarbeiter richtete, die im Winterhalbjahr statt nach Hause zu fahren, hier bleiben und der Versicherung zur Last fallen könnten. Saisonarbeiter würden geradezu veranlasst, von der Hand in den Mund zu leben, statt im Sommer bei gutem Lohn für den Winter zu sparen. Zudem würden Unternehmer ihre Arbeiter schneller entlassen. Die Versicherung würde den Hang zur Liederlichkeit vermehren und bei den ordentlichen Arbeitern Missgunst erzeugen. Auch der Berliner Gewerkschaftskongress von 1896 habe sich gegen eine staatliche Versicherung ausgesprochen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen die Versicherung alleine führen, ohne Mitwirkung des Staates mit seinem teuren Verwaltungsapparat.

8. Zum Schluss Der Versuch, den kommunalen Liberalismus am Basler Fall zu identifizieren, ist nur in beschränktem Maß gelungen. Prägender als der Liberalismus einer einzelnen Partei erwies sich der Liberalismus des politischen Systems, weil er alle größeren Kräfte, die Konservativen, die Freisinnigen und dann auch die Sozialdemokraten veranlasste, nach liberalen Regeln politisch tätig 83 National-Zeitung Nr. 37–41 vom 14.–18. Februar 1900; Basler Nachrichten Nr. 46–48 vom 16.–18. Februar 1900; Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 73 vom 13.–20. Februar 1900.

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zu sein. Der Liberalismus bestand darin, dass die Pluralität von Kräften von den Beteiligten als normale Gegebenheit anerkannt wurde. Dies zeigte sich in der Zusammensetzung der bis 1899 vom Grossen Rat gewählten Regierung. Sie erfolgte nach dem freiwilligen Proporz, mit dem die Mehrheit darauf verzichtete, ihre Stimmüberlegenheit zu nutzen und gleich alle Sitze für sich zu beanspruchen. So wurden in die erste Regierung der 1875 beginnenden Ära der freisinnigen Dominanz neben 4 Freisinnigen 3 Konservative gewählt. Und 1902 kam in der Volkswahl mit der Unterstützung des Freisinns und gegen die Konservativen, denen man nur noch 2 Sitze ließ, der erste Sozialdemokrat in die Regierung. 1910 mussten die Freisinnigen einen ihrer Sitze dann aber für einen zweiten Sozialdemokraten aufgeben, so dass ein Verhältnis von 3:2:2 zustande kam.84 Die bisherigen Abklärungen haben sich sehr wohl für die beiden Entwicklungsstränge – die politische Entwicklung und die urbane Entwicklung85 – interessiert, aber sie haben diese beiden nur rudimentär zusammengeführt, d.h. nicht zupackend genug danach fragen können, wie sich die beiden Entwicklungen gegenseitig beeinflusst und bedingt haben. Die Umsetzung dieser Hauptfrage würde konkret bedeuten, dass man eine Vorstellung davon bekäme, wie die Basler Bürgerschaft, die konservativ-liberale, die freisinnige wie auch die sozialdemokratische, die Aufteilung der kommunalen Aufgaben in einen privaten und einen öffentlichen Bereich geregelt hat.

84 Vgl. Liste bei Lüthi, 1983, S. 173. 85 Dazu Bruno Fritzsche, Schweizerische Städte im 19. Jahrhundert, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 26 (1976) H. 3, S. 434–447.

ANDRÁS SIPOS

Budapester Kommunalpolitik und die ungarischen Liberalen 1870–1914 Im Jahre 1899 konzipierte Ferenc Heltai, Führungspersönlichkeit der Mehrheit in dem Budapester Gemeinderat, auf Ersuchen des Innenministers einen Entwurf über die Reform der Selbstverwaltung in der Hauptstadt. Dort stellte er – ganz im Sinne der herrschenden Auffassung – fest, dass „die Vertretung der Stadt in erster Linie nicht eine politische Körperschaft, sondern der zur Gewährleistung der wirtschaftlichen und kulturellen Interessen berufenen öffentlich-rechtlichen Person sei, die diese Ziele mittels der vermögensmäßigen Leistungen ihrer Mitglieder erreiche“. Auf die Angelegenheit der Stadt dürften nur jene Einfluss ausüben, deren Beitrag derart sei, dass man von ihnen erwarten könne, „die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Maßregeln für die Stadt zu beurteilen“. Deshalb sei es nicht zu unterstützen, das eng gefasste Wahlrecht auszuweiten.1 Im Jahre 1911 führt demgegenüber Ferenc Harrer – Abteilungsleiter im Rathaus und „rechte Hand“ des Bürgermeisters – den Gedanken aus, dass sämtliche Aufgaben der modernen Stadtverwaltung unter dem Gesichtspunkt „der Interessenkonflikte zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse sowie andererseits zwischen der gesamten Stadtbevölkerung und der Grundbesitzerklasse“ beurteilt werden müssten. Die allgemeine Entwicklungstendenz vermutete er in die Richtung gehend, dass „die Kapitalistenklasse, obwohl sie in den städtischen Körperschaften heute im Allgemeinen die Herrschaft ausübe, gezwungen sei, immer mehr von ihrem Profit für die Bedürfnisse der Massen abzutreten, also überwiegend zur Befriedigung der Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Dieser Kampf aber führe nicht wirklich zu revolutionären Ausbrüchen“, fügt er mit dem für seine Generation charakteristischen Fortschrittsoptimismus hinzu, „weil in der heutigen Zeit – darin offenbare sich im Grunde die Zivilisation – Menschen und Gesellschaften

1 Ferenc Heltai, Emlékirat a Budapest főváros alakításáról és rendezéséről szóló 1872. évi XXXVI. tc. reformjáról [Memorandum über die Reform des Gesetzes Nr. 36 aus dem Jahre 1872 über das Zustandebringen und die Organisation der Hauptstadt Budapest], Budapest 1899, S. 14 f. – Übersetzung der Zitate und des Textes: Andreas Schmidt-Schweizer.

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gleichermaßen Kompromisse nicht nach Kriegen, sondern vor Kriegen schließen würden“.2 Ein Jahrzehnt früher wäre eine derartige Äußerung seitens einer führenden Persönlichkeit der Stadt kaum vorstellbar gewesen. Darin kommt zum Ausdruck, dass im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der Orientierung und Rollenauffassung der Stadtpolitik eine Veränderung eintrat, die einer grundlegenden Wende gleichkam. Diese Entwicklung können wir auch als einen wichtigen Versuch der Erneuerung des ungarischen Liberalismus betrachten.

1. Budapest als „liberale“ und „nationale“ Hauptstadt Budapest entstand im Jahre 1873 aus der Vereinigung von drei Städten, und zwar als Hauptstadt eines Landes, das durch den Ausgleich des Jahres 1867 im Rahmen der auf Grundlage des österreichisch-ungarischen Dualismus umgestalteten Habsburger Monarchie seine staatliche Selbstständigkeit teilweise zurückgewonnen hatte, und das zugleich zu einem konstitutionellen parlamentarischen Staat geworden war. Bis zur Zeit des Weltkrieges wurde die liberale politische Dominanz über die Hauptstadt nie vor eine ernsthafte Herausforderung gestellt, und auch in der Staatsführung war die Ideenwelt des Nationalliberalismus, der 1867 die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, bis zuletzt immer dominierend. Die Hauptbruchlinie des politischen Lebens offenbarte sich im jeweiligen Verhältnis zum staatsrechtlichen Dualismus, der durch den Ausgleich geschaffen worden war. Die übrigen (beispielsweise weltanschaulichen oder gesellschaftspolitischen) Determinanten der politischen Schichtung kamen zumeist innerhalb der beiden Lager der Anhänger und Opponenten des staatsrechtlichen Dualismus zur Geltung. Die Hegemonie des Liberalismus blieb allerdings die gesamte Epoche hindurch bestehen. Die Hauptrichtung des Liberalismus – sowohl in der Regierung als auch in der Opposition – erhielt in den Jahrzehnten nach dem Ausgleich ihren system- und „bestandswahrenden“ Charakter. Liberale Kräfte strebten danach, das erreichte Niveau der bürgerlichen Freiheit und Rechtsgleichheit zu erhalten und sperrten sich gegen die Weiterentwicklung der staatlich-gesellschaftlichen Ordnung in Richtung Demokratie.3 2 Ferenc Harrer, A modern városigazgatás problémái [Die Probleme der modernen Stadtverwaltung], in: Városi Szemle 4 (1911), S. 679; über den Verfasser siehe seine auch für unser Thema wichtigen Memoiren: Ferenc Harrer, Egy magyar polgár élete [Das Leben eines ungarischen Bürgers], Budapest 1968. 3 Zur Lage des Liberalismus in der politischen Struktur nach dem Ausgleich siehe Dániel Szabó, Die politische Organisation der ungarischen Gesellschaft im Zeitalter des Dua-

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Zur Zeit des Ausgleichs war die Bevölkerungsmehrheit Ungarns nicht ungarischer Nationalität. Auch in der sich vereinigenden Hauptstadt Budapest bestand eine Gesellschaft mit vielen Nationalitäten. Die ungarische Sprache verschaffte sich – auch im alltäglichen Leben – allmählich eine dominante Position, aber die Zahl der Personen, die nur Ungarisch sprachen, war auch im Jahre 1880 geringer als diejenige der nur Deutsch sprechenden Einwohner. Unter diesen Umständen bekam die Schaffung einer nationalen Hauptstadt, die hinsichtlich ihres „weltstädtischen“ Ranges an Wien heranwachsen und den Wettbewerb um die Rolle als erstrangiges Zentrum der Monarchie aufnehmen sollte, unter den Zielen des ungarischen Nationalliberalismus einen besonderen Platz. Gleichzeitig sollte Budapest als „Paris des Ostens“ zu einem beispielgebenden und konkurrenzlosen Zentrum der modernen Urbanisierung und bürgerlichen Kultur werden, nicht nur im Karpatenbecken, sondern auch für die weitere südosteuropäische Region. Das explosionsartige Anwachsen von Budapest, seine Entwicklung zu einer modernen Großstadt und – parallel hierzu – seine schnelle Magyarisierung erhielten im vorherrschenden öffentlichen Diskurs eine Deutung als große Erfolgsgeschichte des nationalen Liberalismus.4 lismus, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band VIII: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, Hg. Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch, 1. Teil, Wien 2006, S. 1169–1204; Adalbert Toth, Parteien und Reichstagswahlen in Ungarn 1848 bis 1892, München 1973; Friedrich Gottas, Liberale in Österreich und Ungarn, in: Das Parteienwesen Österreich-Ungarns, Hg. Gábor Erdody, Budapest 1987, S. 47–70; János Veliky, Wandlungen der Unabhängigkeitsbewegung in Ungarn nach 1867, in: Ebd., S. 71–76; Péter Hanák, Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates, Wien 1984. – Wichtige Darstellungen des liberalen Denkens und der liberalen Politik in Ungarn im 19. Jahrhundert: András Gergely, A magyar liberalizmus születése [Die Geburt des ungarischen Liberalismus], in: Ders., Egy nemzetet az emberiségnek [Eine Nation für die Menschheit], Budapest 1987, S. 9–99; István Fenyő, A liberalizmus a reformkori Magyarországon [Liberalismus in Ungarn im Reformzeitalter], in: Múltunk 43 (1998) Nr. 3–4, S. 42–75; Tibor Erényi, Liberalizmus és szociáldemokrácia Magyarországon a dualizmus korában [Liberalismus und Sozialdemokratie in Ungarn im Zeitalter des Dualismus], in: Ebd., S. 76–111; Magyar liberalizmus [Ungarischer Liberalismus], Ausgew. von László Tőkéczki, Budapest 1993; István Schlett, A politikai gondolkodás története Magyarországon 1–2 [Geschichte des politischen Denkens in Ungarn, Bd. 1–2], Budapest 2009/2010. 4 András Gerő, Zwei Städte – zwei Sätze. Wien und Budapest zur Jahrhundertwende, in: Zeit des Aufbruchs. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Hg. Katalin Földi-Dózsa/Marianne Hergovich, Wien 2003, S. 35–41; András Gergely, Wien und Budapest in der österreich-ungarischen Monarchie, in: Ebd., S. 135–141; Gábor Gyáni, Großstadterfahrung am Beispiel Budapests, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX: Soziale Strukturen, Hg. Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch,

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Die sich herausbildende neue städtische Führungsschicht wurde zu einer Hauptstütze und Nutznießerin der liberalen Regierungspolitik. Die politische Elite und die städtische Bürgerschaft fanden im Programm zum Aufbau der „Weltstadt“ zueinander. Im Sinne der praxisrelevanten Urbanistik konkretisierte sich dieses in zwei großen, zusammenhängenden Gruppen von Aufgaben. Der eine Aufgabenbereich war die Schaffung einer Infrastruktur, die notwendig war, um die zentralen Funktionen in Wirtschaft und Verkehr versehen zu können (Regulierung der Donau und Errichtung von Brücken, Quais, Eisenbahnknotenpunkten und Hauptstraßenzügen). Als ähnlich wichtig betrachtete man das Vorhaben, die Stadt zu einem für die Schichten der Elite attraktiven Ort zu machen. Dementsprechend wurde es als eine – mit der erstgenannten gleichrangige – Aufgabe angesehen, die Atmosphäre und den Pomp einer Weltstadt zu schaffen. Man war sich allerdings bewusst, dass sich dies nicht auf die wenigen repräsentativen Viertel beschränken durfte. „Vor allem ist es notwendig, dass die Stadt zu einer gesunden Aufenthaltsstätte wird“, erklärte Ferenc Reitter, der Urheber des Stadtentwicklungsprogramms. Diese Vorhaben fundierten gemeinsam die Betrachtungsweise der – Pariser und Wiener Mustern folgenden – „haussmannisierenden“ Stadtentwicklung.5 Eine wichtige Voraussetzung für die Harmonie von staatlicher und hauptstädtischer kommunaler Politik war, dass das städtische Wahlrecht mit dem Parlamentswahlrecht, das auf dem Steuerzensus beruhte, identisch war. Das städtische Wahlrecht allerdings wurde auch durch die Pflicht des Nachweises, seit mindestens zwei Jahren an Ort und Stelle zu wohnen sowie das Lesen und Schreiben zu beherrschen, weiter eingeschränkt. Infolge dieses im Jahre 1874 festgeschriebenen und bis 1913 unverändert geltenden Wahlrechts war der Liberalismus weder auf der Ebene der Landespolitik noch auf der Ebene der Kommunalpolitik gezwungen, sich den Erfordernissen der Massenpolitisierung zu stellen. Der Anteil der (Parlaments-)Wahlberechtigten lag in Budapest um die Jahrhundertwende bei 5,5 % der Einwohner und wuchs bis zum Jahre 1910 auf 8,7 % an. Nicht nur die gesamte Arbeiterschaft, sondern auch ein be1. Teil/Teilbd. 1, Wien 2010, S. 539–560; Péter Hanák, Der Garten und die Werkstatt. Ein kulturgeschichtlicher Vergleich: Wien und Budapest um 1900, Wien 1992; Robert Nemes, The Once and Future Budapest, Dekalb/Illinois 2005. 5 Károly Vörös (Hg.), Budapest története a márciusi forradalomtól az őszirózsás forradalomig [Geschichte Budapests von der März-Revolution bis zur „Astern“-Revolution], Budapest 1978; Ferenc Vadas, Stadtplanung in Budapest im 19. Jahrhundert, in: Peter Csendes/András Sipos (Hg.), Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert, Budapest-Wien 2003, S. 19–31; Thomas Hall, Planning Europe’s Capital Cities. Aspects of Nineteenth Century Urban Development, London 2010, S. 245–254.

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trächtlicher Teil des (Klein-)Bürgertums war vom Wahlrecht ausgeschlossen. Darüber hinaus wurde nur die Hälfte der städtischen Abgeordneten frei gewählt, die andere Hälfte wurde aus einer Liste der 1200 größten Steuerzahler bestimmt. Das drückende Übergewicht des Großbürgertums machte die Kommunalpolitik derart „inzüchtig“, dass sich lediglich die Hälfte bis zwei Drittel der Wahlberechtigten in den kommunalen Wählerverzeichnissen registrieren ließen. An den Wahlen selbst nahm in der Regel dann nur etwa die Hälfte der registrierten Wähler teil.6 Unter diesen Umständen erwies sich in der hauptstädtischen Kommunalpolitik eine Organisation auf der Basis von Bezirkskasinos und Geselligkeitsklubs als adäquate Form. In diesem Rahmen hielt zumeist ein und derselbe Personenkreis die Lenkung der Parlaments- und Gemeindewahlen in seiner Hand. Grundlage zur Unterscheidung der in den Bezirken der Hauptstadt konkurrierenden Klubs bildete im Allgemeinen der „staatsrechtliche“ Gegensatz. Infolge der Schwäche des Kleinbürgertums und seines fehlenden Zusammenhalts trat bis zu den 1890er Jahren in der Kommunalpolitik kein Programm in Erscheinung, das dazu geeignet gewesen wäre, das Kleinbürgertum zu mobilisieren. Deshalb war diese Schicht – auch im Vergleich dazu, was ihr das existierende Wahlrecht theoretisch möglich machte – nur peripher an der städtischen Vertretung beteiligt. Die hauptstädtische Stadtverordnetenversammlung gliederte sich nicht in Parteien, und die Entscheidungen wurden im Zuge des Paktierens der informellen Gruppen (Cliquen) in den Bezirken gefällt. Zentraler Gesichtspunkt der Stadtführung war es, die Verwaltungsaufgaben und den Ausbau der Infrastruktur so zu lösen, dass ein Haushaltsdefizit vermieden und das städtische Vermögen möglichst geschont wurde. Im Jahre 1890 ging man dann zu Großinvestitionen über, die auf Kreditaufnahmen mit größerem Volumen basierten. Dies bedeutete die Lösung von Aufgaben, die eine in der traditionellen Ortspolizeiverwaltung wurzelnde, daraus organisch herausgewachsene Funktion hatten: Der Bau von Wasserleitungs- und Abwassersystemen sowie von Markthallen erfolgte aus der hygieneordnungsmäßigen Verantwortung der städtischen Selbstverwaltung heraus, und die Modernisierung des Straßennetzes entsprang dem Erfordernis, eine ungehinderte Bewegung der Menschen und Güter zu gewährleisten. Diese Tätigkeiten waren im Rahmen der Anschauung des „klassischen“ Liberalismus leicht zu begrün6 Vörös (wie Anm. 5.); András Sipos, „Stammeshäuptlinge“ und Reformer. Kräfteverhältnisse und Strukturen in der Budapester Kommunalpolitik 1873 bis 1914, in: Gerhard Melinz/Susan Zimmermann (Hg.), Wien–Prag–Budapest. Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918), Wien 1996, S. 108–122.

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den. In Verbindung mit den gewinnbringenden öffentlichen Dienstleistungen (Gas- und Stromversorgung sowie öffentlicher Verkehr) wurde auch weiterhin eine Politik der Konzessionen an Privatunternehmer verfolgt. Bis zum Jahre 1906 richtete man städtisch verwaltete Betriebe ausschließlich aufgrund von eng gefassten Verwaltungs- und Ordnungsinteressen ein. Auch den neuartigen Konflikten der großstädtischen Gesellschaft versuchte man gemäß den Gesichtspunkten der traditionellen „Ortspolizei“-Verwaltung zu begegnen.7

2. Kommunalpolitik als Ausgangspunkt zur Erneuerung des Liberalismus? Dem lange Zeit fast störungslos funktionierenden System erteilte ein junger jüdischer Anwalt Vilmos Vázsonyi8 im Jahre 1894 den ersten Schlag. Vázsonyi mobilisierte das (meist jüdische) kleinbürgerliche Wählerlager der Theresienstadt, das bis dahin politisch unorganisiert und gegenüber der Kommunalpolitik gleichgültig war, gegen die als „Stammeshäuptlinge“ titulierten Bezirksführer, und er kam in die hauptstädtische Vollversammlung hinein. Er gründete einen „Demokratischen Kreis“ (Demokrata Kör), versuchte auch in anderen Bezirken Anhänger zu rekrutieren und verkündete im Jahre 1897 – zum ersten Mal – ein umfassendes kommunalpolitisches Parteiprogramm. Hauptbestandteile des in den folgenden Jahren ergänzten und weiter entwickelten Programms waren folgende: Abschaffung des Wahlrechtszensus und der Privilegien der größten Steuerzahler, Einführung eines Verhältniswahlsystems mit Listen, strenge Inkompatibilitätsbestimmungen und Neugestaltung des Systems der städtischen Einnahmen gemäß den Interessen der „kleinen Leute“ (d.h. progressive städtische Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer, 7 Monographische Darstellungen der Budapester Kommunalpolitik nach dem Ausgleich: András J. Horváth, A megigényelt világváros. Budapest hatósága és lakossága a városegyesítés éveiben [Die beanspruchte Weltstadt. Die Verwaltung und die Einwohnerschaft Budapests in den Jahren der Stadtvereinigung], Budapest 2010; András Sipos, Várospolitika és városigazgatás Budapesten 1890–1914 [Kommunalpolitik und Stadtverwaltung in Budapest 1890–1914], Budapest 1996; siehe auch Gerhard Melinz/ Susan Zimmermannn, Die aktive Stadt. Kommunale Politik zur Gestaltung städtischer Lebensbedingungen in Budapest, Prag und Wien (1867–1914), in: Dies. (Hg.), Wien– Prag–Budapest (wie Anm. 6), S. 140–176. 8 Über seine politische Laufbahn zusammenfassend András Sipos, Polgár a politikában: Vázsonyi Vilmos [Bürger in der Politik: Vilmos Vázsonyi], in: Műhely 21 (1998) Nr. 1, S. 71–75; Vázsonyi Vilmos beszédei és írásai I–II [Reden und Schriften von Vilmos Vázsonyi. Band I–II], Budapest 1927.

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Besteuerung der durch öffentliche Arbeiten eingetretenen Wertsteigerung von Grundstücken /„betterment“ sowie Übernahme von „profitgierigen Unternehmen“ durch die Stadtverwaltung). Die Forderung, die Stadt solle in den mit den Unternehmern geschlossenen Verträgen ein angemessenes Minimum von Lohn und Arbeitszeitmaximum festschreiben, bedeutete den Versuch, die in der Stadtpolitik fehlenden Gesichtspunkte des Arbeiterschutzes durchzusetzen.9 Gestützt auf die Basis und Organisation, die auf dem Terrain der Kommunalpolitik geschaffen worden war, wurde unter der Führung von Vázsonyi im Jahre 1900 die landesweite Demokratische Partei, die man über dem Netzwerk der demokratischen Zirkel aufbauen wollte, ins Leben gerufen.10 Im Jahre 1901 errang Vázsonyi schließlich das parlamentarische Abgeordnetenmandat des Bezirks Theresienstadt. Einen besonders starken Eindruck hatte auf Vázsonyi die Niederlage der Wiener Liberalen im Jahre 1895 und die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister der Kaiserstadt gemacht. Als entscheidende Faktoren für die dortigen Entwicklungen betrachtete er die Tatsache, dass der offizielle Liberalismus erstarrt war und man sich seiner demokratischen Weiterentwicklung verschlossen hatte. Vázsonyi wurde von der Überzeugung geleitet, dass es, sollten die liberalen Institutionen nicht in demokratische Richtung weiterentwickelt werden, zur vollständigen Schwächung der gesellschaftlichen Integrationskraft des Liberalismus kommen werde. Er verwarf außerdem die auf der Grundlage staatsrechtlicher Bruchlinien organisierten Parteien und wollte erreichen, dass sich die verschiedenen politischen Lager entlang den wichtigsten ideologischen und sozialen Bruchlinien abgrenzen sollten. Vázsonyi selbst begriff sich als wirklicher Erbe des „Kossuth’schen Demokratie“ von 1848, betrachtete das allgemeine Wahlrecht als Schritt, der logisch aus dem Erbe der 1848 erfolgten Ausweitung der Rechte folge, sowie als Befreiung der „politischen Leibeigenen“.11 Seiner Meinung nach hatten sich seit 1867 nur die Rahmenbedingungen des modernen Verfassungsstaates entwickelt, die wirkliche Macht sei aber auch weiterhin bei den „ständischen Faktoren“ verblieben. Es fehle ein nationales Bürgertum, das hinsichtlich seiner Werteordnung und seines Selbstbewusstseins miteinander integriert sei und in wirtschaftlicher und vermögensmäßiger Hinsicht auf einer breiten Ba9 Vázsonyi Vilmos beszédei I (wie Anm. 8.), S. 132–138. 10 Dániel Szabó, Mi a program? Mi a forrás? [Was ist das Programm? Was ist die Quelle?], in: Emlékkönyv L. Nagy Zsuzsa 80. születésnapjára [Festschrift für Zsuzsa L. Nagy für 80. Geburtstag], Hg. Zoltán Kovács/Levente Püski, Debrecen 2010, S. 351–361. 11 Vázsonyi Vilmos beszédei I (wie Anm. 8), S. 183.

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sis stehe. Dieses Bürgertum müsse sich zu jener Schicht entwickeln, die der ganzen Gesellschaft ihren Charakter verleihe. Sein landesweites Parteiprogramm drängte auf eine Politik, die – basierend „auf dem Prinzip des individuellen Eigentums“ – neben der Bewahrung des freien Wettbewerbs gegen jede Form des Monopols – ob Kartell oder Fideikommiss – auftrete und die „Schwachen“ zielstrebig unterstütze, um im Wettbewerb mit den „Großen“ bestehen zu können. Der Arbeiterschaft biete es mit einer breiten Sozialpolitik und mittels Arbeiterschutzgesetzen Sicherheit. In der Sozialdemokratie sah er einen natürlichen Verbündeten. Damit die bürgerlichen Kräfte die entscheidende Rolle in diesem Bündnis spielen könnten, hielt er es für notwendig, die tiefe Spaltung der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden. Den Ausgangspunkt hierzu sah er in der Ausweitung des Wahlrechts. Vázsonyi unternahm also, ausgehend von der Budapester Kommunalpolitik, den Versuch einer umfassenden Erneuerung der landesweiten liberalen Politik, wobei er die erste ausgesprochen bürgerliche politische Partei des Landes ins Leben rief. Ursprünglich war ungarischer Liberalismus – und für lange Zeit bestimmend – Adelsliberalismus. Er war der erste im Parlament, der ganz offen und herausfordernd eine mentalitäts- und verhaltensmäßige Orientierung an der aus dem Adel stammenden Führungsschicht verweigerte. Außerhalb von Budapest gelang es nur an einigen Orten, eine stabile Organisation zu schaffen und den einen oder anderen Abgeordneten der Demokraten ins Parlament einziehen zu lassen. Als feste Basis konnte man so auch in der Folgezeit fast ausschließlich nur auf die demokratischen Zirkel in der Hauptstadt bauen. In der landesweiten Politik war die Partei Vázsonyis somit eher ein charakteristischer Farbtupfer, als dass sie eine ernsthafte Kraft repräsentiert hätte.12 Auch in der hauptstädtischen Versammlung konnte die neue Richtung nur langsam und nach harten Kämpfen an Raum gewinnen. Selbst nach den Wahlen des Jahres 1903 konnten lediglich 21 Stadtväter der 400 Mitglieder umfassenden Körperschaft eindeutig dieser Richtung zugerechnet werden. Von diesen 21 hatten 18 ihr Mandat im Bezirk Theresienstadt errungen. Vázsonyi galt damals allerdings bereits als einer der angesehensten Stadtväter, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Tatsache, dass die finanziellen Grundlagen der bisherigen Stadtpolitik erschüttert waren, die führende Gruppierung bereits stark beunruhigte. Im Falle der Beibehaltung der traditionellen Strukturen der Einkommensquellen des städtischen Haushaltes erschien die Übernahme neuer Aufgaben als nicht mehr finanzierbar. Der konjunkturelle Schrumpfungsprozess um die Jahrhundertwende führte geradewegs zu einer finanziel12 Sipos, Polgár a politikában (wie Anm. 8).

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len Krise, die drohte, mit einem dauerhaften Einbruch der Stadtentwicklung einherzugehen. Es erschien unvermeidbar, neue Einkommensquellen zu erschließen, und gerade das Programm von Vázsonyi lieferte hierfür – auch unter Beachtung der ausländischen Erfahrungen – eine Konzeption. Diesem Hintergrund war es zu verdanken, dass seine Isolierung schrittweise ein Ende fand. Dies geschah allerdings, ohne dass er irgendetwas von seinen Sachvorschlägen hätte durchsetzen können. Im Programm der gemeindepolitischen Opposition waren der Übergang zu einer neuartigen, dienstleistenden, unternehmerischen und interventionistischen Stadtpolitik (Leistungsverwaltung) und die politische Reform bzw. die Ausweitung der gesellschaftlichen Basis unauflösbar miteinander verbunden. Die Erstarrung der traditionellen Struktur sicherte allerdings jenen Zirkeln, die entgegengesetzte Interessen vertraten, einen entscheidenden Einfluss.13

3. Wende zur Sozialreform – ohne Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten Im Jahre 1905 erlitt die seit 30 Jahren regierende Freisinnige Partei eine dramatische Wahlniederlage. Es bedeutete keineswegs den Sturz des Liberalismus als Gedankenwelt, die weiter die ungarische Regierungspolitik bestimmte. Innerhalb der heterogen zusammengesetzten Koalition, die sich von 1906 bis 1910 an der Macht befand, gewannen zwar auch konservativ-agrarische Bestrebungen an Raum. Die Regierung wurde aber auch in diesem Zeitraum von einem liberalen Politiker (nämlich von Sándor Wekerle, der in vielerlei Hinsicht auch sozialliberale Bestrebungen zur Geltung brachte) geführt.14 Die landesweite politische Krise beendete auch die kommunalpolitische Pattsituation, wodurch die Rolle Vázsonyis, da er Mitglied des Ausschusses wurde, der das oppositionelle Bündnis leitete, eine Aufwertung erfuhr. Nachdem die Koalition im Frühjahr 1906, nach der sich hinziehenden Krise, an die Regierung gekommen war und einen überwältigenden Wahlsieg hatte erringen können, brach Vázsonyi – da er die Rücknahme der Wahlrechtsversprechen und die Ausbreitung der konservativen und antisemitischen Bestrebungen spürte – allerdings mit ihr. Dies führte gleichzeitig dazu, dass die alte Mehrheit in der hauptstädtischen Vollversammlung, die mit dem Zerfall der alten Regierungs13 Sipos, Várospolitika és városigazgatás (wie Anm. 7), S. 46–64; ders., „Stammeshäuptlinge“ und Reformer (wie Anm. 6.), S. 115–118. 14 Géza Andreas von Geyr, Sándor Wekerle 1848–1921. Die politische Biographie eines ungarischen Staatsmannes der Donaumonarchie, München 1993.

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partei ihren politischen Hintergrund verloren hatte und mit der Gefahr der Ausweitung des Wahlrechts konfrontiert wurde, in dem populären Führer der Demokraten ihren möglichen Retter erkannte. Die taktischen Auseinandersetzungen, als deren Ergebnis sich die alte Mehrheit um ihren früheren Gegner sammelte und sein Programm akzeptierte, können hier nicht näher beleuchtet werden. Es kommt ihnen vom Gesichtspunkt unserer Untersuchung aus gesehen auch keine besondere Bedeutung zu. Der erste gemeinsame Erfolg der Demokraten und der „Stammeshäuptlinge“ war, dass sie im Juni 1906 die Wahl ihres gemeinsamen Bürgermeisterkandidaten István Bárczy gegen den Kandidaten der Koalition erreichten.15 Das Amt des Budapester Bürgermeisters war keine politisch verstandene Position, sondern eine Beamtenstellung. Bárczy war ein typischer und gleichzeitig ausgezeichneter Vertreter der neuartigen Fachbürokratie in der Stadtverwaltung. Diese vertrat die Auffassung, dass es eine Grundvoraussetzung der Lenkung einer modernen Stadt sei, dass soziale Gesichtspunkte auf allen Gebieten der Stadtplanung und Stadtverwaltung entscheidend seien. Die neue Generation, die so in die Schlüsselposition der Stadtverwaltung kam, wurde neben dem ungewöhnlich jungen, erst 40jährigen Bürgermeister auch durch einen neuen Beamtentyp vertreten – verglichen mit jenen, die in der Zeit der Stadtvereinigung eine Rolle gespielt hatten oder deren direkten Nachfolgern. Sie waren nicht mehr amtsführende Nobelbürger, sondern verkörperten eine moderne, professionelle Kommunalbeamtenschicht. Ihre eigene Berufung sahen sie darin, ihre Fähigkeiten, die sie aufgrund ihrer Schulung besaßen, umzusetzen und professionelle, rationale Techniken auszuarbeiten und diese im Dienst der kulturellen Entwicklung zur Lösung der notwendigerweise auftretenden gesellschaftlichen Konflikte einzusetzen.16 Im Mittelpunkt der Antrittsrede von Bárczy standen aber explizit politische Fragen: die Ausweitung des Wahlrechts auf „die gesamte ständige Einwohnerschaft“ in engem Zusammenhang mit der Ausweitung der Befugnisse der Selbstverwaltung sowie die Notwendigkeit einer „anhand der miteinander 15 Sipos, Várospolitika és városigazgatás (wie Anm. 7), S. 64–75; ders., „Stammeshäuptlinge“ und Reformer (wie Anm. 6), S. 118 f. 16 András Sipos, István Bárczy und Karl Lueger. Zwei Bürgermeister um die Jahrhundertwende, in: Zeit des Aufbruchs (wie Anm. 4), S. 143–149; Susan Zimmermann, Prächtige Armut. Fürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest. Das „sozialpolitische Laboratorium“ der Doppelmonarchie im Vergleich zu Wien 1873–1914, Sigmaringen 1997, S. 175–192; eine biographische Darstellung über Bárczy: Erika Varsányi, Bárczy István, in: A főváros élén. Budapest főpolgármesterei és polgármesterei 1873–1950 [Auf der Spitze der Hauptstadt. Die Oberbürgermeister und die Bürgermeister Budapests 1873–1950], Hg. István Feitl, Budapest 2008, S. 163–177.

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kämpfenden städtischen Parteiprogramme“ organisierten Repräsentation. Die verkündeten konkreten kommunalpolitischen Ziele stimmten im Wesentlichen mit dem Programm von Vázsonyi überein. In mehrerlei Hinsicht wiesen sie aber auch darüber hinaus, so beispielsweise mit dem Aufgreifen des kommunalen Wohnungsbaus, der planmäßigen Entwicklung der Außenbezirke oder der Eingliederung der Vororte.17 Das Amt des Bürgermeisters von Budapest war institutionell eine schwache Position. Der Bürgermeister hatte in den Fragen der Stadtverwaltung gegenüber dem Kollegium des Rates kaum einen eigenen Zuständigkeitsbereich. Einen selbstständigen Bewegungsspielraum besaß er größtenteils nur in der Verfügung über das Personal und über die Arbeits- und Geschäftseinteilung im Verwaltungsapparat. Bárczy nutzte die darin liegenden Möglichkeiten weitgehend aus. Mit der spezifischen „Verdoppelung“ des Apparates entriss er die wichtigeren Programme der routinierten Sachführung des Rates und der Kommissionen und gab sie in die Hände von ihm ausgewählter Mitarbeiter. Mit deren Hilfe konnte er unter Zurücksetzung von Formalitäten sehr wirkungsvoll handeln. Am Ende des Jahres 1906 kam die Bürgerliche Demokratische Gemeindepartei zur Unterstützung der Reformtätigkeiten des Bürgermeisters durch die Vereinigung der Demokraten und der alten Mehrheit zustande. Die neue Mehrheitspartei errang den Sieg bei den Kommunalwahlen. Schon Anfang 1908 zerfiel sie allerdings, da die Mehrheit bei den Verhandlungen um die Anhebung der Gemeindesteuerzulage – trotz der Tatsache, dass die progressive Besteuerung eine der Grundpositionen des Parteiprogramms darstellte – es ablehnte, die kleinen Steuerzahler von der Anhebung auszunehmen und im Gegenzug dazu den Prozentsatz bei den größeren Steuerzahlern von 8 auf 10 Prozent zu erhöhen. Dies war eine klare Stellungnahme gegen das Prinzip der progressiven Besteuerung. Der bereits zitierte Ferenc Heltai erklärte (mit Blick auf seinen früheren Standpunkt ganz konsequent), dass „die progressive Besteuerung nichts anderes sei, als die Belastung der reichen Menschen zugunsten derer, die von der Stadt nur bekommen, der Stadt aber keine Gegenleistung erbringen“.18 Diese Entscheidung steckte auch für Bárczy die Grenzen der Reformpolitik ab: Wenn er freie Hand erhalten wollte, dann musste er sich aller Schritte enthalten, die für das in der Vollversammlung unverändert dominierende Großbürgertum eine Verletzung seiner machtpolitischen oder materiellen Interessen bedeutete.

17 Fővárosi Közlöny, [Amtsblatt der Hauptstadt] 22. Juni 1906, S. 1015 f. 18 Fővárosi Közlöny, 14. Februar 1908/Beilage, S. 18 f.

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Der Bürgermeister hatte seine Lektion gelernt. Nach dem Zerfall der Mehrheitspartei gelangte die Stadtverordnetenversammlung in den alten Zustand der Zersplitterung, ihr fehlten allerdings auch die einheitlichen Interessen, die einen Machtfaktor gegenüber dem hervorragend manövrierenden Bürgermeister dargestellt hätten. Diesem gelang es so, seine groß angelegte Reformpolitik mit einer nahezu unverändert zusammengesetzten Stadtverordnetenversammlung durchzusetzen.19 Die Voraussetzungen der Reformpolitik Bárczys waren in gewisser Hinsicht dem Modell ähnlich, das für zahlreiche deutsche Großstädte charakteristisch war. Auch dort gründete die Erneuerung der Kommunalpolitik auf der Zusammenarbeit der starken städtischen Bürokratie und der engen Einkommens- und Vermögenselite, deren Vorrechte institutionell garantiert waren. Verglichen mit der überwiegenden Mehrheit seiner deutschen Bürgermeisterkollegen repräsentierte Bárczy allerdings dadurch eine besondere „Farbvariante“, dass er (ähnlich wie Vázsonyi) die Erfordernisse der kommunalen Leistungsverwaltung organisch mit dem umfassenden Programm einer Demokratisierung der Stadt und des ganzen Landes verknüpfte. Die deutschen Stadtobersten verbanden die soziale Reformtätigkeit der Bürokratie in der Regel nicht mit der Zielsetzung einer politischen Demokratie. Eines der herausragenden Gebiete der Reformpolitik war die Kommunalisierung gewinnbringender Betriebe. Bis zum Ausbruch des Krieges gelangten so die Gasversorgung sowie ein beträchtlicher Teil der Stromerzeugung in städtische Hände, und die Hauptstadt wurde zum Mehrheitsaktionär eines der beiden Straßenbahnunternehmen. Der Erwerb dieser Betriebe und ihre gewinnorientierte Tarifpolitik machten es möglich, in den Jahren von 1909 bis 1913 ein riesiges Investitionsprogramm ausschließlich mit geliehenem Geld durchzuführen. Der Schuldenbestand der Stadt wuchs innerhalb einiger Jahre auf das Dreifache an, die ertragreichen Investitionen stellten die Rückzahlung allerdings auf derart feste Grundlagen, dass die Situation des Stadthaushalts auch mit diesen Krediten stabiler war als zuvor. Dies wurde auf eine Weise erreicht, dass keine neuen Lasten auf die Schultern der Einwohnerschaft gepackt werden mussten. Den ansteigenden Lebenshaltungskosten versuchte man währenddessen mit kommunalen Pferdefleischbetrieben, Brotfabriken und mit dem Lebensmittelverkauf entgegenzuwirken.20

19 Sipos, Várospolitika és városigazgatás (wie Anm. 7), S. 75–89; ders., „Stammeshäuptlinge“ und Reformer (wie Anm. 6.), S. 118–122. 20 Sipos, Várospolitika és városigazgatás (wie Anm. 7), S. 163–190; Melinz/Zimmermann, Die aktive Stadt (wie Anm. 7), S. 152–157.

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Den zweiten herausragenden Schwerpunkt bildete das in seinen Ausmaßen damals auch international fast einzigartige Programm des sozialen Wohnungsbaus (es entstanden etwa 4800 Wohnungen, von denen drei Viertel billige Einzimmerwohnungen waren) sowie der Bau von Schulen: Innerhalb einiger Jahre wurden 967 Schulzimmer und 36 völlig neue Schulgebäude errichtet. Für die Stadtführung war die Sozialfürsorge untrennbar mit der Ausbreitung der Kultur und der Förderung der Künste verbunden. Man versuchte das Prinzip zu verwirklichen, dass Kultur auch in den Institutionen zur Versorgung der ärmsten und am stärksten hilfsbedürftigen Schichten präsent sein müsse. Auch ihnen sollte eine ästhetische Umgebung geboten, und auch für sie sollte in den entstehenden Einrichtungen Platz für künstlerische Gesichtspunkte gelassen werden.21 Zum Hintergrund des Bauprogramms gehört die Situation, dass die Wohnungsmisere auch der Brennpunkt der politischen Unzufriedenheit wurde. Von 1906 an konnte die Sozialdemokratische Partei Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern gegen den „Mietwucher“ organisieren. Als kollektive Widerstandsform der Bevölkerung entfaltete sich eine Hausboykottbewegung, die ab 1909 in Mietstreiks umschlug, die von tumultuösen Szenen, also Manifestationen kollektiver Gewalt, begleitet wurden. Die Sozialdemokraten, die aufgrund des eingeschränkten Wahlrechtes in der Stadtvertretung nicht vertreten waren, nahmen die „Revolution der Mieter“ und die Forderung eines massierten kommunalen Wohnbaus auf.22 Die mehreren tausend Wohnungsbauten, die im Rahmen von kommunalen Investitionen ausgeführt wurden, waren nicht nur in Ungarn völlig neu, sie kamen damals auch in Europa selten vor. In den Großstädten des Kontinents war die Unterstützung der gemeinnützigen Privat- oder Gesellschaftsbauten die Hauptform der aktiven Wohnungspolitik. Bárczy und seine Mitarbeiter konnten ihre radikale Lösung von den kommunalen Entscheidungsgremien nur unter weitgehender Ausnützung des äußeren Drucks durch die „Revolution der Mieter“ bewilligen lassen. Dies bedeutete aber nicht die Anerkennung der Sozialdemokratie als institutionalisierter Partner. Während die konservati21 Zimmermann, Prächtige Armut (wie Anm. 16), S. 244–299; András Sipos, Bürgermeister István Bárczy und die öffentlichen sozialen Bauprojekte in Budapest am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Budapest und Wien (wie Anm. 5), S. 197–205; Laura Umbrai, A szociális kislakásépítés története Budapesten [Geschichte des sozialen Kleinwohnungsbaues in Budapest] 1870–1948, Budapest 2008, S. 109–146. 22 Albert Lichtblau, Boykott–Krawall–Gewalt–Demonstration: Die Budapester Mieterbewegung 1906 bis 1912 und exkursive Vergleiche zu ähnlichen Vorgängen in Wien, in: Archiv 1992. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien 1992, S. 65–82.

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ven Gegner von einem gefährlichen Schritt in Richtung Sozialismus sprachen, wiesen Bárczy und sein Kreis darauf hin, dass die Belastungsfähigkeit der Gesellschaft – die in den westlichen Städten vorhanden war – in Budapest fehle. Deshalb stelle sich die Rolle der öffentlichen Hand anders dar. Nach Imre Ferenczi (Bárczys Hauptexperte für das Wohnungswesen) galt dieses: „Bei uns gibt es immer die Klage, dass wir fremde soziale Einrichtungen importieren wollen. Na, wenn über irgendwelche sozialpolitischen Maßnahmen gesagt werden kann, dass sie einen nationalen Charakter haben, in dem Sinne, dass sie aus unseren besonderen, örtlichen Verhältnissen herauswuchsen, dann ist das Wohnbauprogramm der Haupt- und Residenzstadt so eines.“23 Wegen der stark begrenzten Autonomie der Hauptstadt war die Kooperation mit der Staatsregierung eine unentbehrliche Voraussetzung für den Beginn und die wirkungsvolle Ausführung des Bauprogramms. Ein günstiger Umstand war, dass genau in der kritischen Phase von Beschluss und Anlaufen des Programms in der Person von Sándor Wekerle ein Politiker an der Spitze der Regierung stand, der selbst ein Anhänger und Vorkämpfer des massierten Wohnungsbaus war. Außerhalb des Gebiets der Hauptstadt, im Raum der Vorstadt Kispest, begann der Bau einer staatlichen Arbeitersiedlung im Jahr 1909, und in der „Wekerle-Siedlung“ wurden bis zum Jahre 1914 insgesamt 3657 Wohnungen fertiggestellt.24 Nach den ursprünglichen Vorstellungen von Wekerle hätte die staatliche Arbeitersiedlung von Kispest den Durchbruch bedeuten sollen, dem am Stadtrand und in der unmittelbaren Umgebung Reihen von Kleinwohnungssiedlungen gefolgt wären. Diese Kleinwohnungssiedlungen hätten dem Gartenstadtideal folgen sollen.

4. Eine neuere Welle der Erneuerung des Liberalismus – die Bürgerlich-Radikalen im Rathaus Der Brain-Trust der Stadtverwaltung, auf den sich der Bürgermeister stützte, hatte einen charakteristischen Kern, der zu der sog. „bürgerlich-radikalen“ geistig-politischen Strömung gehörte, die eine neuerliche Welle der Erneuerung des ungarischen Liberalismus repräsentierte. Den Kern dieses Lagers bildeten junge Intellektuelle aus den Gesellschaftswissenschaften, die von dem anfänglichen Verlangen nach einem Reformprogramm, das auf der wissen23 Imre Ferenczi, Községi lakáspolitika és lakásügyi intézmények [Kommunale Wohnungspolitik und die Insitutionen des Wohnungswesens], Budapest 1910, S. 49. 24 Géza von Geyr, Die Wekerlesiedlung in Budapest. Staatliche Arbeitersiedlung und Gartenstadt, in: Ungarn-Jahrbuch 17 (1989), S. 71–94.

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schaftlichen Erschließung der Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaftsentwicklung und des Zustandes des Landes basierte, schließlich bis zur Gründung einer selbstständigen Partei im Jahre 1914 gelangten. Sie maßen die Zustände in Ungarn an den allgemeinen Erfordernissen der Demokratie und setzten sich die Schaffung eines „westeuropäischen Ungarns“ zum Ziel.25 Das Budapester Rathaus war am Anfang des 20. Jahrhunderts das einzige Terrain, wo diese Garde, die eine radikale Systemkritik verkörperte, eine tatsächliche gouvernementale Rolle erhielt. Eine ihrer zentralen Persönlichkeiten war beispielsweise Ödön Wildner, der (seit 1911 als abteilungsleitender Rat) die Wohnungspolitik, die Sozialpolitik und das Bildungswesen leitete. Damit hielt er gerade die Schlüsselgebiete der Reformpolitik in seiner Hand. Die Anschauung der Bürgerlich-Radikalen über eine kommunale Daseinsvorsorge passte sich in das umfassende Programm der gesellschaftlichen und politischen Demokratisierung ein. Ihre Ambitionen richteten sich darauf, Budapest zum „Laboratorium“ sozialpolitischer Reformen zu machen. Der im Jahre 1911 entwickelte Entwurf eines sozialpolitischen Arbeitsprogramms skizzierte beispielsweise das Verlangen nach einer komplexen und präventiven Behandlung der gesellschaftlichen Probleme und Randsituationen, die der Idee eines modernen Wohlfahrts-„Stadt-Staats“ entsprach.26All ihren Vorhaben schrieb diese Garde auch eine beispielgebende Rolle zu, die auch eine ähnliche Politik auf Landesebene inspirieren sollte. Sowohl die Demokraten um Vázsonyi als auch die bürgerlich-radikale Richtung sind in unterschiedlicher Weise als sozialliberale Gruppierungen zu betrachten. Trotz zahlreicher Ähnlichkeiten bei den Programmelementen war ihr Verhältnis aber ausgesprochen feindselig. Vázsonyi hielt es im Sinne der älteren Traditionen (klein)bürgerlicher Demokratie für eine unverzichtbare Voraussetzung einer wirklich bürgerlichen Gesellschaft, dass zumindest die relative Mehrheit in der Gesellschaft aus selbstständigen Kleinbesitzerexistenzen bestehen sollte, die eine stabile bürgerliche Lebensform auf ihrem Ei25 Attila Pók, Radikális és liberális demokraták Magyarországon a 20. század első felében [Radikale und Liberale Demokraten in Ungarn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts], in: Történelmi Szemle Nr. 4 (2007), S. 593–603; ders., Radical Democratic Criticism of the Dualist Monarchy. A Present Day Perspective, in: András Gerő (Hg.), Revisiting the Austro–Hungarian Monarchy, New York 2010, S. 113–133; eine Biographie über die zentrale Figur der bürgerlich-radikalen Richtung: György Litván, A Twentieth Century Prophet: Oscar Jászi, New York 2006. (Die meisten Darstellungen des bürgerlichen Radikalismus behandeln dessen Rolle im Budapester Rathaus nur peripher.) 26 Fővárosi Közlöny, 25. Juni 1912, S. 2384 f.; siehe auch Zimmermann, Prächtige Armut (wie Anm. 16.) passim.

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gentum begründen sollten. Die Expansion des großindustriellen, die Arbeitermassen proletarisierenden Kapitalismus betrachtete er eindeutig als gefährlich und schädlich. Und auch die Daseinsberechtigung der Politik der Kommunalisierung erkannte er nur im Falle der monopolistischen öffentlichen Dienstleistungen an. In den übrigen Bereichen lehnte er hingegen ein Auftreten der öffentlichen Hand ab, mit dem den Privatunternehmen Konkurrenz gemacht wurde. Hinsichtlich des kommunalen Lebensmittelverkaufes, mit dem der Verteuerung der Lebensmittel entgegengewirkt werden sollte, stellte er Folgendes fest: „Dieser [Lebensmittelverkauf] bedeutet ein Zugrunderichten der Kleinbürger, ein Abschlachten der letzten Wächter der bürgerlichen Gesellschaft, ihr Absinken in die Reihen der Proletarier. Diejenigen aber, die wir als Bürger niedermachen, erstehen als Proletarier wieder auf; damit wächst die Klientel der Sozialdemokratie und die Kraft und Widerstandsfähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft verfällt.“27 Die Bürgerlich-Radikalen hingegen betrachteten die Expansion der Großbetriebe als einen natürlichen Prozess und akzeptierten, dass sich die Entwicklung in Richtung irgendeiner kollektiven Form der Organisation der Produktion fortsetzen und der organisierten Arbeiterschaft schließlich die entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Zukunft zukommen werde. Für viele war der moderne demokratische Sozialliberalismus eine Art ideelle Vorwegnahme eines – um mit den Worten seines geistigen Führers Oszkár Jászi zu sprechen – „liberalen Sozialismus“. Im gegebenen Bedingungsgefüge der Kommunalpolitik legten zwei Haupthindernisse den Kreis der tatsächlich verwirklichbaren Reformelemente fest: Zum einen durften die institutionellen Grundlagen, die die Interessenverwirklichung der großbürgerlichen Elite gewährleisteten, nicht angetastet werden, zum anderen durfte diese Elite nicht zur Übernahme größerer materieller Lasten gezwungen werden. Dementsprechend konnten bedeutende Ergebnisse nur auf solchen Gebieten erreicht werden, die mit Kreditgeldern finanziert werden konnten. Auf dem Gebiet der Verwendung der ständigen Haushaltseinnahmen hingegen erweiterte sich der Spielraum nicht wirklich.28 Die Konsequenzen hiervon offenbarten sich deutlich im Falle der Wohnungspolitik. Die offizielle Begründung für den auch auf europäischer Vergleichsebene außerordentlich umfangreichen behördlichen Wohnungsbau war in einem ausgesprochen liberalen Geist gehalten: Das Bauprojekt wurde als eine außerordentliche „Behelfsmaßregel“ gewertet, die durch die besonders schwe27 Fővárosi Közlöny, 31. Oktober 1911, S. 3103. 28 Sipos, Várospolitika és városigazgatás (wie Anm. 7), S. 114–162.

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ren örtlichen Verhältnisse begründet sei. Ihre Bestimmung sei es gerade, das normale Funktionieren des Marktes wieder zu ermöglichen, und ihr wahres Ziel sei „eine moderne Reform des privatkapitalistischen Wohnungsbaus“.29 Die Bauvorhaben wurden gänzlich aus Kreditgeldern verwirklicht, und zwar auf der Grundlage, dass die Mieten alle Kosten – einschließlich der Tilgung – decken sollten. Auf diese Weise kam also der öffentliche Wohnungssektor zustande, der zur „Ableitung“ der schwersten gesellschaftlichen Spannungen fähig sein sollte. Wegen des riesigen Nachfrageüberhangs übte der kommunale Wohnungsbau aber nur einen sehr begrenzten Einfluss auf den marktwirtschaftlichen Wohnungssektor aus, so dass er sich für die Hauseigentümer sogar eher als vorteilhaft erwies. Gleichzeitig scheiterte aber jeder Versuch, der eine wirkliche behördliche Intervention in die Funktionsweise des Wohnungsmarktes selbst bedeutet hätte. Darunter wären Ansätze zu verstehen gewesen, das Mietrecht und Mietwesen ernsthaft zu reformieren, eine behördliche Wohnungsaufsicht und Wohnungsvermittlung aufzubauen, ein Wohnungsamt einzurichten – das in der Lage gewesen wäre, eine umfassende und integrierte gemeindliche Wohnpolitik durchzusetzen – sowie eine Bauregulierung und Grundstückspolitik zu verfolgen, die es möglich gemacht hätte, soziale Gesichtspunkte durchzusetzen.30

5. Zusammenfassung Die tatsächliche Verwirklichung der sich nach 1906 entfaltenden neuen Kommunalpolitik, die vom Gedanken eines demokratischen und sozialen „Stadt-Staates“ inspiriert worden war, wurde also von der Zusammenarbeit – oder besser gesagt: vom Zusammenwirken – dreier verschiedener Typen des kommunalen Liberalismus bestimmt: 1. vom elitären, regierenden Liberalismus, 2. vom demokratischen Sozialliberalismus Vázsonyis mit seinem kleinbürgerlich geprägten Profil sowie 3. vom bürgerlichen Radikalismus, der in Richtung der Perspektive eines „liberalen Sozialismus“ offen war. Bei der Verbindung der Bestrebungen dieser – im Übrigen einander scharf gegenüberstehenden – Richtungen spielte die neue, in den 1860er und 1870er Jahren geborene Generation der städtischen Bürokratie eine Schlüsselrolle. Gemäß dem für sie charakteristischen Rollenverständnis entschieden sich die Schicksalsfragen der modernen Gesellschaft in den Großstädten. Die Stadtverwaltung verfügte, nicht zuletzt mittels ihres Wissens und ihrer Arbeit, auf dem 29 Ferenczi, Községi lakáspolitika (wie Anm. 23), S. 48. 30 Zimmermann, Prächtige Armut (wie Anm. 16), S. 245–299.

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Gebiet der Gestaltung der Wohnumgebung, der Freizeit- und Hygienekultur und der ganzen außerbetrieblichen Lebenswelt der unteren Schichten über ein Instrumentarium, das den „Giftzahn“ der gesellschaftlichen Gegensätze hätte ziehen und so die Emanzipation der Arbeiterschaft und ihre Integration in die bürgerliche Gesellschaft fördern können. Unter den gegebenen Umständen konnte aber die soziale Reformpolitik nichts anderes sein als eine ganz typisch mit den Mitteln des Verwaltungsapparats von oben her durchgeführte Reform. Die Stadtbevölkerung selbst konnte auf diese Politik nur von außen Druck ausüben. Budapest vor dem Ersten Weltkrieg konnte als „sozialpolitisches Laboratorium“, aber nicht als Laboratorium der Parlamentarisierung der Kommunalpolitik, auch nicht als Experimentierfeld moderner Formen der Partizipation bezeichnet werden.

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Erziehungsstadt statt Erziehungsstaat? Die liberale Reform des Schulwesens der Stadt Straßburg vor 1914

„Zeige mir die Schule einer Gemeinde, und ich will Dir sagen, was diese Gemeinde wert ist!“ So begann Adolf Damaschke, Gründer und Vorsitzender des Bundes der deutschen Bodenreformer, das erste Kapitel seiner vielbeachteten Schrift Aufgaben der Gemeindepolitik („Vom Gemeinde-Sozialismus“).1 Damaschke selbst war einst Volksschullehrer, und seine Bodenreformbewegung fand unter der liberalen Volksschullehrerschaft des Kaiserreiches ein starkes Echo. Damaschkes Motto erinnert an die grundlegende Tatsache der modernen deutschen Schulgeschichte, dass die Schulen im 19. Jahrhundert nicht nur föderal strukturiert waren, sondern auch vom Stadt-Land-Gegensatz und ferner von den interstädtischen Unterschieden geprägt wurden. Zum Beispiel weist Jürgen Reulecke mit seiner Analyse des Schulsystems in der klassischen Ruhrgebietsstadt Herne darauf hin, dass „die Qualität der Volksschulbildung eines Bürgers im Kaiserreich u.a. entscheidend auch davon ab[hing], wo er, d.h. in welcher Art von Stadt er zur Schule gegangen war“.2 Die älteren „kritischen“ Studien der 1970er Jahre zur Volksschule bzw. zur Volksschullehrerschaft im Kaiserreich setzten allerdings ihren Schwerpunkt mehr auf den autoritären und konservativen Charakter der (preußischen) Schulpolitik bzw. die Vereinnahmung der Volksschule durch den Staat. Dies entspricht der allgemeinen Interpretation der sogenannten „Sonderwegsthese“ über das Kaiserreich. Dagegen wendet sich aber Frank-Michael Kuhlemann in seinem Aufsatz „Das Kaiserreich als Erziehungsstaat?“. In Übereinstimmung mit der Kritik von Thomas Nipperdey am „Kaiserreich als Untertanengesellschaft“ warnt Kuhlemann vor einer Überschätzung der Durchsetzungskraft der Staatspolitik von oben. Er betont vielmehr verschiedene relativierende Strukturprozesse, „die 1 Adolf Damaschke, Aufgaben der Gemeindepolitik. („Vom Gemeinde-Sozialismus“), Jena 51904, S. 11. 2 Jürgen Reulecke, Von der Dorfschule zum Schulsystem, in: Ders. u.a. (Hg.), Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978, S. 247–273, hier S. 265.

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jenseits des politischen Anspruchs auf Untertanenbildung die gesellschaftlichen und kulturellen Freiräume verdeutlichen“. Als einen dieser Freiräume benennt er die städtische Schulpolitik: „[D]ie Volksschule [war] bis zum Ende des Kaiserreichs noch keineswegs eine ‚Staatsschule‘ geworden, sondern [ist] als ‚Gemeindeschule‘ zu charakterisieren“.3 Aber wie und unter welchen Bedingungen gestalteten die einzelnen Städte dann ihre Schulpolitik? Um dies zu wissen, braucht man einzelne Fallstudien mit sozial- und politikgeschichtlichen Fragestellungen auf kommunaler Ebene. Ein Beispiel dafür sind die Arbeiten von Karl Heinrich Pohl, die u.a. im Fall von München die städtische Reformpolitik herausgearbeitet haben, die zum großen Teil durch die Kooperation zwischen den dortigen Liberalen und der Sozialdemokratie ermöglicht wurde.4 Eine derartige Herangehensweise wird hier auch für die Analyse der Schulpolitik im Reichsland Elsass-Lothringen, einer Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich, gewählt. Zwar gibt es schon einige wichtige neuere Forschungen zur Schulpolitik in ElsassLothringen. Aber dabei wird die Schulpolitik meistens mit der Staatspolitik gleichgesetzt.5 Die Rolle der Gemeinde, besonders der Stadt, wird dabei wenig erwähnt. Im Folgenden wird also versucht, die Schulpolitik in dieser Grenzregion aus einer differenzierteren Perspektive zu betrachten, indem den spannungsvollen Beziehungen zwischen Stadt und Staat eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Damit könnte die nationale Integrationspolitik durch Schule in diesem nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 durch das deutsche Kaiserreich annektierten Grenzland als ein dynamischer Prozess begriffen werden.

3 Frank-Michael Kuhlemann, Das Kaiserreich als Erziehungsstaat? Möglichkeiten und Grenzen der politischen Erziehung in Deutschland 1871–1918, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 728–745, hier S. 733. 4 Karl Heinrich Pohl, Sozialdemokratie und Bildungswesen. Das „Münchener Modell“ einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Schulpolitik und die Entwicklung der Volksund Fortbildungsschulen im Bayern der Jahrhundertwende, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 53 (1990), S. 79–101. 5 Felicitas von Aretin, Die Schulpolitik der obersten Schulbehörde im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1914, Ph.D. (EHI Florenz) 1992; Stephen L. Harp, Learning to be Loyal. Primary Schooling as Nation Building in Alsace and Lorraine 1850–1940, DeKalb 1998.

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1. Straßburg als Hauptstadt des „Reichslands Elsass-Lothringen“6 Als Elsass-Lothringen 1871 durch das Deutsche Kaiserreich annektiert wurde, zählte Straßburg ca. 85.000 Einwohner. Diese Zahl verdoppelte sich bis 1910 auf ca. 180.000. Mit dem damaligen Kriterium von 100.000 war Straßburg die einzige Großstadt im „Reichsland Elsass-Lothringen“, aber die Wachstumsrate war im Vergleich zu den anderen deutschen Städten relativ schwach, so dass ihr Rang auf der Großstadtliste im Kaiserreich vom 12. (1871) auf den 26. Platz (1910) sank.7 Besonders hervorzuheben ist der für Straßburg charakteristische hohe Anteil von Beschäftigten im tertiären Sektor. Während „nur“ 41 % der Erwerbstätigen 1910 in der Industrie beschäftigt waren, waren Beamte und Freiberufler stark vertreten. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Straßburg nach der Annexion zur Hauptstadt des Reichslands ElsassLothringen wurde, so dass es dort verschiedene Institutionen von kommunaler bis auf Reichsebene gab. Außerdem wurde 1872 die „Kaiser-Wilhelm-Universität“ gegründet, die in Straßburg auch sozial- und kommunalpolitisch eine wichtige Rolle spielen sollte. Als Hauptsitz des XV. Armeekorps hatte die Stadt auch das Gesicht einer Militärstadt. Nach Anteil der Militärs an der städtischen Gesamtbevölkerung lag Straßburg an zweiter Stelle der Großstädte in Deutschland, nach der Marinestadt Kiel, was an der deutsch-französischen Grenzsituation lag, in der sich die Stadt befand. Auch wenn die Stadt nicht mehr direkt an der Grenze lag wie vor 1871, verhinderte diese militärische Bedeutung doch eine rasche Stadterweiterung. So sprach der Nationalökonom Lujo Brentano, der 1882 als Nachfolger von Gustav Schmoller nach Straßburg berufen wurde, von einer „Festungsstadt alten Stils“, die er beim Einzug vorfand.8 Schon angesichts dieser beiden Charakteristiken ist es kein Wunder, dass Straßburg nach 1871 viele Einwanderer aus „Altdeutschland“, den anderen Bundesstaaten des Kaiserreichs, aufnahm. Dabei wird oft auf die Segregation zwischen den „Altdeutschen“ und den „Altelsässern (bzw. Altstraßburgern)“ hingewiesen. Die ersteren fanden in der nach der Annexion erschlossenen 6 Die politische Geschichte der Stadt in dieser Periode wird am ausführlichsten dargestellt in: François Igersheim, Strasbourg Capitale du Reichsland. Le gouvernement de la Cité et la politique municipale, in: Georges Livet/Francis Rapp (Hg.), Histoire de Strasbourg des origins à nos jours, Bd. 4, Strasbourg 1982, S. 195–266. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte siehe: Henri Nonn, Strasbourg Capitale du Reichsland. Espace, Économie, Société, in: Ebd., S. 267–339. 7 Vgl. Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1985, S. 203 f. 8 Lujo Brentano, Elsässer Erinnerungen, Berlin 1917, S. 7.

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Neustadt ihre Unterkunft, während die letzteren in der Altstadt um die Kathedrale blieben und vermieden, außerhalb des Geschäftslebens mit den Altdeutschen in Berührung zu kommen. Von diesen „getrennten Welten“ erzählte etwa Friedrich Meinecke in seinen Erinnerungen an die Straßburger Zeit.9 In der Tat behielt das alteingesessene Bürgertum, das bis 1872 die Option für die französische Staatsangehörigkeit nicht wahrnahm und darauf automatisch die deutsche erhalten musste, lange noch seine pro-französische Gesinnung bei und sprach zuhause Französisch, auch wenn es keinen Krieg für die Rückkehr nach Frankreich wollte. Noch lange nach der Annexion kamen Angehörige der einheimischen Straßburger Bourgeoisie zu offiziellen Zeremonien meistens ohne ihre Ehegattinnen, um private Kontakte mit den „Eroberern“ zu vermeiden, während die Beziehungen des Bürgertums beiderseits des Rheins vor 1870 viel offener waren.10 Dies verhinderte aber nicht, dass es um die Jahrhundertwende einige Berührungspunkte oder Brückenschläge zwischen den beiden Einwohnergruppen gab, besonders bei der nach 1871 in Straßburg geborenen bzw. aufgewachsenen Generation. Ein Paradebeispiel hierfür war die Jugendzeit der Tochter eines „altdeutschen“ Professors und der künftigen Ehefrau von Theodor Heuss, Elly Heuss-Knapp.11 Außerdem gab es unterhalb der Mittelschichten zunehmend Eheschließungen zwischen Altelsässern und Altdeutschen.12 Schließlich sollte noch ein wichtiger Faktor, die konfessionellen Verhältnisse, nicht unerwähnt bleiben. Wenn man das Reichsland Elsass-Lothringen betrachtet, war es mit ca. 80 % der Gesamtbevölkerung sehr katholisch im Ländervergleich des Kaiserreichs. Dieses katholische Übergewicht galt jedoch nicht für die Hauptstadt des Reichslandes. 1910 machten in Straßburg die Katholiken mit 52 % zwar die Mehrheit aus, aber der protestantische Anteil zählte 44 % und der jüdische 3,3 %. 9 Friedrich Meinecke, Straßburg–Freiburg–Berlin, Leipzig 1949. 10 Igersheim, Strasbourg, S. 219. 11 Elly Heuss-Knapp, Ausblick vom Münsterturm. Erinnerungen, Tübingen 1984 (ND). Diesen Aspekt betont u.a. Annette Maas, Stadtplanung und Öffentlichkeit in Straßburg (1870–1918/25). Vom Nationalbewußtsein zur regionalen Identität städtischer Interessengruppen, in: Dies. u.a., Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870–1940, St. Ingbert 1997, S. 205–275, hier S. 269 f.; vgl. auch Bernhard von Hülsen, Szenenwechsel im Elsass. Theater und Gesellschaft in Straßburg zwischen Deutschland und Frankreich 1890–1944, Leipzig 2003, der darauf hinweist, dass es auch im elsässischen Dialekttheater, eine der populärsten regionalistischen Kulturbewegungen, viele „altdeutsche“ Mitarbeiter gab. 12 Zum Wandel von „Mischehen“ in Straßburg vgl. François Uberfill, La société strasbourgeoise entre France et Allemagne 1870–1923, Strasbourg 2001.

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2. Die Gemeindeverwaltung und -politik in Straßburg um die Jahrhundertwende Mit dem Wechsel vom französischen Second Empire zum Deutschen Kaiserreich veränderten sich auch die politischen Rahmenbedingungen für die Stadtpolitik und -verwaltung in Straßburg. Im April 1873 wurde der Bürgermeister Ernest Lauth, ein liberaler Bankier, abgesetzt wegen seiner „deutschfeindlichen“ Haltung. Als „kommissarischer Bürgermeisterei-Verwalter“ wurde der Polizeipräsident von Straßburg Otto Back, ein „altdeutscher“ Beamter, ernannt. Der Gemeinderat, der gegen die Absetzung von Lauth protestierte, wurde zunächst suspendiert und dann aufgelöst.13 Diese Stadtverwaltung unter einem „altdeutschen“ Bürokraten ohne Mitwirkung des Gemeinderats dauerte bis 1886, als ein Kompromiss zwischen der deutschen Landesverwaltung und den Autonomisten zustande kam. Dadurch wurden sowohl das Amt des Bürgermeisters als auch der Gemeinderat wiederhergestellt. Bürgermeister wurde wiederum Otto Back, der inzwischen als Bezirkspräsident des Unter-Elsass, dessen Hauptstadt ebenfalls Straßburg war, fungiert hatte. Er blieb zwanzig Jahre lang, bis 1906, an der Spitze der Straßburger Stadtverwaltung.14 Im Jahr 1906 fand ein Generationswechsel statt. Zum Nachfolger von Back wurde der zweite Beigeordnete Rudolf Schwander gewählt, trotz des starken Widerstandes im konservativen Lager des Gemeinderats und auch in der Landesverwaltung. Schwander war 1868 in Colmar im Bezirk Ober-Elsass geboren. Seit 1900 arbeitete er unter dem Bürgermeister Back als Leiter der Armen- und Spitalverwaltung. Das „Straßburger System“, das die Armenfürsorge im Vergleich zum ehrenamtlichen „Elberfelder System“ zentralisierte, wurde von ihm entwickelt und etabliert. Das sogenannte „Genter System“ der Arbeitslosenunterstützung, das die Gewerkschaft als Partner anerkennt, wurde auf seine Initiative hin eingeführt.15 Damit und mit anderen Projekten 13 Otto Back, Aus Straßburgs jüngster Vergangenheit. Die städtische Verwaltung in der Zeit vom 12. April 1873 bis zum 25. April 1880, Straßburg 1912. Vgl. auch Alexander Dominicus, Straßburgs deutsche Bürgermeister Back und Schwander 1873–1918, Frankfurt a.M. 1939. 14 Dominicus, Straßburgs deutsche Bürgermeister; Ady-Maria Schwander, Rodolphe Schwander (1868–1950). Maire de Strasbourg de 1906 à 1918, in: Annuaire de la Société des Amis du Vieux-Strasbourg 1993/94, S. 109–135. 15 Zur Sozialpolitik in Straßburg um die Jahrhundertwende vgl. Christoph Sachße, Frühformen der Leistungsverwaltung. Die kommunale Armenfürsorge im deutschen Kaiserreich, in: Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 5 (1993), S. 1–21; Bénédicte Zimmermann, Naissance d’une politique municipale du marché du travail. Strasbourg et la question du chômage (1888–1914), in: Revue d’Alsace 120 (1994), S.

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stand Schwander im Mittelpunkt von modernen Reformen der Stadtverwaltung von Straßburg, weshalb auch die SPD ihn als Bürgermeisterkandidat unterstützte. Günstige Rahmenbedingungen für diese sozialliberale Ausrichtung der Stadtverwaltung – Schwander wurde selbst Mitglied der 1912 gegründeten fortschrittlichen Fraktion – hatte die Gemeindeordnung von 1895 geschaffen, die „die deutsche Selbstverwaltung“ auf Elsass-Lothringen übertragen sollte, indem der Stadtverwaltung größere Kompetenzen eingeräumt wurden. Friedrich Naumann sah in Straßburg ein Experimentierfeld, in dem seine Programme umgesetzt werden konnten. Er hatte dort Anhänger u.a. im Kreis um Georg Knapp, Professor an der Kaiser-Wilhelm-Universität zu Straßburg und Vater von Elly Heuss-Knapp, bei dem Schwander mit einer Arbeit über die Geschichte des französischen Armenwesens promoviert wurde.16 Diesem Kreis gehörte auch der Beigeordnete Alexander Dominicus an, der für die Schulorganisation zuständig war und später Oberbürgermeister von (Berlin-) Schöneberg wurde.17 Mit der Wiedereinsetzung des Gemeinderats von 1886 wurde die städtische Politik nicht „normalisiert“. Vielmehr gab es auf den 36 Sitzen der Ratshausvertretung 10 Protestler neben 6 Autonomisten, 5 Katholiken, 6 „Lokalen“ und 9 „Altdeutschen“.18 Außerdem brachte die „Septennatswahl“ des Reichstags von 1887, die von Bismarck zu einem Plebiszit für die Zugehörigkeit Elsass-Lothringens zum Deutschen Reich stilisiert wurde, eine fatale Niederlage für die Regierung, auch im Wahlkreis Straßburg-Stadt. Gleichzeitig aber bedeutete dies auch das Ende der puren „protestation et abstention“. Symptomatisch dafür war der Aufstieg der Sozialdemokratie in Straßburg.19 August Bebel, der vor 20 Jahren die Annexion kritisiert hatte, sammelte in

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209–234. Kritisch zur Praxis der Armenpolitik von Schwander: Silke Schütter, Von der rechtlichen Anerkennung zur Ausgrenzung der Armen. Euphorie und Scheitern eines großen kommunalpolitischen Reformprojektes Straßburgs zwischen den 1880er und den 1920er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 87–106. Vgl. Matthias Leitner, Der Kreis um den Straßburger Ökonomen Georg Friedrich Knapp vor dem Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 5 (1993), S. 162–175. Zur Biographie von Dominicus vgl. Paul Müller, Alexander Dominicus. Ein Lebensbild, Frankfurt a.M. 1957. Igersheim, Strasbourg, S. 230. Zur Sozialdemokratie in Elsass-Lothringen im allgemeinen vgl. Hartmut-Dieter Soell, Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871– 1918. Ein Beitrag zur Geschichte eines europäischen Grenzlandes, Diss. Heidelberg 1963; zur Etablierung der SPD in Straßburg in den ersten Jahrzehnten im besonderen vgl. François Igersheim, Recherches sur l’insertion de la socialdémocratie dans la vie politique strasbourgeoise 1871–1890, DES (Strasbourg) 1966.

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Straßburg erhebliche Stimmen in der Reichstagswahl von 1890 und besiegte dann seine autonomistisch-regierungsnahen und katholischen Gegenkandidaten bei der Wahl von 1893. Dieser sozialdemokratische Schock förderte die Organisierung der politischen Parteien in Straßburg, zumal sich das kommunale Wahlrecht in Elsass-Lothringen, das im Allgemeinen aus französischer Zeit stammte, dadurch auszeichnete, dass es grundsätzlich viel demokratischer war als im übrigen Deutschland mit restriktiverem Wahlrecht. Wahlberechtigt waren alle Männer über 25 Jahre, die mehr als drei Jahre in der betreffenden Gemeinde wohnten.20 Auf der katholischen Seite führte dies 1905 zur Gründung des „Wahlverein der Volkspartei in Straßburg“.21 Damit ging auch, wie im Fall der Sozialdemokratie, die Verflechtung bzw. Annäherung der altelsässischen und altdeutschen Gruppierungen einher, obwohl die Spannungen zwischen den beiden keineswegs verschwunden waren. Dies gilt auch für die Liberalen und Demokraten in Straßburg. Ende 1892 organisierten sich die letzteren, zu denen viele Hausbesitzer zählten, um die „Freisinnige Bürgervereinigung“. Die Ergebnisse der Gemeinderatswahl von 1896 wiesen deutlich auf den Anfang des politischen Strukturwandels der Stadtpolitik hin: 16 Liberale, 11 Katholiken, 6 Demokraten und 3 Sozialdemokraten. Die Notabelnpolitik wich, wenn auch nicht in einem Atemzug, so doch unweigerlich, der Politik von Massenparteien. Bedroht in ihrer Machtposition, begannen schließlich die Liberalen, sich programmatisch zu erneuern und parteipolitisch zu organisieren. Die erste Vortragsreise von Friedrich Naumann in Straßburg fand gerade zu dem Zeitpunkt statt, als er 1896 den Nationalsozialen Verein gründete. Ein Jahr danach entstand dann die Soziale Vereinigung für Elsass-Lothringen, die sich als regionales Forum für Naumanns Ideen verstand. Andererseits bildete der rechte Flügel der Liberalen am Anfang 1901 den Straßburger Bürgerverein. Die beiden liberalen Organisationen waren gegeneinander nicht exklusiv, was schließlich 1903 zur Gründung der Liberalen Landespartei führte. Gleichzeitig aber war die bisher praktizierte

20 Vgl. Heinrich Pauli, Die Bezirke, Kreise und Gemeinden, in: Das Reichsland ElsaßLothringen 1871–1918, Bd. 2, Teil 1, Berlin 1936, S. 241–361. Zum Überblick des Gemeindewahlrechts im Kaiserreich vgl. Karl Heinrich Pohl, Kommunen, kommunale Wahlen und kommunale Wahlrechtspolitik. Zur Bedeutung der Wahlrechtsfrage für die Kommunen und den deutschen Liberalismus, in: Ders. u.a. (Hg.), Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland, Bielefeld 1995, S. 89–126. 21 Christian Baechler, Parti politique et démocratie à Strasbourg au tournant des XIXe et XXe siècles. L’exemple du parti catholique (1886–1908), in: Annuaire de la Société des Amis du Vieux-Strasbourg 14 (1984), S. 103–125, hier S. 109 f.

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antisozialistische Koalition der „Union der Ordnungsparteien“ vorbei.22 Für die Linksliberalen Naumannscher Prägung war die Sozialdemokratie nicht als prinzipieller Feind zu bekämpfen, sondern ein möglicher Ansprechpartner.23 Eine gewisse Liberalisierung des politischen Lebens in Elsass-Lothringen in den Jahren um die Jahrhundertwende, wie z.B. die Abschaffung des berüchtigten „Diktatur-Paragraphen“ (1902), trug zu dieser Neuformierung sowie zur Verflechtung nationaler, regionaler und kommunaler Politik bei. Alle diese Veränderungen zeigten sich massiv in der Gemeinderatswahl von 1902: Da erhielt die Sozialdemokratie ein Drittel der Sitze (12), denen sie noch drei bei den Ersatzwahlen hinzufügte. Mit 15 Mitgliedern war die Sozialdemokratie damit die stärkste Fraktion im Straßburger Gemeinderat (Liberale 14, Demokraten 3 und Katholiken 4). Bei der Wahl von 1908 erlitt sie zwar eine herbe Niederlage, aber die nächste Wahl von 1914, die de facto als Verhältniswahl durchgeführt wurde, brachte die Sozialdemokratie wieder ins Rathaus, und zwar als die stärkste Fraktion. Dieser deutliche Aufstieg der Sozialdemokratie mit reformorientierter Tendenz ermöglichte, wie oben erwähnt, die Wahl des „roten“ Oberbürgermeisters Schwander und die aktive Schulpolitik der Stadt, die im Folgenden behandelt wird.

3. Ausbau der Straßburger Volksschulen Im Jahr 1871 verfügte Straßburg über 79 Klassen für eine Volksschulbevölkerung von 5758, d.h. die durchschnittliche Klassengröße in den Straßburger Volksschulen betrug zur Zeit der Annexion ca. 73 Schüler.24 Dabei sollte man 22 Vgl. Christiane Huberty, Le libéralisme à Strasbourg au tournant du siècle 1898–1901, in: Chantiers historiques en Alsace 1 (1998), S. 197–212. 23 Der Sozialist Jacques Peirotes wurde 1904 zu einer Tagung der liberalen Landespartei bei Straßburg als Gast eingeladen, an der auch Friedrich Naumann teilnahm. Dabei betonte Peirotes, dass die Liberalen und Sozialisten, trotz ihrer unterschiedlichen Ziele, der Reaktion gemeinsam entgegenwirken sollten. Vgl. Philippe Alexandre, Une conquête morale. La question d‘Alsace-Lorraine dans la revue libérale Die Hilfe, in: Michel Grunewald (Hg.), Le problème de l’Alsace-Lorraine vu par les périodiques (1871–1914), Berne 1998, S. 149–172, hier S. 154. 24 Die Entwicklung der Volks-Schulausgaben in Straßburg seit 1870 (Beilage zum statistischen Monatsbericht der Stadt Straßburg für den Monat Januar 1906), in: Archives Municipales de Strasbourg (AMS ), Div. IV 110–569, S. 1. Diese Zahlen sind allerdings abweichend vom Bericht über das Volksschulwesen der Stadt Straßburg i.E. 1873–1876, S. 14, der die Klassenzahl 78, Schulbevölkerung 5113, und die „durchschnittliche Bevölkerung einer Klasse“ 66 für das Jahr 1871 aufweist. Wegen des diachronen Vergleichs sind hier die Zahlen der 1906 veröffentlichten Statistik benutzt.

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auch berücksichtigen, dass die Schulpflicht in Elsass-Lothringen erst im April 1871 durch die deutsche Besatzungsmacht („Generalgouvernement“) eingeführt wurde. Es sollten nachfolgend diejenigen Schüler, die vor 1871 nur „auf dem Papier“ eingeschult waren und ungefähr ein Drittel (der schulpflichtigen Jahrgänge) ausgemacht hatten,25 von nun an zum regelmäßigen Schulbesuch angehalten werden. Tabelle 1: Schüler-, Klassenzahl und durchschnittliche Klassengröße in den Straßburger Volksschulen 1871–1910 Schüler Klassen Kl.größe

1871 5758 79 73

1875 6378 107 60

1880 7290 133 55

1885 1890 1895 1900 1905 1910 9460 10.587 10.850 11.470 13.455 15.261 150 174 188 228 275 340 63 61 58 50 49 45

Wie Tabelle 1 zeigt, durchlief die Zahl der durchschnittlichen Klassengröße in den folgenden Jahren eine positive Entwicklung, auch wenn einige Rückschläge zu konstatieren sind: von 61 (1890), über 50 (1900) bis auf 45 (1910). Dieser Entwicklung scheint aber der folgende Bericht des Kreisschulinspektors von 1903 zu widersprechen: „Immer wieder werden Klagen darüber laut, daß unsere Volksschulen den Anforderungen, die man an sie zu stellen berechtigt zu sein glaubt, nicht immer nachkommen. Ich muß dies leider auf Grund der im Laufe von 5 Jahren gemachten Beobachtungen bestätigen. Wenn auch die meisten Lehrpersonen mit großer Gewissenhaftigkeit arbeiten, so entsprechen doch die Erfolge dem Aufwand an Arbeitskraft oft auch nicht annähernd.“26 Einerseits könnte diese pessimistische Aussage als beruflicher Eifer eines Schulaufsichtsbeamten interpretiert werden. Aber andererseits waren in der Tat strukturelle Probleme vorhanden, die sich hinter den Durchschnittszahlen verstecken. Eines davon wurde durch eine statistische Liste über die Klassenorganisation der Volksschulen in ca. 30 deutschen Städten enthüllt, die die Stadtverwaltung 1904 erstellte. Daraus ergab sich, dass zum Beispiel alle Volksschulen einschließlich von Mädchenschulen in Frankfurt, München und Stuttgart siebenklassig waren, alle diejenigen von Leipzig und Mannheim sogar achtklassig, während nur 25 % der Straßburger Volksschulen für Jun25 Jules Klein, Réorganisation des services de l‘instruction primaire. Rapport lu au Conseil Municipal dans sa séance du 26 juin 1872, Strasbourg 1872, S. 17. 26 Bericht des Kreisschulinspektors Motz an den Bürgermeister Back vom 24.9.1903, in: AMS, Div. IV 16–79.

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gen achtklassig, 44 % derselben nur fünf- bis einklassig waren (siehe Tabelle 2). Da die Schulpflicht in Elsass-Lothringen acht Jahre für Jungen und sieben Jahre für Mädchen dauerte, bedeutete diese bunte Klassenorganisation in Straßburg, dass die überwiegende Mehrheit der Schüler aus unterschiedlichen Jahrgängen im gleichen Klassenzimmer unterrichtet wurde. Diese Situation wurde ferner durch die rege innerstädtische Mobilität der Schülerfamilien kompliziert27, wie der Kreisschulinspektor weiter schrieb: „Besonders hemmend wirkt ... der häufige Wohnungswechsel der Eltern, der in der Regel auch einen Wechsel der Schule bedingt. Nur eine verschwindend geringe Zahl unserer Schüler verbleibt während der ganzen Schulzeit in ein und derselben Schule. Die meisten wechseln dieselbe 4–5 mal, viele 6–8 und andere sogar 10 mal, so daß von 60 im Alter von 6 Jahren in eine Schule eintretenden Schülern nach 3–4 Jahren höchstens noch 23, nach 6–7 Jahren noch 1–2 anwesend sind. Es sollte den Schülern wenigstens vom 3. Schuljahre, also vom 8. Lebensjahre ab ein Wechsel von einem Schulbezirk in den angrenzenden nicht mehr gestattet werden.“28

Was verhinderte aber die Vereinheitlichung der Klassenorganisation an Straßburger Volksschulen? Mit anderen Worten, was waren die konstitutiven Prinzipien der Klassenorganisation? Als solche kann man nennen: die Trennung von Jungen und Mädchen, die Trennung nach Konfessionen, und schließlich die Korrespondenz zwischen dem Kirchen- und dem Schulbezirk für katholische Schüler. Die Prinzipien von Geschlecht und Konfession waren durch das Gesetz bzw. die Regulative bestimmt, also schwer zu verändern. Dagegen galt die geforderte Übereinstimmung von Kirchen- und Schulbezirken nur als eine lokale Gewohnheit. Deshalb ist es verständlich, dass sie im Fall des Ausbaus des Volksschulsystems „einstweilen“ ausgesetzt wurde. Aber diese Aussetzung rief auch jedesmal Protest der katholischen Kirche hervor. Nach der Aussetzung dieser Gewohnheit in den 1870er Jahren, also in der Zeit des Kulturkampfes, hatte der Statthalter Manteuffel am Anfang der 1880er Jahre im Rahmen seiner Versöhnungspolitik mit der katholischen Kirche und den Notabeln versprochen, sie so schnell wie möglich wiederherzustellen.29 27 Zur innerstädtischen Mobilität der Unterschichten vgl. Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880–1914, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64 (1977), S. 1–40, hier S. 28 f. 28 Bericht des Kreisschulinspektors Motz an den Bürgermeister Back vom 24.9.1903, in: AMS, Div. IV 16–79. 29 Hierzu siehe den mehrmaligen Schriftwechsel zwischen Manteuffel und dem Staatssekretär Hofmann vom Oktober 1881 bis Dezember 1882, in: Archives Départementa-

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Tabelle 2: Klassenorganisation in den Volksschulen der deutschen Großstädte (Auswahl) 1900/0130 8klassig Knaben Mädchen

Bochum Bremen Breslau Köln Dortmund Düsseldorf Erfurt Frankfurt/M Halle Karlsruhe Kiel Königsberg Leipzig Mannheim München Posen Stuttgart Straßburg

7klassig Knaben Mädchen

100 80

66 100 93 29,6 100 100

24,5

78,1 100 92,8 30 100 100

5klassig u weniger Knaben Mädchen

100

80 95 98 86 100 100 34

6klassig Knaben Mädchen

80,4 99,2 93,9 100 100 21,9

70,4

6,7 70

100 90 100 13,5

100 88,8 100 12,3

14,5 98 2,5

14,4 99,5 12,5

2,5

18,5

4,5 2 2 2 14

4,6 0,5 0,5 0,8 6,1

4,5

0,5

11,2

10

43,5

43,5

44,2

Auch um die Jahrhundertwende erhoben der Bischof und die katholischen Stadtpfarrer von Straßburg bei der Landesregierung Einspruch gegen eine erneute Aussetzung der Korrespondenz der beiden Bezirke, die die Stadtverwaltung plante und der Gemeinderat befürwortete. Neben dem vom Lehrer erteilten Religionsunterricht führte der Pfarrer den Kommunionsunterricht durch und hielt oft wöchentlich eine Schülermesse. Durch die neue Einteilung von Schulbezirken, so argumentierten die katholischen Geistlichen, würden die Pfarrer mit den Kindern ihrer Pfarrbezirke weniger vertraut werden und damit das religiöse Verhalten der künftigen katholischen Stadtbürger viel weniger kontrollieren können. Daran schlossen sie ein politisches Argument an:

les du Bas-Rhin (ADBR), 105AL2072. Zum Problem der Pfarrschule in Straßburg zu dieser Zeit aus Sicht der katholischen Kirche vgl. auch Joseph Burg, La question des écoles paroissales à Strasbourg, Rixheim 1887. 30 Bisheriger Zustand in den Volksschulen der inneren Stadt und Vorschläge zu einer anderweiten Organisation [1904], in: AMS, Div. IV 17–82.

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„Das Fundament des Staates wird durch ein Volksschulwesen ohne ausgeprägte religiöse Erziehung erschüttert. Darum [gilt] was Kaiser Wilhelm I. in richtiger Erkennung der modernen Zeit ausgesprochen [hat]: Schafft mir Religion in’s Volk! Das gilt heute noch mehr als vor zwanzig Jahren. Ein einheitliches Zusammenwirken von Kirche und Schule tut in unserer Zeit mehr als je not, um den Geist der Revolution zurückzudrängen und die bestehende Ordnung zu erhalten.“31

Das war kein neues Argument der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert. Im elsass-lothringischen Kontext ist es aber interessant, dass man den (protestantischen) Kaiser Wilhelm I. zitierte und damit strategisch andeutete, dass die Integration des Reichslandes ins Kaiserreich davon abhängig sei, wie weit die Interessen der katholischen Kirche berücksichtigt würden. Allerdings wollte die Stadtverwaltung von einer solchen Berücksichtigung nichts wissen. Gegen die Vermittlung der Landesregierung, die einen Kompromiss herbeiführen wollte, setzte sich die Stadtverwaltung mit ihrer Planung durch. Bürgermeister Back schrieb dabei: „Nachdem nun aber in neuerer Zeit in allen deutschen Staaten die Organisation der Volksschulen in der Richtung des Achtklassen-Systems ausgebaut worden ist, kann Straßburg hierin nicht zurückbleiben, ohne sehr erhebliche Culturinteressen zu verletzen.“32 Die Durchführung der acht- oder siebenklassigen Schulorganisation betraf nur die Schulen der Innenstadt. Paradoxerweise verstärkte sie die Rückständigkeit der Vorortsschulen umso mehr. Die Aufhebung der Übereinstimmung der Pfarr- und Schulbezirke hatte aber in den weniger bevölkerten Vororten kaum Bedeutung. Um die dortigen Schulen mit mehr Klassen zu versehen, sollten sie in entweder geschlechtlich oder konfessionell gemischte Schulen umgewandelt werden. Wie gesagt war die erste Option gesetzlich und schultechnisch kaum möglich und unerwünscht. Die zweite war ebenfalls schwer durchzusetzen. Zwar konnte nach dem in Elsass-Lothringen im wesentlichen gültigen französischen Gesetz Falloux die konfessionelle Mischung eventuell als vorübergehende Ausnahme genehmigt werden, falls der Bezirksunterrichtsrat ihre Notwendigkeit anerkannte. Aber wegen der politischen Brisanz, die eine solche Umwandlung der Volksschulen in der Hauptstadt des „katholischen“ Reichslands mit sich ziehen würde, zögerte die Stadtverwaltung zunächst, sich damit zu beschäftigen.

31 Eingabe der katholischen Pfarrer der Stadt Straßburg an den Bischof Fritzen, 27.2.1905, beigefügt zum Schreiben des letzteren an den Bezirkspräsidenten des Unter-Elsass Halm, 21.3.1905, in: ADBR, 54D227–4. 32 Bericht des Bürgermeisters Back an den Bezirkspräsidenten Halm, 6.1.1905, in: Ebd.

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Die Initiative dazu ergriffen die „Demokraten“ im Gemeinderat, die aber mehr anstrebten als eine konfessionelle Simultanisierung der Vorortsschulen. Sie gingen so weit, im Sommer 1906 dem Gemeinderat eine Eingabe an die Landesregierung und den Landesausschuss, eine dem Landtag ähnliche, aber konsultative Institution für Elsass-Lothringen (bis 1911), vorzuschlagen. In dieser wurde neben der Reform des bestehenden Schulsystems, d.h. der Simultanisierung der Kleinkinderschulen und Vorortsvolksschulen, auch ein völlig neues Schulgesetz gefordert, das zum großen Teil die entsprechenden Bestimmungen im benachbarten Großherzogtum Baden zum Vorbild nahm. Im dritten Artikel des Vorschlags, der nach der Kommissionssitzung dem Plenum des Gemeinderats vorgelegt wurde, heißt es konkret: „III. Die Verwaltung zu beauftragen: Landesausschuß und Regierung den Antrag zu ersuchen, es möge ein Volksschulgesetz für Elsaß-Lothringen erlassen werden, in welchem: 1. Die zerstreuten Einzeldekrete und Einzelgesetze über das Volksschulwesen zusammengefaßt und deren vielfach veraltete Bestimmungen aufgehoben werden. 2. Die Volksschule als die wirklich allgemeine Schule für alle Kinder unseres Volkes, und als die gemeinsame Grundlage aller höheren Bildung anerkannt wird. 3. Die Scheidung der Schulen, der Lehrer und der Schüler nach konfessionellen Gesichtspunkten beseitigt wird. 4. Den größeren Gemeinden ein Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung ihres Volksschulwesens sowie bei der Besetzung der Lehrer- und Hauptlehrerstellen eingeräumt wird.“33

Dieser Antrag sorgte innerhalb und außerhalb des Gemeinderats für großes Aufsehen. Während die katholischen Vereine von Straßburg eine gemeinsame Protesteingabe gegen die Motion mit ca. 5000 Unterschriften vorlegten34, unter33 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 15.11.1906, S. 756. 34 Protest-Eingabe der katholischen Vereine Straßburgs gegen den Antrag von Dammron u. Genossen im Gemeinderat, 4.8.1906, in: AMS, Div. IV. 17–83. Auf der protestantischen Seite ist keine direkte einheitliche Stellungnahme anzutreffen. Die lutherische Kirche war damals mehr mit dem Religionsunterricht und dem Mangel an evangelischen Lehrern beschäftigt. Der protestantische Pfarrer und das Mitglied des Landesausschusses Georg Wolf trat auf der Vertreterversammlung der Liberalen Landespartei grundsätzlich für die Simultanschule ein, wobei er allerdings, im Gegensatz zu einigen seiner Parteifreunde, die die Simultanschule als die ausschließliche Grundlage betrachteten, als Erreichbares ihre Gleichberechtigung mit der konfessionellen Schule forderte. Georg Wolf, Die Schulfrage, in: Verhandlungen der IV. Vertreterversammlung der Liberalen Landespartei in Elsaß-Lothringen, Straßburg 1907,

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stützte ihn der Straßburger Freidenker-Verein.35 Im Gemeinderat debattierte man für und gegen die Simultanisierung mit den Argumenten „konfessionelle Religiösität“ gegen „religiöse Toleranz“ oder „Effizienz der Bildung“ gegen „Charakterbildung durch Persönlichkeit des Lehrers“. Interessant ist hier das Verhalten der Sozialdemokratie. Bei der ersten Sitzung betonte sie den grundsätzlichen Standpunkt der Partei, dass die Volksschule, wie in Frankreich, eine „weltliche Schule“ ohne Religion sein und sich somit auf die Wissensvermittlung konzentrieren sollte.36 Aber bei der zweiten Sitzung erklärte sie ihre positive Stellungnahme zum Antrag der Simultanisierung. Jacques Peirotes, der später Reichstags- und Landtagsabgeordneter und nach 1918 Bürgermeister von Strasbourg wurde, rechtfertigte dies damit, dass die Simultanschule eine Art „Abschlagszahlung“ für die Verwirklichung der weltlichen Schule sei.37 Als Preis für diese Konzession war es ihr gelungen, den zweiten Absatz des oben zitierten dritten Artikels des Vorschlags (III–2), die Volksschule als allgemeine Grundlage aller höheren Bildung, einfügen zu lassen. Ein katholisches Mitglied bemerkte ironisch und resigniert: „Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Gemeinderats erübrigt es sich, hier Gründe für das Fortbestehen der konfessionellen Elementarschulen anzuführen“. So stimmte der Gemeinderat, in dem die Liberalen, Demokraten und Sozialdemokraten eine überwiegende Mehrheit bildeten, dem Vorschlag zu. Andererseits wurde zu den einzelnen Artikeln und Absätzen – mit Ausnahme des ersten und vierten Absatzes des oben angeführten dritten Artikels – namentlich abgestimmt, was auf den Antrag der katholischen Fraktion zurückging. Offensichtlich versuchten die Katholiken dadurch, den konservativen Teil der Liberalen im Hinblick auf die nächste Wahl vor einer weitgehenden S. 15–32. Hingegen äußerte sich ein geistlicher Inspektor der lutherischen Kirche in seinem Bericht skeptisch: „Der Nutzen, den man sich von der Simultanisierung der Volksschulen verspricht, die Milderung der konfessionellen Gegensätze, scheint mir nach Lage der Dinge illusorisch zu sein … Bei der Macht des Katholizismus in unserm Lande wäre ein allzugroßer Einfluß der römischen Kirche auf die Schule durch die katholischen Lehrer zu befürchten.“ Verhandlungen des Oberkonsistoriums der Kirche Augsburgischer Konfession, Beilage II zur Session vom 21.10.–20.11.1907, S.133– 136, hier S. 134. Zur Schulpolitik und dem Protestantismus in Straßburg vgl. Anthony J. Steinhoff, The Gods of the City. Protestantism and Religious Culture in Strasbourg 1870–1914, Leiden 2008, S. 317–338. 35 Eingabe der Straßburger Freidenker-Vereinigung (Vorsitzender Fritz Meyer, Rechtsanwalt) an den Gemeinderat, 26.7.1906, in: AMS, Div.IV. 17–83. Zur Position der Freidenker im Reichsland siehe Der Kirchenzwang in Elsaß-Lothringen von einem Freidenker, Frankfurt a.M. 1909. 36 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 3.10.1906, S. 600 f. 37 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 16.11.1906, S. 763.

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Reform einzuschüchtern. Tatsächlich weisen die unterschiedlichen Ergebnisse der Stimmabgaben zu den einzelnen Punkten gewisse Meinungsunterschiede unter den Liberalen auf: Während für die Simultanisierung der Vorortsschulen 27 Stimmen (3 Gegenstimmen, 1 Enthaltung) abgegeben wurden, waren es für die Volksschule als allgemeine Grundlage (III–2) 23 (7 Gegenstimmen, 2 Enthaltungen), für die Simultanisierung als Prinzip für das Schulwesen (III–3) nur 19 (7 Gegenstimmen, 5 Enthaltungen).38 Für die Gegenstimmen oder Enthaltungen mancher Rechtsliberalen könnten religiöse Überzeugungen ausschlaggebend gewesen sein, die ihnen wichtiger waren als soziale und politische Loyalitäten. Bürgermeister Schwander, der den Vorgänger Back gerade ablöste, leitete diese Beschlüsse an die Landesregierung weiter mit einer empfehlenden Bemerkung. Die Landesregierung, sowohl der Bezirkspräsident als auch der Oberschulrat, die oberste Schulbehörde in Elsass-Lothringen, reagierte dagegen sehr schroff. Während sie die Forderung nach einem neuen Schulgesetz einfach ignorierten, genehmigten sie der Stadtverwaltung nur die Simultanisierung der Vorortsschulen mit ein bis drei Klassen. Diese Genehmigung beruhte, wie bereits erwähnt, auf dem betreffenden Beschluss des Bezirksunterrichtsrats, in dem der Bezirkspräsident den Vorsitz führte und viele kirchliche Amtsträger vertreten waren.39 Im Landesausschuss führte man lange Diskussionen über das Gesuch der Stadt Straßburg, das aus den vier Absätzen des dritten Artikels bestand. Aber weil dort der Katholizismus und die ländlichen Notabeln stark vertreten waren, kann es nicht verwundern, dass der Landesausschuss beschloss, nur den Absatz III–1, die systematische Zusammenfassung von bisherigen Schulgesetzen und -verordnungen, der Regierung zur Kenntnisnahme zu überweisen, aber bei allen anderen Punkten zur Tagesordnung überzugehen.40 38 Ebd., S. 768. Z.B. das rechtsliberale Mitglied van Calker, ein Universitätsprofessor (und Doktorvater von Carl Schmitt), trat für die konfessionelle Schule ein, da die christliche Ethik das Prinzip des Fortschritt sei, das man durch konfessionelle Schule besser erreichen könne. Dabei betonte er, dass seine Ansicht von der Mehrheit seiner Parteifreunde abweiche (S. 764). 39 Protokoll des Bezirksunterrichtsrats Unter-Elsaß, 9.3.1907, ADBR, 121D8590–1. 40 Verhandlungen des Landesausschusses für Elsaß-Lothringen, 34. Session, 16.5.1907, S. 628–633. Interessant ist, dass sich Daniel Blumenthal, Bürgermeister von Colmar und Führer der demokratischen „Elsaß-Lothringischen Volkspartei“, über das Mitbestimmungsrecht der Gemeinde kritisch äußerte, obwohl er entschieden für die Simultanisierung eintrat: „[D]iese Frage muß im Staate einheitlich geregelt werden. Wenn der Staat überhaupt das Recht hat, – und nach meiner Auffassung steht ihm dieses Recht zu – zu dekretieren, daß die Schulen nicht nach Bekenntnissen getrennt sein sollen, dann ist es nicht Sache der einzelnen Gemeinde, in dieser Angelegenheit abweichende

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Von der wenig entgegenkommenden Haltung der Landesregierung enttäuscht und empört, sagte Theobald Ziegler, Professor an der Straßburger Universität und liberales Gemeinderatsmitglied, auf der Gemeinderatssitzung: „Ich habe stets den Eindruck, dass wenn wir uns in Schulsachen an den Herrn Bezirks-Präsidenten wenden, der Herr Bezirks-Präsident sicherlich die größere Macht, wir aber bei allen Fragen, die in der letzten Zeit aufgetaucht sind, das bessere pädagogische Verständnis gezeigt haben“.41

4. Mittelschulreform als schulpolitisches Experiment In der bisherigen Forschungsliteratur wurde die Mittelschule oft als Bildungsanstalt für die Kinder des Mittelstandes bezeichnet, der sich von den Unterschichten bzw. der Arbeiterklasse abgrenzen wollte. In der Tat lautete die Bekanntmachung der Eröffnung der ersten „deutschen“ Mittelschule in Straßburg von 1877: Die Mittelschule „will insbesondere denjenigen Eltern dienen, welche in der Lage sind, ihren Söhnen eine ausgedehntere Schulbildung geben lassen zu können, als dies die Elementarschule vermag, und welche auf der andern Seite doch auch nicht Zeit, Lust und Mittel haben, um ihre Söhne durch eine der höheren Anstalten vollständig hindurchgehen lassen zu können“.42 Eine Statistik zur sozialen Herkunft der Eltern von Mittelschülern (1904) bestätigt im großen und ganzen diese Tendenz.43 In vielen anderen Städten war das Mittelschulwesen von Anfang an von den Volksschulen getrennt, und somit standen die beiden Schultypen parallel nebeneinander. In den ersten Jahren hatten die Straßburger Mittelschulen hingegen ein dreijähriges System, das erst in der Oberstufe von der Volksschule abgesondert wurde, wobei ein Bruchteil von Schülern aus den höheren Schulen „herunterversetzt“ wurde. Insofern war das Straßburger Mittelschulwesen sozial etwas flexibler als dasjenige anderer deutscher Städte. Bestimmungen zu treffen“ (ebd., S. 632). Eine ähnliche Kritik übten gerade die katholischen Mitglieder im Gemeinderat, die im Mitbestimmungsrecht der Gemeinde einen unnötigen Eingriff öffentlicher Instanz in die Erziehungsfreiheit der Eltern sahen. 41 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 12.6.1907, S. 418. 42 Aufruf des Kreisschulinspektors Praß in: Straßburger Zeitung und Elsässer Journal [1877], in: AMS, Div. IV 147–729. 43 Nach den Jahresberichten der beiden Knabenmittelschulen (Finkweilerstaden und Gerbergraben) von 1904 wurden die Eltern der Schüler (insgesamt 260) in folgende Berufsgruppen eingeteilt: Untere Beamte 46,2 %, Handwerkermeister/Kaufleute 20,4 %, gelernte Arbeiter 20,8 %, Witwen 7,3 %, Taglöhner 2,7 %, pensionierte Beamte 2,3 %, Rentner 1,2 %.

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Seit Gründung der ersten Schule waren die Mittelschulen in Straßburg interkonfessionell. Als die erste Mittelschulklasse für Mädchen 1893 errichtet wurde, forderten zwar die katholischen Pfarrer die Konfessionalisierung der Mittelschulen. Sie hatten besonders Angst, dass sich künftige Mütter des Mittelstandes der Kirche entfremden würden. Sie behaupteten, dass der im französischen Gesetz Falloux von 1850 festgeschriebene und auch nach der Annexion nicht angetastete Grundsatz des konfessionellen Charakters der „école primaire“ (der Elementarschule) auch alle Schultypen des „enseignement primaire“ (des „niederen“ Unterrichtswesens) umfasse, sodass auch die dazugehörigen Mittelschulen konfessionell getrennt sein müssten.44 Unter Hinweis darauf, dass die „école primaire“ nur die Volksschule betreffe, lehnten der Bürgermeister Back sowie der Gemeinderat jedoch diese Forderung ab.45 So wurde die Interkonfessionalität der Mittelschulen bis 1918 aufrechterhalten. Wenn man anhand der Statistik die Entwicklung der Mittelschulen in Straßburg überblickt, so fallen dabei zwei substanzielle Wellen der Schülerzahlzunahme auf. Zwischen 1885 und 1890 war die Zahl von 83 auf 215 gestiegen, zwischen 1905 und 1910 von 353 auf 862, und schließlich waren es 1088 im Jahr 1914.46 Im Vergleich zur Schülerzahl der Volksschulen in Straßburg während der letzten Dezennie vor 1914 ist vor allem die zweite Welle bemerkenswert. Der Hintergrund für diese Entwicklung war zweierlei: Einerseits musste man auf die Konkurrenz von Mittelschulen anderer Städte reagieren. Das Schulaufsichtspersonal, wie der Kreisschulinspektor oder Vorsteher der Mittelschulen, fand das bisherige dreijährige System unzureichend, um den Absolventen dieser Schulen gute Chancen auf eine Anstellung bei der Post oder der Eisenbahn zu verschaffen. Deshalb wurde das Straßburger Mittelschulwesen 1906 als sechsjähriges System ausgebaut.47 Andererseits ist die Initiative der Sozialdemokratie im Gemeinderat von Straßburg zu nennen. Politisch gesehen ging der Ausbau der Mittelschulen auf den Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zurück, der zuerst 1905 und erneut 1906 im Gemeinderat gestellt wurde. Peirotes vertrat die Ansicht seiner Fraktion, indem er sagte: „[D]iejenigen Schüler, die sich in der Volksschule durch besonderen 44 Der Elsässer, 17.10.1893. Auch Mülhauser Volksblatt, 24.10.1893. 45 Auszug aus dem Register der Berathungen des Gemeinderaths der Stadt Straßburg i.E., 4.11.1893, in: AMS, Div. IV 147–729. 46 Zusammengestellt nach dem Verwaltungsbericht der Stadt Straßburg der betreffenden Jahre. 47 Randbemerkung von Dominicus, 5.8.1905, in: AMS, Div. IV 147–729, in der berichtet wurde, dass ihm der Oberpostmeister von Elsass-Lothringen versicherte, dass die Anstellung der Absolventen der Straßburger Mittelschüler nicht ausgeschlossen würde, wenn die Schulen das gleiche Lernziel wie die Mittelschulen anderer Städte erzielten.

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Fleiß und Veranlagung auszeichnen, [sollen] ohne weiteres in die Mittelschule aufsteigen. Es soll[en] also nicht wie bisher nur diejenigen zur Mittelschule zugelassen werden, die in der Lage [sind], das Schulgeld von monatlich 3 M zu entrichten“.48 In der Forschungsliteratur wird oft betont, dass die deutsche Sozialdemokratie die Mittelschule als „Standesschule“ wahrnahm und ihr deshalb eher kritisch gegenüberstand. Darauf wird zum Beispiel für Frankfurt am Main hingewiesen.49 Das war aber offensichtlich nicht der Fall in Straßburg. Vielmehr kamen die Stadtverwaltung und die Linksliberalen im Gemeinderat dieser Initiative der Straßburger SPD entgegen, und dies führte zur Verwirklichung von konkreten Reformen. Die Eltern derjenigen Schüler, die von ihrem Lehrer als begabt und leistungsfähig betrachtet wurden, erhielten, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage, die Empfehlung zum Eintritt in die Mittelschule. Die Freistellen wurden deutlich vermehrt: 1900 gab es nur 9 Freistellen, 2,6 % im Verhältnis zur gesamten Schülerzahl. Aber 1909 waren es 229, einem Anteil von 26,6 % entsprechend, also fast genau das Zehnfache – mehr als ein Viertel der Schüler war also vom Schulgeld dispensiert.50 Außerdem wurden auch kostenlose Lernmittel angeboten, und es gab sogar Stipendien für die Schülerinnen und Schülern im sechsten, also letzten Jahr, damit die ärmeren Schülerinnen und Schüler nicht frühzeitig mit dem Ende der Schulpflicht aus der Mittelschule ausscheiden mussten. Natürlich wurden dabei nicht alle Forderungen der SPD von den Liberalen und der Verwaltung erfüllt: Die gänzliche Abschaffung des Schulgeldes wurde nicht realisiert; da die Freistelle während der Schulzeit entzogen werden konnte, war sie auch ein gegenüber Schülern aus armen Familien einsetzbares Disziplinierungsinstrument. Während die begabten Schüler, nach dem Vorschlag der SPD, automatisch in die Mittelschule wechseln sollten, wurde der Wille der Eltern befragt und respektiert. Immerhin steht fest, dass ein gewisses „Leistungsprinzip“ auf dem Gebiet des niederen Unterrichtswesens in Straßburg, ausdifferenziert von der Hilfsschule über die Volksschule bis hin zur Mittelschule, institutionalisiert wurde. Selbst die Straßburger Sozialdemokratie beurteilte diese Reform positiv.51 Der Beigeordnete Dominicus stellte sie in einer reformpädagogischen Zeitschrift als „Ein Straßburger Versuch“ 48 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 8. Sitzung, 23.3.1906, S. 210. 49 Jan Palmowski, Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt am Main 1866– 1914, Oxford 1999, S. 185. 50 Verwaltungsbericht der Stadt Straßburg von 1900 bis 1910, S. 434. 51 Auszug aus den Beratungen der Budgetkommission, 1.3.1907, in: AMS, Div. IV. 147– 729; Die Sozialdemokratie auf dem Straßburger Rathhause. Ein Blick auf ihr Werden und Wirken, Straßburg 1908, S. 70.

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vor. Er räumte zwar ein, dass diese Reform noch unvollkommen war, da sie die höheren Schulen, Gymnasien oder Realschulen mit ihren Vorschulen nicht einbezog. Trotzdem war sie, so Dominicus, ein wichtiger erster Schritt zur allgemeinen Reform des gesamten Bildungswesens in Deutschland. Er betonte dabei den pragmatischen Vorteil der Straßburger Reform, da sie die Stadt finanziell weniger belastete und es auf dem Gebiet der Mittelschule viel mehr Handlungsspielraum für die Stadtverwaltung gab. Zum Schluss bemerkte er: „Es ist ... wohl nicht zu viel gesagt, dass auch auf dem Gebiet des Schulwesens heute der Fortschritt eher ausgeht von den Rathäusern der Städte als von den Ministerien der Staaten“.52

5. „Fortschrittliche Stadt“ gegen „rückständigen Staat“? Sowohl beim Ausbau des Volksschulsystems als auch bei der Mittelschulreform haben wir gesehen, dass die Stadtverwaltung, die Liberalen und die Sozialdemokratie, also die Triebkräfte der liberalen Schulreformen in Straßburg, im Gemeinderat fühlten, dass sie durch die konservative Politik der Landesregierung stark gebremst wurden. Für die reformorientierte Stadtverwaltung wurde es immer frustrierender, dass ihr in Anbetracht ihrer finanziellen Lasten kein entsprechendes Mitbestimmungsrecht eingeräumt wurde. Unter Verweis darauf, dass die Stadt 96 % aller Ausgaben für das „niedere Unterrichtswesen“ trug, beklagte Bürgermeister Schwander, dass die Kompetenz der Stadtverwaltung auf „äußere Angelegenheiten“ wie die Verteilung von Schülern oder die Bestrafung von Schulversäumnissen begrenzt war. Auf dem Gebiet der Schulverwaltung in Elsass-Lothringen bestand nach Ansicht von Schwander weiterhin das Prinzip der „alten französischen Staatsbevormundung“.53 Dagegen sah er z.B. die Schulverwaltung in Preußen in positiverem Licht, wo die Großstädte alle das Recht der Berufung und Beförderung ihrer Lehrer hatten und den von der Stadt angestellten Stadtschulinspektoren auch meist vom Staat das lokale Aufsichtsrecht übertragen worden sei. Danach schrieb er zum Schluss:

52 Alexander Dominicus, Die Reform unserer Bürger-(Mittel-)schulen. Ein Straßburger Versuch, in: Der Säemann. Monatsschrift für pädagogische Reform 3 (1907), S. 361– 366, hier S. 366. 53 Bericht des Bürgermeisters Schwander an den Oberschulrat, 25.2.1907, in: ADBR, 105AL1531.

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„Eine entsprechende Ausdehnung der Selbstverwaltung der Gemeinde würde bei uns in Elsaß-Lothringen nur dem Geist entsprechen, der sich zum Segen des Landes in der Reform unserer Gemeindeordnung [von] 1895 betätigt hat. Von einer solchen lebhafteren Betätigung der Gemeinde-Verwaltung auf dem Gebiet der Schule ist endlich auch mit Sicherheit eine weitere Förderung der Volksschule zu erwarten. Denn dadurch werden die Fehler und Mängel derselben der Gemeinde-Verwaltung näher gerückt und verständlicher gemacht. Eine noch eifrigere und interessiertere Fürsorge für [die] Schule weit über das obligatorische Maß hinaus, wird die Folge sein.“54

Die (ordentlichen) Schulausgaben der Stadt pro Schüler zeigten in der Tat um die Jahrhundertwende eine erhebliche Zunahme. Sie waren für die zwanzig Jahre zwischen 1889 und 1909 von 23 M. auf 69 M. gestiegen.55 Dies entsprach einerseits der Erhöhung von Unterhaltungskosten und Lehrergehältern, gleichzeitig aber auch der Einführung von verschiedenen Wohlfahrtseinrichtungen in der Schule. Straßburg war zum Beispiel die erste Stadt in Europa und wohl auch in der Welt, die 1902 einen Schulzahnarzt anstellte.56 Die städtische Volksschule war also nicht mehr nur ein Ort der Wissensvermittlung oder der Untertanenerziehung. Angesichts der immer größer werdenden Überschneidung der Schul- und Wohlfahrtspolitik plädierte der Beigeordnete Dominicus ebenfalls für die Übertragung von mehr Kompetenzen vom Staat auf die Stadt.57 Für die Entwicklung der aktiven Schulreformpolitik hatte die Vernetzung der deutschen Städte, die die Landesgrenze überschritt, eine große Bedeutung. Der wechselseitige Informationsaustausch zu einzelnen Problemen, der vor allem durch das Statistische Jahrbuch deutscher Städte (seit 1896) systematisiert wurde,58 lieferte, wie es bereits im Fall des Ausbaus der Klassenorga54 Ebd. 55 Berechnet nach: Die Entwicklung der Volks-Schulausgaben in Straßburg seit 1870, Beilage zum statistischen Monatsbericht der Stadt Straßburg für den Monat Januar 1906, S. 1; Verwaltungsbericht der Stadt Straßburg 1900–1910, S. 404 f. u. 419. 56 Ernst Jessen u.a., Die Zahnpflege in der Schule vom Standpunkt des Arztes, des Schulmannes und des Verwaltungsbeamten, Straßburg 1905. 57 Alexander Dominicus, Rechte und Pflichten der städtischen Schulverwaltung bezüglich des gesamten Schulwesens, insbesondere im Hinblick auf unterrichts- und schulhygienische Fragen (Manuskript des Vortrags, gehalten auf der 8. Jahresversammlung des deutschen Vereins für Schulgesundheitpflege in Karlsruhe am 23.5.1907), in: AMS, Div. IV 127–611, Bl. 12 f. 58 Hierzu sei zu bemerken, dass die Kompetenz der Stadtverwaltung zur Schulaufsicht einer der Streitpunkte zwischen dieser und der Staatsverwaltung in den Bundesstaaten des Kaiserreiches war, die zur Gründung des deutschen Städtetags führten. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiser-

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nisation gezeigt worden ist, notwendige Materialien zur Rechtfertigung der Reformen. Gleichzeitig wurde diese Vernetzung auch von der Erweiterung des Arbeitsmarkts auf nationaler Ebene begleitet. Am deutlichsten sieht man dies in der Aussage von Schwander, „daß in der späteren Konkurrenz mit den Kindern jener Schulen [in „Altdeutschland“, besonders im Großherzogtum Baden] die elsaß-lothringischen Schüler wegen ihrer ungünstigeren Vorbildung schlecht bestehen können“.59 Dieses Konkurrenzbewusstsein bzw. der „Stadtpatriotismus“ trieb die Stadt zu sozialliberalen Reformen. Obwohl die Stadtverwaltung „über den Parteien“ regieren wollte, war die Durchsetzung der Reformpolitik ohne Unterstützung der Liberalen und der Sozialdemokratie kaum denkbar. Da sich aber gegen die Einführung der Schulwohlfahrtseinrichtungen oft auch unter den Liberalen kritische Stimmen hören ließen,60 war der Druck der Sozialdemokratie wichtig. Wie es sich im Fall der Simultanisierung zeigte, war die Straßburger SPD ihrerseits bereit, die konkreten Reformen über ihre grundsätzlichen Standpunkte zu stellen. So ist es kein Wunder, dass die Stadtverwaltung die Niederlage der SPD bei der Gemeinderatswahl von 1908 eher als schmerzhaft empfand.61 Aus dieser Darstellung ergibt sich der Gesamteindruck, dass der Staat alles tat, um die Reformen zu verhindern. Aber warum verhinderte er die Reformen der Stadt? Was war seine politische Logik? Dazu ist die politische Lage in Deutschland, Frankreich und Elsass-Lothringen um die Jahrhundertwende zu betrachten. Die Schulfrage erhitzte sowohl in Deutschland bzw. Preußen als auch in Frankreich erneut die politischen Gemüter. Man erinnerte sich an die Debatte des Schulunterhaltungsgesetzes in Preußen (1906/08) sowie an die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich (1905). Das beeinflusste unvermeidlich auch die Landespolitik in Elsass-Lothringen. So wurde das Problem der Simultanschule bei den Reichstagswahlen von 1903 und 1907 heftig diskutiert.62

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reichs, in: Lothar Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990, S. 19–64, hier S. 60 f.; Marjolie Lamberti, State, Society, and Elementary School in Imperial Germany, New York 1989, S. 197–203. Bericht des Bürgermeisters Schwander an den Oberschulrat, 25.2.1907, in: ADBR, 105AL1531. Beispielsweise zur Frage der Anstellung des Schulaugenarztes sowie der Lernmittelfreiheit vgl. Verhandlungen des Gemeinderates der Stadt Straßburg, 9.3.1908, S. 217– 219 u. 235–240. Dominicus, Straßburgs deutsche Bürgermeister, S. 64. Herman Hiery, Reichstagswahlen im Reichsland. Ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsaß-Lothringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871–1918, Düsseldorf 1986, S. 328 u. 333.

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Diese politische Lage stellte für die Integrationspolitik der Landesregierung gleichzeitig Chance und Risiko dar: eine Chance, weil die „Laïcisation“ in Frankreich die Katholiken in Elsass-Lothringen die deutsche Herrschaft akzeptabler erscheinen ließ. Im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Vorschlag des Straßburger Gemeinderats zu einem neuen Schulgesetz bemerkte ein katholisches Mitglied: „Dem Hinweis, daß das Gesetz vom 25. März 1850 in Frankreich abgeschafft sei, stelle ich gegenüber, daß jüngst in Preußen die konfessionelle Elementarschule gesetzlich anerkannt wurde.“63 Zugleich bestand ein Risiko, weil eine allzu kirchenfreundliche Politik der Reichslandverwaltung die liberalen und „deutschfreundlichen“ Gruppen im Reichsland, vor allem die Lehrerschaft, befremden musste. Zwar wurde auch die Lehrerschaft selbst in dieser politischen Lage gespalten. Der Mehrheit der elsass-lothringischen Volksschullehrer, die 1907 aus den vorhandenen Bezirkslehrervereinen einen reichsländischen Landesverband gründete, der sich dann 1909 dem liberalen „Deutschen Lehrerverein“ anschloss, stand eine minoritäre, aber nicht unerhebliche Gruppe gegenüber, die dem katholischen Lehrerverband Deutschlands angehörte. Dies bedeutet einerseits, dass die Lehrerschaft, ob liberal oder katholisch, national integriert wurde. Aber je offensiver die liberale Lehrerschaft agierte, desto stärker reagierte die katholische Kirche dagegen, so dass sich die beiden Bischöfe von Straßburg und Metz an die Landesregierung wandten, um einen weiteren Bedeutungsgewinn der liberalen Lehrerschaft zu verhindern.64 Unter diesem Umstand sah sich die Landesregierung im Reichsland gezwungen, am Status quo oder am Ausgleich festzuhalten.65 Einerseits kam sie der Forderung der Bischöfe entgegen, indem sie die Lehrerschaft vor politischen Kampagnen warnte.66 Andererseits wurden die Lehrer durch das Gesetz von 1908 als ordentliche Mitglieder in den Ortsschulvorstand aufgenommen, was dem erhöhten Standesbewusstsein der Lehrerschaft entgegenkam.67 Ferner wurde die Abhaltung der Jahresversammlung 1910 des Deutschen Lehrervereins in Straßburg schließlich toleriert. Diese Status quo- bzw. Ausgleichspolitik zeigte sich auch darin, dass die Landesregierung in der Frage 63 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 3.10.1906, S. 603. 64 Bischöfe Fritzen (Straßburg) und Benzler (Metz) an den Staatssekretär Köller, 1.10.1907, in: ADBR 105AL536. 65 Christian Baechler, Le parti catholique alsacien 1890–1939. Du Reichsland à la République jacobine, Paris 1982, S. 109–111. 66 Verfügung des Staatssekretärs Köller an die Bezirkspräsidenten, 28.1.1908, in: ADBR 105AL536. 67 Das Gesetz zum Ortsschulvorstand wurde von den lothringischen Notabeln-Abgeordneten initiiert, die in starker Konkurrenz zur katholischen Zentrumspartei standen.

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der Simultanisierung die maximale Forderung der Vertreter der katholischen Kirche ablehnte, davon gänzlich abzusehen. Die Stadtregierung und der Gemeinderat von Straßburg hatten gute Kontakte zur liberalen Lehrerschaft. Die Simultanschule als Prinzip und die Volksschule als Grundlage der höheren Bildung („Freie Bahn für jeden Tüchtigen!“) – dies waren auch die Grundsätze des Deutschen Lehrervereins. Es war die Stadtregierung, die dem Widerwillen der Landesregierung zum Trotz den Lehrerverein zu seiner Jahresversammlung nach Straßburg einlud, die 1910 tatsächlich stattfand. Der Gemeinderat unterstützte die Forderungen der liberalen Lehrerschaft, wie die Befreiung der Lehrer von der Verpflichtung, die Schüler zum Schülergottesdienst in die Kirche zu begleiten oder die Angleichung des Ferienkalenders der Volksschulen an denjenigen der höheren Schulen – eine symbolische Gleichsetzung der Volks- und höheren Schulen, die aber die Landesregierung als Zumutung einer arroganten Lehrerschaft ablehnte.68 Neben der Konfessionsfrage nahm die Sprachenfrage in der Volksschule im Reichsland einen zentralen Platz ein in der politischen Diskussion besonders der Jahre 1909–1911, als die frankophilen Mitglieder im Landesausschuss wiederholt die (Wieder-)Einführung des französischen Unterrichts in den „deutschsprachigen“ Volksschulen forderten. Diese Forderung lehnte die Landesregierung jedesmal ab mit dem „Muttersprache“-Prinzip, dass sich die Volksschule in den deutschsprachigen Gebieten auf den Unterricht in und für die Muttersprache konzentrieren sollte. Das galt allerdings nicht für die französischsprachigen Schulen, die sich meist in den Vogesen und in Lothringen befanden, wo der Französischunterricht zugelassen wurde. Für die deutschsprachigen Orte sollte diese Aufgabe, so behauptete die Landesregierung, nicht durch die Volksschule, sondern durch die Mittelschule und die Fortbildungsschule erfüllt werden. Im Landesausschuss gab es zwei Anträge zur Einführung des französischen Unterrichts in der Volksschule. Der eine, von den frankophilen Politikern formulierte Vorschlag bezweckte eine allgemeine Einführung im Lande. Dagegen wollte der andere die größeren Gemeinden selbst darüber entscheiden lassen. Bezeichnenderweise wurde diese zweite Option von dem Altbürgermeister Back vorgeschlagen. Gleichzeitig wurde auch im Straßburger Gemeinderat die gleiche Forderung gestellt, aber anders als der Landesausschuss beschloss der Gemeinderat einstimmig, dass der französische Unterricht in

68 Stellungnahme des Schulrats des Bezirks Unter-Elsaß Dr. Stehle, 22.6.1911, ADBR, 105AL2075.

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der Stadt in den Mittel- und Fortbildungsschulen gefördert werden sollte.69 Obwohl dies an sich der Sprachenpolitik der Landesverwaltung entsprach, war für diese der Antrag von Back, der das Mitbestimmungsrecht der Stadt gerade im Kernprogramm der Schule forderte, zu gefährlich und bot keine Garantie für das Festhalten am „Muttersprache“-Prinzip. Deutlich drückte dies der Statthalter von Wedel in seinem Bericht an Kaiser Wilhelm II. aus: „Schlimmer beinahe als der Antrag Kübler [für die allgemeine Einführung des französischen Unterrichts] stellt sich bei genauerer Betrachtung der Antrag Back dar, der auf den ersten Anblick sich wie ein Kompromißantrag ausnimmt. Derselbe will die Entscheidung über die hochwichtige Frage, ob französischer Unterricht in den Elementarschulen einer Gemeinde erteilt werden soll, dem Gemeinderat zu weisen. Er trägt dadurch den Kampf der nationalen Gegensätze in die einzelnen Gemeinderäte hinein und schafft die Möglichkeit, daß bei lebhafter Agitation eine größere Zahl von Gemeinderäten nach dem Sinne der Förderer des Französischen beschließt. Das würde unschwer als ein Plebiszit nicht nur zu gunsten des französischen Unterrichts, sondern zu gunsten Frankreichs ausgedeutet werden, und wir hätten 1909 die Volksabstimmung, die 1871 aus gutem Grunde vermieden worden ist. – Es ist schwer verständlich, wie ein ehemaliger hochstehender deutscher Beamter zu einem solchen politischen Mißgriff kommen konnte.“70

Wie die frankophile Tendenz im Landesauschuss oder die alldeutsche Propaganda war auch die Förderung der Selbstverwaltung auf dem Gebiet der Schule in den Augen der Landesregierung ein Faktor, der ihre Status-quoPolitik störte oder gar gefährden konnte. Deshalb wurde hier vielmehr eine „alte französische Staatsbevormundung“ bevorzugt.71 69 Verhandlungen des Gemeinderats der Stadt Straßburg, 28.4.1909, S. 395–397. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die Sozialdemokraten, die für die Einführung des französischen Sprachunterrichts in den Volksschulen waren, zu diesem Zeitpunkt im Gemeinderat nicht vertraten waren. 70 Statthalter Wedel an Wilhelm II, 12.5.1909, ADBR, 27AL596. Das Konzept des Berichts wurde vom Direktor des Oberschulrats Albrecht verfasst. 71 Die vom Staat unabhängige Logik der Reformpolitik von Schwander betont auch Klaus-Gert Lutterbeck, der sie auf die lange Tradition der freien Reichsstadt zurückführt: Ders., The ‚Municipalité intégratrice‘ of Rudolf Schwander. Innovative Policies of the Local Administration of Strasbourg (1906–1918) in Context, in: Stefan Couperus et al. (Hg.), In Control of City. Local Elites and the Dynamics of Urban Politics, 1800–1960, Löwen 2007, S. 159–173. Es wäre aber einseitig, einer nationalistisch aggressiven Integrationspolitik der Landesregierung eine tolerante Reformpolitik der Stadtverwaltung einfach gegenüberzustellen: 1907 fand die Jahresversammlung des „Zentralausschuß zur Förderung der Volks- und Jugendspiele“, an dem der Beigeord-

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6. Fazit Was Karl Heinrich Pohl mit dem Beispiel des Schulwesens in München ausführte, nämlich dass „die Klassengegensätze durch eine Reformpolitik hätten abgemildert werden können – wenn diese Politik länger als bis 1914 hätte Bestand haben können“72, gilt zum gewissen Teil auch für Straßburg. Auf dem Gebiet der Schulpolitik entwickelte sich eine Kooperation zwischen den Liberalen und der Sozialdemokratie, die die Reformpolitik der Stadtverwaltung unterstützte, die ihrerseits auch sozialliberal geprägt war. Angeregt wurde diese Reformpolitik auch durch die Integration der Stadt Straßburg ins Netzwerk der deutschen Großstädte. Dass man dabei „fortschrittlichere“ Beispiele – wie Frankfurt oder Mannheim – für die Forderungen nach mehr Mitbestimmungsrecht und der Aufhebung des konfessionellen Prinzips als Vorbilder herausnahm, war für die Landesregierung nicht willkommen, die die Interessen der regional mehrheitlichen, immer mehr politisierten katholischen Bevölkerung im Reichsland nicht ignorieren konnte. So bremste die Landesregierung oft stark die städtische Reformpolitik, ohne sie gänzlich zu unterbinden. Bekanntlich gehörte Straßburg nach 1918 nicht zum Deutschland der Weimarer, sondern zum Frankreich der Dritten Republik. Während die Unterrichtssprache damit von Deutsch zu Französisch wechselte, wurde die Schulorganisation im Allgemeinen, insbesondere der konfessionelle Charakter der Volksschule, einstweilen beibehalten. Aber als die Stadtverwaltung unter dem Sozialisten Peirotes als Bürgermeister und mit einem Gemeinderat, der nun von den Sozialisten und den „Radicaux“ besetzt wurde, 1925 die konfessionelle Simultanisierung der städtischen Volksschulen beschloss, genehmigte dies die französische Staatsregierung des „Cartel des gauches“ (Kartell der Linken). Ironischerweise wurde sie also nicht durch das Deutschland der Selbstverwaltungstradition, sondern durch das Frankreich der Zentralisation verwirklicht.73 Obwohl damit keine strikte Trennung von Staat und Kirche nete Dominicus aktiv teilnahm, in Straßburg statt. Ursprünglich wollte der Zentralausschuß „die Wiederbelebung des Sedanfestes“ zum Tagungsthema machen. Darauf wurde aber schließlich verzichtet unter Druck der Landesregierung, die es begründete: „Unsere ganze Arbeit ist darauf gerichtet, möglichst viel patriotisch zu wirken, ohne diese Absicht bei Erinnerungstagen des Jahres 1870 hervortreten zu lassen“. Direktor des Oberschulrats Albrecht an Reydt (Zentralausschuß zur Förderung der Volks- und Jugendspiele), 12.12.1906, in: ADBR 105AL1585. 72 Pohl, Sozialdemokratie und Bildungswesen, S. 101. 73 Vgl. Jean-Marie Gillig, Bilinguisme et religion à l’école. L’Alsace divisée, Strasbourg 2012. Zum Verhalten der Sozialisten zur Schulfrage in der Zwischenkriegszeit vgl. Ali-

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wie sonst in Frankreich erfolgte, rief dies doch den entschiedenen Widerstand der katholischen Kirche hervor; der von ihr initiierte regionale Schulstreik wirkte als Auftakt der Heimat- und Autonomiebewegung. Hier offenbarte sich ganz massiv die politische Brisanz dieses Problems, die bereits die reichsländische Landesregierung vor 1914 befürchtet hatte.

son Carrol, Regional Republicans: The Alsatian Socialists and the Schooling in Alsace 1918–1939, in: French Historical Studies 34 (2011), S. 299–325.

STEFAN GRÜNER

Pariser Liberalismus 1870–1914 Politische Topographie, symbolische Deutungsmacht und kommunale Wohnungsreform

Erst seit wenigen Jahrzehnten beschäftigt sich die französische und internationale Forschung intensiver mit der Geschichte des politischen Paris im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Annie Fourcaut hat im Jahr 2003 die Stadtgeschichte Frankreichs für diesen Zeitraum als „un chantier neuf pour les historiens“1 bezeichnet – und im Grunde gilt diese Einschätzung selbst für die französische Hauptstadt noch heute. Zwar wissen wir mittlerweile recht gut Bescheid über die äußeren Lebensbedingungen, sozialen Milieus und politischen Dispositionen von Arbeitern und Immigranten, über die Bedeutung von Paris als Ort der nationalen kollektiven Erinnerung oder über den Städtebau während und nach der Ära Haussmann2; eine kaum mehr zu überschauende Zahl von Publikationen beschäftigt sich mit kulturellen Aspekten der „Belle Époque“.3 Überdies existieren mittlerweile zahlreiche Darstellungen, die sich

1 Annie Fourcaut, L’histoire urbaine de la France contemporaine: État des lieux, in: Histoire urbaine 2 (2003), S. 171–185, hier S. 171; Yvan Combeau/Philippe Nivet, Histoire politique de Paris au XXe siècle. Une histoire locale et nationale, Paris 2000, S. 5 f. 2 Vgl. u.a. Lenard R. Berlanstein, The working people of Paris 1871–1914, Baltimore 1984; Fabrice Laroulandie, Les ouvriers de Paris au XIXe siècle, Paris 1997; Jacques Girault (Hg.), Ouvriers en banlieue XIXe–XXe siècles, Paris 1998; Marie-Claude Blanc-Chaléard, Les Italiens dans l’Est parisien. Une histoire d’intégration 1880–1960, Rom 2000; Norma Evenson, Paris: A century of change 1878–1978, New Haven/Conn. 1979 [frz.: Cent ans de travaux et d’urbanisme 1878–1978: Paris, Paris 1983]; Yankel Fijalkow, La construction des îlots insalubres. Paris 1850–1945, Paris 1998; Maurice Agulhon, Paris. La traversée d’est en ouest, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 3, Paris 1997, S. 4589–4622. 3 Es seien stellvertretend genannt: Christophe Charle, Paris fin de siècle. Culture et politique, Paris 1998; ders./Daniel Roche (Hg.), Capitales culturelles – capitales symboliques. Paris et les expériences européennes XVIIIe–XXe siècles, Paris 2002; Hans-Manfred Bock/Ilja Mieck (Hg.), Berlin–Paris (1900–1933). Begegnungsorte, Wahrnehmungsmuster, Infrastrukturprobleme im Vergleich, Bern 2005.

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unter anderem mit der Geschichte der Stadt um 19004 auseinandersetzen und dabei in Einzelfällen auch Entscheidungsprozesse und Handlungsspielräume in der Stadtgemeinde zum Thema machen.5 Nach wie vor sind wir jedoch für den Betrachtungszeitraum kaum informiert über die Träger, Handlungsfelder und Ziele der hauptstädtischen liberalen Bewegung. Im Grunde steht die Forschung hier erst am Anfang. Diese Fehlstelle ist umso erstaunlicher, als Liberale rechter und linker Couleur nach 1870 als zentrale Akteure an der Gestaltung der jungen Republikgründung beteiligt waren und im neuen Staatswesen spätestens seit den 1880er Jahren eine politisch dominante Position einnahmen.6 Wenn es zutrifft, dass die ersten Jahrzehnte der Dritten Republik für Frankreich als Schlüsselphase im Prozess der Konsolidierung von republikanischer Staatsform, Demokratie und früher sozialstaatlicher Prägung anzusehen sind7, 4 Vincent Cronin, Paris im Aufbruch. Kultur, Politik und Gesellschaft 1900–1914, München 1989; Johannes Willms, Paris. Hauptstadt Europas 1789–1914, München 1988; Bernard Marchand, Paris. Histoire d’une ville XIXe-XXe siècle, Paris 1993; Alfred Fierro, Histoire et dictionnaire de Paris, Paris 1996; Klaus Schüle, Paris. Vordergründe, Hintergründe, Abgründe. Stadtentwicklung, Stadtgeschichte und sozialkultureller Wandel, München 1997; ders., Paris. Die politische Geschichte seit der Französischen Revolution. Vom Erfinden und Schwinden der Demokratie in der Metropole, Tübingen 2005; Thankmar von Münchhausen, Paris. Geschichte einer Stadt von 1800 bis heute, München 2007; Thierry Sarmant, Histoire de Paris. Politique, urbanisme, civilisation, Paris 2012; Yvan Combeau, Histoire de Paris, Paris 82013. 5 Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994; Combeau/ Nivet, Histoire politique de Paris; Pierre Casselle, Paris républicain 1871–1914, Paris 2003. 6 Zur Geschichte des französischen Liberalismus um 1900 seien genannt: Pierre Lévêque, Histoire des forces politiques en France 1880–1940, Bd. 2, Paris 1994, S. 7–29, 65–94; Françoise Mélonio, Les libéraux français et leur histoire, in: Siep Stuurman (Hg.), Les libéralismes, la théorie politique et l’histoire, Amsterdam 1994, S. 35–46; Thomas Raithel, Liberalismus in Frankreich um 1890, in: Jahrbuch zur LiberalismusForschung 19 (2007), S. 163–176; Stefan Grüner, Arbeit, Bildung, Alterssicherung. Sozialer Liberalismus im Frankreich der Dritten Republik 1870–1914, in: Detlef Lehnert (Hg.), Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 269–300, hier S. 271–274. 7 Vgl. dazu die Beiträge in Serge Berstein/Michel Winock (Hg.), L’invention de la démocratie 1789–1914, Paris 2002, sowie François Ewald, La politique sociale des opportunistes 1879–1885, in: Serge Berstein/Odile Rudelle (Hg.), Le modèle républicain, Paris 1992, S. 173–187; Serge Berstein, La politique sociale des Républicains, in: Ebd., S. 189–208; Sabine Rudischhauser, Comment ne pas être allemand – Frankreichs Weg

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dann ist die Frage nach dem Beitrag der Kommunen und der dort politisch aktiven Liberalen nicht von der Hand zu weisen. Dabei wird insbesondere zu klären sein, wie es in der französischen Hauptstadt um das Verhältnis von politischen Partizipationschancen und Effizienz der Verwaltung im Hinblick auf die Lösung jener neuartigen sozialökonomischen Probleme stand, die mit dem säkularen Phänomen der Urbanisierung einhergingen. Für Paris bedeutet dies zugleich, den Blick auf die Behauptung städtischer Politik innerhalb eines außerordentlich restriktiven kommunalrechtlichen Rahmens zu richten, in dem die gewählte Bürgervertretung nicht als höchstes und autonom beschließendes Organ fungierte.8 Dazu wird sich dieser Beitrag für den Betrachtungszeitraum bis 1914 zunächst mit der Pariser Kommunalverfassung sowie den politischen Kräfteverhältnissen und deren sozialökonomischer Verankerung in der Topographie der französischen Hauptstadt beschäftigen, um dann anhand der Felder „Denkmalskultur“ und „Wohnungsreform“ zwei hinreichend dicht dokumentierte Beispiele kommunalliberaler Politik vorzustellen. Damit werden zwei Ebenen erfasst, auf denen sich die republikanische Durchdringung Frankreichs vor 1914 exemplarisch fassen lässt: die Dimension des „Kulturkampfes“ und die Veränderung der politischen Praxis.9

1. Nationale Politik und kommunale Vertretung Der verwaltungsrechtliche Status von Paris, wie er gegen Ende des 19. Jahrhunderts definiert wurde, reflektiert die politische Geschichte Frankreichs und, darin verwoben, diejenige seiner Hauptstadt. Bereits zur Zeit des Ancien Régime war die Bedeutung der Kapitale auf vielschichtige Weise mit dem Prozess der Expansion und Konsolidierung der Zentralmacht verbunden. So ging die allmähliche Zurückdrängung des privilegierten Lehnsadels und die Durchsetzung der monarchischen Gewalt seit den Kapetingern mit dem Ausbau von Paris als einem Zentrum von Politik, Bildung und Wirtschaft einher. Zugleich wuchsen damit neben den Ansprüchen der Stadt, eigene lebensräumliche Entwicklungspfade zu beschreiten, auch die Ambitionen auf Behauptung politischer Eigenständigkeit. Obwohl sich Paris mit der Schleifung der zum Sozialstaat, in: Otto Büsch/Arthur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 137–184; Grüner, Arbeit, Bildung, Alterssicherung. 8 Dazu im folgenden Abschnitt 1.1. 9 So die Unterscheidung bei Jens Ivo Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870–1940), Köln 2007, S. 46.

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alten Stadtbefestigungen im Jahr 1670 symbolisch dem Herrschaftsanspruch Ludwigs XIV. unterwarf, begegnete daher die Zentralgewalt weiterhin jeglicher kommunalen Machtkonzentration dort mit äußerstem Misstrauen. Dies entsprach keineswegs einer Fehlwahrnehmung; denn das aufrührerisch-frondistische, seit 1789 revolutionäre Potential der Stadt verdichtete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Traditionslinie, die mit der Commune von 1871 eine neuerliche Bekräftigung erfuhr.10 Bis zur Gründung der Dritten Republik im September 1870 war das politische Gewicht der Pariser Stadtregierung zweimal im Zuge von revolutionären Bewegungen ausgeweitet und danach im Gegenzug wieder beschnitten worden. So war es in den Jahren 1790 und 1834 jeweils per Gesetz zur Einrichtung eines wählbaren Stadtrats gekommen, der 1795 und 1848/49 nach Ende der revolutionären Ereignisse von der Zentralgewalt wieder abgeschafft worden war. Nicht zufällig konzentrierten sich daher angesichts der definitiven Niederlage gegen die deutschen Truppen zur Jahreswende 1870/71 die tragenden Strömungen der entstehenden revolutionären Bewegung um die Pariser Nationalgarde und um die Kommunalvertretung.

1.1 Die Pariser Kommunalverfassung von 1871 Unter dem Eindruck des besetzten Paris und einer nach Versailles geflüchteten Regierung fanden am 26. März 1871 Stadtratswahlen statt, die zum erstenmal auf der Basis des allgemeinen Männerwahlrechts abgehalten wurden. Dabei erlangten linksliberale, sozialistische und kommunistische Politiker in der Stadtregierung die Mehrheit. Unter den von ihnen anvisierten Zielen stand die alte Forderung nach kommunaler Autonomie von Paris wie selbstverständlich an der Spitze; die revolutionäre Commune von 1792 diente als historischer Referenzpunkt. Angesichts des Sturzes des Zweiten Kaiserreichs sollten damit historische „libertés parisiennes“ erneuert und die provisorische Regierung unter dem Republikaner Adolphe Thiers vor vollendete Tatsachen gestellt werden. In direkter Richtung zielte die neue Commune auf die Revision der Pariser Kommunalverfassung vom Februar 1800, die unter dem Ersten Konsul Napoléon Bonaparte eingeführt worden war und weder Bürgermeister noch Stadtrat zuließ. Stattdessen war Paris einem „Département de la Seine“ eingefügt und der Autorität zweier Präfekten untergeordnet worden. Die Funktionen eines Stadtrates wurden vom „Conseil Général“ des Départements wahrgenommen, der nur über begrenzte Befugnisse verfügte und 10 Sarmant, Histoire de Paris, S. 28–134; Willms, Paris, S. 15–17.

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dessen Mitglieder durch den Ersten Konsul, später durch den Kaiser ernannt wurden. Demgegenüber versuchte die Commune zudem, neu gewonnene kommunalpolitische Spielräume zu nutzen und Loyalitäten unter den Parisern zu stiften, indem sie ein improvisiertes Programm sozialer und ökonomischer Reformen für die Stadt in Angriff nahm.11 Damit schien sich in den Augen vieler zeitgenössischer Betrachter ein seit 1789 bereits bekanntes politisches Ablaufmuster neu zu konstituieren: Erneut hatte sich die revolutionäre Linke des Rathauses bemächtigt und war von dort aus gegen die Zentralgewalt vorgegangen, um die bereits im Gang befindliche, staatlich-politische Umwälzung im Sinne einer sozialen Revolution noch ein Stück weiter voranzutreiben. Für die Regierung Thiers und die Anhänger einer konservativ geprägten Republik erwuchs daraus hinreichend Legitimation, um die Verwaltung der Stadt Paris im Zuge der blutigen Niederschlagung der Commune erneut unter restriktive staatliche Vormundschaft zu stellen. Die von Monarchisten dominierte Assemblée Nationale einigte sich im Frühjahr 1871 mit großer Mehrheit auf ein provisorisches Gesetz zur Neuregelung der Gemeindeverfassung für ganz Frankreich. Provisorisch im ursprünglichen Sinne blieb dieses Gesetz allerdings nur im Hinblick auf alle französischen Kommunen mit Ausnahme von Paris: Gegen Mitte der 1880er Jahre wurde allein für die Erstgenannten eine feste Neuregelung gesetzlich verankert. Für die Hauptstadt hingegen verstetigte sich die Kommunalverfassung vom 14. April 1871 und blieb in ihren wesentlichen Teilen bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gültig. Das Gemeindegesetz vom 5. April 1884, das den französischen Kommunen erweiterte Kompetenzen zusprach und staatliche Aufsichtsrechte im Zuge einer moderaten Dezentralisierung der politischen Macht abbaute, fand für Paris keine Anwendung. Erst im Dezember 1975 beschloss die Assemblée Nationale eine umfassende Neuregelung.12 In zweifacher Weise manifestierte sich im Gemeindestatut vom April 1871 das Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber dem politischen Paris. Zum einen erhielt die Stadt in Fortsetzung der Regelungen der Restaurationszeit sowie des Ersten und Zweiten Kaiserreichs keinen Bürgermeister („Maire“). Zwar 11 Maurice Félix, Le régime administratif et financier de la ville de Paris et du département de la Seine, Bd. 1, Paris 1957, S. 132–139. 12 Vgl. dazu im Überblick: Philippe Nivet, L’histoire des institutions parisiennes, d’Étienne Marcel à Bertrand Delanoë, in: Pouvoirs 110/3 (2004), S. 5–18; mit Blick auf das Kommunalgesetz vom 5. April 1884: Jean-Pierre Machelon, Pouvoir municipal et pouvoir central sous la Troisième République, in: La Revue administrative 290 (1996), S. 150– 156; Casselle, Paris républicain, S. 12–16; Félix, Le régime administratif et financier, S. 140–160.

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existierte ein 80-köpfiger Stadtrat („Conseil municipal“), in dem ein „Président du Conseil municipal“ den Vorsitz führte. Dieser besaß jedoch keine exekutive Gewalt, die ausschließlich beim Präfekten des Département Seine lag. Konkret verfügte der Seinepräfekt über eine erhebliche Machtfülle, die sich auf die Rechts- und Fachaufsicht über die Stadtverwaltung und die Bezirksbürgermeister ebenso erstreckte wie auf die kommunalen Finanzen, die Steuererhebung, die Infrastruktur, das städtische Bauwesen einschließlich des Straßenunterhalts, die Armenunterstützung, die Grundschulen und die Ernennung von Beamten. Wie schon zur Zeit des Konsulats leitete daneben ein „Préfet de police“ die Polizeiverwaltung der Stadt. Beide Präfekten waren Staatsbeamte, unterstanden dem Innenministerium und wurden von der Regierung ernannt. Der Präfekt setzte seinerseits die Bürgermeister der 20 Stadtbezirke ein. Damit reichte der exekutive Arm des Staates tief in die Angelegenheiten der Hauptstadt hinein.13 Zum anderen realisierten sich die politischen Vorbehalte in der Gestaltung des kommunalen Wahlrechts und der Befugnisse des Stadtrats. So wurden in jedem der 20 Arrondissements von Paris jeweils vier der insgesamt 80 Stadtratsmitglieder auf drei, ab 1896 auf vier Jahre nach allgemeinem Männerwahlrecht gewählt. Die Wahl fand nicht nach Listen, sondern nach dem Persönlichkeitswahlsystem statt; als gewählt galt, wer im Wahlkreis die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinte. Im Sinne der Durchsetzung des demokratischen Gedankens repräsentierte dieses Wahlrecht Fortschritt und Rückschritt zugleich. Bemerkenswert war, dass überhaupt Wahlen zum Stadtrat stattfanden: Noch zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs waren die Mitglieder des „Conseil municipal“ alle fünf Jahre vom Staatschef ernannt worden. Allerdings nahm das Wahlrecht keine Rücksicht auf die stark unterschiedlichen Bevölkerungszahlen in den Pariser Stadtbezirken. In der Praxis konnte die Zahl der Wähler, die das Recht hatten, einen Vertreter im Stadtrat zu wählen, zwischen den einzelnen Arrondissements bis um den Faktor drei variieren. Benachteiligt waren vor allem das 11. und das 18. Arrondissement, bevorzugt wurden hingegen die Innenstadtbezirke sowie die großbürgerlichen Wohnviertel im Westen der Stadt.14 Erklärbar wird diese Regelung wiederum nur im historischen Kontext. Denn bei den schon erwähnten Kommunalwahlen vom 26. März 1871 war in den Stadtvierteln das Listenwahlrecht angewandt worden, und die einzelnen Arrondissements hatten eine nach ihrer Bevölkerungszahl gestaffelte Anzahl 13 Félix, Le régime administratif et financier, S. 11–34. 14 Nobuhito Nagaï, Les conseillers municipaux de Paris sous la IIIe République (1871– 1914), Paris 2002, S. 56/ Anm. 29.

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von Ratsmitgliedern entsandt. Das elegante, traditionell konservativ geprägte 16. Arrondissement hatte lediglich 2 Vertreter wählen dürfen, während es das 11., 18. und 19. Arrondissement auf je 7 Mitglieder brachten. Im Ergebnis entstand daraus die bekannte revolutionäre Linksmehrheit im Pariser Stadtrat vom Frühjahr 1871. Das Wahlrecht war also eine der notwendigen, wenngleich alleine noch nicht hinreichenden Bedingungen für den Wahlsieg der Commune gewesen. Keineswegs zufällig favorisierte daher das neue, unter konservativen Auspizien entstandene Recht die geringer bevölkerten, bürgerlich dominierten Arrondissements im Zentrum von Paris. Die Weiterungen dieser Tatsache werden im folgenden Abschnitt 1.2 genauer zu behandeln sein. Darüber hinaus waren die Befugnisse des so zustande gekommenen „Conseil municipal“ stark eingehegt. Fast alle Beratungsgegenstände des Stadtrats waren ebenso wie das Budget der Genehmigung durch den Präfekten unterworfen, jegliche Willenserklärung in Angelegenheiten von allgemeiner politischer Bedeutung blieb untersagt. Wurde dieses Verbot übertreten, musste damit gerechnet werden, dass Beratungen und Beschlüsse für Null und Nichtig erklärt werden konnten oder der Conseil sogar aufgelöst wurde. Das Ziel des Gesetzes vom April 1871 lag auf der Hand: Es ging darum, der unbotmäßigen Hauptstadt jegliche markante politische Funktion zu entziehen und die Stadtvertretung zu einem unpolitischen Verwaltungsorgan zu machen.15 In den Augen seiner Kritiker sollten auf diese Weise politische Probleme zwischen Staat und Stadt administrativ eingehegt, durch kontrolliert diskursive Verfahrensweisen in „technische“ verwandelt und damit entschärft werden.16 Die jüngere politische Krisengeschichte Frankreichs hatte damit für die Hauptstadt zu Beginn der Dritten Republik ihren unmittelbaren Niederschlag in Gestalt eines Kommunalstatuts gefunden, in dem das Präfektursystem und eine repräsentative Kommunalverfassung eine enge Verbindung eingegangen waren. Die zähe Langlebigkeit dieses Munizipalstatuts als einer wichtigen Rahmenbedingung liberaler Politik vor Ort ist damit jedoch nur zum Teil plausibel gemacht. Zur Verstetigung trug in der Folge auch die spezifische Wahltopographie der Hauptstadt sowie die Tatsache bei, dass über den Be15 Maurice Félix, Le régime administratif et financier, S. 125–160; Nivet, L’histoire des institutions parisiennes, S. 10 f.; Combeau/Nivet, Histoire politique de Paris, S. 15–17. Eine eingehende Darstellung u.a. des Präfektursystems bietet auch die Arbeit von Elfi Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik in Berlin und Paris 1890–1914. Strukturbedingungen, politische Konzeptionen und Realisierungsprobleme, Berlin 1999, S. 37– 59. 16 Alain Griotteray, Pour la réforme du statut de Paris, in: La Revue administrative 90 (1962), S. 630–633 (Zitat S. 630).

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trachtungszeitraum hinweg die politische Orientierung des Pariser Stadtrats und jene der amtierenden nationalen Regierungen divergierten.

1.2 Die politischen Kräfteverhältnisse in der Hauptstadt Bereits bei den Stadtratswahlen von 1874 trugen Republikaner verschiedener Schattierungen, allen voran die (linksliberalen) „Radikalsozialisten“, einen deutlichen Sieg davon.17 Damit ging vom politischen Paris ein eindeutiges Signal in Richtung der nationalen Ebene: Während dort noch keineswegs geklärt war, ob Versuche einer Restauration der Monarchie erfolgreich sein würden, sprach sich die wahlberechtigte Pariser Bevölkerung an den Wahlurnen bereits klar zugunsten der Republik aus.18 Auch in den Folgejahren bis zur Wende zum 20. Jahrhundert, also über etwa drei Jahrzehnte hinweg, blieb in Paris die linke Mitte tonangebend. Mehrheitsbildungen im Stadtrat vollzogen sich in dieser Zeit um den radikalsozialistischen Pol herum, somit entweder nach rechts mit den „Républicains modérés“ oder nach links unter Einbeziehung der Sozialisten. Bei näherer Betrachtung der Wahlergebnisse wird freilich erkennbar, dass die Vorrangstellung der Radicaux allmählich von zwei Seiten her unterminiert wurde: Seit den 1880er Jahren nahmen in Paris die Sozialisten an Stärke zu, um die Jahrhundertwende gewann überdies die nationale Rechte an Gewicht. Stellten die Linksliberalen zum Zeitpunkt ihres größten Wahlerfolgs im Jahr 1887 noch 46 Stadträte, so ging deren Zahl bis 1912 auf nurmehr 14 zurück. Im gleichen Zeitraum wuchs die Anzahl sozialistischer Stadtratsmitglieder von 10 (1887) auf 23 (1912) an, während Modérés und Konservative von 24 (1887) auf 43 (1912) Sitze zulegen konnten. In der Konsequenz blieb nach der Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse im Pariser Stadtrat zwischen 1900 und 1909 der „Conseil municipal“ über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg bis ins Jahr 2001 eine Bastion der politischen Rechten. Auch wurde ab 1909 über den gesamten Verlauf der Dritten Republik hinweg das Amt des Stadtratspräsidenten nie mehr von einem Radikalsozialisten, geschweige denn von

17 Zur Begrifflichkeit und zur Charakterisierung des französischen Links- und Rechtsliberalismus sei hier verwiesen auf: Grüner, Arbeit, Bildung, Alterssicherung, S. 271– 274. 18 Zur Frühgeschichte der Dritten Republik und zu den wichtigsten Weichenstellungen zwischen monarchischer Restauration und Verankerung der Republik: Jean-Marie Mayeur, Les débuts de la IIIe République 1871–1898, Paris 1973, S. 9–54.

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einem Vertreter der sozialistischen oder kommunistischen Linken wahrgenommen.19 Erleichtert wurde diese Rechtsverschiebung durch das anti-revolutionär konzipierte Wahlrecht. Beim kommunalen Urnengang des Jahres 1900 votierte die Mehrheit der Pariser Wähler für Gruppen links der Mitte. Aufgrund des Zuschnitts der Wahlkreise erlangten jedoch die Stimmen der zentral gelegenen Viertel mit ihrer konservativen Orientierung relativ gesehen stärkeres Gewicht als die „quartiers populaires“ und „périphériques“, wo die Bastionen der Radicaux und der Sozialisten lagen. Dieser Effekt setzte sich über den Ersten Weltkrieg hinweg fort: Noch 1929, als die Pariser Linkswähler ebenfalls in der Mehrheit waren, hielt die Rechte nicht weniger als 52 von 80 Stadtratssitzen.20 Die Rechtsbewegung im Pariser Stadtrat ließ das Verhältnis der Kommune zur nationalen Politik nicht unberührt. Während der Zeit radikalsozialistischer Dominanz in der Kommunalvertretung bis zur Jahrhundertwende hatten auf der nationalen Ebene rechtsliberale Kabinette an den Hebeln der Macht gesessen. Als dann die Radicaux mit Beginn des neuen Jahrhunderts auf der nationalen Ebene zur stärksten Kraft wurden, standen ihnen im Pariser Rathaus bald rechte Mehrheiten gegenüber. Das etablierte Misstrauen der nationalen Politik gegenüber dem hauptstädtischen Unruhepotential erfuhr auf diese Weise keine Abschwächung, im Gegenteil: Die linksliberalen Kabinette des frühen 20. Jahrhunderts sahen sich in ihrer Skepsis gegenüber der unberechenbaren Kapitale sogar noch bestärkt.21

2. Zur sozialökonomischen und politischen Topographie von Paris Die hauptstädtische Wahltopographie, deren Schwerpunkte bereits angedeutet wurden, stand nicht nur in unübersehbarem Bezug zur Persistenz der Kommunalverfassung, sondern reflektierte zugleich die sozialökonomische Parzellierung des Stadtgebiets, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erheblich voranschritt. Den demographischen Hintergrund hierfür bot ein enormes Bevölkerungswachstum: Innerhalb von knapp vier Jahrzehnten wuchs die Zahl der Einwohner von Paris zwischen 1872 und 1911 um 19 Yvan Combeau, Crise et changement de majorité au Conseil municipal de Paris (octobre-novembre 1909), in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 45/2 (1998), S. 357–379; Nagaï, Conseillers municipaux, S. 47–74; René Rémond, Les Droites en France, Paris 1982, S. 157 f. 20 Nagaï, Conseillers municipaux, S. 56. 21 Nivet, L’histoire des institutions parisiennes, S. 11.

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mehr als eine Million von etwa 1,85 Mio. auf 2,88 Mio. Menschen. Damit erreichte Paris intra-muros wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg bereits annähernd den demographischen Höchststand des Jahres 1921 (2,90 Mio.), dessen Niveau sich im wesentlichen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzte. Erst im Zuge der forcierten Suburbanisierungsbewegung seit den 1960er Jahren verlor der innere Stadtbereich wieder deutlich an Einwohnern. Um die Jahrhundertwende war die Verdichtung der urbanen Agglomeration um die Hauptstadt bereits deutlich in Gang gekommen. Im Zuge der industriellen und infrastrukturellen Erschließung der Pariser Banlieue stieg die Einwohnerzahl der suburbanen Gemeinden des „Département de la Seine“ zwischen 1882 und 1911 von 500.000 auf 1,3 Mio. Menschen an. Immer mehr entwickelten sich in der Folge die Stadtrandgemeinden zu Trägern der demographischen Expansion: Als das Seine-Département um 1931 die Zahl von 5 Mio. Einwohnern überschritt, war dieser Zuwachs in erster Linie auf die Attraktivität der Vorortgemeinden zurückzuführen, deren Bevölkerungszahl sich über die 2-Mio.-Grenze hinaus ausgeweitet hatte.22 Der Großteil des demographischen Zuwachses rührte aus Zuwanderungseffekten her. So war für den Betrachtungszeitraum zwischen 1870 und 1914 nur ein Viertel der Bevölkerungszunahme auf das natürliche Wachstum der Stadt zurückzuführen, drei Viertel hingegen speisten sich aus einer Migrationsbewegung von stark innerfranzösischer Provenienz. Es waren offenkundig vor allem junge, alleinstehende und beruflich aktive Menschen zwischen 15 und 30 Jahren, die sich in Paris niederließen. Deutlich stärker als andere europäische Metropolen stellte sich die französische Hauptstadt auch als Ziel nicht-französischer Zuwanderung dar, die den Anteil an Bewohnern mit ausländischem Migrationshintergrund von 5,9 % in den 1870er Jahren bis auf 7,5 % im Jahr 1891 ansteigen ließ. Zur gleichen Zeit lag die entsprechende Quote in London bei 2,2 % und in Berlin bei 1,1 %. Der Bevölkerungszuwachs verteilte sich keineswegs gleichmäßig über das Stadtgebiet. Begünstigt waren vor allem jene Bezirke, die an der Peripherie lagen, also das 12. bis 20. Arrondissement sowie in wachsendem Maße die Banlieue. Insbesondere für ungelernte Arbeitskräfte aus der französischen Provinz und für Immigranten wurden die Randkommunen zu bevorzugten Wohnorten: Im Gegensatz zur 22 Casselle, Paris républicain, S. 127 u. 464–466 (Annex 8); Michel Mollat, Histoire de l’Ile de France et de Paris, Toulouse 1971, S. 521. Zur Gesamtentwicklung des 19. Jahrhunderts immer noch: Louis Chevalier, La formation de la population parisienne au XIXe siècle, Paris 1949; für die jüngere Zeit seit der Volkszählung von 1954: Alfred Dittgen, Logements et taille des ménages dans la dynamique des populations locales. L’exemple de Paris, in: Population 60 (2005), S. 307–347, bes. S. 310 f.

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Kernstadt lag hier für sie die Wahrscheinlichkeit erheblich größer, günstigen Wohnraum und einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden.23 Diese Entwicklung befeuerte und reflektierte gleichermaßen einen grundlegenden Wandel in der strukturellen Ausrichtung der Pariser Wirtschaft. Innerhalb der viereinhalb Jahrzehnte zwischen 1866 und 1911 machte die Tertiarisierung der hauptstädtischen Ökonomie sprunghafte Fortschritte. Zwar stieg auch die absolute Zahl der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe über den Betrachtungszeitraum hinweg von etwas über einer halben Million auf fast 700.000 an. Der Anteil der Beschäftigten im weitverzweigten Dienstleistungssektor überholte jedoch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts jenen des sekundären Sektors. Erwerbstätige im Handel, bei Banken und Versicherungen, in den freien Berufen, im Gaststätten- und Vergnügungsgewerbe, in haushaltsnahen Tätigkeiten oder im öffentlichen Dienst prägten mehr und mehr das Wirtschafts- und Arbeitsleben in der Stadt. Paris nahm den Charakter eines weit ausstrahlenden Dienstleistungszentrums an und blieb doch auch Industrie- und Arbeiterstadt. Damit verknüpfte sich für die Metropole ein signifikanter intra-industrieller Wandel mit raumwirksamen Folgen, der unter anderem zu Lasten altindustrieller Branchen wie der Textil-, Bekleidungs- oder Eisenindustrie ging. Noch zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs war die Hauptstadt der wichtigste Industriestandort Frankreichs gewesen; dieser Status machte in der Folge einer Dezentralisierungsbewegung in Richtung der französischen Provinz Platz. Parallel dazu übernahm Paris jedoch eine führende Position im Entwicklungsgang jener Industrien, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert als Leitsektoren einer neuen, zweiten Periode der Industrialisierung fungierten: bei der Elektroindustrie, der Präzisionsmechanik sowie beim Fahrzeugbau. Typisch für die kommunale Wirtschaftsentwicklung war darüber hinaus das Florieren bestimmter, qualitätsorientierter Konsumgüterbranchen, darunter die Bronzeverarbeitung, das Graphikgewerbe oder auch die Produktion von Parfümerie-, Schmuck- und Silberwaren. Damit trug die Wirtschaft der französischen Hauptstadt nicht zuletzt auf ihre Weise zur Herausbildung von Frühformen der modernen Konsumgesellschaft bei.24

23 Alain Faure, Formation et renouvellement du peuple de Paris. Aspects du peuplement de Paris de la Commune à la Grande Guerre, in: Recherches contemporaines 5 (1998/99), S. 143–160; Casselle, Paris républicain, S. 127–137; Paul Gerbod, Des étrangers à Paris au XIXe siècle, in: Éthnologie française 25 (1995), S. 569–580; Susanna Magri, Politique du logement et besoins en main-d’oeuvre, Paris 1972, S. 65. 24 François Caron, L’embellie parisienne à la belle époque. L’invention d’un modèle de consommation, in: Vingtième Siècle 47 (1995), S. 42–57; Casselle, Paris républicain,

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Der beschriebene inter- und intrasektorale Wandel fand für Paris seine Entsprechung im Raum. Der Deindustrialisierung der zentralen und teils auch der westlichen Stadtviertel stand vor allem seit den 1880er Jahren eine forcierte Neu-Industrialisierung der peripher gelegenen 12. bis 20. Arrondissements sowie der Banlieue gegenüber. Im Ergebnis verschwanden die großen Industriebetriebe von mehr als 100 Mitarbeitern bis auf kleine Reste aus dem Stadtkern. Großbetriebe mit hohem Bedarf an Investitionskapital und Arbeitskraft ließen sich im Umland nieder, in ihrem Umkreis entwickelten sich Industrievororte wie Saint-Denis im Norden, Bobigny im Nordwesten oder Ivry im Südwesten.25 In der Gesamtschau zeichnet sich damit eine sozialökonomische Raumstruktur ab, die Paris und seine Banlieue im wesentlichen bis in die 1970er Jahre kennzeichnete. Für diesen Zeitraum haben wir es einerseits mit einem stark vom tertiären Wirtschaftssektor und kleingewerblich geprägten Zentrum und Westen der Stadt zu tun, wo eine mittelständische, bürgerliche, auch großbürgerliche Sozialstruktur vorherrschte. In den dort gelegenen Vierteln fanden sich die höchsten Einkommensniveaus. Zentrum und Westen von Paris wurden andererseits von einem industrialisierten Gürtel umschlossen, der sich entlang der peripher gelegenen Arrondissements vom Nordosten bis in den Südwesten erstreckte. Innerhalb dieser Zone war ein durchschnittlich niedrigeres Haushaltseinkommen sowie ein deutlich höherer Anteil an Arbeitern in der Wohnbevölkerung anzutreffen. Diese Quote stieg noch einmal an, sobald man die Stadtgrenze zum Umland hin überschritt. Die verfügbare Kommunalstatistik für das Jahr 1921 kann die Größenverhältnisse deutlich machen: Wurden in der Hauptstadt selbst etwa 32 % der Erwerbstätigen als Angestellte und ca. 40 % als Arbeiter erfasst, so lagen die entsprechenden Anteile in der Banlieue bei etwa 16 bzw. über 51 %. Selbständige Unternehmer waren hingegen in beiden Räumen in annähernd gleicher Proportion anzutreffen (8,2 bzw. 9,4 %).26 Die latente Spannung zwischen Kernstadt und Peripherie, die dem Strukturbild von Paris also etwa seit dem späten 19. Jahrhundert eingeschrieben war, fand ihren sichtbarsten Ausdruck nach dem Ersten Weltkrieg, als sich die wachsenden Gegensätze zwischen den politischen Extremen entlang dem sozialräumlichen Antagonismus von bürgerlichem Zentrum und „rotem Gürtel“ entfalteten. In den 1920er Jahren lebte die Mehrzahl der Pariser Arbeiter in S. 190 u. 210; zum Bezug auf den Begriff der „zweiten industriellen Revolution“ und zu seiner Kritik: Dieter Ziegler, Die industrielle Revolution, Darmstadt 2005, S. 102 f. 25 Maurice Daumas u.a., Évolution de la géographie industrielle de Paris et sa proche banlieue au XIXe siècle, Paris 1976, S. 343 ff. 26 Andreas Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 139 f.; Casselle, Paris républicain, S. 202–211.

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den Vororten des Seine-Départements, was diesen Raum nicht nur zur größten schichtspezifischen Siedlungszone in ganz Frankreich werden ließ, sondern überdies den enormen Wahlerfolg der kommunistischen Linken dort zwischen den Weltkriegen entscheidend bedingte.27 Die Tendenz zur Polarisierung ließ die politische Topographie der hauptstädtischen liberalen Bewegung nicht unberührt. So fand sich liberales Wählerpotential noch in den 1870er Jahren über ganz Paris verteilt. Auf Rückhalt konnten die Radicaux vorwiegend in den zentral gelegenen „Quartiers populaires“, also im 3., in Teilen des 4. und 5. sowie im 11. Arrondissement bauen, daneben aber auch noch in besonderem Maße in den peripher gelegenen Stadtvierteln. Rechtsliberale, die unter verschiedenen Namen als „Républicains modérés“, „municipaux“ oder „indépendants“ figurierten, fanden ihre Klientel insbesondere in den zentral gelegenen Vierteln der Rive droite, also im 1., 2., 9., 10. und 16. Arrondissement. Seit 1880 veränderte sich dieses Bild, da sich liberale Politiker zunehmend der Konkurrenz durch sozialistische Kandidaten ausgesetzt sahen. Diese errangen deutliche Wahlsiege in ehemals von Radicaux vertretenen Vierteln, vor allem im 11. und 12., aber auch im 18., 19. und 20. Arrondissement. Paris bildete damit keinen Einzelfall: Bei den Kommunalwahlen von 1896 konnten sozialistische Kandidaten in 150 französischen Kommunen Wahlsiege erzielen, die teils bis in die Gegenwart reichende politische Kontinuitäten begründeten.28 Zugleich gelangen der nationalistischen Rechten, obwohl topographisch recht stabil im 7., 8., 9., und 16. Arrondissement verankert, bei ihrem Wahlgewinn von 1900 klare Einbrüche in ehemals radikale und sozialistische Bastionen.29 Bis 1914 stabilisierte sich das so entstehende neue Bild. In pointierter Formulierung gefasst, wurden der Norden, der Osten und der Süden von der Linken dominiert; der Westen und das Zentrum wählten hingegen eher rechts.30 27 Vgl. zur Begrifflichkeit: Édouard Blanc, La Ceinture rouge. Enquête sur la situation politique, morale et sociale de la banlieue de Paris, Paris 1927; zur Geschichte und politischen Orientierung des „roten Gürtels“: Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 140–143; eindrucksvoll am Beispiel der Entwicklung von Bobigny: Tyler Stovall, French Communism and Suburban Development: The Rise of the Paris Red Belt, in: Journal of Contemporary History 24/3 (1989), S. 437–460, hier S. 438; ders., „Friends, Neighbors, and Communists“: Community Formation in Suburban Paris during the Early Twentieth Century, in: Journal of Social History 22/2 (1988), S. 237– 254. 28 Joan Wallach Scott, Social history and the history of socialism: French socialist municipalities in the 1890’s, in: Le Mouvement Social 111 (1980), S. 145–153. 29 Nagaï, Conseillers municipaux, S. 54–58. 30 Casselle, Paris républicain, S. 103.

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Diese politischen Kräfteverhältnisse und Raumstrukturen haben denn auch wesentlich dazu beigetragen, den bestehenden kommunalen Wahlmodus noch im frühen 20. Jahrhundert zu zementieren: Auf seiten der nationalen linksliberalen Regierungen hatte man kein Interesse daran, mit einer Änderung zugunsten der bevölkerungsreichen Arrondissements eventuell den Sozialisten in die Hände zu arbeiten. Die nationale Rechte im Stadtrat aber profitierte selbst und nahm daher ebenfalls Abstand von einer Reform. Erst 1939 kam es mit dem Neuzuschnitt einiger Wahlkreise zur Beseitigung der massivsten, durch die demographische Entwicklung beförderten Asymmetrien in der politischen Repräsentation der Pariser Stadtgemeinde.

3. Stadtgesellschaft und liberale Politik Die beschriebenen Defizite kommunaler Demokratie und die massiven Einschränkungen der städtischen Selbstverwaltung durch die Exekutive werfen die Fragen auf, wie sich im politischen Alltagshandeln Entscheidungsbildung konkret gestaltete, wo die Entfaltungschancen eines machtpolitisch stark eingehegten munizipalen Liberalismus lagen und welche thematischen Schwerpunkte in der Praxis tatsächlich gesetzt wurden. In den Kategorien parteipolitischer Konfrontation lassen sich die Wendungen kommunaler Politik für Paris noch vor 1914 nur im Ansatz erfassen. Dies lag weniger daran, dass kommunale Problemstellungen per se „unpolitischsachbezogenen“ Charakter getragen hätten oder die Stadtratsmitglieder nicht in ihren grundsätzlichen politischen Orientierungen identifizierbar gewesen wären. Vielmehr fanden die parteienskeptischen Traditionen des französischen politischen Denkens, der geringe Organisationsgrad politischer Gruppierungen noch im frühen 20. Jahrhundert und die deliberative Praxis der Chambre des Députés ihre Fortsetzung hinein in die kommunale Vertretungskörperschaft. Zu Fraktionen schlossen sich die Mitglieder des Pariser Stadtrats denn auch erst gegen Beginn der 1880er Jahre zusammen. In bezeichnender Weise wurde dabei zunächst die Kommunalreform und die Verteidigung der „libertés parisiennes“ als konstituierender Anlass wirksam, bevor sich seit Ende des Jahrzehnts Fragen der Sozialpolitik und der Einrichtung von Kommunalbetrieben in der Gruppenbildung stärker manifestierten. Vergleichsweise klares Profil wies hierbei die sozialistische Fraktion auf, die sich 1897 zum erstenmal zusammenfand und wenig später mehrheitlich den programmatischen Schulterschluss mit der sozialistischen Kammerfraktion vollzog – freilich nicht ohne nach 1905 im Gefolge der Gründung der SFIO wieder eine Phase der Spaltung zu durchlaufen. Bis zu den Wahlen von

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1908 formierte sich außerdem eine radikalsozialistische Gruppe, die sich den Zielen der gleichnamigen Kammerfraktion erklärtermaßen anschloss. Gleichwohl blieben die Fraktionsstrukturen auch danach insbesondere im Bereich der rechts- und linksliberalen Mitte sowie auf der Rechten des „Conseil municipal“ überaus fluide. Zur allmählichen Verfestigung eines linken und eines rechten Lagers im Stadtrat stand diese Entwicklung ebenso wenig im Widerspruch wie zu dessen voranschreitender Politisierung, die für den Betrachtungszeitraum unter anderem an einer weitgehend parallelen Entwicklung der Wahlergebnisse zu jenen auf nationaler Ebene ablesbar war.31 Grundsätzlich blieben die politischen Loyalitäten der Stadträte jedoch nicht zuletzt aufgrund des kleinräumigen Vertretungssystems und des Mehrheitswahlsystems im Ein-Mann-Wahlkreis in der Regel eher ihrem lokalen Umfeld als einer politischen Gruppierung zugewandt.32 Bedeutsam für die Bestimmung von Grenzen und Möglichkeiten politischer Mitwirkung sind daher jene nicht selten spannungsgeladenen Aushandlungsprozesse, die sich aufgrund der gegebenen Kompetenzverteilung zwischen Präfekt, Kommunalverwaltung und Stadtrat einstellten. Seit den späten 1870er Jahren war die Auseinandersetzung um das Kommunalstatut der Hauptstadt ein Zentralthema der Pariser Liberalen, vor allem der Radicaux. Alle Anträge unterschiedlicher Provenienz, ob sie nun im Stadtrat formuliert oder im Parlament vorgelegt wurden, ob sie Vorschläge zur Gewährung umfassender Autonomie beinhalteten oder lediglich kommunale Rechtsgleichheit einforderten, scheiterten indes, und das Thema verschwand um 1916 schließlich von der Tagesordnung. Erst in den 1920er Jahren lebte es zögernd wieder auf.33 Was im politischen Alltag blieb, war ein kontinuierliches zähes Tauziehen: Da der liberal dominierte „Conseil municipal“ die eigenen Befugnisse extensiv auslegte, führte er ohne autorisiert zu sein unter anderem das Kommissionsprinzip ein, ließ Protokolle der Stadtratssitzungen drucken und öffentlich machen oder begab sich mit Beschlüssen, Empfehlungen und Wünschen immer wieder auf das eigentlich verbotene Feld der allgemeinen Politik. In Reaktion darauf griff der Präfekt des Département Seine allein zwischen 1883 und 1900 mehr als fünfzigmal zum Mittel der Annullierung von Stadtratsbeschlüssen. Die Spannweite der kritisierten Vorgänge reichte von der als unzulässig erachteten Einrichtung neuer städtischer Verwaltungsstellen über Fragen der Personalpolitik, politische Amnestien und

31 Nagaï, Conseillers municipaux, S. 57, 58–70 u. 335 (Graphik III-14). 32 In diesem Sinne auch Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 52 f. 33 Félix, Le régime administratif et financier, S. 161–185.

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das weite Feld der Laizität des städtischen Unterrichts bis hin zu Problemen des Arbeitsrechts.34 Im folgenden soll der bislang skizzenhaft aufscheinende Modus vivendi kommunaler Regierungsarbeit zwischen politischer Interessenvertretung und verwaltungspraktischem Effizienzdenken anhand zweier kommunaler Arbeitsfelder näher betrachtet werden.

4. Symbolische Repräsentation, Denkmalskultur und politische Deutungsmacht Die Ausgestaltung des städtischen Erinnerungsraums in der französischen Hauptstadt stellte aus Sicht der politisch konkurrierenden Kräfte keinen bloß dekorativen Überbau zu anderen Kernthemen kommunaler Politik dar. Im Paris der jungen Dritten Republik suchten die Gewinner wie die Verlierer des politischen Systemwechsels von 1870 hier sehr gezielt ein Diskussionsund, sofern möglich, auch ein Betätigungsfeld, auf dem sie zeitweise in harter Konkurrenz zueinander Terrain zu gewinnen suchten. Konkret ging es neben der symbolpolitischen Verankerung der siegreichen Republik im kollektiven Gedächtnis von Stadt und Nation um die Gestaltung und Repräsentation der ihr zugeordneten Gründungsgeschichten und nicht zuletzt um die Position des politischen Paris im nationalen Erinnerungsraum. Um 1870 trug das Stadtbild unübersehbare Spuren vergangener Herrschaftssysteme. Die Monarchie in ihren verschiedenen Erscheinungsformen, die Revolutionen, die beiden Kaiserreiche, zuletzt die Commune hatten das Bedürfnis entwickelt, sich zur politischen Vergangenheit Frankreichs und seiner Hauptstadt in Bezug zu setzen – sei es durch Akte der Zerstörung und der Bilderstürmerei35, sei es durch Um- oder Neugestaltung des Bestehenden. Die neue Republik stand hier keineswegs zurück. Gerade radikalsozialistische wie rechtsliberale Politiker und die Repräsentativgremien der nationalen und kommunalen Ebene waren auf dem Feld der Geschichtspolitik wichtige 34 Alfred Des Cilleuls, L’administration parisienne sous la 3e République, Paris 1910, S. 332–339. Zu den Konflikten zwischen Stadtrat und den beiden Präfekten während der Zeit der Dritten Republik auch: Jeanne Gaillard, Conseil municipal de Paris et municipalisme parisien (1871–1890), in: Bulletin de la Société d’histoire moderne 13 (1982), S. 7–16; Nagaï, Conseillers municipaux, S. 14; Casselle, Paris républicain, S. 41–43. 35 Louis Réau, Histoire du vandalisme. Les monuments détruits de l’art français, Paris 1994, S. 261–330; zur Zerstörung und zum Wiederaufbau der Siegessäule auf der Place Vendôme: Helke Rausch, Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848–1914, München 2006, S. 262–272.

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Impulsgeber. Das galt auch im Hinblick auf die symbolische Aneignung des öffentlichen Raums durch architektonische und plastische Denkmäler.36 Der Anspruch der Stadtvertretung darauf, die Kommune offiziell zu repräsentieren und damit dem Préfet de la Seine seine gesetzlich gewährte Rolle streitig zu machen, lässt sich bereits am außerordentlich prunkvollen Wiederaufbau des Pariser Rathauses ablesen. Während der Endphase der Commune-Kämpfe im Mai 1871 durch einen Brand zerstört, wurde es – anders als etwa der Tuilerienpalast, die ehemalige Cour des Comptes oder das Finanzministerium – auf Veranlassung des Stadtrats wieder aufgebaut. Innerhalb der hauptstädtischen Topographie der Dritten Republik kam ihm damit eine Sonderstellung zu. Denn in Abgrenzung von der Praxis des Zweiten Kaiserreichs verzichtete das neue Staatswesen nach 1870 auf Prunkbauten im Stile eines Napoleon III.; man nutzte vielmehr das Vorhandene und widmete es um. Das „Hôtel de Ville“ stellte daher nach seiner vorgezogenen Einweihung im Sommer 1882 und der endgültigen Fertigstellung im Jahr 1906 in der Tat den

36 Vgl. dazu im Überblick unter anderem: Maurice Agulhon, La „statuomanie“ et l’histoire, in: Ethnologie française 8 (1978), S. 145–172, bes. S. 156–158; Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995; Rausch, Kultfigur und Nation (hier auch ein eingehender Forschungsüberblick: S. 36–44); Janice Best, Les monuments de Paris sous la Troisième République: contestation et commémoration du passé, Paris 2010.

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„einzigen wirklichen Palast“37 der Kapitale dar. Die Vorgabe des Ausschreibungstextes, die Fassade in möglichst identischer Form wiederherzustellen, schloss Änderungen in der Bausubstanz nicht aus: So wurde das Gebäude um etwa 5000 Quadratmeter Nutzfläche vergrößert, während das 1888 festgelegte Bildprogramm der Außen- und Innendekoration ein republikanisches und zugleich auf die Behauptung städtischer Würde gegenüber der Staatsmacht bedachtes Ensemble bildete. Die Wahl der 800 Fassadenstatuen bemaß sich an der Pariser Herkunft der zu Ehrenden und würdigte unter anderem Opfer der Revolution oder Persönlichkeiten, die als Vordenker des republikanischen Gedankens interpretiert werden konnten. Im Salon Lobau stach ein Gemälde des Historienmalers Jean-Paul Laurens, „La Voûte d’acier“ (1891), hervor, das den Besuch Ludwigs XVI. im Pariser Rathaus am 17. Juli 1789 thematisierte. Darauf fügte sich die räumlich hervorgehobene Position des ersten Bürgermeisters von Paris, Jean-Sylvain Bailly, gegenüber dem Monarchen unübersehbar in den Symbolbestand erweiterter Gemeindefreiheit. Ein Denkmal des Führers der kommunalen Aufstandsbewegung gegen Charles V., Étienne Marcel, wurde 1888 in unmittelbarer Nähe des Rathauses, von den Arbeitsräumen des Präfekten aus gut sichtbar, aufgestellt. Die Spuren hingegen, die der jüngst zurückliegende Bürgerkrieg und die Commune hinterlassen hatten, waren schon aufgrund der vom Vorgängerbau kaum unterscheidbaren äußeren Struktur des Gebäudes aus dem öffentlichen Raum getilgt worden. Der politisch motivierten Zerstörung entsprach der städtebaulich-architektonisch mitbestimmte, doch in hohem Maße politisch konnotierte Wiederaufbau.38 Auf dem Feld der kommunalen Memorialkultur in Gestalt von Personendenkmälern bemaßen sich die Handlungsspielräume liberaler Politik im Pariser Stadtrat am rechtlichen Rahmen, an den finanziellen Möglichkeiten und an den schon thematisierten Notwendigkeiten politischer Taktik. Zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs hatten neue Standbilder in Paris faktisch nur mit Zustimmung Napoleons III. aufgestellt werden können. Seit Errichtung der Dritten Republik war das Plazet des Staatspräsidenten nötig, der über den Préfet 37 Casselle, Paris républicain, S. VIII (Zitat). 38 Vgl. hierzu die Beiträge im Jubiläumsband Livre du centenaire de la reconstruction de l’Hôtel de Ville 1882–1982, Hg. Bibliothèque administrative de la ville de Paris, Paris 1982, insbes. Pierre Casselle, Le Conseil municipal et la reconstruction de l’Hôtel de Ville 1871–1890, in: Ebd., S. 17–34, und Maurice Agulhon, Le langage des façades, in: Ebd., S. 51–58; Casselle, Paris républicain, S. VIII f. u. 43–53; Georges Poisson, Histoire de l’architecture à Paris (Nouvelle Histoire de Paris), Paris 1997, S. 519–525; Laurence des Cars/Alain Daguerre de Hureaux (Hg.), Jean-Paul Laurens 1838–1921. Peintre d’histoire, Paris 1997, S. 146.

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de la Seine und den Innenmininister in den Entscheidungsprozess involviert war. Dem Stadtrat von Paris erwuchsen Mitwirkungsmöglichkeiten aus der Tatsache, dass der Besitzer eines potentiellen Aufstellungsareals nicht übergangen werden konnte. Nahezu der gesamte in Frage kommende Boden innerhalb von Paris aber befand sich um 1900 in städtischem Eigentum; wichtige Ausnahmen bildeten lediglich der Jardin du Luxembourg und der Tuileriengarten, die dem Staat gehörten.39 Angesichts der gegebenen politischen Orientierungen auf nationaler und kommunaler Ebene bis um 1900 war jede der beteiligten Seiten in der Lage, Entscheidungen zu blockieren, und doch im Grundsatz daran interessiert, die Ausgestaltung republikanischer Gedenkkultur möglichst im Konsens voranzutreiben. Zwischen 1888 und 1910 erlebte Paris eine Serie von Denkmalsenthüllungen, die den liberal-republikanischen Gründerpersönlichkeiten der Dritten Republik galten. Getragen wurden diese durch Initiativkomitees, von denen vorwiegend zwei Typen in Erscheinung traten. So formierten sich einerseits Gruppen an der Schnittlinie von „Conseil municipal“ und Parlament, die republikanisch orientierte Senatoren, Abgeordnete, Stadträte und Pressevertreter umfassten. Andererseits wurden liberale Parteien und demokratische Ligen aktiv, darunter die „Ligue Française de l’Enseignement“, der „Parti Radical“ oder die rechtsliberale „Alliance républicaine démocratique“. Als erster kam auf diese Weise Léon Gambetta 1888 zu Denkmalsehren, danach folgten 1903 Jules Simon, 1909 Charles Floquet, 1910 schließlich Pierre Waldeck-Rousseau und Jules Ferry. Auf direkte Initiative des Stadtrats wurden daneben unter anderem die allegorischen Republikstatuen von 1873 und 1899 auf der Place de la Nation sowie das Denkmal für Georges Danton an der Place de l’Odéon aufgestellt. Verteilt vornehmlich über das 1., 6., 8., 11. und 12. Arrondissement wuchs auf diese Weise über zwei Jahrzehnte hinweg ein steinerner Memorialbestand. Sein Zentrum lag im Herzen der Stadt, wo zwischen Place de la Concorde im Westen und Place du Carrousel im Osten ein republikanisch-liberales Denkmalsforum entstand. Hier lag ein historisch besetzter Raum, der über 400 Jahre hinweg als Zentralort königlicher und kaiserlicher Machtentfaltung zuletzt unter Napoleon III. fungiert hatte. Nach dem Abriss des Tuilerienpalastes, der 1882 von der republikanisch dominierten Chambre des Députés beschlossen worden war, erfuhr das Gelände seine Umdeutung zum Erinnerungsort der siegreichen Republik.40

39 Rausch, Kultfigur und Nation, S. 81–85. 40 Hierzu und zum folgenden: Poisson, Histoire de l’architecture à Paris, S. 521; Rausch, Kultfigur und Nation, S. 105–110 u. 341–356; Best, Les monuments de Paris.

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Im Zustandekommen dieser politisch motivierten Denkmäler drückte sich die seit Ende der 1870er Jahre eroberte und konsolidierte Machtstellung des französischen Liberalismus aus. In der Wahl der Geehrten ebenso wie im Zuschnitt der Festveranstaltungen und -reden, die die Denkmalsenthüllungen jeweils begleiteten, manifestierte sich der Normen- und Wertekanon, für den die Republikaner standen; in der Kritik der Gegendemonstranten und im Tenor der Pressekommentare zeigten sich die Grenzen seiner Konsensfähigkeit. So nahmen im Panorama der personenbezogenen, offiziellen Deutungen jene Leitmotive Kontur an, die den „Kulturkampf“ der Republikaner auch über das Feld der Denkmalspraxis hinaus bestimmten: die Annahme, wonach die Nation in der Niederlage von 1870/71 zu sich selbst und zur historischen Vollendung der Revolution von 1789 gefunden habe (Gambetta); die Idee von der emanzipatorischen Kraft und Aufgabe der laizistischen, um Bildung für jedermann besorgten, egalitären Republik (Simon, Ferry); der Anspruch, die ganze Nation im Rahmen eines Politikentwurfs zu repräsentieren, der sich vom revolutionären Sozialismus ebenso abgrenzte wie vom militaristischen, kirchennahen Nationalismus (Floquet); schließlich der damit verknüpfte Appell, über die Spaltungen der Vergangenheit hinweg im Zeichen republikanischer Werte zur nationalen Einheit zu finden (Gambetta, Waldeck-Rousseau). Es versteht sich, dass der hauptstädtische Liberalismus links- oder rechtsrepublikanischer Couleur die diskursive Konstruktion des öffentlichen Bildes von der „wahren“ Republik zu keinem Zeitpunkt allein bestimmt hat. Die penetrant vorgetragene Fiktion nationaler Einheit und der Eklektizismus in der Stilisierung republikanischer Identifikationsfiguren rief während der innenpolitisch hochkonfrontativen Jahre um 1900 vehemente Proteste hervor, die sich bevorzugt aus Anlass von Denkmalsinaugurationen artikulierten. Im zeitlichen Umfeld der populistisch-rechtsnationalistischen Boulanger-Bewegung (1888–1890), der anarchistischen Attacken gegen die rechtsliberal dominierte Republik (1892–1894) und des versuchten rechten Staatsstreichs im Zuge der Dreyfus-Affäre (1899) formulierten rechte wie linke Republikskeptiker und -gegner ihre antirevolutionären, klerikal-konservativen oder sozialistischegalitären Gegenentwürfe. Überdies machten sich vor der Jahrhundertwende wiederholt Fissuren zwischen der rechtsliberal dominierten Regierungsebene und der linksrepublikanischen Stadtratsmehrheit bemerkbar. So wurde im Jahr 1878 aus Anlass der geplanten Aufstellung einer République-Statue die Forderung des „Conseil municipal“ auf Umsetzung revolutionär konnotierter Bildelemente von staatlicher Seite schroff zurückgewiesen. Fünf Jahre später gerieten die Einweihungsfeierlichkeiten der Allegorie auf der Place de la République erneut zu einer symbolpolitischen Konfrontation, als der Präsi-

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dent des „Conseil municipal“, Henri Mathé, den Festakt nutzte, um sein Bild von einer partizipatorisch gestalteten Republik konfrontativ vorzutragen. Dass eine grundsätzliche Revision des Pariser Kommunalstatuts einschließlich des Zugewinns an städtischer Autonomie zu seinem Forderungskatalog gehörte, führte dazu, dass der zuständige Minister der Veranstaltung fernblieb. Immerhin aber gelang es, zwischen 1880 und 1899 nicht weniger als drei Republik-Monumente als Gemeinschaftsprojekte von Staat und Stadt zu realisieren.41 Die entscheidenden Trennlinien im Prozess der denkmalspolitischen Bedeutungszuweisung durch Liberale verliefen nicht innerhalb des liberal-republikanischen Lagers, sondern manifestierten sich in der Abgrenzung nach außen. Im Ergebnis behielt der politische Liberalismus in der Hauptstadt seine „ungebrochene Symbolmacht“ auch nach der Jahrhundertwende, was nicht zuletzt mit einem gewissen Pragmatismus in der Absorption von Elementen konservativer Nationsauffassungen rund um Napoleon I. zu tun hatte. Demgegenüber schaffte es der aggressive Rechtsnationalismus vor 1914 nicht, zu dominanter öffentlicher Deutungsmacht vorzudringen.42 Ähnlich verhielt es sich mit der Abgrenzung gegenüber Ansätzen linksrevolutionärer Sinnstiftung, die seit den frühen 1880er Jahren im Streit um die Errichtung eines Denkmals für die Opfer der Commune auf dem städtischen Friedhof Père-Lachaise Form annahmen. Zum Ort der Erinnerung an die Füsilierung der letzten Überlebenden der Pariser Aufstandsbewegung gegen die provisorische Regierung am 28. Mai 1871 war die „Mur des Fédérés“ erst etwa eineinhalb Jahrzehnte nach den Ereignissen der „semaine sanglante“ geworden. Im Dezember 1880, wenige Monate nach der Amnestie zugunsten der ehemaligen Kommunarden, hatte der radikalsozialistische Journalist Henri Rochefort den Stadtrat mit dem Vorschlag einer Gedächtnisstätte konfrontiert, ohne jedoch auf mehrheitliche Zustimmung zu stoßen. Die begleitenden Meinungsverschiedenheiten im Conseil bezogen ihre Heftigkeit aus der Tatsache, dass sie sich eng mit der historischen Einschätzung der Commune verbanden: In den Augen der Denkmalsverfechter hatten die Toten die bedrohte Republik gegen eine Koalition aus äußeren Feinden und Anhängern der Monarchie im eigenen Land verteidigt. Für die Denkmalsgegner standen indes nicht die sozialrevolutionären Anhänger der Commune, sondern deren republikanische Gegner um Thiers und Gambetta als Traditionsstifter am Ursprung der Dritten Republik. 41 Rausch, Kultfigur und Nation, S. 356–370; zur Geschichte der Republik-Statuen im Pariser Stadtbild: Maurice Agulhon, Marianne au pouvoir. L’imagerie et la symbolique républicaines de 1880 à 1914, Paris 1989, S. 70–80. 42 Rausch, Kultfigur und Nation, S. 480–486 (Zitat S. 480).

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In der Folge trieb die soziale Praxis das Geschehen voran: stiegen doch seit den frühen 1880er Jahren die Besucherzahlen am Ort des Massengrabs zusehends an, während die städtische Friedhofsverwaltung bereits Anstalten machte, das Terrain neu zu parzellieren und es damit als kollektiven Erinnerungsort zu tilgen. Der Antrag des sozialistischen Stadtratsmitglieds Jules Joffrin, den Symbolort dauerhaft an die Angehörigen der Toten zu übergeben, versuchte dagegen anzugehen, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Er machte allerdings bis Ende 1883 einem Kompromiss Platz, der vorsah, dass die Stadt zwar keine Nutzungskonzession vergeben, doch über die kommenden 25 Jahre hinweg ihrerseits auf eine Neuaufteilung des Grabgeländes verzichten und für die infrastrukturelle Erschließung sorgen würde. Damit war die entscheidende Voraussetzung für einen Gedenkort geschaffen. Der knapp zustande gekommene, fragile Kompromiss spaltete die republikanische Stadtratsmehrheit und konnte wenige Monate später nur bestätigt werden, weil neben der äußersten Linken auch Politiker des liberalen Lagers dafür stimmten. Bemerkenswert bleibt das Leitmotiv der vergangenheitspolitischen Konfliktlösung, das sich durch die Entscheidungen des Conseil hindurch abzeichnet: Man befürwortete die politische Pazifizierung durch Amnestie und kollektives „Vergessen“, lehnte jedoch jede „Glorifizierung“ der Commune und ihrer Opfer ab.43 Nach der Grundsatzentscheidung des Stadtrats verlagerte sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen um das Commune-Denkmal an den Begräbnisort selbst, und die städtische Versammlung trat als Protagonistin in den Hintergrund. Während sich die „Mur“ seit den 1880er Jahren als Erinnerungsstätte der sozialistischen Linken etablierte und durch Bepflanzung oder regelmäßig abgehaltene Demonstrationszüge symbolisch besetzt wurde, leistete der Präfekt hinhaltenden juristischen Widerstand. Die Polizeipräfektur zensierte verstärkt in den 1890er Jahren die Sprache der Kranzinschriften, setzte das Verbot roter Fahnen durch und kanalisierte in diskriminierender Weise die Menge der Besucher. Erst beinahe dreißig Jahre nach seinem Beginn fand der Streit um die Würdigung der Commune-Toten im Jahr 1908 mit der Anbringung einer Marmortafel ein Ende.44 Dies geschah bezeichnenderweise erst zu einem Zeitpunkt, da die Frage an politischer Brisanz eindeutig verloren hatte. Auch wenn erkennbar ist, dass die linksliberale Stadtratsmehrheit eine vermittelnde Position zwischen Staat und Denkmalsverfechtern einzunehmen 43 Ebd., S. 276. 44 Madeleine Rebérioux, Le mur des Fédérés. Rouge, „sang craché“, in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1, Paris 1997, S. 535–558, hier S. 541–549; Rausch, Kultfigur und Nation, S. 272–281; Best, Les monuments de Paris, S. 217–236.

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versuchte, zeichnet sich doch eine unübersteigbare Grenze der Integrationsbereitschaft dort ab, wo es darum ging, den Gründungsmythos der Republik gegen konkurrierende Deutungsmuster nationalistischer, aber vor allem auch sozialrevolutionärer Prägung abzusichern.

5. Wohnungsbau, Verkehrsinfrastruktur und politische Effizienz In den Jahrzehnten nach 1870 trat Paris in mehrfacher Hinsicht in eine fordernde Phase seiner urbanen Entwicklung ein. Drei Kardinalprobleme – der demographische Zuwachs, die Folgen des ökonomischen Strukturwandels und der Prozess der Suburbanisierung – hatten sich in einer Weise verflochten, die politische Reaktionen jenseits der bislang beschrittenen Pfade unabweisbar machte. Bereits in zeitgenössischer Sicht schienen sich zentrale Aspekte der sozialen Frage und der kommunalen Entwicklung vor allem in der Problematik des Baus von Arbeiterwohnungen zu verdichten.45 Das Erbe der Ära Haussmann erwies sich dabei als durchaus ambivalent: Entfaltete die unter dem Zweiten Kaiserreich begonnene „Transformation de Paris“ in den inneren Stadtvierteln zweifellos städtebaulichen und architektonischen Glanz, hinterließ sie der Kommune zugleich eine erhebliche Schuldenlast und eine deutlich verschärfte Wohnungssituation. Die großen Straßendurchbrüche und Flächensanierungen unter anderem auf der Ile-dela-Cité, in der Umgebung des Hôtel de Ville oder im Opernviertel hatten in den 1860er Jahren günstigen Wohnraum in großem Umfang zerstört, ohne ihn an anderer Stelle der Stadt in gleicher Menge neu bereitzustellen. Der Boom auf dem Bausektor, der 1875/76 einsetzte und zahlreiche Mietshäuser im monumentalen Stil hervorbrachte, änderte daran nichts Grundsätzliches: Er konnte mit dem Bedarf nicht Schritt halten und kam vor allem den Bedürfnissen des wachsenden neuen Mittelstands entgegen. Überbelegung, mangelhafte hygienische Verhältnisse und Formen von Slumbildung blieben unter diesen Umständen weiterhin vor allem für die verbliebenen Elendsquartiere der Innenstadt sowie die äußeren Bezirke des 11. bis 15. und 18. bis 20. Arrondissements kennzeichnend.46 Wenngleich die Wohnungskrise in Paris erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs ihren Höhepunkt erreichte, so stellte sich doch bereits zwischen 1870 und 1914 ein erheblicher Mangel an preisgüns45 Ann-Louise Shapiro, Housing Reform in Paris: Social Space and Social Control, in: French Historical Studies 12/4 (1982), S. 486–507, hier S. 489. 46 Claire Lévy-Vroelant, Le diagnostic d’insalubrité et ses conséquences sur la ville. Paris 1894–1960, in: Population 54 (1999), S. 707–743.

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tigen kleineren Wohnungen ein. Da auch in den städtischen Randzonen mit deren zunehmender Erschließung das Mietniveau spätestens seit den 1890er Jahren spürbar anstieg, hatten Angehörige unterer Einkommensgruppen kaum eine andere Wahl, als ihre Wohnraumsuche immer weiter auf die Vororte auszudehnen.47 Einige öffentliche Virulenz erhielt das Thema, seitdem sich vorstaatliche Gruppierungen vom Zuschnitt der „Société française des habitations à bon marché“ oder des „Musée social“ in den 1880er/1890er Jahren unter anderem der Aufgabe zuwandten, interessierte Mediziner, Sozialreformer, Ingenieure, Architekten und Unternehmer zusammenzuführen. Diese sollten Fragen der Wohnraumökonomie, der Stadtplanung oder der urbanen Hygiene im Expertenkreis prüfen und Lösungsvorschläge in die öffentlichen und parlamentarischen Debatten einspeisen. Aufgrund der hohen Zuwanderungsraten – zwischen 1876 und 1881 hatte Paris einen Migrationsgewinn von über 253.000 Personen zu verzeichnen – war die Wohnungsfrage überdies bereits auf die politische Tagesordnung gerückt und im Zuge der Kommunalwahlen von 1881 seitens der interessierten Öffentlichkeit eingehend diskutiert worden.48 Als man sich in der Kommunalvertretung in den frühen 1880er Jahren zum erstenmal seit der Republikgründung mit der Thematik befasste, nahm man mit einiger Sorge zur Kenntnis, dass sich aus der virulenten Kombination von hohen Mietpreisen, Überbelegung und gesundheitsschädlichen Wohnverhältnissen ein soziales Problem entwickelte. Es erschien umso drängender, als es von seiten der sozialistischen Bewegung zum Gegenstand nachdrücklicher 47 Die Verschuldung, die Haussmann zur Finanzierung seiner Bauprojekte eingegangen war, belief sich auf 1,7 Mrd. Franc, an deren Rückzahlung die Stadt Paris bis ins Jahr 1928 zu tragen hatte. Vgl. Anthony Sutcliffe, The Autumn of Central Paris. The Defeat of Town Planning 1850–1970, London 1970, S. 56–58 u. 145 ff.; Willms, Paris, S. 343–403; Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 247–253; zum Wohnungsmarkt in Paris auch: Nicholas Bullock/James Read, The movement for housing reform in Germany and France 1840–1914, Cambridge 1985, S. 298–308. 48 Allan Mitchell, The Municipal Council of Paris and the Problems of Public Welfare in France (1885–1914), in: Francia 14 (1986), S. 435–450; Alain Faure, À l’aube des transports de masse. L’exemple des „trains ouvriers“ de la banlieue de Paris (1883– 1914), in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 40/2 (1993), S. 228–255, hier S. 230; Janet R. Horne, L’antichambre de la Chambre: le Musée social et ses réseaux réformateurs 1894–1914, in: Christian Topalov (Hg.), Laboratoires du nouveau siècle. La nébuleuse réformatrice et ses réseaux en France 1880–1914, Paris 1999, S. 121– 140; zum Wandel der SFHBM vom Reformforum zur Interessenvertreterin: Susanna Magri, La réforme du logement populaire: la Société française des habitations à bon marché 1889–1914, in: Ebd., S. 239–268; Janet Horne, A Social Laboratory for Modern France. The Musée Social and the Rise of the Welfare State, Durham 2002.

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Reformforderungen und improvisierter, auf Öffentlichkeitswirksamkeit zielender „Wohnstreiks“ gemacht wurde. Mehrheitsfähige Lösungsvorstellungen lagen zu diesem Zeitpunkt allerdings nur in einer Hinsicht vor: Anders als staatliche Stellen legte man sich im „Conseil municipal“ auf eine Strategie fest, die die Errichtung von sozialintegrativ gedachten, mehrstöckigen Mietshäusern innerhalb der Stadtgrenzen als Ziel definierte. Das Zusammenführen von Wohneinheiten unterschiedlicher Größe und Ausstattung in einem Gebäude sollte schichtenübergreifendes Wohnen ermöglichen, sozial monostrukturierte Mietskasernen vermeiden und gesellschaftliche Antagonismen abbauen helfen. Dass man damit sowohl dem Bau kleiner Einfamilienhäuser, wie sie von Sozialreformern bevorzugt wurden, als auch der Übernahme des Konzepts der Vorortsiedlungen nach Londoner Muster Absagen erteilte, lag auf der Hand und wurde nicht zuletzt mit den hohen Pariser Grundstückspreisen und dem lückenhaften Nahverkehrssystem begründet. Ohnehin konnte die Stadt kein Interesse daran haben, Steuerzahler an Umlandgemeinden zu verlieren. Im Hinblick auf die räumliche Stadtentwicklung folgte der Pariser „Conseil municipal“ somit bis ins frühe 20. Jahrhundert keinem auf den Agglomerationsraum bezogenen, umfassenden planerischen Leitbild. Dominierend war ein Konzept der „innerstädtischen Dezentralisierung“, das zwar die Erschließung der intra muros gelegenen Randbezirke vorsah, die funktionale Anbindung an die Vororte der Banlieue aber kritisch bis ablehnend betrachtete.49 Jenseits dieser mehrheitsfähigen Grundgewissheiten zeigten sich die Stadtvertreter in Fragen der ökonomischen Realisierung tief gespalten. Drastische Vorschläge, wie sie von den sozialistischen Stadträten Jules Joffrin und Lucien Manier präsentiert wurden, hatten keine Umsetzungschancen: Strafsteuern für leerstehende Wohnungen schieden als Instrumente ebenso aus wie die Enteignung von Immobilienbesitz oder das direkte Engagement der Stadt beim Bau von Arbeiterwohnungen. Anders als etwa für das Feld der städtischen Gasversorgung, wo sich unter gewandelten Mehrheitsverhältnissen kurz nach der Jahrhundertwende eine heterogene Koalition aus Konservativen, Sozialisten und Linksrepublikanern gegen ein privatwirtschaftliches Versorgungsmonopol und zugunsten einer Kommunalisierungslösung formierte50, zogen die libe49 Ann-Louise Shapiro, Housing the Poor of Paris 1850–1902, Madison 1985, S. 118 u. 121 f.; zum Leitbild jener Modellsiedlung, die von der „Société des Cités Ouvrières“ in Mulhouse seit den 1850er Jahren errichtet worden war: Bullock/Read, The movement for housing reform, S. 318–324; Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 248 (Zitat). 50 Lenard R. Berlanstein, Big Business and Industrial Conflict in Nineteenth-Century France. A Social History of the Parisian Gas Company, Oxford 1991, S. 78; Bendikat,

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rale Stadtratsmehrheit und die Spitzen der Kommunalverwaltung ausschließlich Mittel zur indirekten Beeinflussung des Wohnungsmarktes in Betracht. Diskutiert wurde unter anderem über die Verpachtung von städtischem Besitz zugunsten von Arbeiterorganisationen, die zeitlich begrenzte Vergabe kommunalen Bodens an private Baugesellschaften oder die Erstellung von Musterprojekten in verschiedenen Stadtteilen. Daneben entwickelten Arbeitsgruppen von Stadt und Staat Ideen für Förderprogramme, die unter anderem anhand von Krediten oder Zuschüssen durch die halbstaatliche Hypothekenbank „Crédit Foncier“ – begleitet von steuerlichen Anreizen und garantiert durch städtische Bürgschaften – den privaten Wohnungsbau anheizen sollten.51 Als Fürsprecher derartiger Lösungen profilierten sich auf kommunaler Ebene vor allem Einzelpersönlichkeiten linksrepublikanischer oder sozialistischer Provenienz wie Charles Amouroux, Henri Michelin, Camille Dreyfus, Tony Révillon oder auch Édouard Vaillant. Realisiert wurde indes keines der vorgetragenen Projekte. Dem stand eine starke Strömung in der Kommunalvertretung entgegen, die die finanzpolitische Unabhängigkeit der Stadt gegenüber staatlichen Eingriffen in den Vordergrund rückte und zur Sparsamkeit aufrief, die Verstrickung in einen Teufelskreis von Bauausgaben und Folgekosten fürchtete oder städtischen Wohnungsbau als karitatives Engagement jenseits des eigentlichen kommunalen Aufgabenbereichs generell ablehnte. Besonders vorsichtige Stimmen warnten vor der Übernahme bankähnlicher Aufgaben, die sich absehbar mit der Gewährung von Bürgschaften und der resultierenden Kreditwürdigkeitsprüfung verbinden würden, oder sahen städtische Stellen schlichtweg überfordert durch Aufgaben der Bauaufsicht und der Mietpreiskontrolle. Spürbar zurückhaltend tastete sich der „Conseil municipal“ also an ein neuartiges Aufgabenfeld heran. Eine Reihe von Faktoren trug dazu bei, mentale Barrieren zu schaffen: Das ausgeprägte Misstrauen gegenüber privatwirtschaftlichem Profitdenken auf seiten vieler Stadtvertreter nicht nur des linken Spektrums, negative Erfahrungen mit der staatlichen Subventionspraxis zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs oder auch mangelnde Expertise in Finanzfragen zählten dazu. Für Republikaner mit ausgeprägt wirtschaftsliberalen Überzeugungen hingegen bot bereits eine Politik selektiver steuerlicher Vergünstigungen hinreichend Anlass, um Formen der Marktverfälschung zu beklagen und als Abkehr von der bewährten Praxis der Nichtintervention abzulehnen. Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 161–166. 51 Hierzu und zum folgenden: Shapiro, Housing the Poor of Paris, S. 111–133 u. 159– 164; dies., Housing Reform in Paris; Bullock/Read, The movement for housing reform, S. 488–522; Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 247–253.

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Diese Widerstände, zusammen mit technischen Umsetzungsschwierigkeiten und fehlenden gesetzlichen Rahmenbedingungen, wurden zunächst ausschlaggebend. Der schwierige Balanceakt zwischen Markterhalt und gezielter Marktbeeinflussung gelang noch bis nach der Jahrhundertwende nicht auf befriedigende Weise: Es war der Kommune angesichts der guten Ertragschancen der Immobilienbranche beim Bau von hochwertigem Wohnraum schlechterdings nicht möglich, die etablierten Mechanismen des Pariser Immobilienmarktes zumindest teilweise außer Kraft zu setzen, hinreichend Investoren anzuziehen und für exemplarisch anvisierte Bauprojekte die angestrebten günstigen Gestehungskosten mit hochwertiger Ausführung, guter Rendite und innerstädtischer Lage zu kombinieren. Dennoch würde ein einseitiges Bild von liberal beeinflusster kommunaler Daseinsvorsorge im Paris der Jahrhundertwende entstehen, wollte man es mit diesem Befund sein Bewenden haben lassen. Denn eben bedingt durch das wiederholte Scheitern – und durch dieses hindurch – formierten sich kollektive Erfahrungs- und Wissensbestände im Umgang mit der Wohnungsfrage, aus denen noch vor 1914 bescheidene praktische Erfolge erwuchsen. Anstöße dazu gingen im wesentlichen von einem lose koordinierten, doch weit gespannten Kreis von intrinsisch motivierten Sozialreformern, Medizinern, Architekten und Politikern der staatlichen wie kommunalen Ebene aus, die sich in Form von philanthropischen Einzelinitiativen, sozialpolitisch engagierten Studiengesellschaften oder gezielten parlamentarischen Initiativen organisierten. Der Unternehmer und Parlamentarier Jules Siegfried, der liberale Abgeordnete, Senator und mehrfache Minister Alexandre Ribot oder auch die sozialistischen Kammerabgeordneten Paul Aubriot und Marcel Sembat prägten die einschlägigen Debatten teils über Jahre hinweg. Im Pariser „Conseil municipal“ waren es wiederum Einzelpersönlichkeiten aus den Reihen der linksliberalen Radicaux, die sich hervortaten. Der Stadtrat und Senator Paul Strauss etwa war an der Schnittstelle zwischen Kommunalvertretung, Parlament und „Société française des habitations à bon marché“ seit der Jahrhundertwende als treibende Kraft tätig und beteiligte sich maßgeblich an der Erarbeitung von landesweit anwendbaren gesetzlichen Grundlagen für den kommunalen Wohnungsbau. Fachleute wie Siegfried, Ribot und Strauss hatten zurecht erkannt, dass diesbezügliche Rechtssicherheit als eine notwendige, wenngleich alleine noch nicht hinreichende Bedingung anzusehen war, um den französischen Kommunen die dringend benötigten zusätzlichen Handlungsspielräume zu geben.52 52 Vgl. zur Person und sozialreformerischen Tätigkeit von Paul Strauss insbesondere: Rachel G. Fuchs, The right to life: Paul Strauss and the politics of motherhood, in: Elinor A. Accampo u.a. (Hg.), Gender and the politics of social reform in France 1870–

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Es waren vor allem Entwicklungen auf zwei Ebenen, die die Thematik um die Jahrhundertwende neu in Fluss brachten. Zum einen definierten die Gesetze von 1894, 1906, 1908 und 1912, die unter wachsendem Problemdruck in recht rascher Folge novelliert wurden, einen politisch akzeptablen Kompromiss für die Einführung des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich. Seine Stärke lag darin, weit auseinanderliegende Vorstellungen von Sozialisten und Laissez-faire-Liberalen gleichermaßen zu integrieren und landesweit neue Wege hin zur „Interventionsstadt“ zu bahnen. Eine offenkundige Schwäche resultierte daraus, dass er allein selbstverständlich nicht imstande war, fest eingegrabene interventionsskeptische Mentalitäten zu relativieren. Im Ergebnis ließ der parlamentarische Kompromiss weder eine umfassende kommunale Bauträgerschaft noch die Auftragsvergabe nach dem Modell der „régie intéressée“ zu, welche die Kommunen mit unternehmerischen Interessen und Risiken versehen hätte. Immerhin aber erhielt die Stadt Paris nach Jahrzehnten der öffentlich geführten Debatten im Juli 1912 erstmals vom Gesetzgeber die Möglichkeit, bedingt selbständig Projekte des kommunalen Wohnungsbaus in Angriff zu nehmen – vorausgesetzt, dass die Mehrzahl der Wohnungen für kinderreiche Familien vorgesehen und die nachfolgende Verwaltung der erstellten Gebäude nicht von der Stadt selbst übernommen würde. Damit war eine Piste der Möglichkeiten eröffnet worden, die bis 1914 freilich nur zögernd genutzt wurde: Von den 200 Mio. Francs, die die Stadt im Gefolge der normativen Ermächtigung an Krediten aufgenommen hatte, waren im Sommer 1914 etwa 4 Mio. investiert und die Bauarbeiten im Rahmen von sechs städtischen Projekten aufgenommen worden. Mehr als ein Anfang war damit nicht gemacht, denn keines der städtischen Bauprojekte war bei Kriegsbeginn abgeschlossen. Alles in allem blieb sozial motivierter Wohnungsbau in der französischen Hauptstadt bis 1912 im wesentlichen in den Händen von Stiftungen und gemeinnützigen Vereinigungen, darunter die „Fondation Rothschild“; zusammen entstanden so bis 1914 kaum mehr als einige Tausend Wohnungen.53

1914, Baltimore 1995, S. 82–105; Bullock/Read, The movement for housing reform, S. 494 ff. 53 Aus der Fülle der Literatur zu den Anfängen des sozialen Wohnungsbaus in Frankreich sei genannt: Susanna Magri/Christian Topalov, De la cité-jardin à la ville rationalisée. Un tournant du projet réformateur 1905–1925. Étude comparative France, Grande-Bretagne, Italie, États-Unis, in: Revue française de sociologie 28/3 (1987), S. 417–451; Marie-Jeanne Dumont, Le logement social à Paris 1850–1930. Les habitations à bon marché, Liège 1991; Bullock/Read, The movement for housing reform, S. 277–522; Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 252 f.; polemisch gehalten: Roger-Henri

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Zusätzlichen Handlungsspielraum erhielt die kommunale Wohnungspolitik der Stadt Paris um 1900 zum anderen durch die planerische Erschließung der sogenannten „petite banlieue“. Bereits im Jahr 1860 hatte die Stadt auf Veranlassung des Seine-Präfekten 25 Nachbarkommunen der engeren Umgebung ganz oder in Teilen eingemeindet und damit ihr Territorium annähernd verdoppelt. Um der expandierenden Metropole neuen Entfaltungsraum zu schaffen und die Chance auf Erstellung von günstigem Wohnraum zu nutzen, zielten Reformvorschläge der 1880er Jahre darüber hinaus auf die Schleifung des zwischen 1841 und 1845 neu errichteten Festungsgürtels, der militärisch überflüssig geworden und mittlerweile in erster Linie als sozialökonomische Barriere wirksam war. Das ringförmige Territorium mit einem Umfang von etwa 1700 Hektar nutzbarer Fläche stellte das stadtplanerisch wichtigste Entwicklungsprojekt im Paris der Jahrhundertwende dar. Eine Einigung über die konkrete Gestaltung konnte indes in den Verhandlungen zwischen Stadtrat und Parlament, Kriegs- und Finanzministerium über Jahrzehnte hinweg nicht erzielt werden. Erst im Jahr 1908 wurde mit dem teilweisen Abriss der Festungsanlagen begonnen; ab April 1919 beseitigte man die letzten Abschnitte, und noch im gleichen Jahr wurde per Gesetz ein Nutzungskonzept festgeschrieben.54 Insgesamt kann also gewiss von lediglich begrenzten Erträgen liberal beeinflusster Wohnungspolitik in Paris um 1900 gesprochen werden; diesbezügliche „Lethargie“ oder gar „Resignation“55 war jedoch keineswegs zu beobachten. Anders als es ältere Deutungen partiellen kommunalpolitischen Versagens nahelegen, zeigt ein umfassenderer interpretatorischer Zugriff, dass die Kommunalpolitik der Stadt Paris während der frühen Jahrzehnte der Dritten Republik eine durchaus fruchtbare modernisierungspolitische Inkubationsphase durchlief. Insbesondere auf dem Feld des Abgleichs von privaten und öffentlichen Interessen sammelten Verantwortliche und begleitende Reformer wichtige Erfahrungen im Hinblick auf das „technisch“ Mögliche und das politisch Durchsetzbare. Mit der Schaffung der unverzichtbaren gesetzlichen Voraussetzungen und mit dem Zugewinn städtischer Landreserven rückten bei Beginn des neuen Jahrhunderts die Grundvoraussetzungen einer aktiven kommunalen Wohnungspolitik in greifbare Nähe. Guerrand, Propriétaires et locataires. Les origines du logement social en France 1850– 1914, Paris 1987, S. 316–321. 54 Bernard Rouleau, Paris: Histoire d’un espace, Paris 1997, S. 358–392; Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 37–39; Bullock/Read, The movement for housing reform, S. 361–373; Anthony Sutcliffe, Towards the Planned City. Germany, Britain, the United States and France 1780–1914, New York 1981, S. 157–162. 55 So die allzu einseitige Sicht bei Shapiro, Housing the Poor of Paris, S. 133 (Zitate).

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In der Forschung wurde zudem zurecht hervorgehoben, dass der Ausbau des Pariser Nahverkehrssystems, wie er seit den frühen 1880er Jahren diskutiert und in die Wege geleitet wurde, als sinnvolle Ergänzungsstrategie interpretiert werden kann. Angesichts der Blockaden, denen sich eine städtische Wohnraumpolitik ausgesetzt sah, stieß der „Conseil municipal“ bewusst den Bau einer Untergrundbahn an, die die Erschließung der Randbezirke vorantreiben und die Zukunftsperspektiven dezentraler städtischer Entwicklung wahren sollte. Durch das Erstehen eines marktmächtigen Nahverkehrsträgers – die erste Metrolinie wurde im Juli 1900 in Betrieb genommen – konnte nicht nur die privatwirtschaftliche Konkurrenz zur Verbesserung ihres Leistungsangebots gebracht werden. Vergleichbar dem Vorgehen im Bereich der Gas- und Wasserversorgung oder der Abwasserbeseitigung gelang es zudem, über das Instrument der Tarif- und Fahrplangestaltung erweiterten Schichten den Zugang zu moderner städtischer Infrastruktur zu ermöglichen und sozialpolitische Impulse zu setzen.56 Vergleicht man diese Strategie mit den Errungenschaften kommunaler Wohnungspolitik, dann waren Sozialisten und sozialpolitisch engagierte Liberale des Pariser Stadtrats vor 1914 zweifellos auf dem Feld der Nahverkehrspolitik erheblich erfolgreicher darin, ein passables Gleichgewicht zwischen effektiver Marktbeeinflussung, technischer Funktionalität und sozialpolitisch wirksamer Umsetzung des kommunalen Dienstleistungsgedankens herzustellen. Zu diesem Ergebnistableau trug bei, dass sich nach dem Machtwechsel der Jahrhundertwende auch unter einer konservativen Mehrheit für beide Aufgabenfelder keine harte Kurskorrektur in der Praxis des „Conseil municipal“ ergab.57 Bei allen Unterschieden, die ein internationaler Vergleich herausarbeiten kann, stellte die Wohnraumfrage europäische Städte um 1900 offenkundig vor Probleme, denen sie mit dem verfügbaren Instrumentarium weniger effektiv begegnen konnten als anderen wachstumsbedingten Herausforderungen; Paris bot hier keinen Einzelfall.58 Zu „koordinierte[n] Interventionen“ mit klarem Blick auf die planerische Verknüpfung des Wohnungs- und Nahverkehrssektors zeigte sich die Pariser Stadtvertretung vor 1914 jedenfalls nicht in der Lage. Gleichwohl war es eben die urbane Expansionsproblematik vornehmlich um Paris und Lyon, die in den Reihen von Kommunalpolitikern und Sozialreformern noch vor Kriegsbeginn einen allmählichen gedanklichen Paradigmenwechsel weg von 56 Bendikat, Öffentliche Nahverkehrspolitik, S. 236–254. 57 Ebd., S. 220. 58 Zu den Verhältnissen im internationalen Vergleich unter anderem: Friedrich Lenger, European Cities in the Modern Era 1850–1914, Leiden 2012, S. 95–130, hier S. 131.

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der Flächennutzungsplanung Haussmann’scher Prägung und hin zu stärker systemorientierten Auffassungen bewirkte. Es ist daher kein Zufall, dass sich die organisatorischen und konzeptionellen Wurzeln der französischen Regionalplanung der Zwischenkriegszeit bereits in den letzten Jahren vor Weltkriegsbeginn ausmachen lassen.59

6. Fazit Vieles spricht dafür, die erfolgreiche Selbstbehauptung der frühen Dritten Republik in hohem Maße auf die geglückte politische, sozialökonomische und kulturelle Integration einer von Niederlage und Bürgerkrieg versehrten, mit den Begleiterscheinungen von Hochindustrialisierung und Urbanisierung konfrontierten, im Werden begriffenen Demokratie zurückzuführen. Auf nationaler Ebene seit den 1880er Jahren tonangebend, beteiligten sich Liberale auch im hauptstädtischen kommunalen Rahmen an der Durchsetzung des „republikanischen Projekts“: an der Umsetzung jener politischen Utopie also, derzufolge die neue Republik über den bloßen Systemwechsel hinaus auf die Herstellung einer emanzipatorischen, fortschrittsorientierten, den „rückwärtsgewandten“ Mächten von Kirche und Monarchie widerstehenden und insbesondere auch sozial integrativen Bürgergesellschaft zu zielen habe. Wo indes die Grenze zwischen Inklusion und Ausgrenzung zu ziehen sei, welches Ausmaß das sozialpolitisch motivierte Eingreifen von Staat und Stadt annehmen durfte, wurde unter französischen Liberalen in den Jahrzehnten um 1900 – und darüber hinaus – kontrovers beurteilt. Erhebliches Potential zur Stiftung von Konsens wies die symbolpolitische Repräsentation des Wertekanons der siegreichen Republik in Gestalt von Personendenkmälern und République-Allegorien auf. Hier zogen sich die entscheidenden Konfrontationslinien je länger desto weniger durch das liberal-republikanische Lager selbst, sondern verliefen in Abgrenzung zur nationalistischen Rechten und sozialrevolutionären Linken. Die grassierende „Statuenmanie“ 60 und ihre vergangenheitspolitischen Konnotationen stehen dabei als ein Beleg für die erworbene, umfassende politische Deutungsmacht des liberalen Republika59 Elfi Bendikat, Soziale Interventionsstrategien im öffentlichen Nahverkehr in Paris und Berlin 1890–1914, in: Bock/Mieck (Hg.), Berlin–Paris, S. 293–327 (Zitat S. 327); Magri/Topalov, De la cité-jardin à la ville rationalisée, S. 425; Rouleau, Paris, S. 382– 387; Bullock/Read, The movement for housing reform, S. 369–371. 60 Agulhon, La „statuomanie“ et l’histoire.

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nismus, die sich in dem Maße stabilisierte, wie die Republikgründung machtpolitisch abgesichert werden konnte. Hier wie auf dem Feld der Sozialpolitik gingen hauptstädtische Liberale jedoch keinen Eigenweg. In dem durchaus aufnahmefähigen und elastischen Mythos von der Republik, als dessen Träger sich der französische Liberalismus bis um 1900 weithin akzeptiert profilieren konnte, war generell für das sozialrevolutionäre Erbe der Pariser Commune kein prominenter Platz vorhanden. Es macht, so scheint es, eines der Charakteristika des städtischen Liberalismus in Paris aus, dass er wahltaktisch über Jahrzehnte hinweg von einer Situation profitierte, die die kommunalpolitische Effektivität der Stadtvertretung erheblich minderte. Der ungerechte Zuschnitt der Pariser Kommunalwahlkreise begrenzte – zusammen mit der administrativen „Vormundschaft“61 durch die staatliche Exekutive – die politischen Partizipationschancen eines überwiegend links orientierten Teils der Stadtbevölkerung und beeinträchtigte damit den fairen Interessenausgleich zwischen den kommunalpolitisch Betroffenen ebenso wie letztlich den Problemlösungsprozess selbst. Gewiss besteht angesichts der vorgetragenen Befunde einmal mehr Anlass, das ältere Bild vom sozialpolitischen „Nachzügler“ Frankreich zu erweitern und zu differenzieren. Der Weg zum Sozialstaat folgte dort nicht nur eigenem Rhythmus und eigener Prägung62, sondern besaß auch eine noch nicht hinreichend erforschte, einflussstarke kommunale Komponente.63 Am Beispiel von Paris wurde deutlich, dass sich neben sozialistischen Politikern immer wieder auch sozialpolitisch engagierte Liberale vorwiegend linksrepublikanischer Couleur zu Fürsprechern einer stärker interventionistisch orientierten Leistungsverwaltung machten. Eine Bilanz liberal getragener bzw. beeinflusster Politik der kommunalen Daseinsvorsorge muss für Paris beim gegenwärtigen Stand der Forschung gleichwohl ambivalent ausfallen: Den unzweifelhaft zu konstatierenden, erheblichen Leistungen steht die gewichtige Tatsache gegenüber, dass es letztlich nicht gelang, den Prozess der sozialen Segregation effektiv zu steuern. Damit blieb der Beitrag der hauptstädtischen Wohnungs- und Verkehrsinfrastrukturpolitik zum republikanischen Integrationsprojekt zwiespältig. Der politische Gegensatz zwischen Zentrum und „Ceinture rouge“ wuchs sich zu einer Hypothek für die Zu61 Nivet, L’histoire des institutions parisiennes, S. 10. 62 Grüner, Arbeit, Bildung, Alterssicherung, S. 298–300. 63 Vgl. z.B. William B. Cohen, Urban government and the rise of the French city. Five municipalities in the nineteenth century, New York 1998 (der Band behandelt Lyon, Marseille, Bordeaux, Toulouse und Saint-Étienne); Lorcin, Le socialisme municipal en France.

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kunft aus und gab damit schon vor 1914 jenem sozialen Raum Kontur, der zwischen 1934 und 1938 zum Schauplatz einer „latenten Bürgerkriegssituation“64 in der Pariser Region wurde.

64 Wirsching, Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?, S. 604.

Autorenverzeichnis

Dr. Stefan Grüner, Privatdozent an der Universität Augsburg, vertritt derzeit den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Dr. Hideto Hiramatsu, Mitglied der Projektgruppe „Religion und Aufklärung in interkulturellen Bezügen“ an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg Dr. Georg Kreis, em. Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar und am Europainstitut der Universität Basel Dr. Dieter Langewiesche, em. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen Dr. Detlef Lehnert, Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Präsident der Hugo-Preuß-Stiftung und Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Dr. Akiyoshi Nishiyama, Professor an der Faculty of International Studies der Kyoritsu Women’s University in Tokyo Dr. Karl-Heinrich Pohl, em. Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Christian-Albrechts-Universität Kiel Dr. Ralf Roth, Professor für Neuere Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt Dr. András Sipos, Senior Archivist an den Budapest City Archives Dr. Holger Starke, Kustos für Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte am Stadtmuseum Dresden

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