Kopftuchdebatten in Europa: Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen 9783839432716

Hijab and identity: how do Muslim women speak for themselves in national debates and what repercussions are they confron

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German Pages 296 Year 2016

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Kopftuchdebatten in Europa: Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen
 9783839432716

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Danksagung
1. Nationale Narrative. Eine Analyse von Konflikten um Zugehörigkeit
2. Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit. Das Kopftuchverbot in Frankreich
3. Zwischen Säkularismus, Demokratie und Islam. Die Umdeutung des Kopftuchs in der Türkei
4. Was heißt Toleranz? Das Kopftuch in den Niederlanden
5. Homogenität oder Diversität? Die Interpretation des nationalen Narrativs in den deutschen Kopftuchdebatten
6. Die Politik des Kopftuchs. Nationale Zugehörigkeit neu denken
Methodologischer Anhang
Anmerkungen
Literatur

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Anna C. Korteweg, Gökçe Yurdakul Kopftuchdebatten in Europa

Globaler lokaler Islam

2016-06-29 09-11-12 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0216433576914492|(S.

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Anna C. Korteweg ist Professorin für Soziologie an der Universität Toronto. Sie publiziert zu Gender, Rassismus sowie Fragen der Integration von Zugewanderten in Nordamerika und Westeuropa. Gökçe Yurdakul ist Georg-Simmel-Professorin für Diversity and Social Conflict am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist sie Co-Leiterin der Abteilung »Wissenschaftliche Grundfragen zu Integration und Migration« am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung.

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Anna C. Korteweg, Gökçe Yurdakul

Kopftuchdebatten in Europa Konflikte um Zugehörigkeit in nationalen Narrativen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld THE HEADSCARF DEBATES: CONFLICTS OF NATIONAL BELONGING by Anna Korteweg and Gökçe Yurdakul published in English by Stanford University Press. Copyright © 2014 by the Board of Trustees of the Leland Stanford Junior University. All rights reserved. This translation is published by arrangement with Stanford University Press, www.sup.org.

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3271-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3271-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Vorwort  | 7 Danksagung  | 13 1. Nationale Narrative Eine Analyse von Konflikten um Zugehörigkeit  | 17 2. Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit Das Kopftuchverbot in Frankreich  | 35 3. Zwischen Säkularismus, Demokratie und Islam Die Umdeutung des Kopftuchs in der Türkei  | 89 4. Was heißt Toleranz? Das Kopftuch in den Niederlanden  | 137 5. Homogenität oder Diversität? Die Interpretation des nationalen Narrativs in den deutschen Kopftuchdebatten  | 185 6. Die Politik des Kopftuchs Nationale Zugehörigkeit neu denken  | 231 Methodologischer Anhang  | 247 Anmerkungen  | 261 Literatur  | 271

Vorwort

In Deutschland wurde spätestens im Zuge der Sarrazin-Debatte seit 2010 deutlich, wie sehr das Thema der Zugehörigkeit des Islam und der MuslimInnen zu Deutschland den öffentlichen Diskursraum umtreibt. Von höchster politischer Seite waren seitdem klare Bekenntnisse zu hören, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Im Zuge der Debatten um muslimische Geflüchtete tritt jedoch eine reflexartige Abwehr von MuslimInnen als außerhalb des europäischen Kulturraums verortete, tendenziell schlechter integrierbare Gruppierung wieder in den Vordergrund. Eine ambivalente Haltung gegenüber Musliminnen und Muslimen zeigt sich nicht nur anhand etablierter Stereotype, sondern findet ihren Ausdruck auch in den Haltungen zu politisch und öffentlich diskutierten Themen wie Beschneidung, Moscheebau oder religiösen Symbolen im öffentlichen Raum, worunter auch das Kopftuch fällt. Dabei wird zum einen diskutiert, welcher Platz Religion im weltanschaulich neutralen Staat zukommen soll, zum anderen, inwieweit Minderheitenreligionen gleiche Rechte zugestanden werden sollen wie den etablierten christlichen Kirchen. Das Beschneidungsverbot, der Bau von Moscheen oder das Tragen des Kopftuchs bilden seit einigen Jahren zentrale Punkte in öffentlichen Diskussionen. Sie sind entscheidende Symbole für die gesellschaftliche Sichtbarkeit, Repräsentation und Akzeptanz von Musliminnen und Muslimen, die immerhin die größte religiöse Minderheit in diesem Land sind. Während die Beschneidung die Privat- und Intimsphäre der Gläubigen betrifft, markiert der Moscheebau die öffentliche Präsenz muslimischen Lebens im sozialen Raum. Daneben gibt es eine Reihe von Konflikten, die sich direkt um das Verhältnis von Staat und Religion drehen. Dieses ist in Deutschland noch immer von einer  – wie es Ulrich Stutz bereits 1924 bezeichnete (Stutz 1924) – »hinkenden Trennung« geprägt, nach der es sich um getrennte Sphären handelt, die jedoch in kooperati-

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ver Weise miteinander verbunden sind. Gleichzeitig ist dem Staat eine religiös-weltanschauliche Neutralität auferlegt, die nach dem Bundesverfassungsgericht als »eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen« ist (Kopftuchurteil: BVerfG, 2 BvR 1436/02 vom 3.6.2003, Rn. 430). Neutralität erzwingt also keineswegs, dass der staatlich verantwortete Raum religiös-weltanschaulich steril ist, sie verhindert aber ein einseitiges Bekenntnis des Staates zu einer Religion. Besondere Relevanz entwickelt die Beziehung von Staat und Religion im Sozialraum Schule, zwingt er doch Menschen mit unterschiedlichen religiösen Auffassungen zum Miteinander. Nicht zuletzt deshalb, weil jede und jeder eigene Erfahrungen mit dem Schulbesuch gesammelt hat und es hier um die Entfaltungsmöglichkeit von Kindern und Jugendlichen geht, polarisiert diese Frage in der öffentlichen Diskussion besonders stark. Dies hat sich auch bei den Debatten zur Reichweite der religiös-weltanschaulichen Neutralität in der Schule gezeigt, die einerseits an dem in Bayern heute noch üblichen Kruzifix in Schulen sowie an dem Kopftuch von muslimischen Lehrerinnen entbrannt sind. Beide Konflikte gingen dabei bis vor das Bundesverfassungsgericht (vgl. Foroutan et al. 2014, 39). Das Kopftuch ist dabei ein Symbol, anhand dessen nicht nur in Deutschland die Grenzen von nationaler Zugehörigkeit neu ausgehandelt werden, wie Anna Korteweg und Gökce Yurdakul im hier vorliegenden Buch eindrücklich nachweisen. Die Debatte hierzulande hatte ihren Auslöser in der Weigerung des Oberschulamts Stuttgart, Fereshta Ludin in den Schuldienst zu übernehmen. Ludin fehle die persönliche Eignung, so die Begründung, da sie ihr Kopftuch im Unterricht nicht ablegen wollte. Der Prozess gegen diese Entscheidung führte bis vor das Bundesverfassungsgericht, welches 2003 festlegte, dass einem Kopftuchverbot die gesetzliche Grundlage fehle. Dem Gesetzgeber wurde in den Leitsätzen des Urteils aber eine gewisse Entscheidungsfreiheit mitgegeben: »Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein«, hieß es damals (BVerfG 2, BvR 1436/02). In der Folge erließen mit Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland die Hälfte der Bundesländer Gesetze, die das Kopftuch für muslimische Lehrerinnen verbieten sollten. Einige Landesgesetze beabsichtigten zugleich eine Ungleichbehandlung der Religionen, indem

Vor wor t

versucht wurde, christlich-abendländische Symboliken von dem Verbot religiöser Bekundungen auszunehmen – ein Vorstoß, der angesichts der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zum Scheitern verurteilt war. Aus diesem Grund hob auch das Bundesverfassungsgericht am 27. Januar 2015 das Kopftuchverbot auf und beschloss: »Ein pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen ist mit der Verfassung nicht vereinbar.« (Bundesverfassungsgericht 2015) In der politischen Auseinandersetzung um das Kopftuch von Lehrerinnen wird immer wieder die Bedeutung des Kopftuchs diskutiert. Während von Seiten der kopftuchkritischen Öffentlichkeit das Kopftuch immer wieder als politisches Symbol der Unterdrückung gewertet wird, formulieren Musliminnen bereits seit einigen Jahren eine andere Sichtweise. Eine Studie, die im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz erstellt wurde, stellte zunächst fest, dass 27,6 Prozent aller Musliminnen in Deutschland ein Kopftuch tragen (vgl. Haug, Müssig und Stichs 2009, 194–195). Dieser Anteil ist bei älteren Musliminnen deutlich höher als bei jüngeren (vgl. ebd., 196). Als Motiv für das Tragen des Kopftuchs dominiert die Perspektive, dass es sich um eine religiöse Pflicht handle. Von den befragten Musliminnen, die manchmal, meistens oder immer ein Kopftuch tragen, geben dies 92,3 Prozent an. An zweiter Stelle und von 42,3 Prozent genannt folgt die Einschätzung, dass das Kopftuch Sicherheit gebe. An dritter Stelle liegt der Wunsch, als Muslimin erkennbar zu sein. Fremderwartungen von Familie und/oder Partner spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle und werden jeweils von ca. sechs bis sieben Prozent der Kopftuch Tragenden genannt (vgl. ebd., 205–206). Damit stellt das Kopftuch für die meisten Musliminnen einen selbstbestimmten Akt religiöser Bekundung dar. Laut empirischen Studien findet allerdings beinahe die Hälfte der deutschen Bevölkerung, dass Lehrerinnen kein Kopftuch tragen sollten (vgl. Foroutan et al. 2014, 35). Jede und jeder Zweite verweigert demnach diese symbolische Anerkennung, die gleichzeitig vom Bundesverfassungsgericht als legitimes Recht anerkannt wird. Positiv stimmt allerdings der Befund, dass Jugendliche in Deutschland – hier sind Menschen im Alter von 16 bis 25 Jahren gemeint – einen deutlich offeneren und demokratischeren Umgang mit Vielfalt und Diversität an den Tag legen als Erwachsene. Dies zeigt sich auch in der Akzeptanz sichtbarer religiöser Diversität, die sich zum Beispiel im Tragen des Kopftuchs darstellt. Betrachtet man die Einstellung der jungen Erwachsenen, so zeigt sich, dass diese

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dem Kopftuch von muslimischen Lehrerinnen deutlich aufgeschlossener gegenüberstehen. Über 70 Prozent der Jugendlichen sprechen sich dafür aus, dass es muslimischen Lehrerinnen erlaubt sein sollte, ein Kopftuch zu tragen. Unter denjenigen, die selbst noch SchülerInnen sind, sprechen sich sogar mehr als drei Viertel gegen ein Kopftuchverbot aus. Die jüngere Generation akzeptiert das Kopftuch offenbar weitgehend als religiöses Symbol. Der enorme Bewertungsunterschied von 25 Prozentpunkten zwischen Jugendlichen und Erwachsenen sticht vor allem auch hervor, wenn man sich vor Augen führt, welche Argumente von JuristInnen ins Feld geführt werden, die den Grundrechtseingriff eines Kopftuchverbots rechtfertigen könnten. Einige Autorinnen und Autoren sehen etwa in der visuellen Konfrontation mit dem Kopftuch in der Schule bereits die (negative) Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler in Gefahr oder nehmen zumindest eine große Wirkung des Kopftuchs auf die anderen Schülerinnen und Schüler an. Argumente, die so offenbar von vielen jungen Menschen, um die es dabei geht, gar nicht geteilt werden. Auf Basis dieser empirischen Erkenntnisse muss über eine Abschaffung des Kopftuchverbotes in allen Bundesländern nachgedacht werden, denn faktisch stellen die Kopftuchverbote ein Berufsverbot für jene muslimischen Lehrerinnen dar, die aus religiösen Gründen nicht auf das Kopftuch verzichten wollen. Damit wirkt das Kopftuchverbot institutionell diskriminierend beim Zugang zum Lehrerinnenberuf und darüber hinaus legitimierend für Diskriminierungen von Kopftuch tragenden Frauen in anderen Gesellschaftsbereichen und auf dem privatwirtschaftlichen Arbeitsmarkt. Nicht nur für Musliminnen mit Kopftuch hat das Kopftuchverbot negative Auswirkungen. Auch für die Bundesländer ergeben sich ungünstige Folgen: So kann das Kopftuchverbot zu einem Lehrkräftemangel für den islamischen Religionsunterricht führen. Im religiös-weltanschaulich neutralen Staat muss eine Gleichbehandlung der Religionen als Grundlage gelten und ein systematischer Ausschluss aufgrund einer Religionszugehörigkeit erscheint nicht angemessen. Bedenkt man, dass über 90 Prozent der muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, dies als ihre religiöse Pflicht ansehen, so wird deutlich, dass hier die Religionsfreiheit einseitig eingeschränkt wird. Wenn zudem fast jeder zweite Erwachsene und 70 Prozent aller Jugendlichen das Kopftuch bei Lehrerinnen als rechtmäßig empfinden, so weist dies innerhalb der Bevölkerung auf eine starke Offenheit gegenüber diesem Recht auf religiöse Vielfalt hin, was die Politik in der Aufnahme der Debatte um dieses Urteil berücksichtigen könnte.

Vor wor t

Gökce Yurdakul und Anna Korteweg fokussieren im vorliegenden Buch Debatten zum Tragen des Kopftuchs, welche sich in den Aushandlungen von europäischen Körperpolitiken im Spannungsfeld zwischen Säkularismus und Religion verorten lassen. Die Autorinnen veranschaulichen, wie das von muslimischen Frauen getragene Kopftuch in Europa zum politischen Symbol für die Aushandlung geworden ist, wer zu Europa gehört und wer nicht. Das Kopftuch zeigt somit eine Ikonisierung des Islam im öffentlichen Raum. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Kopftuchverbote gekippt hat, erwartet uns nun eine sehr spannende Debatte darüber, wie die Landesgesetzgeber die Entscheidung umsetzen werden. Solche Debatten zeichnen die postmigrantische Gesellschaft aus. Hier geht es eben nicht nur um ein Stück Stoff. Hier wird Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit ausgehandelt. Es wird darüber verhandelt, wie Deutschland sich verändert, da es zu einem Einwanderungsland geworden ist, ob der Islam dazugehört und was das bedeutet. Solche Debatten sind jedoch immer der Gefahr ausgesetzt, dass die Aushandlung von Minderheitenrechten zum polarisierenden Faktor wird. Offenbar ist für die deutsche Gesellschaft und besonders für die jüngere Generation das Kopftuch kein fremdes oder angsterregendes Zeichen, sondern schlichtweg ein religiöses Symbol, welches zum Glauben eines anderen Individuums dazugehört. Wir können also empirisch davon ausgehen, dass das Urteil in der Gesellschaft auf Offenheit trifft. Ob sich diese Offenheit auch in Veränderungen bei der Konstruktion von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit niederschlägt, bleibt zu beobachten. Derweil gibt das vorliegende Buch deutliche Hinweise darauf, wie viele Hürden – auch narrativer Natur – hier noch zu überwinden sein werden, denn: Wie die beiden Autorinnen nachweisen, nehmen in einem Prozess des Ausschlusses Schulen und weitere staatliche Behörden eine wesentliche Rolle ein, da sie die Formation nationaler Identität mit repräsentieren. Das Kopftuch wird im Spannungsverhältnis von Säkularismus und Religion oftmals als Angriff auf die öffentliche Sicherheit sowie auf westliche Werte wie die Frauenrechte stilisiert, wie Yurdakul und Korteweg betonen. Solange die Institutionen sich der grundsätzlichen Offenheit der Bevölkerung verschließen, werden Frauen, die ein Kopftuch tragen, weiterhin diskriminierend ausgeschlossen werden. Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag dazu, auf diese Ungleichbehandlung aufmerksam zu machen. Naika Foroutan

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Danksagung

Die Idee zu diesem Buch entstand aus einer langjährigen Koautorinnenschaft, die bereits mehrere Publikationen über Probleme muslimischer Frauen in Westeuropa und Nordamerika zum Ergebnis hatte. Wir begegneten uns erstmals 2004 und spürten sofort eine Verwandtschaft in unserem Verständnis von Bürgerschaft, Zugehörigkeit und Partizipation, das einer intersektionalen Gender-Perspektive folgt, wenngleich wir damals an recht unterschiedlichen Forschungsprojekten arbeiteten. Dieses erste Treffen führte zu einer langfristigen, überaus produktiven Zusammenarbeit. Während sich viele AutorInnen für ein Arbeiten in der Isolation entscheiden, haben wir seit 2004 über den Ozean hinweg kooperiert – per E-Mail und Skype und durch gelegentliche Treffen in Berlin, Toronto, Montreal, Kopenhagen, Boston, Amsterdam und New York sowie an anderen Orten, in die uns der akademische Reisebetrieb führte. Die für uns faszinierende Frage, wie muslimische Frauen nationale Zugehörigkeit in der westeuropäischen Politik herausfordern und neu herstellen, wurde zum Ausgangspunkt dieses Buches. Beim Dekonstruieren westlicher und muslimischer Vorstellungen von Weiblichkeit, Religion, Kultur und Nation – was auch unser eigenes Verständnis von Feminismus herausforderte –, stellten wir fest, dass wir an einem Puzzle arbeiteten. Das vorliegende Buch handelt nicht nur von Kopftüchern und nationaler Zugehörigkeit; es beschäftigt sich auch damit, über die Grenzen verschiedener Nationen hinweg und aus der Perspektive des politischen und sozialen Engagements muslimischer Frauen, die Politik der Weiblichkeit zu verstehen. Und schließlich erfasst es den Prozess, durch den wir, als Frauen, die in westlichen Ländern einer Minderheit angehören, unsere eigene Zugehörigkeit neu definieren.

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Dieses Buch dokumentiert ein mehrsprachiges und multinationales Projekt, das wir ohne die Unterstützung unserer ForschungsassistentInnen in vier Ländern nicht hätten durchführen können. Inder Marwah, Lars Nickolson, Paulina Garcia del Moral, Özlem Kaya, Selin Çağatay, Natalie Lohmann, Soraya Hassoun, Salina Abji, Bingül Durbaş, Angelica Rao, Agata Piȩkosz und Emily Laxer haben uns bei der Datensammlung und der Erstellung von Datenbanken unterstützt. Zudem haben sie bei einer ersten Analyse der Daten geholfen. Salina Abji und Emily Laxer haben darüber hinaus das Manuskript korrekturgelesen, während Inna Michaeli und Janna Frenzel bei der Erstellung der Bibliografie mitgewirkt haben. Wir danken ihnen für ihre vielfältigen Sprachkenntnisse, ihre harte Arbeit und ihren Einsatz für dieses Projekt. Unsere KollegInnen und FreundInnen  – Esar Özyürek, Marc Baer, Ahmet Yükleyen, Naika Foroutan, Riem Spielhaus, Birgit zur Nieden, Pascale Fournier, Valérie Amiraux, Klaus Eder, Julia von Blumenthal, Liza Mügge, Peter O’Brien, Dilek Kurban, Ruud Koopmans, Bilgin Ayata, Serhat Karakayalı, Juliane Karakayalı, Gökhan Tuncer, Dilek Cindoğlu, Ruth Mandel, May Friedman, Phil Triandafilopoulous, Audrey Macklin, Randall Hansen, Paula Maurutto, Kelly Hannah-Moffat, Erik Schneiderhan, Hae Yeon Choo, Myra Marx Ferree und Jennifer Selby  – sowie unsere StudentInnen an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Toronto haben uns in Diskussionen wichtige Einsichten eröffnet. Anna dankt besonders ihren graduierten StudentInnen für die Lektüre einer früheren Fassung des Buches und ihre Kommentare dazu. Teile des Buches haben wir 2011 gemeinsam auf der Konferenz der Association for the Study of Nationalities in New York und auf der Konferenz der Social Science History Association in Boston vorgestellt. Gökçe präsentierte zudem 2013 das Kapitel über Deutschland in dem Workshop »Islamic Feminists, Islamist Women, and the Women Between« des Global Center der Columbia University in der Reid Hall in Paris. Ihr Dank für Anmerkungen gilt Nilüfer Göle, Lila Abu-Lughod und Katherine Ewing sowie den TeilnehmerInnen des Workshops. Im Frühjahr 2013 stellte Anna Teile des Buches im Wissenschaftszentrum Berlin vor sowie an der Memorial University of Newfoundland in St. John’s sowie am Center for German and European Studies und dem Department of Sociology an der University of Wisconsin. Des Weiteren hielt sie Vorträge bei dem Workshop »›Illegal‹ Covering: Comparative Perspec-

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tives on Legal and Social Discourses on Religious Diversity«, der 2012 im International Institute for the Sociology of Law in Oñati (Spanien) stattfand, sowie im »European Union Centre of Excellence Vth Annual Secondary School Students’ Workshop«, der 2011 an der Munk School of Global Affairs in Toronto abgehalten wurde. Ihr Dank für Anmerkungen gilt Valérie Amiraux und Pascale Fournier, Jennifer Selby, Dagmar Soennecken, Myra Marx Ferree, Ruud Koopmans und allen, die bei den Vorträgen und in den Workshops anwesend waren. Der kanadische Social Sciences and Humanities Research Council sowie der Gender Equality Fund der Berliner Humboldt-Universität haben die Datensammlung mit Forschungszuschüssen gefördert. Beiden Institutionen danken wir für ihre großzügige Unterstützung. Unser besonderer Dank gilt Kate Wahl, unserer Lektorin bei Stanford University Press, die uns beim Verfassen und Publizieren dieses Buches begleitet hat. Für die deutsche Ausgabe danken wir einer Gruppe von AssistentInnen, Übersetzern, LektorInnen sowie den MitarbeiterInnen des transcript Verlags. Öndercan Muti, Özgür Özvatan, Miriam Ajayi, Birgit zur Nieden und Gala Rexer haben die deutsche Übersetzung korrekturgelesen, die in großen Teilen von Sungur Bentuerk und streckenweise von Felix Kurz übersetzt wurde. Barbara Driesen und Katja Rasmus haben das Lektorat übernommen. Beim transcript Verlag haben Annika Linnemann, Roswitha Gost und Karin Werner das Buch mit großer Freundlichkeit publikationsfertig gemacht. Wir danken ihnen allen. Nicht zuletzt sind wir unseren Familien zum Dank verpflichtet. Gökçe dankt Eda und Oğuz für anregende politische Gespräche über die Türkei, Hartmut für lebhafte Diskussionen über deutsche Geschichte und Politik, Michal für wissenschaftliche und persönliche Ermutigung, Daphne Yudit und Tibet für simple, aber erhellende Fragen zu den wirklich entscheidenden Themen. Anna dankt Jim für seine unglaubliche Unterstützung, ihren Kindern Michal und Ruben dafür, dass sie ständige Inspirationen sind, ihrer Schwester Carine für die Unterbringung während der Feldforschungen in den Niederlanden sowie ihrer adoptierten Familie – May, Dan, Noah, Molly und Isaac – dafür, dass sie da sind. Und schließlich danken wir uns gegenseitig für die Verpflichtung zu dieser akademischen Partnerinnenschaft.

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1. Nationale Narrative Eine Analyse von Konflikten um Zugehörigkeit

Das Kopftuch muslimischer Frauen scheint in politischen Diskussionen erstaunlich viele unterschiedliche Interpretationen hervorzubringen. Statt einfach ein harmloses Stück Stoff zur Bedeckung der Haare, des Halses, des Gesichts oder der Augen zu sein, ist das Kopftuch – bzw. foulard, voile, başörtüsü, türban, hoofddoek, Burka, Niqab, Hijab  – mittlerweile Ausgangspunkt zahlreicher Debatten, unter welchen Bedingungen religiöse MuslimInnen zu säkularen und in der Tradition westlicher Politik stehenden öffentlichen Räumen zugehörig sind.1 Diskussionen darüber, wo und bei welchen Gelegenheiten Kopftücher getragen werden dürfen – in Schulen, Krankenhäusern, Privatunternehmen, ausschließlich zu Hause oder auf dem Weg zur Arbeit, nicht aber am Arbeitsplatz selbst –, entwickeln sich zu mitunter hitzigen Konflikten darüber, an welchen Orten Muslime ihre Religiosität zeigen dürfen. Auch Debatten darüber, wie Kopftücher getragen werden sollten – ob im Nacken zusammengebunden, ohne die Ohrläppchen zu verdecken, oder bis über die Schultern reichend oder das Gesicht bedeckend  – münden in Diskussionen über die Frage, was das Kopftuch politisch repräsentiert. Steht es für einen fundamentalistischen Islam? Eine Bedrohung der Nation? Oder eine neue ethno-religiöse Identität, die Anerkennung verdient, die vielleicht sogar als Bestandteil der westlichen Kultur akzeptiert werden sollte? Die Diskussionen über die Person unter dem Kopftuch zeigen, dass die zur Nation gehörenden Subjekte auf vielfältige, auch widersprüchliche Weisen definiert werden können: Sind ›sie‹ MuslimInnen, IslamistInnen, ImmigrantInnen, KonvertitInnen, FundamentalistInnen, Deutsche, NiederländerInnen, FranzösInnen oder TürkInnen? Diskussionen über die Bedeutung des Kopftuchs und darüber, was es repräsentiert, können auch den Ruf nach strengerer Reglementierung er-

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starken lassen: Wie sollen der Staat und andere Akteure darauf reagieren, dass in öffentlichen Institutionen Kopftücher getragen werden? Sollten ›wir‹ sie überall verbieten oder nur in bestimmten Institutionen? Sollte das Tragen des Kopftuchs allgemein unter Schutz stehen, oder nur, wenn es auf bestimmte Weise oder in einer bestimmten Funktion getragen wird? Diese Fragen rücken die regulierende Rolle des Staates hinsichtlich der Zugehörigkeit von MuslimInnen zur Nation in den Mittelpunkt. Die politischen Debatten über das Kopftuch illustrieren, dass es zu einem Symbol der Diversität geworden ist, die eine Folge jener Migrationsbewegungen in die Staaten Europas ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Umfang einsetzte, bzw. im Falle der Türkei der Migration innerhalb eines säkularen Staates mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit vom ländlichen in den urbanen Raum. Sowohl in öffentlichen Debatten als auch in wissenschaftlichen Analysen europäischer Länder steht das Kopftuch mittlerweile für einen mit der Einwanderung einhergehenden Verlust des nationalstaatlichen Zusammenhalts. Dabei wird dieser Verlust entweder als Schritt hin zu einer wünschenswerten kosmopolitischen Ordnung begrüßt oder als Bedrohung für den Zusammenhalt der Gesellschaft wahrgenommen. In vielen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit steht das Kopftuch für alle Themen, die mit der Partizipation religiöser MuslimInnen im öffentlichen Raum assoziiert werden (Cindoglu und Zencirci 2008; Vertovec 2011). Dies wird ersichtlich an jenen Fällen, in denen das Kopftuch ein ›gefährliches Verlangen‹ nach einer politischen Ordnung symbolisiert, in der religiöse Autoritäten die Autoritäten des säkularen Nationalstaats der postkolonialen Ära verdrängen. In diesem Buch analysieren wir die Auseinandersetzungen über nationale Zugehörigkeit, indem wir ›nationale Narrative‹ betrachten, also solche öffentlichen Diskurse, durch die definiert wird, was es bedeutet, zu einer geografischen Einheit zu gehören, die durch einen bestimmten Nationalstaat regiert wird (Anderson 1991; Calhoun 1997; Malkki 1992). Wir konzentrieren unsere Analyse dabei auf die vier Länder Frankreich, die Türkei, die Niederlande und Deutschland und begeben uns damit in die Gesellschaft einer Reihe von WissenschaftlerInnen, die das Kopftuch (einschließlich Hijab, Burka und Niqab) durch die Linse der nationalen Zugehörigkeit untersucht haben. Wir möchten die Arbeit von KollegInnen wie John Bowen (2008) und Joan Scott (2007) ergänzen, deren Bücher vielen als die definitiven Analysen der Kopftuchdebatte in Frankreich

Nationale Narrative

gelten; sie bleiben jedoch ausschließlich auf Frankreich beschränkt und untersuchen nicht, wie sich diese Konflikte in anderen nationalen Kontexten darstellen (siehe auch Killian 2003; Laborde 2008; Winter 2008). Wir folgen hierbei den Spuren Christian Joppkes (2009) und seiner vergleichenden Analyse der Kopftuchdebatten in Frankreich, Deutschland und Großbritannien. Während Joppke jedoch in erster Linie beleuchtet, in welcher Weise das Kopftuch in diesen Ländern als Gefahr für die liberale Gesellschaft wahrgenommen wird, analysieren wir die Kopftuchdebatten hinsichtlich ihrer Produktivität in Bezug auf die Besonderheiten nationaler Zugehörigkeit aus feministischer, intersektionaler und postkolonialer Perspektive (Yuval-Davis 2011). Dieser feministische Ausgangspunkt entspricht auch dem Ansatz von Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer (2012), den Herausgeberinnen eines Bandes, der sich den Kopftuchdebatten in verschiedenen europäischen Ländern widmet. Jedoch soll die von uns vorgelegte Diskursanalyse sehr viel detaillierter erläutern, wie nationale Narrative erzeugt werden und wie mit ihrer Hilfe politische Veränderungen erklärt werden können. Wir gehen dabei über Westeuropa hinaus und erweitern den Fokus mit der Türkei um ein Land mit einer liberaldemokratischen Tradition und einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Das dient auch der Kritik der Annahme, bei den Kopftuchdebatten handele es sich ausschließlich um »westliche« Diskussionen (siehe auch Elver 2012 und Kuru 2009). Für viele dieser WissenschaftlerInnen, aber auch für Akteure aus den Medien und der Politik, symbolisiert das Kopftuch einen Bruch mit der nationalen Zugehörigkeit. Ihre Analysen bemühen sich darum, zu verstehen, warum, wo und wie muslimische Frauen ihr Kopftuch tragen. Sie untersuchen auch die entsprechenden politisch-rechtlichen Regelungen, um zu zeigen, wie anhand des Kopftuchs in verschiedenen Ländern Ausschlusspraktiken befördert werden. In unserem Buch verschieben wir die Perspektive: Wir richten den Fokus nicht auf den Bruch mit der nationalen Zugehörigkeit, sondern wenden uns stattdessen dem Potenzial zu, das den Kopftuchdebatten innewohnt. Dieses besteht darin, die Bedeutung nationaler Zugehörigkeit zu überdenken, sie zu bestätigen oder möglicherweise neu zu fassen. Mit anderen Worten behandeln wir die Kopftuchdebatten nicht (ausschließlich) als Störgröße, sondern als Gelegenheiten zur Artikulation der nationalen Narrative, die die gegenwärtige Bedeutung von Zugehörigkeit umreißen.

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Z ugehörigkeitskonflik te In diesem Buch wird also die Herstellung von Narrativen der nationalen Zugehörigkeit betrachtet, wobei wir Zugehörigkeit als das subjektive Gefühl definieren, sich im eigenen Land zu Hause zu fühlen, sich unbeschwert in dessen Räumen bewegen zu können, und als das Wohlbefinden und die Freude, an diesem bestimmten Ort zu leben (Yuval-Davis 2011). Zugehörigkeit in diesem Sinne bedeutet auch, Unmut äußern zu können, ohne den Anspruch auf Zugehörigkeit aufgeben zu müssen; die Freiheit zu besitzen, sich über Umstände des Lebens an einem bestimmten Ort beklagen zu können, ohne dass einem gesagt wird, man solle fortgehen. Das beinhaltet, nicht in der Unterscheidung zwischen denen, deren Heimat eindeutig ›hier‹ ist, und jenen, deren erste oder zweite Heimat andernorts vermutet wird, gefangen zu sein. Eine solcherart verstandene Zugehörigkeit ist gleichzeitig zutiefst persönlich sowie durch und durch politisch. Bei der nationalen Zugehörigkeit geht es grundlegend um die Markierung von Unterschieden. Analytisch betrachtet ist die nationale Zugehörigkeit stets relational, indem sie sich durch die Abgrenzung zwischen denen konstituiert, die sich ›innerhalb‹ und ›außerhalb‹ befinden (analog zu Barth 1969). Wie Benedict Anderson (1991) und andere ForscherInnen gezeigt haben, entsteht bereits die Idee der Nation im Spannungsfeld zwischen der unterstellten Homogenität der Nation und den realen Unterschieden innerhalb der Bevölkerungsgruppen, die eine Nation ausmachen. Differenz stellt für das Konzept der nationalen Zugehörigkeit also eine Herausforderung dar, die in die Angst münden kann, die nationale Zugehörigkeit könnte brüchig werden. Gleichzeitig ist die Differenz von zentraler und konstitutiver Bedeutung für die nationale Zugehörigkeit – da sie immer im Gegensatz zu dem besteht, was oder wer ›wir‹ nicht sind. Auseinandersetzungen um die Grenzen akzeptabler Unterschiedlichkeit bezeichnen wir als Zugehörigkeitskonflikte und erörtern sie als Schauplätze, an denen nationale Identitäten überprüft werden, indem sie (erneut) inszeniert oder (re-)definiert werden. Die Unterschiede, anhand derer nationale Zugehörigkeit sich artikuliert, verändern sich im Laufe der Zeit, und die Frage der nationalen Zugehörigkeit muss immer im spezifisch historischen Kontext betrachtet werden (Eder 2006; Wodak et al. 2009). Im Falle Europas hat der Zuzug von MigrantInnen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg und dem Holocaust

Nationale Narrative

zu Zugehörigkeitskonflikten geführt, die nach wie vor die Vorstellungen der Nation in den Ländern Europas heimsuchen. Die verbreitete Erzählung über die Nachkriegsmigration in Europa stellt die europäischen Nationen bis zum Schock der Ankunft von MigrantInnen in großer Zahl als homogen dar. Dies lässt sich anhand der Literatur allerdings leicht widerlegen – jeder einzelne europäische Nationalstaat war historisch und ist gegenwärtig durch ethnische Unterschiede sowie durch Klassen- und Religionsunterschiede gekennzeichnet (Wimmer 2013; Brubaker 1996). Die Art und Weise jedoch, in der durch die Kontrastierung gegenüber der ›Andersartigkeit der ImmigrantInnen‹ ein Bild der Homogenität der autochthonen Bevölkerung hergestellt werden kann, verdeutlicht die Wirkmächtigkeit der Präsenz von ImmigrantInnen in der Konstruktion nationaler Zugehörigkeit als homogen. Gleichzeitig legt die Realität historischer Unterschiede innerhalb dieser Nationen nahe, dass das Konzept der nationalen Zugehörigkeit Neuankömmlinge nicht per Definition aus der Nation ausschließt. Die nationale Zugehörigkeit wird vielmehr durch den Prozess der Bestimmung dessen konstituiert, was eingegliedert werden kann und was nicht. In nationalen Narrativen wird die reale Heterogenität verschiedener Bevölkerungsgruppen negiert und Homogenität postuliert, indem die gemeinsame Sprache oder Religion, eine gemeinsame Geschichte oder politische Praxis, sowie ein vermeintlicher gemeinsamer Ursprung beschworen werden. Darüber hinaus dienen nationale Narrative der Kennzeichnung der Grundlagen der Zugehörigkeit zur Nation durch soziale Unterscheidungen nach Hautfarbe, Ethnizität, Gender und Religion (Yuval-Davis 1997; 2006). Auf bauend auf ein idealtypisches Vorgehen argumentieren wir, dass es sich bei nationalen Narrativen um »diskursive Formationen« handelt, um konstruierte Sprechweisen, die die Konturen nationaler Zugehörigkeit markieren (Calhoun 1997; Wodak et al. 2009). Solche Diskurse haben ›reale‹ Effekte, da sie Praktiken bestimmen – einschließlich Praktiken der Regulation. Nationale Narrative sind per Definition unscharf – sie umfassen widersprüchliche Aussagen darüber, wer dazugehört und wer nicht. Diese Unschärfe ist jedoch produktiv und erzeugt gerade durch die in ihr enthaltenen Spannungen und Widersprüche ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit. Bei der Analyse nationaler Narrative wird sichtbar, dass sich Kernelemente im Laufe von Jahrzehnten und sogar Jahrhunderten ständig wiederholen, gerade weil sie umstritten und nicht von allen anerkannt

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sind. Diese Kernelemente kennzeichnen soziale Normen, Werte und Praktiken, die im Sinne der Definition der Zugehörigkeit zur Nation als besonders verteidigens- oder veränderungswert erscheinen. Dabei werden übergeordnete Ideen wie Republikanismus, Säkularismus und Toleranz häufig zur Kennzeichnung solcher Normen, Werte und Praktiken herangezogen. Die Kernelemente des nationalen Narrativs eines Landes sind jedoch per Definition nicht unveränderlich. Vielmehr sind es gerade die Auseinandersetzungen um die von ihnen bezeichneten Bedeutungen und Praktiken, die ihnen Langlebigkeit und strukturierende Kraft verleihen. Zugleich ermöglichen die Auseinandersetzungen über die nationale Zugehörigkeit, dass neue Elemente wie die Geschlechtergerechtigkeit zentrale Bedeutung in nationalen Narrativen erlangen. Bei der Analyse von Kernelementen nationaler Narrative beziehen wir uns auf Ansätze diskursiver und deutender Praktiken, die hochgradig sensibel sind für die Vielzahl von Bedeutungen, die Objekte, Vorstellungen und Praktiken besitzen können. Wir betrachten nationale Narrative jedoch weitgehend als Einzelfall. Anders ausgedrückt gehen wir von der Annahme aus, dass jede Nation ein eigenes nationales Narrativ besitzt – eine Geschichte, die erzählt, was es heißt, zu eben dieser Nation zu gehören. Und doch sind die nationalen Narrative weder bezüglich der Zeit, noch hinsichtlich des Inhalts einheitlich. Eine solche Vielfältigkeit entsteht durch die verschiedenen Interpretationen und Aneinanderreihungen der narrativen Elemente. Diese Elemente beziehen sich auf Überzeugungen, Einstellungen und Praktiken und reichen von der Achtung liberal-demokratischer Werte über Geschlechtergerechtigkeit bis hin zu Alltagsgewohnheiten wie dem Bevorzugen bestimmter Nahrung oder der Mülltrennung zum Zweck des Recycling. Solche verschiedenartigen Überzeugungen, Einstellungen und Praktiken, die zusammengenommen das nationale Narrativ ausmachen, sind in das Alltagsleben der Menschen eingebettet. In diesem Sinne ist die fast anderthalb Jahrhunderte alte Aussage Ernst Renans, dass die Existenz einer Nation auf diesem »täglichen Plebiszit« beruht, nach wie vor gültig (Renan 1882). Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind nationale Narrative in der Entwicklung von Nationalstaaten verankert und es mag den Anschein haben, als würde diese Art von Narrativen in unserer zunehmend trans- und postnationalen Welt immer mehr an Bedeutung verlieren (Appiah 2007). Besonders die stetig wachsende Größe der Europäischen Union könnte dahingehend gewertet werden, dass das Nationale bei Zugehörigkeitser-

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fahrungen eine immer geringere Rolle spielt. Allerdings verdeutlichen die Debatten um das Kopftuch in Bezug auf supra- oder internationale Prozesse, dass auch länderübergreifend immer wieder ähnliche Ideen und Argumente angeführt werden. Dadurch könnte man die schwindende Bedeutung des nationalen Bezugsrahmens bestätigt sehen. Wir zeigen jedoch, dass scheinbar länderübergreifende Konzepte in den untersuchten Ländern mit unterschiedlicher Bedeutung versehen und für verschiedene Zielsetzungen mobilisiert werden, und in der Konsequenz in unterschiedlichen nationalen Kontexten jeweils eine eigene Bedeutung erlangen (Gilroy 1993). Gleichermaßen beobachten wir, wie über politische Diskussionen, die in einem Land geführt werden, in anderen Ländern berichtet wird, und diese Diskurse damit die öffentlichen Räume einer Nation überschreiten. Wenn jedoch NiederländerInnen, Deutsche und TürkInnen das französische Kopftuchverbot erörtern, wenden sie sich rasch wieder ihrer »eigenen« Rezeption dieses Themas zu, und bestätigen in der Konfrontation mit offenkundig länderübergreifenden Prozessen einmal mehr ihre unterschiedlichen Konzeptionen nationaler Zugehörigkeit. In räumlich kleineren Dimensionen zeigt sich, dass insbesondere migrantische Jugendliche ihre Zugehörigkeit eher an ihre Stadt oder sogar an den Stadtteil, in dem sie wohnen, knüpfen, als an das Land, in dem sie leben; auf diese Weise fordern sie die negativen Konnotationen nationaler Zugehörigkeit heraus (Mühe 2010; Bucerius 2007). Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo die – von den nach 1945 Eingewanderten nicht geteilte – Nazi-Vergangenheit häufig als Bezugspunkt in der Diskussion um das Deutschsein fungiert (Özyürek 2011). Wir sind der Auffassung, dass die historischen trans- und postnationalen Prozesse zwar durchaus eine Rolle spielen, sie aber die Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit keinesfalls vollständig ersetzen können, wie es auch das vorangegangene Beispiel aus Deutschland verdeutlicht. Die Diskurse, die schließlich die nationalen Narrative bilden, zirkulieren in den Medien, in Regierungsberichten und auf anderen Schauplätzen der öffentlichen Debatte wie dem Internet, einschließlich selbst gedrehter Videos oder einzelner Blogs. Anderson (1991) argumentiert in seinen Schriften über die Entstehung von Nationalstaaten, dass die den nationalen Identitäten zugrunde liegenden Bilder durch Zeitungen verstärkt werden. In diesen werden gemeinsame Narrative entwickelt, die dann den Rahmen für die Definition nationaler Identität bilden (siehe

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auch Bhabha 1990; Hall und du Gay 1996; Wodak et al. 2009). Der Konsum von Zeitungen verstärkt die territoriale und sprachliche Einheit der Nation und erzeugt das »Gefühl, dass die Nation oder die nationale Gesellschaft eine fortdauernde Existenz besitzt«, und dass »nationale Staatlichkeit im Laufe der Zeit entsteht« (Frosh und Wolfsfeld 2006, 106). Die Medien reflektieren die Diskurse, die nationale Narrative ausmachen und prägen sie zugleich mit. Wenn Nachrichtenmedien über die politische Seite des Kopftuchtragens schreiben und beispielsweise dessen Präsenz an zentralen Orten der Bildung nationaler Identität wie etwa Schulen oder staatliche Behörden diskutieren, wird die Kopftuchdebatte zum Gegenstand, anhand derer aktuelle Konstruktionen nationaler Zugehörigkeit analysiert werden können (Vertovec 2011; Wodak et al. 2009, 156). Behördendokumente und soziale Medien spielen bei der diskursiven Produktion nationaler Narrative unterschiedliche Rollen. Regierungsberichte zum Kopftuch, einschließlich der Transkripte von Parlamentsdebatten, die Sozialpolitik sowie Gesetze und Regelungen umreißen nationale Zugehörigkeit durch Verweise auf »gemeinsame Werte und Praktiken«, und bilden gleichzeitig die Grundlage für formale Regeln, die das akzeptable Verhalten im nationalen Kontext bestimmen.2 Staaten spielen eine besondere Rolle bei der Ausformung nationaler Narrative. Dabei nutzen AkteurInnen in öffentlichen Positionen nationale Narrative und entwickeln diese weiter, um ihre politische Agenda voranzutreiben oder die staatliche Legitimität zu stärken, insofern dies als abhängig von der Kohärenz der Vorstellung ›der‹ Nation wahrgenommen wird. Während Regierungsdokumente eher nach innen auf den Nationalstaat ausgerichtet sind, können soziale Medien nationale Ordnungen etablieren, aber Staatsgrenzen auch transzendieren, um ein globales Publikum zu erreichen. Sie erlauben potenziell Widerstand gegen Autoritäten, weil sie weitgehend unzensiert bleiben und sich schnell weiterentwickeln. Dadurch können soziale Medien dazu beitragen, eigene Interpretationen nationaler Narrative zu schaffen, und sogar möglicherweise die Grenzen der Zugehörigkeit verschieben. Studien zur Ausbildung nationaler Identitäten verdeutlichen auch, auf welche Weise ›normale‹ Leute die Frage der nationalen Zugehörigkeit diskutieren (Wodak et al. 2009; Malkki 1992). Die Literatur bringt uns zu Bewusstsein, wie nationale Narrative nicht nur innerhalb journalistischer Medien und der offiziellen Welt der Politik, sondern auch in alltäglichen Interaktionen mit Leben gefüllt werden. Um einige dieser Aspekte abzu-

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bilden, führten wir themenzentrierte Interviews mit muslimischen Frauen, die sich im Rahmen der Kopftuchdebatte politisch engagieren. Einige dieser Frauen können sich in ihrer Position als Angehörige einer Minderheit und aufgrund ihrer politischen Aktivitäten in den Medien äußern, aber nur wenige können als zentrale Figuren der öffentlichen Diskussion gelten. In weiten Teilen dieser öffentlichen Debatten bieten JournalistInnen muslimischen Frauen eine Plattform, auf der sie als Vermittlerinnen agieren, die ihre eigene Religionsgemeinschaft für andere dechiffrieren können (Haritaworn et al. 2008; Yurdakul 2010; Shooman 2011). Häufig führen diese Frauen ihre eigene Erfahrung an, um stereotype Darstellungen ihrer Gemeinschaften zu verstärken und ausschließende Interpretationen von Kernelementen nationaler Narrative zu bekräftigen. Diejenigen, die in den Medien und im politischen Diskurs tonangebend sind, bekräftigen oder transformieren Überzeugungen, Einstellungen und Praktiken oder artikulieren sie neu. Das geschieht häufig in der Auseinandersetzung mit anderen politischen AkteurInnen, die sich in ähnlichen politischen, sozialen und kulturellen Positionen befinden. Diejenigen wiederum, die Gegenstand dieser Äußerungen sind, in unserem Fall Kopftuch tragende Frauen, formulieren hinsichtlich ihrer eigenen (Nicht-)Zugehörigkeit häufig ihre Versionen des nationalen Narrativs. In unserer Analyse konzentrieren wir uns darauf, welche Elemente des nationalen Narrativs (gleichgültig, ob sie Werte, Überzeugungen, oder Praktiken beschreiben) in Kopftuchdebatten erscheinen, und wie diese Elemente verwendet werden, um nationale Zugehörigkeit zu artikulieren.

D as K opf tuch als S ymbol und I nkr af tse t zung : Z iele und W ahrnehmung In unserer Analyse beachten wir stets zwei Positionen, aus denen heraus das Kopftuch diskutiert werden kann: die der Trägerinnen und die der NichtträgerInnen. Darüber hinaus nehmen Frauen, die das Kopftuch abgelegt haben, oft eine Sonderrolle in Diskussionen ein. Für Trägerinnen kann das Kopftuch jenseits der offensichtlich religiösen (in sich bereits komplexen) eine Reihe weiterer Bedeutungen besitzen. So kann das Kopftuch als Symbol multipler Modernität gelten (Göle 1996), als Kennzeichen ethnischer Identität (Phalet et al. 2010), als ein Weg, die Würde einzu-

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fordern, die einer ImmigrantInnengruppe vorenthalten wird (Hoodfar 2003), als Einlösung des Versprechens liberaler Selbstverwirklichung (Atasoy 2006) oder auch als Möglichkeit, die unordentliche Frisur zu verdecken3 (Mushaben 2005). Die Trägerinnen beschreiben die Erfahrung des Kopftuchtragens, aber auch, weshalb sie das Kopftuch tragen (Göcek 1999; Saktanber 2002; Seggie 2011) und dessen Auswirkungen auf ihr Leben. Dabei berichten sie häufig, sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Alltag diskriminiert worden zu sein (Cindoğlu 2011). Die meisten Arbeiten zu den Erfahrungen von Kopftuch tragenden Frauen in der westlichen Welt sind auf die Bedeckung der Haare ausgerichtet. Nur sehr selten werden die Erfahrungen von Frauen untersucht, die den Niqab tragen, durch den das Gesicht und die Haare bedeckt werden, wobei die Augen sichtbar bleiben. Die Burka als Kleidungsstück, das das ganze Gesicht verhüllt und bei dem die Augen durch einen netzartigen Stoff bedeckt sind, wird fast nie von europäischen Musliminnen, sondern traditionell in Afghanistan getragen. Und doch berichten viele Journalisten in Europa über Debatten über die »Burka«, wobei sie eigentlich den Niqab meinen. Die wenigen Berichte über Frauen, die ihre Gesichter verhüllen, legen nahe, dass ihnen zunehmend feindselig begegnet wird, nachdem »Burkaverbote« auf politischer Ebene und in der Öffentlichkeit an Unterstützung gewonnen haben (Bouteldja 2011; Moors 2009a). Die Vorstellung, dass die Burka für Unterdrückung steht, ist besonders stark verbreitet, obwohl viele Frauen, die sich über die Gründe äußerten, sie zu tragen, angaben, dass es sich um eine freiwillige und selbst gewählte Form des Ausdrucks ihrer Religiosität handelt. Für Frauen, die kein Kopftuch tragen, drehen sich die Diskussionen vor allem darum, wie sie das Kopftuch objektiv und subjektiv wahrnehmen (Yurdakul 2006). Im öffentlichen Diskurs herrscht bei Personen, die kein Kopftuch tragen und die sich außerdem dagegen aussprechen, die Vorstellung vor, das Kopftuch stünde für eine ganze Reihe von Ablehnungen, einschließlich der Ablehnung liberal-demokratischer Werte, der Geschlechtergerechtigkeit und des Säkularismus. In ihrer Darstellung steht das Kopftuch für die Befürwortung der Herrschaft des politischen Islam und der Unterordnung des weiblichen Körpers unter Gott und den Mann. Muslimische Frauen ohne Kopftuch, einschließlich derer, die es früher getragen und mittlerweile abgelegt haben, können bei diesen Darstellungen eine besondere Rolle spielen: Als vermeintlich befreite Frauen können sie einer Öffentlichkeit, die nach Erzählungen über die weibliche

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Erfahrung mit dem Schleier hungert, die ›wahre‹ Bedeutung des Kopftuchs darlegen. Diejenigen mit negativer Wahrnehmung des Kopftuchs, Hijabs, Niqabs und der Burka, lassen in Diskussionen häufig erkennen, dass sie sich auf sehr persönliche Weise von Kopftuch tragenden Frauen verurteilt fühlen. In einem niederländischen Blog gab ein Kommentator an, dass er sich beim Kauf von Alkohol bei einer Kopftuch tragenden Kassiererin für seinen Alkoholkonsum verurteilt fühlte. Das entspricht der Analyse der niederländischen Anthropologin Annelies Moors, die sich damit befasst, wie in den niederländischen Diskussionen um ein mögliches Burkaverbot ein starkes Gefühl des Unbehagens und sogar der Abneigung gegenüber einem Kleidungsstück sichtbar wird, das für eine Ablehnung alles Niederländischen zu stehen scheint. Sie argumentiert, dass auch die Burkaverbotsdebatten andernorts von einer ähnlichen Politik des Unbehagens durchdrungen sind (Moors 2009b). Am anderen Ende des Spektrums argumentieren sowohl Kopftuchträgerinnen als auch jene, die selbst kein Kopftuch tragen, aber das Recht darauf verteidigen, dass sie stolz darauf seien, in einem Land, einer Stadt oder einer Nachbarschaft zu leben, wo diese Art der Diversität Platz findet. Populäre Medien tragen mit Berichten über die neuesten Trends in der Kopftuchmode zu einer weiteren Normalisierung des Kopftuchs bei, indem sie auf die unterschiedlichen modischen Formen eingehen, die von sehr teuren bis zu bescheideneren Stilen, Marken und Stoffen verschiedenste Einkommensgruppen ansprechen. Derlei Medien zeigen einen geradezu unbeschwerten Multikulturalismus und betonen, wie wichtig in liberalen Demokratien das Laissez-faire ist. Sie befürworten das Kopftuch gerne, weil es ›unseren‹ tristen europäischen Straßen ein wenig Farbe verleiht. In einem solchen Verständnis von Diversität erscheint die Tatsache des Multikulturalismus oder die Anwesenheit von erkennbaren Mitgliedern von Minderheiten in einem positiven Licht. Dabei wird aber nicht notwendigerweise deutlich gemacht, in welchem Maße eine solche Diversität auch zu einer multikulturellen Politik führen sollte, in der die Zugehörigkeit ihren Ausdruck in der Schaffung von Gruppenrechten findet. In Ländern wie der Türkei, wo das Kopftuch nicht die Frage der kulturellen, sondern eher die der religiösen Diversität berührt, ist die Präsenz des Kopftuchs im öffentlichen Raum für einige der Beweis ›echter‹ demokratischer Freiheit sowie des Aufstiegs eines islamischen Bürgertums.

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Diese Bevölkerungsgruppe ist das Zielpublikum islamischer LifestyleHochglanzmagazine (yaşam tarzı dergisi) wie Âlâ (eine Variation des Namens des französischen Magazins Elle), in denen die jüngsten Trends islamischer Mode diskutiert werden, einschließlich teurer Designer-Kopftücher im Stil berühmter Modedesigner wie Vakko und Pierre Cardin. Die Bedeutungsvielfalt des Kopftuchs deckt sich bis zu einem gewissen Grad mit einer terminologischen Vielfalt. In unseren eigenen Beiträgen verwendeten wir im englischen Original das Wort headscarf, den neutralsten aller Begriffe (siehe auch Moors 2009b; Scott 2007). Das ist auch die in den Niederlanden (hoofddoek) und in Deutschland (Kopftuch) am häufigsten verwendete Bezeichnung. In beiden Ländern wird aber auch der Begriff des Schleiers (auf Niederländisch sluier, Englisch veil) verwendet, wobei hier die Konnotation des Verbergens mitschwingt. Darauf hinzuweisen ist wichtig, um die diesen Begriff umgebenden Politiken zu analysieren. In Frankreich hat sich die Terminologie im Laufe der Zeit und unter den verschiedenen AkteurInnen verschoben. Unsere Analyse zeigt, dass die Verschiebung vom neutraleren Wort foulard (Kopftuch) zum stärker aufgeladenen voile (Schleier) erfolgte (Scott 2007). Wir verwenden, wie es in der französischen Debatte geschieht, beide Begriffe und meinen damit dasselbe. Im Kontext der Türkei verwenden wir das Wort Kopftuch als Übersetzung für başörtüsü, dem neutralen türkischen Wort für Kopf bedeckung, falls nötig aber auch den Begriff türban, womit PolitikerInnen das bezeichnen, was sie als politisierte Form des Kopftuchtragens wahrnehmen. Sowohl in Frankreich als auch in den Niederlanden werden Kopftuch und Niqab in Debatten oft unterschieden. Dabei wird der Niqab, der von Frauen getragen wird, häufig fälschlich als Burka bezeichnet. Innerhalb und außerhalb der akademischen Welt treffen wir sowohl hinsichtlich der Benennung als auch des Tragens des Kopftuchs immer wieder auf die Konzepte von Handlungsmacht und Freiheit. Arlene MacLeod analysierte im Jahr 1992 die damals bei ägyptischen Frauen wiederentdeckte Praxis des Kopftuchtragens. Ihrer Argumentation nach haben diese Frauen nicht auf den Druck reagiert, der aus Geschlechterrollen resultiert, und sich den Regeln der Keuschheit unterworfen, sondern sich zum Tragen des Kopftuchs entschlossen, um sowohl religiös als auch politisch Stellung gegen ein säkulares und hochgradig korruptes politisches Regime zu beziehen (MacLeod 1992). Analysen der Praktiken des Kopftuchtragens bei muslimischen Frauen in Europa haben ähnli-

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che Argumente zu Tage gefördert. Dabei haben unter anderem Gaspard und Khosrokhavar (1995), Killian (2003), Saktanber (2002) und Van Nieuwkerk (2004) gezeigt, dass Frauen sich zwar aus einer Vielzahl von Gründen dazu entschlossen haben, das Kopftuch zu tragen, dies aber in der Regel freiwillig und nicht unter Zwang erfolgt. In dem Versuch, der Polarisierung zwischen individuellem Widerstand und Unterordnung zu entgehen, argumentiert Mahmood (2001; 2005), dass die Praktiken frommer ägyptischer Frauen im Rahmen einer erweiterten Definition von Handlungsmacht verstanden werden müssen, die sich auch in der Unterordnung ausdrücken kann und nicht immer an individuellen Widerstand gebunden sein muss. Solch ein Verständnis von Handlungsmacht lässt sich auch auf die Praktiken muslimischer Frauen in Europa und in der Türkei anwenden. Kurz gesagt, lässt sich die objektive Bedeutung des Begriffs Kopftuch schwer bestimmen. Sie umfasst nicht nur mehrere Bezugspunkte, die jeweils gemeinte Bedeutung ändert sich auch in Abhängigkeit vom politischen Kontext eines Landes, von den AkteurInnen, die den Begriff verwenden, und von dem diskursiven Kontext, in dem er verwendet wird. Das Kopftuch führt somit eine ganze Reihe von Diskursen zusammen. Dabei bricht das Kopftuch diese vereinheitlichenden Diskurse aber auch auf, um die multiplen Differenzen zu reflektieren, die auf die fortdauernde Ausformung nationaler Narrative in den einzelnen Ländern einwirken. So entwickelt sich die Bedeutung des ›Kopftuchs‹ ununterbrochen weiter, und seine Verwendung in politischen Diskussionen führt zum Aufkommen neuer Konflikte um die nationale Zugehörigkeit.

A nalyse der K opf tuchdebat ten als Z ugehörigkeitskonflik te Wir analysieren, wie angesichts des Kopftuchs als sichtbarer Repräsentation einer mit Islam und Migration assoziierten Differenz nationale Narrative bekräftigt, diese neu gefasst oder transformiert werden. Wir konzentrieren uns hierbei auf Frankreich, die Türkei, die Niederlande und Deutschland, weil diese Länder es uns im paarweisen Vergleich ermöglichen, die Faktoren einzubeziehen, die Einfluss auf nationale Narrative der Zugehörigkeit haben können. In Frankreich und der Türkei bestehen strenge Formen des Säkularismus, durch die religiöse Praktiken

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allgemein als Privatangelegenheit gelten. In den Niederlanden und in Deutschland gibt es ähnliche Ansätze zur Religiosität, wobei die staatliche Neutralität in Sachen Religion beinhaltet, dass religiöses Verhalten auch im öffentlichen Raum toleriert wird. Diese unterschiedlichen Ansätze beim Umgang mit Religion bilden für uns den Ausgangspunkt, um Unterschiede und Ähnlichkeiten bei der Artikulation nationaler Zugehörigkeit im Rahmen verschiedener Kopftuchdebatten zu analysieren. Sowohl in Frankreich als auch in der Türkei basiert die Zugehörigkeit zur Nation darauf, säkular zu sein. Frankreich als republikanischer Bürgerstaat, in dem die strenge Form des Säkularismus historisch den Ausdruck persönlicher Religiosität im öffentlichen Raum verhindert hat, ähnelt der Türkei, deren Demokratie ebenfalls in einem strengen Säkularismus wurzelt. Und obwohl MuslimInnen in Frankreich als Neuankömmlinge und im türkischen Kontext historisch als Mehrheit gesehen werden, hat die Wahrnehmung ihrer Religiosität die MuslimInnen in beiden Ländern in die Position von BürgerInnen, die als problematisch gelten, gebracht. Wie wir zeigen, werden MuslimInnen in Frankreich als ehemals Kolonisierte und als gegenwärtige ImmigrantInnen konstruiert; sie repräsentieren der Nation gegenüber Außenstehende. In der Türkei, in der der Islam die Mehrheitsreligion ist, wurden religiöse türkische BürgerInnen seit der Gründung der türkischen Republik als außenstehend konstruiert. In den vergangenen Jahren haben sich Frankreich und die Türkei in dieser Hinsicht allerdings stark auseinanderentwickelt. Während in Frankreich die Verpflichtung zum Säkularen aufrechterhalten wurde, haben religiöse Muslime in der Türkei mit dem Aufstieg einer islamischen politischen Partei, der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung), unlängst eine mächtige Position im öffentlichen Raum wiedererlangt. Hinsichtlich der Zugehörigkeit haben sich damit auch Bedeutung und Auswirkungen des Säkularismus verändert (Elver 2012). In Frankreich wurde im Jahr 2004 ein Gesetz verabschiedet, das muslimischen Mädchen das Tragen des Kopftuchs in der Schule untersagt, und ein Verbot aus dem Jahr 2010 verwehrt die islamisch begründete Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit. Im Gegensatz hierzu ist vielen Frauen in der Türkei, unabhängig von Umfang und Art der Bedeckung, inzwischen unbeschränkter Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen erlaubt, zu denen ihnen vormals der Zutritt verwehrt blieb: Im September 2013 hob die türkische Regierung das Kopf-

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tuchverbot in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, die im Einflussbereich des säkularen Staates liegen, auf. Während sich ein Großteil der Literatur zu den Kopftuchdebatten auf Frankreich und/oder die Türkei als paradigmatische Fälle stützt, wenden wir uns mit den Niederlanden und Deutschland auch einem zweiten Vergleichspaar zu. Diese beiden Länder haben dem Ausdruck von Religiosität in der Öffentlichkeit historisch mehr Raum zugestanden als Frankreich oder, bis vor Kurzem, die Türkei. In beiden Ländern gilt das Prinzip staatlicher Neutralität bezüglich des Ausdrucks von Religiosität, einschließlich des Kopftuchs, und entsprechend gibt es hierfür auch in der Öffentlichkeit mehr Raum als in der Vergangenheit in Frankreich oder der Türkei (Lettinga und Saharso 2012; Berghahn und Rostock 2009). Trotzdem unterscheidet sich das allgemeine Verständnis von nationaler Zugehörigkeit auch hier: In den Niederlanden werden religiöse Toleranz und Pluralismus seit Jahrhunderten praktiziert, während die nationale Einheit in Deutschland seit der Gründung des modernen deutschen Staats 1871 ethno-kulturell verstanden wird (Brubaker 1992; Duyvendak 2011; Prins 2004; Triadafilopoulos 2012). Mit Blick auf muslimische ImmigrantInnen standen die Niederlande bis vor Kurzem für Pluralismus und Multikulturalismus im liberal-demokratischen Kontext. In Deutschland hingegen leugneten die lange regierenden Konservativen unter Konrad Adenauer (1949–1963) und Helmut Kohl (1982–1998) die Tatsache der Einwanderung  – erkennbar im Ausdruck »GastarbeiterIn«  –, weshalb ImmigrantInnen bis zum Beginn dieses Jahrtausends nur durch vollständige Assimilation eine Zugehörigkeit zur Nation beanspruchen konnten (Bjornson 2007; Entzinger 2006; Koopmans et al. 2005). Die unterschiedlichen Kolonialgeschichten der Niederlande und Deutschlands stellen einen weiteren wichtigen Faktor dar, der Einfluss auf die unterschiedlichen nationalen Narrative der Zugehörigkeit in diesen beiden Ländern ausübt.4 Die Diskussionen um Kopftuch und Burka haben die nationalen Narrative der Zugehörigkeit in beiden Ländern durcheinandergebracht. In den Niederlanden verdeutlichen die seit 2005 wiederholt von Politikern unternommenen Versuche, die Burka aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, dass Toleranz, Multikulturalismus und Pluralismus unter Druck geraten sind. Obschon diese Versuche größtenteils fehlgeschlagen sind, haben die Konflikte um Kopf- und Gesichtsbedeckungen Diskussionen um die nationale Zugehörigkeit auf den Plan gerufen. Nach einer ähnlich

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hitzigen Debatte in Deutschland hat eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 2003 zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen manifestiert, dass das Kopftuch die Folie für öffentliche Debatten über die Parameter nationaler Zugehörigkeit bildet. Die Unterschiede in der Institutionalisierung des Säkularismus und des Schutzes religiöser Freiheiten in den vier untersuchten Ländern deuten auch auf ein Gefälle hinsichtlich der Rolle des Staates bei der Produktion nationaler Narrative hin: Der türkische Staat ist in diesem Bereich besonders mächtig, gefolgt von Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Unserer Analyse nach spielt in den drei zuletzt genannten Ländern die Zivilgesellschaft eine zunehmend starke Rolle bei der Artikulation nationaler Narrative. In der Türkei wurde die Zivilgesellschaft hingegen stark durch politische Parteien kontrolliert und nach dem zweiten Weltkrieg durch drei militärische und einen politischen Putsch zusätzlich eingeschränkt. In jüngster Zeit hat die seit 2002 amtierende AKP-Regierung viele zivilgesellschaftliche AkteurInnen anklagen lassen, darunter AkademikerInnen und JournalistInnen, von denen einige auch verurteilt und inhaftiert wurden. Die breiten öffentlichen Proteste des Jahres 2013 zeigten, dass es eine starke Opposition gegen die Politik des amtierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gibt. Mithilfe der Analyse von Diskursen, die für nationale Narrative kon­ stitutiv sind, zeigen wir auf, dass bei der Diskussion von Kopftuch und Burka die AkteurInnen in den einzelnen Ländern über die nationale Zugehörigkeit in Konflikt geraten, wobei jedoch ganz unterschiedliche Formen des Verständnisses nationaler Zugehörigkeit aktiviert und realisiert werden. Wir teilen dabei die AkteurInnen dieser verschiedenen Verständnisweisen nicht in ›muslimische‹ und ›Andere‹ ein. Stattdessen zeigen wir auf, wie sowohl muslimische, als auch nicht muslimische PolitikerInnen, RegierungsvertreterInnen und AktivistInnen sich kreativ aus bestehenden Diskursen bedienen, um nationale Narrative zu bekräftigen, sie neu zu artikulieren oder zu transformieren, und wie sich solche Narrative in ihrem Grad an Einheitlichkeit von Land zu Land unterscheiden. Das schließt keinesfalls aus, dass es von Belang ist, ob jemand MuslimIn ist oder nicht. Unser Ansatz zeigt vielmehr, wann es bedeutsam ist, und skizziert, wie einige AkteurInnen sich explizit als MuslimInnen positionieren, als kulturelle VermittlerInnen ihrer eigenen Gemeinschaften auftreten und islamische Praktiken für die breite Bevölkerung auf eine Weise übersetzen, die die generalisierte Angst vor dem Islam sowie die Über-

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legenheit westlicher Umgangsformen in der Öffentlichkeit bestätigen. Alternativ können als MuslimInnen identifizierbare AkteurInnen auch solche Elemente nationaler Narrative festigen, die die Aufnahmebereitschaft oder die Toleranz gegenüber religiösen Praktiken stärken. Obwohl sich unsere Analyse hauptsächlich auf dominante Diskurse und Personen in erkennbaren Machtpositionen stützt, argumentieren wir in Anlehnung an Ruth Wodak und KollegInnen (2009), dass die Möglichkeit für einen Wandel häufig aus radikal abweichenden Vorstellungen von Nationalität erwächst. Als im Jahr 1989 drei französische Jugendliche in ihrer Oberschule  – in einem sozioökonomisch schwachen Pariser Vorort – mit Kopftuch erschienen, war ihnen wahrscheinlich nicht bewusst, dass ihre Aktion eine 15 Jahre währende Diskussion lostreten würde, die mit einem Kopftuchverbot in französischen Grund- und Oberschulen enden sollte (Bowen 2008; Scott 2007). Auch Leyla Sahin konnte sich wahrscheinlich nicht vorstellen, dass ihr Versuch, in der Türkei eine Universitätsausbildung zu erhalten, zu einem negativen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte führen würde, durch den die türkische Diskussion über den Stellenwert des Säkularismus im öffentlichen Raum neu belebt wurde (Nieuwenhuis 2005). In den Niederlanden folgte auf die Forderung des erfolgreichen rechtsextremen Politikers Geert Wilders, der »Kopflumpen« solle besteuert werden, die Reaktion junger muslimischer Frauen in Form einer selbst gestalteten Plakatkampagne, die »echte Holländerinnen« in islamischer Kleidung zeigte (Korteweg 2013). In Deutschland haben die herabwürdigenden Äußerungen des sozialdemokratischen Politikers Thilo Sarrazin über »Kopftuchmädchen«, deren Kinder ehemals deutsche Stadtviertel »überbevölkern« würden, auf nationaler Ebene zu einer Selbstreflexion darüber geführt, wie akzeptiert ethnisch-religiöse Unterschiede in der deutschen Gesellschaft eigentlich sind (Sezgin 2011). Auf den folgenden Seiten veranschaulichen wir, welche Effekte solche vermeintlichen Einzelmeinungen und handlungen in nationalen Diskussionen hatten, und wie dies dazu führte, dass Bedeutungen und Konflikte nationaler Zugehörigkeit nachdrücklich neu gefasst wurden.

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2. Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit Das Kopftuchverbot in Frankreich

Im April 2003 wendete sich Nicolas Sarkozy in seiner Funktion als Innenminister Frankreichs an die Mitglieder der jährlichen Generalversammlung der Union des organisations islamiques de France (Union islamischer Organisationen Frankreichs, im Folgenden UOIF). In seiner Rede erklärte er, dass gemäß geltendem französischem Recht alle Frauen ihre Kopftücher entfernen müssten, um sich für ihren Personalausweis fotografieren zu lassen. Im gleichen Atemzug betonte Sarkozy, er sei gegen ein Verbot religiöser Symbole im öffentlichen Raum, einschließlich Schulen, um eine Stigmatisierung von MuslimInnen zu vermeiden. Seine Äußerungen fachten eine schwelende öffentliche Diskussion über das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Schulen wieder an. In deren Folge ernannte der damalige Präsident Jacques Chirac den Ombudsmann Bernard Stasi zum Vorsitzenden einer Kommission zur Untersuchung des Prinzips des Säkularismus im öffentlichen Raum. Vor der Veröffentlichung des Abschlussberichts äußerte Stasi öffentlich, dass »der Schleier ein objektives Zeichen der Entfremdung von Frauen ist« (Le Monde, 2. November 2003). Demzufolge war es nicht überraschend, dass die Stasi-Kommission einstimmig für ein Gesetz zum Verbot religiöser Symbole in staatlichen Schulen plädierte. Dieses Gesetz wurde am 15. März 2004 verabschiedet und hatte zur Konsequenz, dass »SchülerInnen [öffentlicher Schulen] das Tragen von Zeichen oder Kleidungsstücken verboten wird, durch die sie ihre religiöse Zugehörigkeit in auffälliger Weise ausdrücken« (Laborde 2008, 7). Für die jugendlichen Schwestern Alma und Lila Lévy markierte dieses Verbot das Ende eines langanhaltenden Kampfes um das Recht, an ihrer Schule in einem einkommensschwachen Pariser Vorort das Kopftuch zu

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tragen. Die Schwestern hatten zur Überraschung ihrer nicht religiösen Mutter nach und nach den Glauben angenommen, mit dem sie in Algerien aufgewachsen war, und trugen als Teil ihrer neu entdeckten religiösen Überzeugung sogar das Kopftuch. Mit Beginn des neuen Schuljahrs im September 2003 trugen sie das Kopftuch auch im Klassenraum. Noch im Verlauf des Morgens bestellte die Direktorin beide Mädchen in ihr Büro, um ihnen mitzuteilen, dass sie entweder das Kopftuch abnehmen oder nach Hause gehen müssten. Die Mädchen wussten von ihrem Vater, einem atheistischen Juden, der als Anwalt für eine Menschenrechtsorganisation arbeitete, dass sie ein Recht auf Bildung haben, und argumentierten entsprechend, aber die Direktorin gab nicht nach. Alma und Lila blieb nur eine Option: nach Hause zu gehen. In den nächsten Monaten überschlugen sich die Ereignisse. Die Mädchen wurden wegen des Tragens der Kopftücher der Schule verwiesen; sie kämpften dagegen an und verbrachten viel Zeit damit, mit der Presse zu sprechen und begannen sogar, ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben. Letztlich verloren die Schwestern ihren Kampf, als das gesetzliche Verbot religiöser Bekleidung in öffentlichen Schulen in Kraft trat. Dieses Verbot führte im Frühjahr und Sommer 2004 zu einem kurzfristigen Aufflammen öffentlicher Proteste. Das Thema verschwand jedoch schnell wieder weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung. Viele sehen das Verbot weiterhin als Erfolg, was zum Teil am mangelnden Widerspruch der französischen MuslimInnen liegt, von denen 42 Prozent der Meinung sind, das Gesetz sei eine gute Idee (nach Le Monde, 19. Juni 2009).1 Im Juni 2009 geriet dann unerwartet die Burka unter Beschuss, als 58 ParlamentarierInnen in der Nationalversammlung den »Antrag des kommunistischen Abgeordneten André Gerin (Rhône) zur Schaffung ›einer Kommission zur Untersuchung von Burka und Niqab im Staatsgebiet‹« unterzeichneten (Le Monde, 19. Juni 2009). In seinem Antrag behauptete Gerin, dass die Burka »nicht mehr nur ein auffälliges religiöses Symbol ist, sondern ein Schlag gegen die Freiheit von Frauen und die Bejahung der Weiblichkeit. Verdeckt von Burka oder Niqab lebt eine Frau in einer unerträglichen Situation der Einsamkeit, des Ausschlusses und der Erniedrigung. Ihre Existenz wird verleugnet.« (André Gerin zit. nach Le Monde, 19. Juni 2009) Nicolas Sarkozy, mittlerweile Präsident Frankreichs, akzeptierte den Antrag Gerins zur Einrichtung einer Untersuchungskommission. Anders als in früheren Kopftuchdebatten diskutierte die Kommission nicht mehr, ob Burka oder Niqab aus dem öffentlichen

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

Raum zurückgedrängt werden sollten, sondern nur noch über das Ausmaß dieses Verbots. Ein Jahr später legte Sarkozy dem Parlament einen Gesetzesentwurf vor. Dieser besagte, dass »niemand im öffentlichen Raum Kleidung tragen darf, die das Gesicht verhüllt«, wobei »der ›öffentliche Raum‹ sehr breit definiert wird und Straßen, Märkte, private Geschäfte, aber auch Regierungsgebäude und öffentliche Verkehrsmittel mit einschließt« (New York Times, 14. Juli 2010). Die vorgesehene Strafe für das Tragen eines Kleidungsstücks, das das Gesicht verdeckt, betrug 150 Euro und/oder die verpflichtende Teilnahme an einem Kurs für Staatsbürgerkunde. Wer andere zum Tragen solcher Kleidung zwingt, wird mit einer viel höheren Geldstrafe von 15.000 Euro und möglicherweise auch einer Haftstrafe bestraft. Obwohl sich der Gesetzesentwurf auf alle ›Gesichtsschleier‹ bezieht und keine Religion namentlich erwähnt, beschreibt die umgangssprachliche Bezeichnung »Burkaverbot« die Zielsetzung des Gesetzes sehr treffend: die Verbannung islamischer Gesichtsschleier von französischen Straßen. Die französische Nationalversammlung beschloss das Gesetz am 13. Juli 2010 mit nur einer Gegenstimme. Der Senat stimmte zuvor am 14. September 2010 mit einem Ergebnis von 246 zu einer Stimme und ungefähr 100 Enthaltungen ab. Diese bringen nicht unbedingt eine Akzeptanz der PolitikerInnen gegenüber Burka oder Niqab zum Ausdruck, sondern entspringen deren Gefühl, das Gesetz ginge mit dem allgemeinen Verbot im öffentlichen Raum zu weit und hätte auf spezifische staatliche Einrichtungen beschränkt werden sollen. Das französische Verfassungsgericht (Conseil Constitutionnel) erklärte das Gesetz für verfassungskonform, es trat am 11. April 2011 schließlich in Kraft.2 Obwohl das Tragen von Kopftuch, Burka und Niqab durchaus nicht repräsentativ für die Alltagspraxen französischer Musliminnen ist 3, wurden diese Kleidungsstücke zum Symbol einer Bedrohung der zentralen Leitbilder des nationalen Narrativs: der Prinzipien des Republikanismus, der Laïcité (häufig mit Säkularismus übersetzt) und der Geschlechtergerechtigkeit. Die Geschichte des französischen Republikanismus verknüpft das Französischsein mit der vollen und gleichberechtigten Partizipation aller an den öffentlichen Gütern. Die Grundlage bilden geteilte Werte und Loyalität gegenüber dem größeren Ganzen; für Ansprüche auf der Grundlage subnationaler Gruppenidentifikationen gibt es dabei keinen Platz. Laïcité bedeutet nicht nur die Trennung von Kirche und Staat, sondern auch das Recht auf Abwesenheit religiöser Dogmen und auf institutionellen Beistand in Fragen individueller religiöser Praxis. Im Kontext des

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französischen Nationalnarrativs bezieht sich die Geschlechtergerechtigkeit auf die gleichberechtigte Teilhabe aller Geschlechter an öffentlichen Gütern. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Geschlechtergerechtigkeit zur Voraussetzung des Republikanismus entwickelt und wird durch diesen gestützt, zudem verhindert das Prinzip der Laïcité jede Form institutioneller Unterstützung für religiös begründete geschlechtliche Unterdrückung (siehe auch Laborde 2008). Unterschiede, die zu kommunitaristischen oder gruppenbasierten Forderungen führen könnten, stellen eine Bedrohung für das nationale Narrativ Frankreichs dar. Das Kopftuch galt nicht als eigenständiges Symbol eines Unterschieds, sondern wurde zum sichtbaren Zeichen des Islam, der in Folge der Immigration nach Frankreich gelangt war. Es bestand die Angst, es könnte zum Kristallisationspunkt kommunitaristischer Forderungen werden. Trotz der Gemeinsamkeiten von MuslimInnen in Frankreich stellen diese eine sehr vielfältige Bevölkerungsgruppe dar, deren Status in der französischen Nation in vielerlei Hinsicht fragil ist. Fast alle der 4 bis 5 Millionen MuslimInnen in Frankreich (bei einer Gesamtbevölkerung von fast 63 Millionen) kommen ursprünglich aus den früheren Kolonien Frankreichs: Ca. 70 Prozent sind marokkanischer, tunesischer oder algerischer Herkunft (Bowen 2008, 51). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren etwa die Hälfte aller in Frankreich lebenden MuslimInnen französische StaatsbürgerInnen. Dennoch werden MuslimInnen in der öffentlichen Diskussion seit den späten 1980er Jahren immer wieder als ›Immi­ grantInnen‹ bezeichnet und dargestellt (Scott 2007, 17; Bowen 2008, 51; Kastoryano 2002). Die fortdauernde Verwendung dieses Begriffs zur Beschreibung der muslimischen Bevölkerung zeigt, wie prekär es um ihre Zugehörigkeit zur französischen Nation bestellt ist (siehe auch el-Tayeb 2011). Die im Vergleich zur nicht muslimischen und/oder nicht migrantischen Bevölkerung verhältnismäßig schwache Einbindung französischer MuslimInnen in den Arbeitsmarkt und ihr eingeschränkterer Zugang zur Welt der Politik zementieren ihren Status als AußenseiterInnen. Aus nordamerikanischer Perspektive scheinen französische Muslim­ Innen wenigstens teilweise in Wirtschaft und Gesellschaft Frankreichs integriert zu sein. Jedoch sind sie in den unteren sozioökonomischen Schichten der Gesellschaft überproportional vertreten (Silberman et al. 2007). Ihre Situation und Erfahrungen ähneln jenen, von denen Immi­ grationsforscherInnen berichten, die sich mit ImmigrantInnen der zweiten Generation und mit segmentierter Assimilation in den Vereinigten

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

Staaten beschäftigt haben (z. B. Portes und Zhou 1993; Zhou 1997). Diese WissenschaftlerInnen argumentieren, dass die sozioökonomischen Probleme von ImmigrantInnen nicht das Ergebnis ihrer Unfähigkeit sind, sich in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Vielmehr fehlen ihnen die nötigen Netzwerke zur Einbindung in den Arbeitsmarkt; in der Folge finden sich ImmigrantInnen in den untersten sozioökonomischen Klassen wieder, müssen in ghettoartigen Vierteln leben und schlechte Schulen besuchen. In Frankreich sprechen die Kinder von ImmigrantInnen aus den ehemaligen Kolonien Französisch und gehen in französische Schulen; das übersetzt sich jedoch nicht automatisch in sozioökonomische Mobilität und einen Aufstieg in die Mittelschicht. Das Modell der segmentierten Assimilation wird von französischen BeobachterInnen und SozialwissenschaftlerInnen eher nicht verwendet, auch wenn viele durchaus zustimmen, dass Armut, Unterbeschäftigung und düstere Aussichten in Kombination mit einem Leben in den einkommensschwachen Vororten das eigentliche Problem für ImmigrantInnen und ihre Kinder in Frankreich darstellen (Freedman 2004; Silberman et al. 2007; Scott 2007). Obwohl die Zeitungen während der Diskussionen die Klassenfrage ins Zentrum stellten, brachten sie Kopftuch- und Burkaverbot als Möglichkeiten zur Lösung der tiefsitzenden sozioökonomischen Probleme ins Gespräch. Das widerspricht Analysen, denen zufolge Verbote dieser Art den sozioökonomischen Ausschluss von französischen MuslimInnen noch verschärfen (siehe Bowen 2008; auch Scott 2007). Im Folgenden argumentieren wir, dass die Debatten um Kopftuch und Burka im französischen Kontext das bestehende Verständnis des nationalen Narrativs grundsätzlich bestätigt haben. Die Diskussionen beziehen sich auf ein historisch verwurzeltes Verständnis französischer Nationalstaatlichkeit, um MuslimInnen wahlweise als zu Frankreich zugehörig oder als nicht zugehörig darzustellen. Während sich die Kopftuchdebatte auf den eingegrenzten Raum der Schule und auf Jugendliche als zukünftige StaatsbürgerInnen beschränkte, drehten sich die Diskussionen um Burka und Niqab um die öffentliche Präsenz erwachsener Frauen, die nicht nur ihr Haar, sondern auch ihr Gesicht verhüllen. Um zu analysieren, wie die Debatten um Kopftuch, Burka oder Niqab das französische Nationalnarrativ verändern, beginnen wir mit einem Kapitel zur Diskussion von Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit als zentrale Begriffe, die das Konzept der Zugehörigkeit zu Frankreich historisch strukturiert haben. Danach diskutieren wir zentrale Aspekte

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der Debatten um Kopftuch, Burka oder Niqab, die wir aus drei großen Zeitungen zusammengetragen haben: aus dem politisch moderaten Le Monde sowie der rechts-konservativen Zeitung Le Figaro in Bezug auf die Kopftuchdebatte und aus der eher links ausgerichteten Libération hinsichtlich der Debatte um das Burkaverbot. Erstere und Letztere gelten als Qualitätszeitungen. Wir verwenden diese Daten, um zu analysieren, wie PolitikerInnen, JournalistInnen und die Zivilgesellschaft das nationale Narrativ Frankreichs bekräftigten, indem sie darüber diskutierten, in welchem Ausmaß religiöse Symbole wie Kopftuch und Burka in den verschiedenen Bereichen der französischen Öffentlichkeit zugelassen sein sollten. Den Abschluss des Kapitels bildet eine Analyse der politischen Kandidatur von Ilhem Moussaid, einer jungen Frau, die Kopftuch trägt. Damit wollen wir zeigen, wie die während der Debatten um Kopftuch, Burka oder Niqab artikulierte Version des nationalen Narrativs nur marginal Raum für Interpretationen gelassen hat, in denen Kopftuch tragende Frauen als zu Frankreich gehörig betrachtet werden.

D as N arr ativ der Z ugehörigkeit : R epublik anismus , L aïcité und G eschlechtergerechtigkeit Seit der Französischen Revolution (1789) strebte der republikanische Staat danach, die Vielzahl regionaler Gliederungen Frankreichs in einer Nation zu vereinigen (Brubaker 1992; Weber 1976). Seither basierte die Zugehörigkeit zur französischen Nation über Jahrhunderte auf einem Prinzip republikanischer Staatsbürgerschaft, bei der die gleichberechtigte Partizipation aller Menschen an der Regierungsgewalt prioritär war (Laborde 2008; Pocock 1995). Die Tatsache, dass Frauen erst 1944 in Frankreich das Wahlrecht erhielten, deutet darauf hin, dass dieses Ideal nicht immer einfach umzusetzen war. Dennoch waren diese historischen Prozesse der politischen Einbindung stets durch ein zentrales Ideal des Republikanismus motiviert: der Vorstellung, dass der Status der StaatsbürgerIn auf der Partizipation im öffentlichen Raum beruht, basierend auf der Annahme, dass grundsätzlich alle gleich befähigt zur staatsbürgerlichen Praxis und darin geübt seien. Nach Cecile Labordes (2008) ist eine der Besonderheiten des französischen Republikanismus (im Gegensatz zum Republikanismus Athener Prägung, den Pocock 1995 beschrieb) die große Bedeutung des Staates bei der Prägung der Begriffe der StaatsbürgerIn und der Zugehörigkeit. An-

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

ders als in Ländern, in denen nationale Narrative der Zugehörigkeit durch Pluralismus oder Multikulturalismus beeinflusst wurden, wie zum Beispiel die Niederlande (Kapitel 4) oder in geringerem Maße auch Deutschland (Kapitel 5), hat der französische Staat stets einen abstrakten Individualismus gefördert, der dem öffentlichen Zeigen von Besonderheiten, denen kollektive oder Gruppenidentitäten zugrunde liegen, ablehnend gegenüberstand (Scott 2007). Die Zugehörigkeit zur Nation hängt also ganz buchstäblich von der Bereitschaft ab, bestimmte Praktiken und Einstellungen zu Hause zu lassen. Die Menschen haben privat das Recht, anders zu sein; ihre Andersartigkeit darf allerdings keinen Anspruch auf staatliche Anerkennung beinhalten. Sie müssen nach Laborde (2008) zu »öffentlich Ähnlichen« (public similars) werden, oder zu »abstrakten Individuen« (abstract indidviduals), wie sie auch von Scott (2007) beschrieben wurden. Dieses republikanische Ideal wurde geschichtlich im Verhältnis zur Religion gefasst, wobei kontinuierlich versucht wurde, die Macht der katholischen Kirche in Alltag und Politik zu begrenzen. Laborde geht sogar so weit zu argumentieren, dass die Laïcité bzw. die französische Form des Säkularismus »eine umfassende Theorie republikanischer Staatsbürgerlichkeit« (Laborde, 2008, 7) beinhalte. Im Zentrum dieser Theorie stehen drei Ideale: »Gleichheit (religiöse Neutralität des öffentlichen Raums oder Säkularismus stricto sensu), Freiheit (individuelle Autonomie und Emanzipation von religiöser Unterdrückung) und Brüderlichkeit (zivile Loyalität gegenüber der bürgerlichen Gemeinschaft)« (Laborde 2008: 7–8, Hervorhebung im Original). Die spezifische Bedeutung dieser drei Ideale war mindestens seit den 1880er Jahren umstritten, also seit dem Jahrzehnt der Etablierung des säkularen öffentlichen Schulwesens, durch das Schulen zu wichtigen Orten staatsbürgerlicher Prägung wurden (Bowen 2008, 12; siehe auch Brubaker 1992; Weil 2008). In Folge des Konflikts über die Rolle der Kirche in Bereichen, die der staatlichen Steuerung unterliegen, wurden 1881/1882 und 1886 die sogenannten Jules FerryGesetze verabschiedet, durch die die allgemeine Schulpflicht begründet und die katholische Kirche aus den Grund- und Oberschulen gedrängt wurde. Im Jahr 1901 folgte das Gesetz zur Vereinigungsfreiheit, sowie 1905 ein Gesetz, dessen erster Artikel die »Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung« garantiert. Der zweite Artikel besagt, dass der Staat »keine Religion anerkennt, sie subventioniert oder entsprechende Gehälter zahlt« (Bowen 2008, 26; siehe auch Weil 2008). Diese Gesetze gelten als Grundstein der Institutionalisierung des französischen Säku-

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larismus, obwohl der Begriff Laïcité nicht verwendet wird (Bowen 2008, 26). Er kam erstmals in der Verfassung von 1946 zur Anwendung, in der es heißt, dass »Frankreich eine unteilbare, säkulare und soziale Republik ist« (Bowen 2008, 29). Die nach wie vor zentrale Bedeutung der Laïcité im gegenwärtigen französischen nationalen Narrativ kann möglicherweise auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass nicht präzise definiert ist, was es bedeutet, laïc zu sein, weshalb das Konzept der Laïcité verschiedene Bedeutungen annehmen kann (Bowen 2007). In ihrer Analyse der Kopftuchdebatte kommt Joan Scott zu dem Schluss, dass sich der französische Staat statt der Anerkennung von Unterschieden, wie in pluralistischen oder multikulturellen Staaten üblich, den »gleichberechtigten Schutz […] gegen Forderungen der Religion und anderen Gruppenansprüchen« zur Aufgabe gemacht hat (nach Scott 2007, 12; Hervorhebung im Original). Andere wiederum stellen die Diskussion als Streit um die unterschiedlichen Interpretationen der Laïcité dar, die sich darin unterscheiden, welche Rolle dem Katholizismus als Teil des französischen Erbes zugeschrieben wird (Weil 2008; Weill 2006). Laborde (2008, 8–9) fügt eine dritte Interpretation der Laïcité hinzu, die für einen toleranten Republikanismus einsteht, und in der »Gleichheit säkulare Unparteilichkeit [bedeutet], Freiheit die Abwesenheit von Dominanz und Brüderlichkeit trans-ethnische Integration«. Die französischen Gesetze zur Laïcité lassen mehrere Interpretationen zu. Tatsächlich, und vor dem Hintergrund der Wahrnehmung des französischen Säkularismus außerhalb Frankreichs vielleicht überraschenderweise, schließen die der Laïcité zugrunde liegenden Gesetze staatliche Unterstützung für Religionen keineswegs vollständig aus. Katholische und manche protestantische Kirchen erhalten Gelder für die Instandhaltung von Gebäuden. Darüber hinaus werden auch konfessionell gebundene Schulen öffentlich gefördert, sofern sie sich an den regulären Lehrplan halten und niemanden von der Teilnahme ausschließen. Durch die Unterscheidung zwischen persönlicher Religionsausübung (die außerhalb staatlicher Zuständigkeit liegt und als ›Religion‹ angesehen wird) und der institutionellen Gestalt einer Religion (culte) bedient sich der Staat einer Interpretation der zweiten Klausel des Gesetzes von 1905, die auf eine neutrale staatliche Unterstützung des freien religiösen Ausdrucks hinausläuft. Das Gesetz von 1905 schützt den institutionalisierten Ausdruck der Religion, aber die Laïcité interagiert mit dem Republikanismus, um individuelle Formen des Ausdrucks von Religion im öffentli-

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chen Raum auf der Grundlage der öffentlichen Ordnung einzuschränken (Bowen 2008, 17). Als Ergebnis dieser offensichtlichen Mehrdeutigkeit der Umrisse dessen, was laïc ist, bleibt der Ausdruck von Religiosität und deren Bedeutung im öffentlichen Raum innerhalb des französischen nationalen Narrativs der Zugehörigkeit umstritten. Innerhalb dieses Kontextes entwickelten sich das Kopftuch und insbesondere Burka oder Niqab zu Kristallisationspunkten einer neu entfachten Diskussion über die Laïcité und die Stellung des Islam in Frankreich. Diese Diskussionen über die (gesetzliche) Steuerung der öffentlich sichtbaren Religionsausübung nutzen in Debatten über Republikanismus und Laïcité häufig deren Gegenpole: den Kommunitarismus (communautarisme) oder die Vorstellung, dass das primäre Gefühl der Zugehörigkeit zur französischen Öffentlichkeit durch die Bindung an eine kleinere Gruppe ausgedrückt wird  – ob BretonInnen, KatalanInnen, MuslimInnen oder Siebenten-Tag-AdventistInnen – und nicht anhand der Bindung an eine abstrakte französische Bevölkerung. Als Gegenteil des Republikanismus und der Laïcité beschwört der Kommunitarismus das Gespenst der Auflösung des französischen Staates und der Nation herauf. In dem Maße, wie Kopftuch und Burka als öffentlicher Ausdruck der Mitgliedschaft zu einer anderen Gruppe als jener der FranzösInnen gelten, werden sie auch als Zeichen des Kommunitarismus gewertet. Im nationalen Narrativ Frankreichs steht der Kampf gegen den Kommunitarismus für die Mobilisierung des Staates, um gruppenbasierte Politik und andere Meinungsäußerungen mithilfe des Gesetzes zu beschneiden (Bowen 2007; 2008). Kopftuch und insbesondere Burka und Niqab sind letztlich zu Symbolen der Unterdrückung von Frauen geworden, die die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen verkörpern und damit im Widerspruch zur republikanischen, französischen und säkularen Staatsbürgerin stehen. In Frankreich, wie auch in anderen europäischen Nationalstaaten, ist die Geschlechtergerechtigkeit durch die zweite Welle des Feminismus zu einem grundlegenden Wert geworden. In der Praxis ist diese Gleichstellung der Geschlechter jedoch oft fragil und unvollständig. Die zentralen Akteure der in den Kopftuch- und Burkadebatten dominierenden Diskurse – waren im Allgemeinen Politiker, die sich auf den Schutz muslimischer Frauen konzentrierten. Die Welt der Politik ist in Frankreich nach wie vor männlich dominiert; im Jahr 2006 waren nur 12,2 Prozent der Abgeordneten Frauen.4 Obwohl die Anerkennung gruppenbasierter Unterschiede normalerweise im Gegensatz zum Republikanismus steht,

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haben französische PolitikerInnen zwei Gesetze in Folge verabschiedet, um politische Parteien dazu zu bewegen, die Zahl der Frauen auf Wahllisten zu erhöhen (Scott 2005a; siehe auch Göle und Billaud 2011). Die Nichteinhaltung der Gesetze wird mit Geldstrafen geahndet; diese werden von den politischen Parteien aber mehrheitlich in Kauf genommen. Im Ergebnis ist das von den politisch Mächtigen in diesen Diskussionen repräsentierte Antlitz Frankreichs weiterhin größtenteils weiß und männlich. Dies weist darauf hin, dass die Politik des abstrakten Individualismus – im Gegensatz zu Formen identitätsbasierter Politik – eventuell nicht den besten Weg darstellt, um die Teilhabe aller BürgerInnen an der öffentlichen Sphäre der Politik sicherzustellen. Der Gender-Ansatz legt nahe, dass die Geschlechtergerechtigkeit in Frankreich derzeit gleichzeitig an die republikanische Gleichheit wie auch an Geschlechterunterschiede anknüpft (Scott 2005b; 2007). Wie Scott (2005b) darlegt, beruht das in Frankreich dominante Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit auf der Betonung des Unterschieds, besonders im Bereich des Körperlichen. Im öffentlichen Diskurs steht das klassische Bild der hyperfemininen, hochmodischen französischen Frau neben dem des eleganten und doch maskulinen französischen Mannes – ein Verweis darauf, dass Gleichbehandlung auf das Recht hinausläuft, diesen Unterschied auch auszudrücken. Die Diskussionen um Kopftuch, Burka oder Niqab, durch die der weibliche Körper (teilweise) verdeckt wird, enthüllen die Betonung der Geschlechterunterschiede und das angespannte Verhältnis dieses Faktums zur republikanischen ›Gleichheit‹ im nationalen Narrativ Frankreichs (Scott 2005b; 2007). Auf diese Weise legen die Debatten über Kopftuch und Burka die Widersprüche im Kern des französischen Narrativs der Zugehörigkeit offen, obwohl sie die große Bedeutung des Republikanismus, der Laïcité und der Geschlechtergerechtigkeit bekräftigten.

F r anzösische Z eitungen und ihr A nteil an den D ebat ten über K opf tuch , B urk a oder N iqab Zur Analyse der französischen Kopftuchdebatte haben wir die Zeitungen Le Monde und Le Figaro untersucht. Um das Burkaverbot zu analysieren, haben wir die Libération hinzugenommen. Die Zeitungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer LeserInnenschaft und ihrer politischen Ausrichtung.

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

Le Monde gilt als französisches Leitmedium; die Zeitung versucht die größtmögliche Bandbreite an Positionen abzubilden und greift dabei auf eine Vielzahl an AutorInnen und Quellen zurück, einschließlich Intellektueller, PhilosophInnen, Personen des öffentlichen Lebens und PolitikerInnen. Die Berichterstattung ist eine Kombination von Analysen, Nachrichten und Geschichten aus dem Leben. Die Redaktionsleitung von Le Monde war zwar gegen das Kopftuchverbot in Schulen, bot aber in der Diskussion eine Plattform für eine große Vielfalt von Argumenten. Dasselbe gilt für die Diskussion des vollständigen Verbots des Niqabs und der Burka. Bei Le Figaro handelt es sich um eine weniger anspruchsvolle, politisch rechts-konservativ einzuordnende Zeitung. Hier zeigte die Berichterstattung über die Kopftuch- und Burkadebatten, in welcher Form die politische Rechte das nationale Narrativ, das sich auf die Diskussion auswirkt, einbettet. Insgesamt dominieren kürzere Artikel und die eindeutige Ablehnung von Kopftuch und Burka. Die Zeitung Libération steht hingegen im politischen Spektrum Frankreichs für linke Positionen. Während der Debatten um den Niqab stellte Libération die ganze Angelegenheit als eine zynische Strategie zur Vermehrung von Wählerstimmen durch die regierende, aber in Bedrängnis geratene Union pour un Mouvement Populaire (Union für eine Volksbewegung, im Folgenden UMP) dar, die auf Islamophobie baute. Die Berichterstattung basiert auf Analysen und größtenteils längeren Artikeln, die wesentlich detaillierter sind als bei den anderen beiden Zeitungen.

D as K opf tuchverbot an S chulen Nationale Narrative sind immer instabil, und die durch sie gekennzeichneten Grenzen der Zugehörigkeit werden ständig neu verhandelt. In Frankreich erstreckte sich das republikanische Konzept der Gleichheit zum Beispiel bis 1944 nicht auf Frauen, die erst dann das Wahlrecht erhielten. Auf ähnliche Weise verschwimmt die vermeintlich klare Grenze zwischen Religion und Teilhabe am öffentlichen Raum im Falle der finanziellen Unterstützung für katholische Schulen und sogar für die Instandhaltung von Kirchen. Solche Spannungen können zu Brüchen im nationalen Narrativ führen, sich aber auch produktiv darauf auswirken. Sie stimulieren eben jene Debatten, die das Gefühl der Zugehörigkeit zur

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Nation (wieder) herstellen. Das Kopftuch als Quelle derart produktiver Spannung geriet erstmalig im Jahr 1989 ins Rampenlicht, als drei dreizehnjährige Schülerinnen einer Oberschule in Creil, einem vornehmlich von sozial benachteiligten ImmigrantInnen bewohnten Vorort von Paris, vor die Wahl gestellt wurden, das Kopftuch abzunehmen oder die Schule zu verlassen. Die Mädchen wehrten sich, letztlich verließ aber eine von ihnen (Samira, die Tochter tunesischer ImmigrantInnen) die Schule endgültig. Die anderen beiden (Leila und Fatima, Töchter marokkanischer ImmigrantInnen) nahmen die Kopftücher ab, zum Teil auf Drängen des marokkanischen Königs, der sie aufforderte, ihre Ausbildung auf Grundlage französischer Regeln fortzusetzen (Bowen 2008, 83–86). All dies geschah, obwohl der Conseil d’État (der Staatsrat, der über die korrekte Anwendung geltenden Rechts zu befinden hat) entschieden hatte, dass ein Schulausschluss der Mädchen allein wegen des Tragens von Kopftüchern eine Form der Diskriminierung darstellte. Anders ausgedrückt interpretierte der Conseil d’État damals die Grenzen der Zugehörigkeit so, dass sie den persönlichen Ausdruck religiösen Glaubens einschließen, und somit der umstrittene Ausdruck von Differenz durchaus Platz im französischen Republikanismus finden könnte. Die Entscheidung des Conseil d’État regelte in der Folge das Tragen von Kopftüchern in Grund- und Oberschulen bis 2004, als das französische Parlament ein Kopftuchverbot für Schulen verabschiedete. Bis dahin konnten Mädchen nicht der Schule verwiesen werden, nur weil sie ein Kopftuch trugen, da das die Gewissensfreiheit verletzt hätte, die der erste Artikel des Gesetzes von 1905 garantierte. Schulen durften nur dann eine Kopftuch tragende Schülerin vom Unterricht ausschließen, wenn es Hinweise darauf gab, dass sie die öffentliche Ordnung störte, oder wenn sie versuchte, MitschülerInnen zu missionieren oder wenn sie sich selbst oder andere gefährdete (z. B., indem sie das Kopftuch im Sportoder Chemieunterricht trug) (Bowen 2008, 86–87). Zwischen 1992 und 1994 wurden dem Conseil d’État 49 Kopftuchfälle vorgelegt, von denen 41 Fälle zugunsten der Mädchen entschieden wurden (Bowen 2008, 87). Die Entscheidung aus dem Jahr 1989 zugunsten des Rechts von Mädchen, sich zu verschleiern, wurde 1994 vom damaligen französischen Bildungsminister François Bayrou angefochten; seiner Meinung nach stellten alle offensichtlichen Zeichen religiöser Zugehörigkeit eine Form der Missionierung dar. Auf diese Weise griff Bayrou die Vorstellung an, beim Kopftuch handele es sich um eine privaten Ausdruck von Religiosi-

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tät, der gesetzlich geschützt und Teil des französischen Republikanismus sei (Freedman 2004). Für Bayrou (und die SchulleiterInnen, die versucht hatten, die Mädchen auszuschließen) stellte das Kopftuch eine öffentliche Stellungnahme dar, mithilfe derer sich gute MuslimInnen von der übrigen französischen Bevölkerung absetzten, oder anders ausgedrückt, ein Zeichen des Kommunitarismus. Der Conseil d’État wies die Auffassung Bayrous jedoch zurück (Scott 2007, 27). Viele SchulleiterInnen teilten aber eher Bayrous Verständnis des Kopftuchs als jene des Conseil d’État, und Bayrous Versuch, die Regelung zum Tragen des Kopftuchs an Schulen zu verändern, führte zu einer erhöhten Zahl an Schulausschlüssen. Bayrou berief Hanifa Cherifi als Vermittlerin, selbst Immigrantin aus der algerischen Region der Kabylei, sich dieser Entwicklung anzunehmen und zwischen Kopftuch tragenden Mädchen und SchulleiterInnen zu vermitteln. John Bowen (2008, 89) beschreibt, wie Cherifi »versuchte, Mädchen davon zu überzeugen, das Kopftuch im Interesse ihrer Zukunft aufzugeben.« Wenn das nicht funktionierte, versuchte sie zu vermitteln, indem sie die Mädchen zu überzeugen suchte, »diskretere Kopftücher« oder Bandanas zu tragen, die die Ohren und den Haaransatz frei ließen, was die Schulen akzeptieren sollten (Bowen 2008, 89). Cherifi hatte mehr Verständnis für Mädchen, die ein Kopftuch trugen, weil sie aus frommen Familien stammten, als für solche, die sich gegen den Willen der eigenen Familie für das Kopftuch entschieden hatten. Im zuerst genannten Fall symbolisierte das Kopftuch eine religiöse Verpflichtung, während es im zuletzt genannten als politisch-identitäres Zeichen gesehen wurde. Diese Interpretation der Bedeutung des Kopftuchs zeigt, dass es nach wie vor als Zeichen der Bedrohung durch den Kommunitarismus galt, aber auch, welche Spannung im Kern des nationalen Narrativs Frankreichs zwischen den Sphären des Öffentlichen und des Privaten herrscht. Durch die Arbeit der staatlich beauftragten Vermittlerin Cherifi konnte die Zahl der Schulausschlüsse drastisch reduziert werden, häufig, weil die entsprechenden Schulen und Mädchen sich auf Kompromisse einigten, die den Grad der Verschleierung durch das Kopftuch betrafen. Ein Mädchen, dessen Ohrläppchen und Haaransatz sichtbar blieb, und dessen Kopftuch hinter dem Kopf zusammengebunden wurde, war für Schulleitungen deutlich annehmbarer, als ein Mädchen, dessen Schleier Haare, Ohren und Teile des Kinns bedeckte. Viele Kopftuch tragende Mädchen entschieden sich bevorzugt für Bandanas (Bowen 2008; Scott 2007).

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Das Problem löste sich jedoch nie vollständig auf; das lag teilweise auch darin begründet, dass das Kopftuch nicht eindeutig nur für private Glaubensvorstellungen stand. Für diejenigen, die im Kopftuch eine öffentliche Stellungnahme sahen, symbolisierte es größere nationale und internationale politische Entwicklungen, die die Einheit des französischen Staats destabilisierten. Auf nationaler Ebene stand das Kopftuch für ImmigrantInnen, die sich nicht vollständig in die französische Nation integrierten. Diese Wahrnehmung von ImmigrantInnen nützt vor allem der ausländerfeindlichen, rechtsextremen Partei Front National von Marine Le Pen. Als Reaktion hierauf richteten die regierenden MitteRechts-Parteien ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf das Kopftuch, um Stimmen vom Front National abzuziehen. International betrachtet haben bestimmte Ereignisse die Vorstellung verstärkt, das Kopftuch stünde für die Gefahr des Islam als globale politische Bewegung: 1989 erließ Ayatollah Khomeini eine Fatwa gegen Salman Rushdie; in den 1990ern wurde Algerien in Folge der Auflösung der aus den Wahlen im Jahr 1991 als Sieger hervorgegangenen Islamischen Partei von Unruhen und Gewalt erschüttert (dabei dominierte in den französischen Medien 1994 die Berichterstattung über Entführungen und Morde); der 11. September und die (zweite) Invasion des Irak sowie Afghanistans beeinflussten ebenfalls die Wahrnehmung des Kopftuchs während der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts (Bowen 2008; Weil 2008; Weill 2006). Diese internationalen Ereignisse haben die öffentliche Wahrnehmung bestärkt, das Kopftuch stünde für eine Tendenz zum Kommunitarismus, und es sei eher ein Symbol der Loyalität gegenüber dem politischen Islam als gegenüber der französischen Nation und könne damit eine Gefahr für die Französische Republik darstellen. Vor dem Hintergrund der republikanisch geprägten Betonung der Rolle des Staates bei der Schaffung und Absicherung der Grenzen der Zugehörigkeit, erstaunt es nicht, dass das Tragen des Kopftuchs in Frankreich per Gesetz reguliert wird. Als Nicolas Sarkozy als damaliger Innenminister der Mitte-Rechts-Partei UMP in seiner Rede anlässlich des zwanzigsten Treffens der Union des organisations islamiques de France (UOIF) am 19. April 2003 ankündigte, dass die Gesetze zur Regelung von Ausweisbildern erlassen seien und Frauen ihr Kopftuch dafür absetzen sollten, öffnete er die Tür für eine erneute Diskussion über Kopftücher an Schulen. Sarkozys Rede vor der sehr gut besuchten Jahresversammlung der UOIF bekam große mediale Aufmerksamkeit. Einige Abgeordnete

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stellten das Kopftuchtragen als nicht französische Praxis dar und begründeten damit, dass ein Kopftuch nicht auf einen französischen Ausweis gehöre. Dies schuf die Gelegenheit, ein neues Gesetz zum Verbot religiöser Symbole an öffentlichen Schulen zu fordern. Am 24. April kündigte der Bildungsminister Luc Ferry an, dass er dem Parlament einen entsprechenden Gesetzesvorschlag vorlegen wolle (Le Figaro, 24. April 2003). Innerhalb weniger Wochen folgten Abgeordnete der Mitte-Rechts-Partei UMP (Yves Jego und Jacques Myard), der Mitte-Rechts-Partei Union pour la démocratie française (Maurice Leroy) sowie der sozialdemokratischen Parti Socialiste (Jack Lang), um entweder ihre Unterstützung auszudrücken oder ähnliche Gesetze vorzuschlagen (Le Figaro, 12. Mai 2003). Während die Vorschläge allesamt das Rechtsprinzip der Laïcité in öffentlichen Schulen zugrunde legten, waren die vorgebrachten Motivationen sehr viel komplexer und bezogen sich auf alle zentralen Leitbilder des französischen Nationalnarrativs. Ironischerweise wollte Nicolas Sarkozy das Problem des Kopftuchs an Schulen in seiner Rede vor der UOIF eigentlich vermeiden; er gehörte zu den Abgeordneten, die ursprünglich gegen eine solche Gesetzgebung waren. Er hatte versucht, den Premierminister Jean-Pierre Raffarin davon zu überzeugen, das Problem weiterhin so zu behandeln, wie seit 1989 üblich. Das heißt, es sollte weiter von Fall zu Fall entschieden werden, damit die »Dinge [nicht] durch eine Gesetzesabstimmung zum Thema vergiftet« würden (nach Le Monde, 10. Mai 2003). Sarkozy und andere, einschließlich des Justizministers Dominique Perben, sowie anfänglich auch des Bildungsministers Luc Ferry, befürchteten, dass MuslimInnen durch ein Kopftuchverbot noch stärker stigmatisiert würden. Diese PolitikerInnen hatten für das Kopftuch sicher nicht viel übrig, jedoch gefielen ihnen die Konflikte um das Kopftuch noch viel weniger, weil sie fürchteten, dass diese die kommunitaristischen Bestrebungen unter den französischen MuslimInnen verstärken könnten. Die Ernennung von Bernard Stasi zum Ombudsmann und Vorsitzenden einer Kommission zur Untersuchung der Frage, wie das Prinzip der Laïcité geschützt werden könnte, war der Versuch Jacques Chiracs, die Diskussion voranzubringen. Die Stasi-Kommission nahm ihr weitreichendes Mandat sehr ernst und formulierte eine Reihe weiterer Empfehlungen, durch die angesichts der faktischen Diversität nicht nur die Laïcité, sondern auch der soziale Zusammenhalt gestärkt werden sollte. So wurden beispielsweise Gesetze vorgeschlagen, um den muslimischen Feiertag

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Eid al-Kebir (auch bekannt als Eid al-Adha, Kurban Bayrami oder Opferfest) sowie den wichtigsten jüdischen Feiertag Yom Kippur offiziell als staatliche Feiertage anzuerkennen. Von den zahlreichen Empfehlungen wurde jedoch nur eine in ein Gesetz überführt: die Empfehlung zum Verbot aller offensichtlich religiösen Symbole an öffentlichen Schulen. Damit schlug der Versuch fehl, das nationale Narrativ so zu erweitern, dass zu Frankreich zugehörig zu sein, auch nicht christliche religiöse Praktiken hätte implizieren können. Wie unsere Analyse der Zeitungsdebatten zeigt, gab es bei diesem fehlgeschlagenen Versuch zur Inklusion keinen Raum für die Artikulierung neuer zentraler Begriffe im französischen Nationalnarrativ. Vielmehr wurde durch die Debatten die Wahrnehmung verstärkt, dass Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit im Zentrum der Definition dessen stehen, wer und was zu Frankreich gehört. Die AkteurInnen, die an den Debatten beteiligt waren, haben in ihren jeweiligen Beiträgen die Bedeutung dieser Konzepte allerdings auf manchmal widersprüchliche Weise neu gefasst.

Z ur A nalyse des nationalen N arr ativs : K opf tücher in den fr anzösischen Z eitungen Während der Debatten über das Kopftuch an Schulen zwischen April 2003 und Anfang 2005 zeigten sich in französischen Zeitungen zwei Hauptargumentationslinien. Die erste baute auf die lange bestehende Verbindung zwischen Republik und Laïcité auf und interpretierte das Kopftuch als kommunitaristische Bedrohung. Das führte zu Diskussionen darüber, ob der Islam Französisch sein kann, sowie über die Stigmatisierung französischer MuslimInnen. LehrerInnen spielten hier eine besondere Rolle, da sich bei ihnen die Debatte um die Frage drehte, ob die Anwesenheit Kopftuch tragender Mädchen ihre Fähigkeit untergrub, republikanische Werte wie die der Laïcité in Schulen zu unterrichten. Dadurch wurde die zentrale Rolle der Schulen bei der Schaffung einer republikanischen, laizistischen Form der Zugehörigkeit unterstrichen. In der zweiten zentralen Argumentationslinie wurde das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau im Islam dargestellt. Das führte zu einem speziellen Verständnis der Geschlechtergerechtigkeit im nationalen Narrativ. Beide Argumentationslinien stützten weitgehend das Verbot des Kopftuchs an Schulen. Die damit verbundenen Debatten verstärkten

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

ein Verständnis des Säkularismus als grundlegend für den französischen Republikanismus und von Schulen als Orte, an denen diese Verknüpfung an französische StaatsbürgerInnen vermittelt wird. Zusätzlich stützten sie auch die Wahrnehmung, dass das zeitgenössische Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit ein zentrales Merkmal des nationalen Narrativs Frankreichs ist.

R epublik anismus und L aïcité : K opf tuch , K ommunitarismus und S tigmatisierung Die Debatten über das Kopftuch haben die Einstellung verstärkt, dass Republikanismus und Laïcité eindeutig den Kern des französischen nationalen Narrativs ausmachen (Laborde 2008). Diejenigen, die an den Debatten teilnahmen, haben diese Konzepte (und deren Verknüpfungen) auf unterschiedliche Weise mobilisiert. Besonders PolitikerInnen waren sich nicht darin einig, ob das Kopftuch eine direkte oder indirekte kommunitaristische Bedrohung für Republikanismus und Laïcité beinhaltet. Jene, die das Kopftuch als direkte Bedrohung für Republikanismus und Laïcité wahrnahmen, forderten ein Verbot von Kopftüchern an Schulen. Andere verwendeten dieselben Konzepte, um sich gegen ein Verbot auszusprechen: Diese AkteurInnen prognostizierten, dass die mit einem Verbot einhergehende Stigmatisierung die Gefahr des Kommunitarismus bergen würde. RepräsentantInnen muslimischer Organisationen boten noch ein drittes Verständnis von Republikanismus und Laïcité an, nach dem es spannungsfrei möglich ist, muslimisch und im öffentlichen Raum aktiv zu sein. Im Allgemeinen bezogen sich PolitikerInnen, die sich gegen Kopftücher an Schulen aussprachen, direkt auf die französisch-republikanische Tradition der Laïcité, um ein Verbot zu befürworten. Zu Beginn der Diskussion über Kopftücher an Schulen im Jahr 2003 gab es beispielsweise das folgende Zitat von Premierminister Raffarin: »Der Schleier ist ein Symbol für jene, die ihn tragen. Er ist aber auch ein Symbol für jene, die dagegen sind.« (Jean-Pierre Raffarin, zitiert nach Le Monde, 6. Mai 2003) Mit dieser Aussage bezog er deutlich gegen den »Kommunitarismus« Position. Das von Raffarin und anderen vorgebrachte Argument gegen das Kopftuch als gezieltem Affront gegen Republikanismus und Laïcité durch die Trägerinnen war nicht rein rhetorisch gemeint; es beeinflusste

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auch die Arbeit der Stasi-Kommission, die sich Raffarin zufolge auf die Frage konzentrierte, wie »Schulen vor kommunitaristischen Abweichungen und vor jeder Form religiösen Eifers, die im Namen der republikanischen Laïcité abzulehnen seien«, geschützt werden könnten (Jean-Pierre Raffarin zitiert nach Le Figaro, 30. April 2003). Die Vorstellung, dass Republikanismus und Laïcité verteidigt werden müssten, war über alle politischen Lager hinweg sehr verbreitet. Noch im selben Jahr plädierte der ehemalige sozialdemokratische Premierminister Laurent Fabius als Abgeordneter für ein Kopftuchverbot: »Laïcité bedeutet die Definition der Bedingungen für ein gesellschaftliches Leben, in dem die Wahlgemeinschaft wichtiger ist als die Ursprungsgemeinschaft, sowie die öffentliche Durchsetzung einer Politik, die die Stellung aller in der Republik absichert.« (Laurent Fabius zitiert nach Le Monde, 25. November 2003) Solche Argumente führten jedoch nicht zu der Forderung eines generellen Kopftuchverbots im öffentlichen Raum (hier ging die Türkei sehr viel weiter). Der Fokus war vielmehr auf Schulen gerichtet als die wichtigsten staatlichen Institutionen zur Vermittlung von Sinn und Bedeutung der Praktiken der Zugehörigkeit zur französischen Nation. Obwohl weniger als 10 Prozent der französischen LehrerInnen direkten Kontakt mit Kopftuch tragenden Mädchen hatten (Bowen 2008, 121), spielten beim Kampf gegen das Kopftuch an Schulen Lehrkräfte und ihre Gewerkschaften eine sehr aktive Rolle. Zwei LehrerInnen, die während der Debatten 2003 in Lyon in einen hochgradig umstrittenen Fall von Schulausschluss verwickelt waren, argumentierten: »Für extremistische Gruppen, die die Gesetze der Religion über die der Republik stellen, ist der Schleier eine politische Flagge, die in Schulen gehisst werden soll. Ihr religiöses Projekt ist ein politisches. Deshalb müssen wir heute die Trennung von Politik und Religion besonders unterstreichen.« (Nach Le Monde, 22. Mai 2003)

Für diese LehrerInnen musste das Kopftuch aus den Klassenräumen verbannt werden, damit Schulen die Bedeutung der republikanischen Laïcité stärken könnten. Auf diese Weise verknüpften die LehrerInnen die Verteidigung von Republikanismus und Laïcité mit einer Wahrnehmung des Kopftuchs als einem stärker politischen als religiösem Symbol, um in einem zweiten Schritt zu erklären, das Kopftuch gehöre nicht in die Schule. Nicht alle folgten dieser Logik. Einige argumentierten, dass die Stigmatisierung durch ein Kopftuchverbot einen Anreiz für MuslimInnen als

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

Gruppe schafft, kommunitaristische Forderungen zu stellen. Ein Journalist von Le Monde schrieb: »Die SozialistInnen müssen anfangen, auf Loubna Méliane zu hören, eine Feministin und Aktivistin bei SOS-Racisme, die dem Nationalrat der Parti Socialiste beigetreten ist: ›Wir müssen aufhören, uns selbst zu belügen. Ob es uns gefällt oder nicht, solch ein Gesetz [zum Verbot des Kopftuchs] würde MuslimInnen stigmatisieren.‹ Ihrer Meinung nach gedeihen KommunitaristInnen auf der Grundlage von sozialer Ungerechtigkeit. Dort müssen wir tätig werden.« (Le Monde, 18. Juni 2003)

Mit diesem Argument stellt sich Méliane gegen das Kopftuchverbot. Durch die Verwendung des Begriffs KommunitaristInnen bezieht sie sich auch auf diesen spezifischen Gegensatz zum Republikanismus. Indem sie sich in ihrer Argumentation gegen das Verbot auf die gemeinsamen Elemente des nationalen Narrativs Frankreichs bezieht, bekräftigen Mélianes Argumente dieses Narrativ eher als dass sie es umdeuten. Mitte-Rechts-PolitikerInnen argumentierten ähnlich: Die Bedrohung sei nicht das Kopftuch an sich, sondern mögliche kommunitaristische Forderungen, die ein Kopftuchverbot mit sich bringen könne: »Der von der Kommission am Freitag, den 14. November zur Anwendung des Prinzips der Laïcité in der Republik zuletzt befragte Minister Dominique Perben begründete seine Zurückhaltung mit Blick auf ein Gesetz zum Verbot religiöser Symbole in Schulen damit, wie wichtig die ›Kohäsion‹ für die französische Gesellschaft sei. […] Die Sorge Perbens galt zwar der ›Verurteilung des Kommunitarismus – ohne irgendeine Gruppe zu stigmatisieren‹, trotzdem empfahl er aber ›alle Lösungen [zu vermeiden], die augenscheinlich Muslime diskriminieren‹, für die seiner Meinung nach ›der Schutz der Ausübung ihres Glaubens sichtbar sein muss‹.« (Le Monde, 15. November 2003)

In ihren Argumenten zur Stigmatisierung beschworen PolitikerInnen, genau wie ihre KollegInnen, die ein Verbot befürworteten, die Verpflichtung zum Schutz des Republikanismus vor dem Kommunitarismus. Sie entfernten sich von der Darstellung des Kopftuchs als direkte kommunitaristische Bedrohung für Republikanismus und Laïcité, und betonten stattdessen die Notwendigkeit, den Glauben zu schützen, der als eine private und damit innerhalb der Laïcité zulässige Form des Religionsaus-

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drucks gelten könne. So wurde das Kopftuch durch Diskussionen über ein Verbot, das MuslimInnen stigmatisieren würde, zu einer indirekten Bedrohung für das nationale Narrativ. Einige dieser Argumente waren bloß politische Instrumente, mit denen politische AkteurInnen sich die Unterstützung entweder muslimischer WählerInnen sichern wollten oder rechts orientierter WählerInnen, die zwar den Islam fürchteten, aber die Förderung ihres christlich-religiösen Erbes nicht verlieren wollten (Weil 2008). Auf der Meta-Ebene hatten die Argumente sowohl für wie auch gegen das Verbot den Effekt einer Verstärkung der zentralen Rolle von Republikanismus, Laïcité sowie (Widerstand gegen) den Kommunitarismus als wichtigen Leitbildern des nationalen Narrativs Frankreichs, selbst wenn damit unterschiedliche Ziele angestrebt wurden. Manche gingen mit dem Argument der Stigmatisierung noch einen Schritt weiter und argumentierten, dass Kopftuch tragende Mädchen zur Schule gehen können sollten, um gute republikanische Staatsbürgerlichkeit zu lernen. Bei dieser Form der Argumentation wurde der Kommunitarismus direkt mit dem radikalen Islam in Verbindung gebracht. In einem der wenigen Artikel zu den Erfahrungen muslimischer Frauen erzählte eine verschleierte Schülerin einem Reporter von Le Monde: »›Ich werde beschuldigt, eine Fürsprecherin für FundamentalistInnen zu sein, aber ganz im Gegenteil‹, so ihr Argument, ›werden verschleierte Mädchen, die mit uns lernen dürfen, eher einen kritischen Geist entwickeln und sich emanzipieren. Ich weiß von Leuten, die nur allzu froh wären, sich ihrer anzunehmen. Leute, die eine radikale Form des Islam praktizieren.‹« (Le Monde, 4. Februar 2004)

Jean Glavany, eins von 20 Mitgliedern der Stasi-Kommission äußerte sich anfangs ähnlich, obwohl die Kommission später einstimmig für den Antrag zum Kopftuchverbot an Schulen stimmte: »›Wir sind alle gegen Kopftücher an Schulen. Aber die Werte der Republik passen besser zur Toleranz als zum Ausschluss. Wo werden die ausgeschlossenen Mädchen denn hingehen? In islamische Zentren?‹, fragte Glavany« (Le Monde, 18. Juni 2003). Aus diesem Blickwinkel würde ein Kopftuchverbot es Schulen unmöglich machen, ihre Funktion zur Vermittlung republikanischlaizistischer staatsbürgerlicher Werte wahrzunehmen und stattdessen ein Zugehörigkeitsgefühl gefördert, dass an die partikularistischen, islamischen Identitäten von SchülerInnen anknüpft.

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Indem sie Republikanismus und Laïcité verteidigten, haben RepräsentantInnen muslimischer Organisationen ebenfalls das Argument gestärkt, dass eine Stigmatisierung den Kommunitarismus befördern würde. Eine der Errungenschaften von Sarkozy als Innenminister bestand darin, eine Dachorganisation für französische MuslimInnen auf den Weg zu bringen, die der Regierung beim Umgang mit (religiösen) MuslimInnen als ›privilegierte Gesprächspartnerin‹ dient (Bowen 2008, 48–62; Freedman 2004, 17–18). Linke kritisierten Sarkozy (und die UMP) daraufhin, weil ihrer Meinung nach durch Organisationen wie den Conseil français du culte musulman (Französischer Rat des muslimischen Glaubens, im Folgenden CFCM) MuslimInnen weiterhin als anders als die ›regulären‹ französischen BürgerInnen gekennzeichnet würden, wodurch es zu Diskriminierungen und dadurch zu einer Förderung des Kommunitarismus kommen könnte (siehe beispielsweise Weil 2008). Unabhängig von der politischen Wahrnehmung des CFCM, haben die Warnungen dieser Organisationen vor einer potenziellen Stigmatisierung wiederum die Prinzipien des Republikanismus und der Laïcité bestärkt. Dalil Boubakeur, Leiter der Großen Moschee von Paris und erster Vorsitzender des CFCM, äußerte Erstaunen darüber, in Frankreich muslimische Frauen mit einem Kopftuch zu sehen »wo doch Frauen im Maghreb [religiöse Regeln] viel weniger streng befolgen« (Dalil Boubakeur zitiert nach Le Figaro, 6. Mai 2003). Er erklärte die Hinwendung zum Kopftuch als eine ›aggressive‹ Reaktion auf die Ablehnung, die muslimische Frauen durch die französische Gesellschaft erfahren. Er wendete sich deshalb gegen eine Stigmatisierung und bekräftigte die Bedeutung von Republikanismus, Laïcité und Kommunitarismus im nationalen Narrativ Frankreichs. Er warnte, dass »das Kopftuch jenseits der eigentlichen Ziele nicht mehr Weiblichkeit beschützt, sondern zu einer Bekräftigung von Religiosität geworden ist, was in einem ausgewogenen Land wie Frankreich inakzeptabel ist. Die politische Akklamation zum Kopftuch ist eine Form des Fundamentalismus, der unvorstellbar ist in einem Land, das seit dem 19. Jahrhundert um die grundlegende Bedeutung einer kostenfreien und verpflichtenden Bildung für alle StaatsbürgerInnen weiß. Diese Bedeutung steht nur hinter den Grundrechten auf ein Existenzminimum und auf Gleichheit zurück.« (Dalil Boubakeur zitiert nach Le Figaro, 6. Mai 2003)

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Auf diese Weise stellte Boubakeur unter Beweis, dass er die Sprache des nationalen Narrativs Frankreichs  – wenn auch aus seiner Position am Rande der Zugehörigkeit – fließend beherrschte. Als er sich an die französische Öffentlichkeit außerhalb der Banlieues wandte, verteidigte Boubakeur den Republikanismus, indem er darauf hinwies, wie die Ablehnung französischer MuslimInnen den ›Kommunitarismus‹ fördere. Gleichzeitig wandte er sich den durch »soziale Ablehnung« von der französischen Zugehörigkeit Ausgeschlossenen zu und vermittelte MuslimInnen, dass das Kopftuch zwar eine verständliche Reaktion auf rassistische Zuschreibungen sei, es aber als Emblem religiöser Identität aufgrund der Zentralität der Laïcité im nationalen Narrativ Frankreichs zu Recht sanktioniert würde (Le Figaro, 6. Mai 2003). RepräsentantInnen anderer muslimischer Organisationen folgten einem anderen Ansatz und versuchten, diese zentralen Konzepte des französischen nationalen Narrativs neu zu definieren. Eine der größten mit dem CFCM verbundenen Organisationen, die UOIF (Union des organisations islamique de France), erkannte Republikanismus und Laïcité als in der Quintessenz Französisch an. Sie verwies jedoch auf die Möglichkeit, diese Werte durch Religion zu unterstützen: Das Argument, dass die Laïcité mit dem Katholizismus vereinbar sei, gelte im selben Maße für den Islam. Fouad Alaoui, Generalsekretär der UOIF, verband die zentrale Stellung des Rechts im französischen Republikanismus mit dem Islam, indem er die häufig von MuslimInnen, die in Ländern mit muslimischer Minderheit lebten, zu hörende Beteuerung wiederholte, sie seien verpflichtet, die Gesetze des Landes zu befolgen, in dem sie lebten. In seinen Worten ist die »Achtung des Gesetzes eine religiöse Pflicht« (Fouad Alaoui zitiert nach Le Figaro, 21. April 2003). Abdallah ben Mansour, der frühere Generalsekretär der UOIF, bezog sich in demselben Artikel mit folgendem Argument auf republikanische Vorstellungen zur politischen Partizipation: »Ein Gesetz zwang einst JüdInnen dazu, einen gelben Stern zu tragen, bis es abgeschafft wurde  […]. So lange das Gesetz den Schleier verbietet, werden wir es achten, aber auch versuchen, es zu ändern.« (Abdallah ben Mansour zitiert nach Le Figaro, 6. Mai 2003) Die UOIF äußerte auf diese Weise ihre Kritik am Kopftuchverbot durch einen Vergleich mit den schlimmsten Grausamkeiten, die je auf europäischem Boden verübt wurden. Gleichzeitig waren diese französischen MuslimInnen als GesprächspartnerInnen der Meinung, dass sich MuslimInnen als BürgerInnen der Republik politisch einbringen sollten, um das Gesetz zu

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verhindern. Dadurch betonten sie, dass es für französische MuslimInnen möglich ist, Französisch zu sein und sich an französischer Politik zu beteiligen. Dieses Leitbild von Religion im öffentlichen Raum stellte jedoch auch die Interpretation von Republikanismus und Laïcité in Frage, wie sie von PolitikerInnen und von AkteurInnen der muslimischen Gemeinschaften Frankreichs vertreten wurde. Obwohl die UOIF für eine Minderheit sprach, war sie mit dieser Art der Argumentation nicht allein. Dounia Bouzar, Gründungsmitglied des CFCM und eine Person des öffentlichen Lebens sowie Kommentatorin von Problemen bezüglich muslimischer Integration in Frankreich, beteiligte sich als Anthropologin mit algerisch-muslimischen Wurzeln aktiv an der öffentlichen Debatte. Von allen an der Debatte Beteiligten beteuerte sie am deutlichsten die Möglichkeit, das Kopftuch auf eine Weise zu tragen, dass es mit französischen Werten vollständig vereinbar ist. Selbst nicht verschleiert ist sie Autorin eines Buches, das sie gemeinsam mit Saïda Kada verfasste, einer Kopftuch tragenden Aktivistin aus Lyon, die als einzige Frau mit Kopftuch von der Stasi-Kommission angehört wurde. In diesem Buch versuchen Bouzar und Kada darzulegen, dass Frauen ohne inhärenten Widerspruch Kopftuch tragen und Französisch sein können. Le Monde schrieb: »Für […] [Bouzar] kann das Kopftuch Teil der Neudefinition einer modernen muslimischen Identität sein: ›Diese französischen MuslimInnen möchten sich mit anderen FranzösInnen auf einer gemeinsamen Basis begegnen und sich auf den Islam beziehen.‹« (Le Monde, 10. Mai 2003) Diese Umdeutung der Umrisse von Republikanismus und Laïcité stellte eindeutig eine Minderheitenposition in einer Debatte dar, in der das Kopftuch überwiegend entweder als Zeichen der Unfähigkeit oder als Zeichen des Unwillens zu einer Teilhabe galt, die diesen Prinzipien entspricht. Bouzar wurde in einer Reihe von Zeitungsartikeln zitiert und von der Stasi-Kommission angehört, allerdings verloren ihre Argumente an Überzeugungskraft, als sie aus dem CFCM austrat, dem sie als eines von zwei weiblichen Gründungsmitgliedern angehört hatte. Ihr Rücktritt wurde häufig als Zeichen dafür gewertet, dass ihre Version eines republikanisch-laizistischen Islams unter französischen MuslimInnen keine breite Zustimmung fand. Letztlich stimmten alle Gesprächsparteien in diesen Debatten darin überein, dass Schulen Orte republikanischer, laizistischer Bildung seien. Uneinigkeit herrschte darüber, ob die Schule verschleierte Schülerinnen in republikanische Unterstützerinnen der französischen Laïcité verwan-

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deln könnte, oder ob das Abnehmen des Kopftuchs die Bedingung für die Schaffung eines Raumes war, in dem Kernelemente des nationalen Narrativs an die nächste Generation weitergegeben werden sollten. Einige argumentierten, das Kopftuch würde die Vermittlung der Werte der republikanischen Laïcité behindern, während andere meinten, das Recht der Mädchen auf republikanisch-laizistische Bildung sei höher zu werten als das Recht des Staates, diese Mädchen auszuschließen. Jedoch vertrat niemand die Position, dass die Praxis des Kopftuchtragens an sich geschützt werden sollte, ebenso wenig führten diese Diskurse zu einer Umdeutung von Republikanismus und Laïcité, und damit der grundlegenden Prinzipien des nationalen Narrativs Frankreichs. Diese Auseinandersetzungen verschoben die Grenzen der Zugehörigkeit nicht: Französin sein und Kopftuch tragen ist nicht miteinander vereinbar, vielmehr können Kopftuch tragende Mädchen bestenfalls potenziell zur französischen Nation gehören.

D as K opf tuch als A usdruck der U nterdrückung der F r au im I sl am Die Auseinandersetzungen über Erlaubnis oder Verbot von Kopftüchern an Schulen bauten auch auf den Diskursen zur Geschlechtergerechtigkeit auf, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden waren und die die Bedeutung dieser Gerechtigkeit im französischen Nationalnarrativ verstärkten. Im Allgemeinen bezogen sich die Diskussionen um Republikanismus und Laïcité selten auf die persönlichen Gründe, aus denen Frauen und Mädchen ein Kopftuch tragen. Anstelle dessen drehten sich die Zeitungsdebatten hauptsächlich um die äußere Wahrnehmung des Kopftuchs als Bedrohung des französischen Republikanismus, der Laïcité und die entsprechenden Vorstellungen hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit. Eine Argumentation lautet, dass das Kopftuch gegen die Gleichstellung der Geschlechter verstoße, wobei es als objektives Symbol der Unterdrückung und Unterordnung von Frauen im islamischen Glauben dargestellt wird. Die Meinungen Kopftuch tragender Frauen finden sich nur selten in Zeitungen, außer in wenigen Fällen, wie in dem von Alma und Lila Lévy, der beachtliche Medienaufmerksamkeit erhielt. Ansonsten sind subjektive Erfahrungen oder Absichten Kopftuch tragender Frauen kaum Teil der Diskussion.

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Diese Form des Ausschlusses wurde durch Zeitungsberichte befördert, in denen Kopftuch tragende Frauen weder Unabhängigkeit noch Handlungsfähigkeit besitzen. Einige Berichte verbreiteten die Vorstellung, dass Frauen sich auf den Druck ihrer (vor allem männlichen) Familienmitglieder hin bedeckten. In einem Artikel in Le Monde auf der Grundlage eines Interviews mit Nadia, einer verschleierten Frau, gibt der Journalist seine Erfahrungen während des Interviews wieder: »Während des ganzen Gesprächs sind die Männer der Familie anwesend. Mohammed, der Verlobte, sitzt neben ihr. Kamel, der ältere Bruder mit kurzem Bart, steht im Türrahmen. Nadia ist das einzige Mädchen von fünf Kindern. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erscheint der jüngste Bruder und flüstert seiner Schwester ins Ohr: ›Vater kommt!‹ Als Nadia sich nicht bewegt, wird er eindringlicher: ›Vater kommt! Geh und mach den Kaffee.‹ Nach einem letzten Zögern erhebt sich das junge Mädchen, geht in die Küche und lässt ihren Gesprächspartner zurück.« (Le Monde, 14. Oktober 2003)

Derlei Berichte stellen muslimische Verlobte und Brüder, die durch den Verweis auf den kurzen Bart als fromm gekennzeichnet werden, als wachsame und kontrollierende Figuren dar, die die Mädchen daran hindern, in Fragen des Kopftuchs für sich selbst zu sprechen. Nadias Zögern wird als fehlgeschlagener Versuch gewertet, die Situation unter Kontrolle zu halten und verstärkt die Wahrnehmung, dass sie kaum die Fähigkeit besitzt, ihren Willen durchzusetzen. Bekannte FeministInnen bedienten sich des Bildes handlungsunfähiger muslimischer Mädchen oder Frauen, um die Vorstellung zu untermauern, der Islam sei inhärent frauenfeindlich (Billaud und Castro 2013). Gisèle Halimi, jüdisch-tunesischer Herkunft und bekannte Autorin, Anwältin, Aktivistin und Vorsitzende von Choisir la cause des femmes5, einer Organisation für das Recht auf Abtreibung, die sie mit Simone de Beauvoir und anderen 1971 gründete, setzte sich stark für ein Kopftuchverbot ein: »Der Schleier ist ein fürchterliches Symbol der Herabsetzung von Frauen. Ich muss das nicht weiter ausführen – das ist genauso im Koran beabsichtigt. Definiert in Beziehung zum Mann, seinem Verlangen und seinen Zwängen muss die Frau alles bedecken, was verführen oder sexuelle Verfehlungen andeuten könnte.« (Gisèle Halimi zitiert nach Le Monde, 24. Oktober 2003)

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Solche Argumente privilegieren eher die Interpretationen derer, die das Kopftuch sehen, als derer, die es tragen. Ob muslimische Frauen sich für diese Bedeckung entscheiden oder nicht, spielt keine Rolle; das Kopftuch steht per Definition für eine objektive Verweigerung der Gleichberechtigung der Frauen. Die stärksten GegnerInnen des Kopftuchs ließen sich von der Aussage, dass Frauen sich entscheiden könnten, diese Kleidung zu tragen, nicht im Geringsten davon abbringen, dass es seinem Wesen nach eine objektive Form der Dominanz darstelle. Diese Gesprächsparteien verwarfen die von Mädchen wie Alma und Lila Lévy vorgebrachten Argumente, sie hätten sich freiwillig für das Kopftuch entschieden, ebenso wie die Proteste junger Frauen, die bei der Verabschiedung des Verbots Parolen wie »Mein Schleier, meine Wahl« riefen. Die feministischen Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen Anne Vigerie, vom Cercle d’Étude de Réformes Féministes, und Anne Zelensky, Vorsitzende der Ligue du Droit des Femmes, behaupteten in demselben Zeitungsartikel, dass religiöse Frauen per Definition nicht die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln besäßen: »Junge Mädchen oder Frauen tragen ihn und berufen sich auf die Religionsfreiheit. Das Tragen des Schleiers ist kein Zeichen religiöser Zugehörigkeit. Er symbolisiert den Platz der Frau im Islam gemäß dem Verständnis im Islam: verhüllt im Schatten, zur Unterordnung unter die Männer bestimmt. Die Tatsache, dass Frauen sich entscheiden ihn zu tragen, ändert nichts an seiner Bedeutung. […] Es gibt keine sicherere Form der Unterdrückung als die Selbstunterdrückung.« (Anne Vigerie und Anne Zelensky zitiert nach Le Monde, 30. Mai 2003)

Feministische Aktivistinnen wie Halimi, Vigerie und Zelensky stellten sich als des Islam kundig und als fähig dar, den Koran zu interpretieren, obwohl die Forschungslage eine sehr viel nuanciertere und vielfältigere Interpretation des Kopftuchs zeigt (Killian 2003; 2006; Gaspard und Khoskorovar 1995; Göle 1994). Sie traten als Verteidigerinnen der Rechte aller Frauen auf; diese sahen sie in Gefahr, wenn irgendeine Gruppe von Frauen systematisch von ungleichen Gender-Praktiken betroffen ist, wie sie es bei muslimischen Frauen annahmen. Im Dezember 2003 berichtete Le Monde, dass eine Gruppe berühmter Frauen – einschließlich bekannter feministischer Aktivistinnen, Intellektueller, Schauspielerinnen und Akademikerinnen – im Magazin Elle einen Aufruf an Jacques Chirac veröffentlicht hatte, in dem sie feststellten:

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»[D]er islamische Schleier […] unterwirft alle Frauen, muslimische wie nicht muslimische, einer nicht hinnehmbaren Diskriminierung. Jede Nachsicht in dieser Hinsicht würde von allen Frauen dieses Landes als persönlicher Angriff auf ihre Würde und Freiheit empfunden. […] Den islamischen Schleier in Schulen und in Behörden zu akzeptieren, hieße, ein sichtbares Symbol der Unterordnung der Frau an Orten zu legitimieren, an denen der Staat die strikte Gleichheit der Geschlechter zu garantieren hat.« (Nach Le Monde, 7. Dezember 2003)

Darstellungen des Schleiers als allgemein im Widerspruch zur Geschlechtergleichstellung stehend hat die Bedeutung dieser Gleichstellung als Grundprinzip der französischen Republik unterstrichen. Darüber hinaus wird der Schleier aus dieser Perspektive selbst zum Handlungsträger (da nicht Frauen oder Mädchen mit Schleier aus Schulen ausgeschlossen werden sollen, sondern der Schleier an sich. So erscheinen nicht die muslimischen Frauen als Subjekte, sondern der Schleier wird zum Subjekt erklärt!). Dieser Definition der Geschlechtergerechtigkeit zufolge sind nur jene berechtigt, an öffentlichen Debatten teilzuhaben und ihren Platz in der republikanischen Bürgerschaft einzunehmen, die einem bestimmten Verständnis selbstbestimmten Handelns entsprechen (Billaud und Castro 2013). In dem sich daraus ergebenden Narrativ der Zugehörigkeit ist es unmöglich, gleichzeitig Französin zu sein und sich öffentlich zum islamischen Glauben zu bekennen. Die Organisation migrantischer Frauen Ni Putes Ni Soumises (Weder Huren noch unterwürfig, im Folgenden NPNS) war eine besonders wichtige Quelle für Diskurse, die diese Interpretation der Beziehung zwischen Geschlechtergerechtigkeit und Kopftuch stützten.6 NPNS wurde von Fadela Amara und Samira Bellil mit dem Ziel gegründet, Gewalt gegen Frauen und Mädchen in den Banlieues zu thematisieren. (Samira Bellil veröffentlichte ein Buch über ihre Erfahrung wiederholter Gruppenvergewaltigungen durch junge Männer in den Banlieues, während Fadela Amara ein Buch mit dem Titel Ni Putes Ni Soumises veröffentlichte, in dem sie die Gründung von NPNS beschreibt [Bellil 2003; Amara 2007]). NPNS war der Auffassung, der Islam würde solche Gewalt dulden und behauptete, Mädchen trügen das Kopftuch, um sich vor sexueller Gewalt zu schützen (siehe auch Weil 2008). Das brachte Fadela Amara dazu, sich gegen jede Form kommunitaristischer Toleranz für das Kopftuch auszusprechen: »Ich akzeptiere es nicht, dass wir den Schleier unter dem Vorwand des Respekts für die Kulturen, aus denen er stammt, tolerieren sollen« (Fa-

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dela Amara zitiert nach Le Monde, 8. März 2005). Wie beim CFCM zeigt sich auch in dieser Aussage beispielhaft, wie fließend migrantische AktivistInnen das Vokabular des nationalen Narrativs beherrschen, in diesem Fall in Form des französisch-republikanischen Feminismus. Diese Art des exklusiven Feminismus, der die Erfahrungen der dominanten Klasse von Frauen als Maßstab für Gleichheit verwendet, wurde von vielen AktivistInnen und WissenschaftlerInnen kritisiert, die sich der Analyse der Unterschiede zwischen Frauen widmen (Glenn 1999; 2002; Davis 2008; Knapp 2005; Yuval-Davis 1997; 2006). Im Kontext des nationalen Narrativs Frankreichs ist eine Akzeptanz von Unterschiedlichkeit hochgradig problematisch, da sie für die Zurückweisung des Republikanismus steht (Scott 2007). Obschon keine Zeitung darüber berichtete, könnte darüber hinaus die Tatsache, dass die Geschlechtergerechtigkeit in Frankreich (wie auch in anderen westlichen Staaten) nach wie vor eine zerbrechliche und nicht vollständig realisierte Errungenschaft ist, diesen feministischen Argumenten noch mehr Kraft verliehen haben. Sehr wenige haben der Interpretation des Kopftuchs widersprochen, in der es als Untergrabung der Geschlechtergerechtigkeit erscheint, die zu einem Kernelement im nationalen Narrativ geworden ist. Es wurde aber auch angemerkt, dass sich lohnen könnte, zu versuchen zu verstehen, weshalb Mädchen das Kopftuch tragen. Hierzu noch einmal Dounia Bouzar in Le Monde: »Frau Bouzar beharrt darauf, dass sich die Diskussion um die von diesen jungen Frauen verteidigten Werte drehen sollte, statt auf das Kopftuch als Symbol festgelegt zu werden. ›Wer diese Frauen sind, wird nicht durch das Kopftuch oder ihre Kleiderwahl, sondern durch ihren Glauben bestimmt.‹« (Le Monde, 10. Mai 2003)

Solange die Äußerungen dieser Mädchen über ihren Glauben – der durch das Gesetz von 1905 zur Beziehung von Staat und Religion geschützt ist  – nicht angehört werden, so Dounia Bouzar, ist es falsch, für sie zu entscheiden, ob das Kopftuch einen Mangel an Selbstbestimmung bedeutet. Damit eröffnete Bouzar die Möglichkeit, dass einige der Mädchen selbstbestimmt handeln und widerspricht dem von Vigerie und Zelensky so vehement vorgebrachten Argument, dass sich Kopftuch und Selbstbestimmung ausschließen. Die Argumente, die das Kopftuch mit mangelnder Geschlechtergerechtigkeit in Verbindung bringen, spielten eine große Rolle bei der Schaffung

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des Gesetzes zum Kopftuchverbot an Schulen. Noch vor der Veröffentlichung der Ergebnisse der Stasi-Kommission, erklärte Bernard Stasi gegenüber französischen Medien, dass junge Frauen sich häufig bedeckten, »weil ihre Eltern, ihre älteren Brüder und religiöse Gruppierungen sie dazu verpflichten« (Bernard Stasi zitiert nach Le Monde, 2. November 2003). Nach Aussage Patrick Weils, einem Historiker, der zur Geschichte der Staatsbürgerschaft forscht und Mitglied der Stasi-Kommission ist, hatte das Argument, dass Mädchen sich verschleierten, um sich vor sexueller Aggression durch Jungen und Männer in den Banlieues zu schützen, einen besonders großen Einfluss auf die Empfehlungen der Kommission (Weil 2008, 2707). Besonders die Argumente muslimischer Frauen gegen das Kopftuch wurden von PolitikerInnen gerne aufgegriffen, und NPNS sowie deren Vorsitzende Fadela Amara gehörten in den Parlamentsdebatten kurz vor dem Beschluss des Kopftuchverbots zu den am häufigsten zitierten Bezugspunkten (Bowen 2008, 137). Das Leitbild der Geschlechtergleichstellung hatte in der Debatte enorme Zugkraft, und PolitikerInnen verwendeten es als Rechtfertigung für das vorgeschlagene Kopftuchgesetz. Dadurch wurde dieses zentrale Konzept des französischen nationalen Narrativs jedoch umgedeutet: Die mangelnde Würde Kopftuch tragender Frauen stand eher im Mittelpunkt als ihr Mangel an selbstbestimmten Handlungsmöglichkeiten. Dazu wurde das Thema der Geschlechtergerechtigkeit noch mit der Integration von ImmigrantInnen verknüpft. Während der Kopftuchdebatte sagte zum Beispiel Dominique Perben, der französische Justizminister: »Den Schleier zu akzeptieren, hieße, ein Konzept der Frau zu akzeptieren, das ihrer Würde grundlegend widerspricht.  […] Jede Lösung muss die Gleichheit der Geschlechter beherzigen. […] Soziale Integration erfolgt durch Frauen.« (Dominique Perben zitiert nach Le Monde, 16. November 2003) Der Unterschied zwischen den Argumenten, die Geschlechtergerechtigkeit mit Selbstbestimmung, und denen, die die Gleichstellung der Geschlechter mit Würde verknüpfen, ist der, dass sich die Selbstbestimmung auf die Handlungsfähigkeit von Frauen bezieht. Demgegenüber verweist zumindest in der Kopftuchdebatte der Begriff der Würde darauf, dass Frauen zwar Respekt verdienen, aber nicht notwendigerweise als gleichberechtigt gesehen werden. Perben war einer unter vielen PolitikerInnen, der auf die Würde verwies: Für ihn und viele andere bedeutet die Verhüllung der Frauen, sie nicht als Personen zu betrachten. Die Verschleierung hält Frauen davon ab, auf Augenhöhe mit Männern – die als

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Personen wahrgenommen werden – zu handeln. Die Würde wurde also von einer Art republikanischer Gleichheit abhängig gemacht, wodurch die Geschlechtergerechtigkeit noch enger in das nationale Narrativ Frankreichs eingewoben wurde. Gleichzeitig unterstreicht der Verweis auf die Integration den Unterschied zwischen Frauen und Männern und erinnert an Argumente anderer nationaler Kontexte, beispielsweise in den Niederlanden und in Deutschland, wo in Integrationsdiskursen migrantische Frauen häufig als Wegbereiterinnen der Integration ihrer Kinder dargestellt werden. Dadurch werden mit Blick auf die Schaffung nationalstaatlicher Einheit geschlechtsspezifische Stereotype von Eltern- und Mutterschaft untermauert (Korteweg und Triadafilopoulos 2013; siehe auch Yuval-Davis 1997). Es entspricht fast einem Klischee, darauf hinzuweisen, dass diese Art der Argumentation zur Selbstbestimmung und Würde der Frauen an alte Kolonialdiskurse zu ihrer ›Rettung‹ vor Männern (ob nicht weiße oder muslimische Männer) anknüpft (Spivak 1994; Abu-Lughod 2002). Und doch stützen solche Argumente ganz klar die Vorstellung, dass Immi­ grantInnengemeinschaften rückständig seien und der Staat dafür verantwortlich, Frauen in die Lage zu versetzen, einen zivilisierenden Einfluss auf Kinder und Männer auszuüben (McClintock 1995). Wie Perbens Zitat unter Beweis stellt, tragen diese Rettungsfantasien zur Verschärfung der Geschlechterungleichheit bei, auch wenn sie sie vorgeblich abschwächen sollen. Zugleich erzwingt die Allgegenwärtigkeit solcher geschlechtsspezifischer Zuweisungen Homogenität beim Ausdruck von nationaler Zugehörigkeit. Die französische Debatte um das Verbot religiöser Symbole in Grundund Oberschulen verdeutlicht, wie Diskussionen, in denen der Umgang mit Unterschieden ein vermeintliches Ziel ist, letztlich ausschließende Vorstellungen der Nation bekräftigen können. Der Fall Frankreichs veranschaulicht, wie in der Diskussion über nationale Zugehörigkeit einige zentrale Begriffe als explizite diskursive Verankerungen fungieren. Durch die Mobilisierung dieser Schlüsselbegriffe werden Diskussionen über scheinbare soziale Brüche zu Übungen in der Herstellung sozialer Kohäsion (siehe auch Freedman 2004). Dies ist jedoch nur der Flexibilität von Konzepten wie denen des Republikanismus, des Kommunitarismus, der Laïcité und der Geschlechtergerechtigkeit geschuldet. Das möchten wir anhand unserer Analyse der Debatten über die Burka, denen wir uns nun zuwenden, verdeutlichen.

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

D as V erbot der B urk a im öffentlichen R aum Wie bereits angemerkt, erlosch die öffentliche Kopftuchdebatte nach der Verabschiedung des Gesetzes gegen die Zurschaustellung offensichtlich religiöser Symbole in Schulen. Zwischen Mitte April 2003, als Nicolas Sarkozy die Kopftuchdebatte unbeabsichtigt entfachte, und dem 15. März 2004, dem Tag der Verabschiedung des Stasi-Gesetzes im französischen Parlament, wurden in Le Monde 185 Artikel über Mädchen und Frauen und das muslimische Kopftuch abgedruckt; 100 Artikel erschienen allein zwischen Oktober und Dezember, als die Debatte auf dem Höhepunkt war. Im Kontrast hierzu erschienen in den folgenden fünf Jahren von Oktober 2004 bis Mai 2009 nur 113 Artikel zum selben Thema, wovon die meisten sich auf die soziale Integration in anderen europäischen Ländern bezogen oder Geschichten über Menschen in Ländern mit muslimischer Mehrheit waren. Mit nur wenigen Ausnahmen war die Kopftuchdebatte während dieser Jahre in Frankreich aus dem öffentlichen Blickfeld verschwunden. Dieser Trend hielt bis Juni 2009 an, als Nicolas Sarkozy in seiner neuen Rolle als Präsident auf eine Aufforderung von 59 Abgeordneten reagierte, eine Kommission einzusetzen, die sich mit der Burka befassen sollte. Seine Antwort war Teil einer historischen Rede vor beiden Kammern des Parlaments – zum ersten Mal seit 1873 sprach ein Präsident vor Ober- und Unterhaus –, in der er sagte, dass »die Burka auf dem Gebiet der französischen Republik nicht erwünscht ist« (Le Monde, 24. Juni 2009). Offensichtlich war die Diskussion über die Bedeutung religiöser Bedeckungen für das nationale Narrativ der Zugehörigkeit doch noch nicht vorbei. Der Impuls zum Verbot von Burka und Niqab ging wahrscheinlich auf einen Beschluss des Conseil d’État im Juli 2008 zurück, die Entscheidung zu stützen, der mit einem Franzosen verheirateten, aber Niqab tragenden Marokkanerin Faiza M. die Staatsbürgerschaft vorzuenthalten (Mullally 2011). Trotz der Tatsachen, dass sie seit Jahren in Frankreich lebte und dass ihre Kinder französische StaatsbürgerInnen waren, bewertete der Conseil d’État ihren Entschluss, die Burka zu tragen, als Beweis für die Unfähigkeit von Faiza M., sich französischen Normen anzupassen. Es wurde erklärt, dass sie »in Übereinstimmung mit einer radikalen Strömung ihres Glaubens eine Praxis übernommen hat, die mit grundlegenden Werten der französischen Gemeinschaft nicht vereinbar ist, besonders nicht mit dem Prinzip der Gleichberechtigung.« (Le Monde, 12. Juli 2008) Die Me-

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dien berichteten kaum über das Problem. Die wenig kontroversen Reaktionen auf diesen Beschluss zeigten vielmehr, wie fest etabliert die Vorstellung im nationalen Narrativ Frankreichs ist, dass Französisch zu sein auch bedeutet, die Gleichberechtigung zu unterstützen. Das Thema der islamischen Gesichtsverschleierung verschwand bis Juni 2009 aus der öffentlichen Diskussion, als André Gerin, ein kommunistischer Abgeordneter und früherer Bürgermeister von Vénissieux, einem Vorort von Lyon, in dem es große Kontroversen um Kopftücher an Schulen gegeben hatte, vorschlug, eine Untersuchungskommission zu dem Thema einzusetzen (Parvez 2011). Sarkozy stimmte dem Antrag am 25. Juni 2009 zu, und die Kommission begann ihre Arbeit unter dem Vorsitz von André Gerin am 1. Juli 2009 (Le Monde, 3. Juli 2009). Die Kommission sollte bestimmen, wie angemessen auf Burka und Niqab reagiert werden sollte. Anders als in der Kopftuchdebatte sollte nicht untersucht werden, ob ein Verbot nötig war, sondern, wo es zu wirken habe. Die darauf folgenden Diskussionen erlaubten eine Neubetrachtung und Erweiterung vieler definierender Elemente des nationalen Narrativs Frankreichs, die schon in der Kopftuchdebatte erwähnt wurden. Im Fall von Burka und Niqab gab es jedoch keinen Anlass, auch nur darüber nachzudenken, ob sie mit dem Narrativ der Zugehörigkeit vereinbar sein könnten. Am 25. Oktober 2009 fasste Éric Besson, Minister für Immigration, Integration und nationale Identität von der regierenden Mitte-Rechts-Partei UMP, die allgemeine Auffassung zur Burka folgendermaßen zusammen: »Zum Tragen der Burka befragt, beurteilte der Minister sie als ›den Werten der nationalen Identität zuwiderlaufend. Wir können die Möglichkeit eines Gesetzes diskutieren […], aber die betreffenden Prinzipien sind nicht zu diskutieren: Die Burka ist inakzeptabel und steht gegen die Werte der nationalen Identität.‹« (Le Monde, 25. Oktober 2009, Auslassung im Original)

Es war klar, worum es ging. Die Burka war in Frankreich inakzeptabel, die Frage war lediglich, in welchen Bereichen der Öffentlichkeit Burka und Niqab verboten werden sollten: in Krankenhäusern, in der Verwaltung, auf der Straße? Die Antwort hing davon ab, wie Gleichheit im öffentlichen Raum Frankreichs interpretiert wurde. Konnten Burka und Niqab innerhalb dieser Gleichheit an bestimmten Orten akzeptiert werden, oder sollte die Burka vollständig von französischem Boden verschwinden?

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Somit wurde in der Diskussion um Burka und Niqab, mehr noch als in der Kopftuchdebatte, ihr Tragen als Symbol für die Zurückweisung alles Französischen dargestellt. Tatsächlich kündigte Besson im oben zitierten Artikel an, »Anfang November eine ›große Diskussion‹ mit der ›arbeitenden Bevölkerung des Landes‹ zu beginnen, mit dem Ziel, ›die Werte der nationalen Identität und den Stolz darauf, französisch zu sein, zu bekräftigen‹« (Le Monde, 28. Oktober 2009). So wurde die Debatte zur Präsenz von Burka und Niqab im öffentlichen Raum zu einer weiteren Möglichkeit, das nationale Narrativ der Zugehörigkeit zu Frankreich zu definieren. Im Unterschied zur Kopftuchdebatte war die Diskussion um Burka und Niqab noch stärker durch politischen Opportunismus gekennzeichnet (die Libération berichtete hierzu besonders kritisch). Besson war nicht der einzige Politiker, der versuchte, aus dem Problem durch eigene Umfragen politisches Kapital zu schlagen. Jean-François Copé, Vorsitzender der damals regierenden UMP, kündigte am 23. Dezember 2009 inmitten einer intensiven Diskussion um »die Burka und nationale Identität« an, dass seine Partei ein Gesetz zum Verbot von Burka und Niqab in ganz Frankreich fordern würde (nicht nur im behördlich-öffentlichen Raum, wie z. B. Krankenhäusern und der Verwaltung, sondern überall, auch auf Straßen). Darüber waren Abgeordnete fast aller Parteien erbost, die, im Gegensatz zu Copé, die Ergebnisse abwarten wollten, zu denen die Kommission kam, die auf Antrag des Abgeordneten André Gerin berufen worden war. Die Ankündigung Copés untergrub auch ganz klar die Autorität von Präsident Sarkozy. Es gab viel Kritik an diesem politischen Manöver. Die Kritik verstärkte jedoch die Wahrnehmung der Diskussionen um Burka und Niqab als dem richtigen Themenfeld zur Bekräftigung französischer Vorstellungen der nationalen Zugehörigkeit. Dieser politische Profit war möglich, weil durch Burka und Niqab so viele Aspekte des französischen Nationalnarrativs berührt wurden. Das politische Taktieren ging weiter, nachdem der Bericht der GerinKommission (am 26. Januar 2010) veröffentlicht wurde. Dieser empfahl ein Teilverbot von Burka (und Niqab) in öffentlichen Institutionen (diese Entscheidung spiegelt die Uneinigkeit der Kommissionsmitglieder zum Verbotsumfang wider). Die Regierung Sarkozys entwickelte daraufhin innerhalb weniger Monate einen Gesetzesentwurf zur parlamentarischen Abstimmung. In der Zwischenzeit wurden am 14. und 21. März die französischen Regionalwahlen abgehalten. Die UMP verlor Stimmen an den

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rechtsextremen Front National und wurde massiv von linken Parteien überholt, die von der Spaltung im Lager der Rechten profitierten; mit Ausnahme von 2 der 26 Regionen Frankreichs war die sozialdemokratische Parti Socialiste überall Wahlsiegerin. Es wurde weithin als Versuch gewertet, Stimmen am rechten Rand zu sammeln, als Sarkozy am 24. März 2010 erklärte, seine Regierung würde ein Gesetz zum ›Burkaverbot‹ auf den Weg bringen, ohne anzugeben, wie weit das Verbot reichen würde. Wie in Deutschland und den Niederlanden war die Vorstellung eines umfassenden Verbots von Burka und Niqab auch in Frankreich für einige durchaus attraktiv. Es gab aber auch verfassungsrechtliche Bedenken, hauptsächlich bezogen sie sich auf die Gewissens- und Meinungsfreiheit sowie die Freizügigkeit. Um den möglichen Umfang eines Verbots zu erörtern, beauftragte François Fillon als Premierminister den Conseil d’État damit, herauszufinden, wie weit die gesetzlichen Möglichkeiten zum Verbot der Burka reichten. Er wiederholte aber auch die Sorge über die Stigmatisierung, die schon in der Kopftuchdebatte formuliert worden war, indem er betonte, all das solle geschehen, »ohne unseren muslimischen Landsleuten zu schaden« (Le Monde, 31. Januar 2010). Der Conseil d’État entschied gegen ein generelles Burkaverbot, weil es seiner Meinung nach hierfür keine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage gab. Aufbauend auf der Vorstellung, dass Zugehörigkeit zu Frankreich gelehrt werden könne (was auch in der Kopftuchdebatte eine Rolle spielte), sprach sich der Conseil d’État nicht für einen rechtlichen, sondern für einen »pädagogischen« Ansatz bezüglich Burka und Niqab aus. Dabei warnte er davor, dass ein Komplettverbot eher dazu führen würde, jene Frauen zu Opfern zu machen, die, so die Formulierung des Conseil d’État, »gerettet« werden sollten. Der Conseil stellte auch fest, dass die öffentliche Sicherheit und Betrugsprävention die einzigen Rechtsgrundlagen für ein (Teil-)Verbot darstellten. Prinzipien der Laïcité würden nicht greifen, da die Laïcité Handlungen von AmtsträgerInnen im öffentlichen Raum beträfe, nicht Verhalten oder Entscheidungen von Privatpersonen (in der Kopftuchdebatte war das Konzept anders interpretiert worden). Zusätzlich warnte der Conseil, dass die juristische Rechtfertigung des Schutzes der Menschenwürde, wie von einigen Abgeordneten vorgeschlagen, im direkten Widerspruch mit dem Prinzip der ebenfalls in der französischen Verfassung verankerten privaten Autonomie stünde. Einige PolitikerInnen argumentierten, dass die Volksfestattraktion des

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›Zwergenwerfens‹ auch bei vorliegender Zustimmung der Kleinwüchsigen gerichtlich verboten wurde, und dass dies als Präzedenzfall für das Totalverbot von Burka und Niqab gelten könnte, die als ähnliche Angriffe auf die allgemeine Menschenwürde dargestellt wurden. Dennoch mahnte der Conseil, dass ein verfassungsgemäßes Verbot von Burka und Niqab auf bestimmte Orte beschränkt sein müsste. Die Argumente des nur beratend tätigen Conseil d’État hielten Premierminister Fillon jedoch nicht davon ab, am 29. März 2010 zu verkünden, dass die Regierung ein Gesetz erlassen wollte, das »unter Beachtung allgemeiner Rechtsprinzipien so weit wie möglich in Richtung eines Totalverbots geht« (Le Monde, 31. März 2010). Am 21. April 2010 erklärte Präsident Sarkozy, dass die Regierung ein Gesetz vorschlagen wollte, durch das die Burka in der Öffentlichkeit in ganz Frankreich komplett verboten würde. Das Gesetz sollte der Nationalversammlung in der ersten Juliwoche unterbreitet werden, und nach den Worten Premierminister Fillons sollte es »einfach, kurz, auf der Grundlage der Achtung der persönlichen Würde und der Gleichheit von Mann und Frau und zum Thema Sicherheit [sein], wodurch die juristische Grundlage des Gesetzes gestärkt wird, ohne dass es im Zentrum der Diskussion steht« (Le Monde, 29. April 2010). Im Gesetz wurden die Argumente (nicht jedoch die Schlussfolgerungen) des Conseil d’État berücksichtigt: Während sich das Gesetz auf die Menschenwürde und die Geschlechtergerechtigkeit beziehen sollte, wurde es juristisch mit Argumenten hinsichtlich Sicherheit und Betrugsprävention gerechtfertigt. Dadurch, dass die Burka als politisches Symbol und nicht als Zeichen individueller religiöser Überzeugung dargestellt wurde, war der französische Staat nicht gemäß Artikel 1 des Gesetzes zum Schutz der Gewissensfreiheit von 1905 zu dessen Schutz verpflichtet. Das Gesetz konnte sogar angewendet werden, um Praktiken zu untersagen, die mit dem vermeintlichen politischen Symbol verbunden waren, wenn diese eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten, die wiederum als Voraussetzung des Funktionierens des republikanischen öffentlichen Raums (oder eines liberalen demokratischen Staates) anerkannt ist. Gleichzeitig wurde durch das Gesetz nicht nur speziell die Burka, sondern jede Form der ›Gesichtsverschleierung‹ verboten, um sicherzustellen, dass nicht internationale Menschenrechte, nach denen die Burka als Ausdruck der Religion gelten könnte, verletzt würden.

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Wie schon in der Einführung zu diesem Kapitel erwähnt, ist in dem Gesetz eine Geldstrafe von 150 Euro für das öffentliche Tragen von Burka oder Niqab vorgesehen. Dazu kommt die mögliche Verpflichtung zu einem »Staatsbürgerschaftskurs« sowie eine Höchststrafe von 15.000 Euro und bis zu einem Jahr Haft für jene, die Frauen dazu zwingen, Burka oder Niqab zu tragen. Vor Inkrafttreten des Gesetzes sollte es eine sechsmonatige ›Aufklärungsperiode‹ geben, während der das Tragen islamischer Gesichtsverschleierungen straffrei bleiben sollte. In diesem Zeitraum sollte die Organisation Ni Putes Ni Soumises dafür Verantwortung tragen, Frauen ›aufzuklären‹, damit sie weder Burka noch Niqab tragen. Das Gesetz wurde am 13. Juli 2010 von der Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet, und am Dienstag, den 14. September 2010 stimmte der Senat mit nur wenigen Enthaltungen eher links gerichteter Abgeordneter zu. Das Gesetz trat am 11. April 2011 vollständig in Kraft, als auch die Periode der ›Aufklärung‹ endete und die volle rechtliche Durchsetzung begann. Dem Verbot nach können Burka oder Niqab tragende Frauen nur von PolizeibeamtInnen belangt werden, die sie dann an RichterInnen verweisen, die über die Höhe der Strafe entscheiden (Chrisafis 2011). Obwohl ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes eine Reihe von Frauen auf Polizeireviere gebracht worden waren, sind nur zwei vor Gericht erschienen. Beide erklärten, ihren Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bringen zu wollen (Mevel, Reuters 2011). Der Menschenrechtskommissar des Europarats Thomas Hammarberg sprach sich entschieden gegen die Art eines allgemeinen »Burkaverbots« aus, wie es in Frankreich verabschiedet wurde (Hammarberg 2011).7 Tatsächlich gibt es Berichte, nach denen Burka oder Niqab tragende Frauen häufiger belästigt und angegriffen werden, wenn sie sich in Frankreich auf die Straße wagen, da französische StaatsbürgerInnen das Gesetz als Legitimation für Belästigungen sehen (Bouteldja 2011). Berichte über Geldstrafen gegen Niqab tragende Frauen legen nahe, dass das Verbot nicht dazu führt, dass sie aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Vielmehr bitten PolizeibeamtInnen sie, ihren Schleier für Identitätskontrollen abzulegen und um ihnen eine Geldstrafe aufzuerlegen. 8

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

A nalyse des nationalen N arr ativs : B urk as in fr anzösischen Z eitungen Was international als ›französisches Burkaverbot‹ Bekanntheit erlangte, war eigentlich ein Verbot der Niqab, die die Augen im Gegensatz zur Burka nicht bedeckt. Obwohl nur eine kleine Anzahl von französischer Frauen die Burka (oder treffender: die Niqab) tragen, repräsentierte ihr Tragen eine vermeintlich vielschichtige Bedrohung, durch die das restriktive französische Narrativ bestärkt wurde. Wie bei der Kopftuchdebatte wurde das Verbot in französischen Zeitungen mit Blick auf das nationale Narrativ des Säkularismus – der Laïcité – und des Kommunitarismus in Verbindung mit der Geschlechtergerechtigkeit diskutiert. In den Diskussionen um Burka und Niqab wurden jedoch andere Aspekte dieser Konzepte betont. So wurde das Tragen von Burka oder Niqab eher als politische, denn als religiöse Entscheidung dargestellt. Dieser Aspekt war auch Teil der Kopftuchdebatte, wurde jetzt aber viel deutlicher artikuliert, wobei Burka und Niqab als kommunitaristische Bedrohung der gesamten französischen Öffentlichkeit dargestellt wurden (statt nur für die Bildung in französischen Schulen). Zudem spielte die Geschlechtergerechtigkeit wieder eine Schlüsselrolle. Dieses Mal ging es in der Diskussion aber eher um die Würde als um die Selbstbestimmung der Frauen. Schließlich tauchte auch das Argument der Stigmatisierung wieder auf, dieses Mal jedoch nicht, um das Verbot zu verhindern, sondern um sein Ausmaß zu bestimmen. Innerhalb der Debatte über die Burka griff man auf dieselben zentralen Begriffe des nationalen Narrativs zurück, diese wurden jedoch stärker als bei der Kopftuchdebatte auf Ausschluss ausgelegt.

R epublik anismus , L aïcité und K ommunitarismus : D ie B urk a als politische E ntscheidung Während das Kopftuch noch als religiöses und als politisches Symbol fungierte, wurden Burka und Niqab häufig ausschließlich als politische und nicht als religiöse Zeichen gesehen (Selby 2011). Durch die Assoziation mit dem Salafismus – der wiederum als globale politische Bewegung zur Durchsetzung des islamischen Rechts gesehen wird (was von SalafistInnen selbst bestritten wird, für die es sich um eine fromme Bewegung handelt, siehe hierzu Özyürek 2011; Yükleyen 2011) –, wurden Burka und Niqab als

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Ausdruck eines politischen Islam betrachtet, der die Werte und Praktiken der französischen Nation explizit ablehnt, indem er sich außerhalb des französischen Nationalnarrativs positioniert. Prägend war das Urteil des Conseil d’État von 2008 im Fall der Staatsbürgerschaft von Faiza M.: »Der Conseil […] betrachtet die Burka als alles andere als ein banales religiöses Symbol der persönlichen Entscheidung oder der Gewissensfreiheit. Im Gegenteil erachtet er sie als wichtiges Symbol einer militanten muslimischen Minderheit, die eine radikale Ausübung ihres Glaubens befürwortet.« (Le Monde, 12. Juli 2008)

Die Entscheidung des Conseil d’État, Faiza M. die französische Staatsbürgerschaft vorzuenthalten, bereitete den Boden für die Behauptung, bei der Burka handele es sich um einen gezielten sozialen Bruch, der ein politisches Auf begehren gegen die französische Körperpolitik darstelle. In der Kopftuchdebatte waren einige der Meinung, die Laïcité vertrage sich mit Kopftüchern an Schulen. Bei der Burka äußerte jedoch niemand etwas Ähnliches. Weil sie als deutliches Zeichen des Kommunitarismus gesehen wurde, weckte die Burka eher das Bedürfnis nach einer beherzten Verteidigung des Republikanismus und der Laïcité. In einem Leitartikel in Le Monde wurde kurz nach Einsetzung der Gerin-Kommission folgendermaßen argumentiert: »Seit Jahren hat unsere säkulare Republik die Angriffe radikalster MuslimInnen ausgehalten, deren Provokationen kein anderes Ziel verfolgen, als unsere Fähigkeit zum Widerstand und zur Verteidigung unserer republikanischen Werte auszutesten. […] Es ist Zeit, dem wachsenden Kommunitarismus zu begegnen und unsere Verbundenheit mit der republikanischen Gleichheit und der Laïcité zu bekräftigen, dem unverhandelbaren Fundament unserer Gesellschaft.« (Le Monde, 4. Juli 2009) 9

In der Presse wurde hervorgehoben, dass 2009 das Mandat der GerinKommission zur Untersuchung der Position der Burka in Frankreich darin bestand, »diese kommunitaristische Abweichung vom Prinzip der Laïcité, unseren Werten der Freiheit, Gleichheit und der menschlichen Würde zu begrenzen.« (Le Monde, 26. September 2009) Wie auch die Kopftuchdebatte bestätigte die Diskussion um die Burka die zentrale Bedeutung der Laïcité für den französischen Republikanismus. Die Debatte darüber, wie islamische Gesichtsverschleierungen zu regeln seien, ver-

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lagerte jedoch den Fokus der Diskussion auf den physischen Raum und Verkörperungen. Die meisten PolitikerInnen waren, wie auch andere Beteiligte an der öffentlichen Diskussion, der Ansicht, dass Burka und Niqab zum Schutz der Republik nur in privaten Räumen getragen werden dürfen. Während der ursprünglichen Diskussion zum Burkaverbot wurde im Kontext des Themas durchgehend der Begriff des Raums verwendet. Selbst RepräsentantInnen muslimischer Organisationen verwendeten bei Gesprächen mit der Gerin-Kommission diese Sprache: »›Dies ist eine extreme Praxis, die ein normales Sozialleben unmöglich macht, und wir möchten nicht, dass sie sich im nationalen Raum etabliert‹, sagte Herr Moussaoui [vom CFCM]. […] ›Die Vollverschleierung ist mit dem französischen Kontext und Zusammenleben nicht vereinbar‹, äußerte auch Anwar Kbibech, Repräsentant der Versammlung der Muslime in Frankreich, die Teil des CFCM ist.« (Le Monde, 15. Oktober 2009, eigene Hervorhebung)

Sowohl PolitikerInnen als auch RepräsentantInnen muslimischer Organisationen lehnen somit den ›Vollschleier‹ als kommunitaristische politische Stellungnahme gegen republikanische Werte ab. Gleichzeitig beschreiben sie das Tragen von Burka und Niqab als sektenartige Praxis, wodurch jedes Argument im Sinne eines Schutzes auf Grundlage der Religions- und Bekenntnisfreiheit unterminiert wird. Der vorherrschende Tenor der Debatte war, dass die französische Öffentlichkeit vor der Begegnung mit dieser körperlichen Praxis und verkörperten Bedrohung französischer Werte bewahrt werden sollte. Anders als bei der Kopftuchdebatte wendete sich die Diskussion um die vollständige Gesichtsverschleierung den kommunikativen Erfordernissen des republikanischen öffentlichen Raumes zu. Mit dem Argument, die republikanische Praxis brauche die offene Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, um der Gefahr des Kommunitarismus zu begegnen, bezeichnete die damalige Justizministerin Michèle Alliot-Marie den im Parlament diskutierten Gesetzesentwurf als nicht überzogen, obwohl er nur 2.000 Frauen betraf: »Es geht um die Grundlagen der Republik und des Zusammenlebens. Ich unterstütze diese [Gesetzesvorlage] im Namen der nationalen Einheit. Es geht im Entwurf nicht um den Schleier, sondern um die absichtliche Verhüllung des Gesichts

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mit egal welchem Mittel. Sehr wichtig ist: Es ist keine Frage der Religion. Wir bekräftigen ein Prinzip, das besagt, dass die Republik mit unbedecktem Gesicht gelebt wird. Das ist Teil der republikanischen Übereinkunft. Die Republik lehnt den Kommunitarismus ab, und das Verdecken des Gesichts [sowie] […] die Weigerung, zur Gesellschaft zu gehören, bilden die Grundlage des Kommunitarismus.« (Michèle Alliot-Marie zitiert nach Libération, 6. Juli 2010)

Aus dieser Perspektive gehörte das verschleierte Gesicht nicht einfach der Burka oder Niqab tragenden Frau; in Wirklichkeit war es das Antlitz der Republik: »Für den Vorsitzenden der Abgeordneten der UMP [Jean-François Copé] ›ist der Vollschleier kein Kleidungsstück, sondern eine dauerhafte Maskierung, die eine Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt‹. Und er bekräftigt: ›Wir können nicht zulassen, dass der Vollschleier das Gesicht unserer Republik verdeckt.‹ Colette Le Moal (Yvelines, Nouveau Centre) versicherte darüber hinaus: ›Diese Praxis ist die Antithese zu unseren republikanischen Werten.‹« (Le Figaro, 12. Mai 2010)

Diese Formen der Verteidigung des Republikanismus erheben Einspruch gegen die Burka, mehr noch als gegen das Kopftuch als sichtbarem Zeichen der Differenz. Im Umkehrschluss befördert das Verbot muslimischer Gesichtsverschleierungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens den Anschein der Gleichheit. In diesem Prozess werden Republikanismus und Laïcité zur verkörperten Praxis – und zu Frankreich zu gehören, wird zu einer explizit physischen Manifestation. Auf diese Weise wurden durch die Debatte über die Burka die Schlüsselelemente des französischen Nationalnarrativs bekräftigt, dieses Mal allerdings durch die Verknüpfung des Republikanismus mit der offenen Kommunikation (und der entsprechenden öffentlichen Ordnung) im öffentlichen Raum.

D ie B urk a als A usdruck der U nterdrückung der F r auen im I sl am Nur ein Jahr nach der Entscheidung des Conseil d’État im Fall Faiza M. sagte Benoît Hamon, Sprecher der Parti Socialiste gegenüber Le Monde: »[Das Tragen der Burka] ist die Praxis eines sehr kleinen und eher sektenartigen Zweigs des politisierten Islam, mit allen Implikationen hin-

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sichtlich der Unterordnung der Frau.« (Benoît Hamon zitiert nach Le Monde, 23. Juni 2009) Wie in der französischen Kopftuchdebatte werden Frauen wieder zum Objekt französischer Werte, und Verweise auf die Geschlechtergerechtigkeit spielten erneut eine zentrale Rolle dabei, mithilfe der Diskussion um Burka und Niqab das nationale Narrativ zu umreißen. Anders als bei den Kopftuchdebatten, in denen die Argumente zum Republikanismus und zur Laïcité klar von denen zur Gleichstellung der Geschlechter getrennt waren, bezogen sich die Gründe für das Burkaverbot fast immer gleichzeitig auf alle drei Aspekte. Das zeigt, dass sich zur Zeit der Diskussion des ›Burkaverbots‹ das Thema der Geschlechtergleichstellung eng mit Republikanismus und Laïcité verbunden hatte. Es schien, als wäre die während der Debatte über das Kopftuch von feministischen TeilnehmerInnen geleistete Arbeit nun von allen Gesprächsparteien der Burkadiskussion aufgenommen worden. Obschon verschiedene bekannte feministische Intellektuelle und Organisationen sich in der Kopftuchdebatte sehr klar positionierten, bezogen sich die Zeitungen nicht auf konzertierte, explizit feministische Bemühungen, um darzulegen, dass die Präsenz von Burka oder Niqab als Unterdrückung aller Frauen zu verstehen sei. Der Gedanke der Geschlechtergerechtigkeit war zum festen Bestandteil des französischen Nationalnarrativs der Zugehörigkeit geworden. Wie auch in der Kopftuchdebatte wurden Burka oder Niqab selten als von Frauen gewählt wahrgenommen, sondern als leidige Alltagspflicht, aufgezwungen von männlichen religiösen Sektenanhängern. Anstatt auf die Frage der Selbstbestimmung einzugehen, wie es FeministInnen noch in der Kopftuchdebatte taten, wurden in frühen Äußerungen zur Burka stets der Schutz und die Würde der Frau in den Vordergrund gerückt. Wie bereits in der Einleitung dieses Kapitels angemerkt, behauptete Gerin, als er die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu diesem Thema vorschlug, die Burka zwinge Frauen zu einem Leben in »einer unerträglichen Situation der Einsamkeit, des Ausschlusses und der Erniedrigung. […] [Ihre] Existenz wird verleugnet.« (Le Monde, 19. Juni 2009)10 Andere stärkten dieses Bild. Abdelwahab Meddeb, muslimischfranzösischer Autor und bekannter Intellektueller, behauptete, Burkas seien ein Affront gegen die menschliche Würde und hätten nichts mit dem Islam zu tun:

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»Niqab oder Burka als Erweiterung des Hijab sind Verbrechen, die das Antlitz töten und den Zugang zum anderen dauerhaft versperren. Dieser Stoff verwandelt Frauen in Gefängnisse oder mobile Särge, und in die Herzen unserer Städte trägt er Geister, die unsichtbar sichtbaren Wahrheiten den Zugang verweigern.« (Abdelwahab Meddeb zitiert nach Le Monde, 27. Dezember 2009)

In dieser Bildsprache gilt die Burka als Form der Gewalt gegen Frauen, die ihnen zwar nicht das Leben, aber die Fähigkeit zu kommunizieren nimmt. Muslimische Männer, die Frauen vermeintlich unter diese Kleidung zwingen, sind bei diesem Verbrechen die impliziten Täter, während die französische Öffentlichkeit dazu aufgerufen wird, die so missbrauchten Frauen zu retten, um die französische Gesellschaft vor Missbrauch zu schützen. Als Abgeordnete der Parti Socialiste zögerten, einem generellen Burkaverbot zuzustimmen, setzten sich Sihem Habchi, Vorsitzende von NPNS, und Naïma Charaï, Regionalrätin von Aquitaine, mit dem Verweis auf das Recht auf freie Meinungsäußerung massiv für das Verbot ein: »Aktuell sind in unserem Land viele Frauen und junge Mädchen nicht frei: Sie können nicht frei über ihr Leben bestimmen, genießen nicht dieselben Freiheiten und Rechte wie ihre Brüder, können nicht frei über ihre Kleidung entscheiden. Wegen des Drucks, der auf ihnen lastet, schämen sie sich allzu oft ihrer Weiblichkeit, so dass sie versuchen, sie zu tarnen, manchmal sogar zu leugnen.« (Libération, 13. Juli 2010)

Gestützt wurden solche Argumente durch ein polarisiertes Verständnis der Geschlechter und im Besonderen von Frauen und Weiblichkeit. Viele PolitikerInnen, unter anderem Gerin und Sarkozy, wiederholten die Behauptung, die Burka behindere die Frau beim Ausleben ihrer Persönlichkeit sowie in ihrem Ausdruck von Weiblichkeit, oder anders ausgedrückt, am Wesentlichen ihrer Existenz. Aus diesem Blickwinkel würden Frauen durch das Entfernen des Schleiers Männern nicht gleichgestellt (siehe Scott 2007). Tatsächlich, so die Argumentation von Scott (2007), ist der Status von Frauen als Personen im geschlechtlichen Unterschied, also in ihrer Weiblichkeit begründet; das republikanische Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit basiert auf dem Recht, Weiblichkeit auszudrücken. Diese Interpretationen der Verschleierung von Frauen führten zur Frage, wer den Burka tragenden Frauen ihre Existenz verweigert: die Männer,

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

die sie angeblich verschleiern, oder französische PolitikerInnen, AktivistInnen und bekannte Intellektuelle, die sie nicht mit Burka oder Niqab in der Öffentlichkeit sehen wollen? Das Argument, Burka und Niqab würden Frauen in ihren Persönlichkeitsrechten beschneiden, wurde verwendet, um diesen Frauen das Recht vorzuenthalten, vom Staat als gleichberechtigte Bürgerinnen anerkannt zu werden. Kurz nachdem Gerin eine Untersuchungskommission zur Burka vorgeschlagen hatte, sagte Sarkozy in seiner Rede vor beiden Kammern des Parlaments: »Wir können in unserem Land nicht akzeptieren, dass Frauen hinter Stoff eingesperrt werden, abgeschnitten von jeglichem Sozialleben, aller Identität beraubt. Das entspricht nicht unserer Vorstellung der Würde der Frau.« (Nicolas Sarkozy zitiert nach Le Monde, 24. Juni 2009) Diese Argumentation wirft wieder die Frage auf: Worin besteht ihre Freiheit, wenn Frauen sich einer fremden Vorstellung von Würde fügen müssen? Insgesamt bezogen sich sowohl die Kopftuch- wie auch die Burkaverbotsdebatte auf die Gleichstellung der Geschlechter. In der Kontroverse über die Burka wurde allerdings weniger das selbstbestimmte Handeln von Frauen betont, sondern eher ihre Erscheinung und ihre Würde. Bei der sich daran anknüpfenden Auslegung des französischen Nationalnarrativs bezogen sich PolitikerInnen und andere AkteurInnen auf bestehende Vorstellungen der Geschlechtergerechtigkeit und machten die Geschlechtergerechtigkeit sowie die Rechte der Frauen, aber auch das Überleben der Republik vom freien Ausdruck der Weiblichkeit abhängig. Das Kopftuch warf die Frage auf, ob muslimische Frauen unabhängig von ihrer Religion und ihren Männern handeln könnten. Anscheinend konnten Kopftuch tragende Schülerinnen das nicht, erwachsene Frauen hingegen schon. In den Burkadebatten wurde diese Frage für den gesamten öffentlichen Raum mit einem klaren ›Nein‹ beantwortet. Hier war vor allem Thema, was sich unter der Burka verbirgt. Die Antwort lautete: die Möglichkeit von Frauen, sich selbst als weibliche Wesen auszudrücken. Außerdem wurde die Frage gestellt, wie Frauen befreit werden könnten. Die Antwort darauf entsprach der Position des Staates im nationalen Narrativ: durch das Gesetz. Das Gesetz konnte jedoch auch unbeabsichtigte Konsequenzen haben, was zu einer erneuten Diskussion über eine mögliche Stigmatisierung führte, aber auch über die Rolle der Gesetzgebung hinsichtlich der Frage, welche Subjekte Geltung im französischen Nationalnarrativ beanspruchen können.

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D as B urk averbot, die S tigmatisierung fr anzösischer M uslime und das juristische K onzep t Das generelle Verbot der Burka wurde nicht von allen PolitikerInnen unterstützt. Ungefähr 100 Abgeordnete, mehrheitlich von linken Parteien, enthielten sich der letzten Abstimmung. Wenige Wochen vor Einreichung des Gerin-Berichts gab es verschiedentlich Bemerkungen der folgenden Art: »Wenn ein Gesetz vorgeschlagen wird, stimmen die kommunistischen Abgeordneten dagegen, sagte Roland Muzeau. ›Wir sollten kein stigmatisierendes Gesetz schaffen‹, wiederholte die Vorsitzende der KommunistInnen, Marie-George Buffet, die das Thema wiederholt auf die Tagesordnung bringt. ›Um eine weitere Entwicklung dieses Phänomens zu vermeiden, sollten wir aufhören, mit dem Finger auf diese Frauen zu zeigen. Besonders dadurch steigt das Risiko, sie noch stärker auszuschließen‹« (Libération, 13. Januar 2010).

Während der Kopftuchdebatte drehte sich die Diskussion der Stigmatisierung um die Position der Schule bei der Vermittlung des Republikanismus und der Laïcité; in den Debatten über die Burka ging es vor allem um die Beziehung zwischen dem Gesetz und der Regulierung des öffentlichen Raums. Im französischen Nationalnarrativ nimmt das Gesetz eine vermittelnde Funktion zur Bestimmung der Grenzen der Zugehörigkeit ein. Die Frage bestand darin, wie diese Grenzen verhandelt werden konnten, ohne jene auszuschließen, die Teil des französischen Nationalnarrativs sein sollten, da sie sowohl den Geist des Gesetzes als auch die Vorstellung verinnerlicht haben, dass Französisch zu sein auch Gesetzestreue impliziert. Die Zeitung Libération reagierte auf den Antrag eines generellen Burkaverbots in einem Leitartikel mit der gleichzeitigen Ablehnung der Burka und des Gesetzes, weil Letzteres MuslimInnen und die französische Gesellschaft entzweien würde: »Niemand außerhalb fundamentalistischer Kreise verteidigt den Vollschleier, der die Prinzipien des Säkularismus und die Emanzipation der Frauen behindert. Für ein Verbot im öffentlichen Dienst hätte es einen breiten Konsens gegeben. Ein Totalverbot, d. h., auf der Straße, wo die Polizei (die scheinbar nichts Besseres zu tun hat) Anzeige erstatten muss, weist Merkmale einer schädlichen Intoleranz gegenüber Identitäten auf, gekoppelt mit klar berechnender Wahltaktik. Die gro-

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ße Mehrheit unter den MuslimInnen verurteilt dieses symbolische Kleidungsstück und wird das Gesetz akzeptieren. Aber was werden diese friedlichen Gläubigen davon halten, dass die höchste Autorität des Staates dazu verwendet wird, ein Sondergesetz zu verabschieden, durch das sie, wieder einmal, als BürgerInnen aussortiert, verdächtigt und einer vielleicht etwas paranoiden Sonderbehandlung unterworfen werden?« (Libération, 22. April 2010)

Dem Leitartikel zufolge scheint die »höchste Autorität« eine Form des Kommunitarismus zu praktizieren und zu fördern, indem sie auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen abzielt und sie dadurch erst erschafft. Diese Kritik gibt Argumente aus der Kopftuchdebatte gegen die Stigmatisierung wider. Wie schon von vielen AkteurInnen in jener Debatte, wird auch im Leitartikel der Libération generell deutlich gemacht, dass der Vollschleier die »Prinzipien des Säkularismus und die Emanzipation der Frau behindert«. Dennoch wird die vorgeschlagene Lösung in Frage gestellt und argumentiert, dass die Bedrohung durch den Kommunitarismus in Folge von Stigmatisierungen nicht ab-, sondern zunehmen wird. RepräsentantInnen muslimischer Organisationen waren in ähnlicher Weise überzeugt, dass stigmatisierende Gesetze die Integration blockieren und den Kommunitarismus eher fördern als verhindern würden. Sie betonten erneut die erzieherische Dimension des französischen Republikanismus mit dem Argument, dass die Burka zwar ›schlecht‹ sei, ihr aber nicht durch Gesetze, sondern durch öffentliche Bildung begegnet werden sollte: »Der CFCM wird die französische Gesellschaft nicht bitten, die Burka zu akzeptieren, sondern einen pädagogischen Dialog unterstützen, der darauf abzielt, Burka tragende Frauen davon zu überzeugen, eine gemäßigtere und moderatere Praxis des Islam anzunehmen – wie es die große Mehrheit der MuslimInnen in Frankreich tut – und dieses Gewand abzulegen, dieses Symbol einer Praxis, die nur zu einer Stigmatisierung des Islams in Frankreich beitragen kann.« (Le Monde, 27. Juni 2009)

Von der UOIF kam ein ähnlicher Vorschlag: Die Burka sollte von den muslimischen Gemeinden Frankreichs durch Bildung und Präventionsanstrengungen thematisiert und allmählich abgeschafft werden. Dadurch bestärkten sie die Vorstellung, dass französische MuslimInnen nicht nur gute republikanische BürgerInnen sein können, sondern solche auch

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(re-)produzieren können. SprecherInnen der verschiedenen muslimischen Organisationen behaupteten, dass der im Gesetzesvorschlag vorgesehene »pädagogische Zeitraum« der richtige Weg sei, um das Problem der Stigmatisierung ansprechen und die Integration fördern zu können, und dass ein Gesetz ohne Frist Frauen weiter ausgrenzen würde. Die für die Aufklärungsarbeit verantwortliche Organisation Ni Putes Ni Soumises, deren Mitglieder sich sehr lautstark für das Kopftuchverbot eingesetzt hatten, besaß jedoch wenig Einfluss in den Gemeinden, die das Ziel der Aufklärung sein sollten (Libération, 28. Oktober 2010). Während der Gesetzgeber die RepräsentantInnen von NPNS als beispielhafte französische MuslimInnen ansah, wurden sie von Teilen der muslimischen und migrantischen Bevölkerung deutlich schlechter akzeptiert. Es kam die Frage auf, ob der Gesetzgeber diese Gruppe, indem er ihr die Verantwortung für die Aufklärungsarbeit übertragen hatte, instrumentalisiert hatte. Die in den Debatten zu Kopftuch und Burka wiederkehrenden zentralen Konzepte – Republikanismus, Laïcité und Gleichberechtigung der Geschlechter  – sind idealtypische Vorstellungen. Eine kurze Analyse der französischen Politik und Gesellschaft zeigt, dass es viele politische und andere Gruppierungen im öffentlichen Raum Frankreichs gibt, die scheinbar im Namen von Frauen, ArbeiterInnen, LehrerInnen, Rentner­ Innen und sogar MuslimInnen klare Ansprüche formulieren. Diskriminierungen aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten sind allerdings im Kontext eines republikanisch-abstrakten Universalismus nur schwer anzusprechen (Scott 2007, 13). Dem republikanischen Ideal nach können diese Ansprüche nur so formuliert werden, dass es notwendig wäre, Hindernisse für die einzelnen Gruppen anzuerkennen, wegen derer sie von einer gleichberechtigten öffentlichen Teilhabe ausgeschlossen sind. Der Republikanismus und die dazugehörige Vorstellung der Laïcité sind demgemäß Ideale von beachtlicher Wirkungsmacht. Sie sind wichtige diskursive Ressourcen in der Argumentation gegen die Anerkennung von Praktiken, die in der Öffentlichkeit als individuelle Besonderheiten dargestellt werden (wie z. B. Kopftuch, Burka und Niqab), da diese Praktiken dadurch als Quelle der mangelnden Partizipation identifiziert werden. Statt die Reaktionen von NichtmuslimInnen und nicht religiösen MuslimInnen auf diese Praktiken als Beleg für Diskriminierung auszuweisen, werden in der Debatte Kopftuch, Burka und Niqab als Hauptursachen für die angeblich gescheiterte Partizipation von MuslimInnen definiert.

Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit – Frankreich

Letztlich waren sowohl die Kopftuch- als auch die Burkadebatten gekennzeichnet durch einen weitreichenden Konsens darüber, wie diese Kleidungsstücke republikanische Werte bedrohen, die Laïcité untergraben und die Errungenschaften der Geschlechtergerechtigkeit in Frankreich behindern, wenn nicht gar umkehren würden. In diesem Kontext begegneten uns nur sehr wenige Versuche, die vom nationalen Narrativ Frankreichs umrissenen Grenzen der Zugehörigkeit zu erweitern. Wo diese Versuche unternommen wurden, waren sie meist auf die direkte Widerlegung der von PolitikerInnen und weiteren AkteurInnen aufgestellten Behauptungen beschränkt. Nur sehr selten wurden die mit dem Kopftuch oder der Burka assoziierten tiefer liegenden Probleme so analysiert, dass es zu einer Verschiebung des nationalen Narrativs kam. Die politische Partizipation einer französischen Frau mit Kopftuch, die im folgenden Abschnitt Thema ist, illustriert, wie eingeschränkt die Möglichkeit in Frankreich ist, alternative Visionen der Zugehörigkeit zu formulieren.

D ie K andidatur von I lhem M oussaïd für die N ouveau P arti anticapitaliste Im Verlauf der Burkadebatte war für kurze Zeit die Geschichte einer jungen, Kopftuch tragenden Französin in den Schlagzeilen. Ilhem Moussaïd, so ihr Name, ist die Tochter algerischer ImmigrantInnen. Sie kandidierte für die französische Nouveau Parti anticapitaliste (Neue Antikapitalistische Partei, NPA) in den Regionalwahlen des Jahres 2010, jenen Wahlen also, die teilweise den Ausgang der Burkadebatte mitbestimmten. Moussaïd stand im Widerspruch zu vielen der weiter oben diskutierten Bilder: Sie trug ein Kopftuch, handelte aber selbstbestimmt, ihr Engagement in der Parteipolitik entsprach dem französischen Republikanismus und sie war Kandidatin einer Partei, die sich eher auf die Klassenperspektive als auf potenziell kommunitaristische, religiöse oder politische Dimensionen der Frage bezog, was es heißt, französische MuslimIn in einem Banlieue zu sein. Ihre politische Tätigkeit begann die 21-jährige Moussaïd, als die Ligue communiste révolutionnaire (Revolutionäre kommunistische Liga, LCR) eine in ihrer Gemeinde tätige antirassistische Jugendorganisation kontaktierte, in der sie sich engagierte. Eine andere Aktivistin beschrieb den Kontext der Kandidatur von Moussaïd wie folgt: »PolitikerInnen hat-

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ten die Gegend aufgegeben, nur polizeilich wurde noch eingegriffen. Wir organisierten uns in der Gemeinde, konnten aber nur hier und da ein Pflaster anbringen, mehr nicht.« (Le Monde, 11. Januar 2010) Durch ihren Beitritt zur LCR fühlten sich Moussaïd und andere ermutigt, Dinge zu ändern. Sie teilten auch die Sicht der LCR auf Palästina und in anderen politischen Fragen. Moussaïd war ein Jahr lang Schatzmeisterin der neu gegründeten NPA, bevor sie kandidierte und gewann. In der kurzen Zeit ihrer öffentlichen Auftritte während ihrer Kandidatur wurde Moussaïd zum medialen Beispiel für die Vereinbarkeit einer vollkommenen französischen Identifikation mit dem Kopftuch sowie des Rechts, ›Französisch‹ und dennoch verschleiert zu sein. In Folge ihrer Kandidatur wurden eine Reihe von Artikeln zu der Frage verfasst, wie eine junge, Kopftuch tragende Frau zur Repräsentantin einer links gerichteten, laizistischen politischen Partei werden konnte. Dounia Bouzar führte sie als Beispiel dafür an, dass Laïcité und Islam kompatibel seien, und versicherte wieder, dass bedeckte Frauen auch laïc und feministisch sein können. Zur Kandidatur von Ilhem Moussaïd schrieb Bouzar: »Kann jemand gleichzeitig bedeckt und Feministin sein? […] Könnte ein kleines Kopftuch ›französischen Stils‹ einen emanzipatorischen Geist beherbergen? Ist es das Kopftuch, durch das die Frau bestimmt wird, oder ist es die Frau, die die Bedeutung ihres Kopftuchs bestimmt? […] Es gibt so viele verschiedene Persönlichkeiten wie Kopftuchfarben. Einige sind Opfer sozialen Drucks, andere in der Tradition gefangen, aber wieder andere haben sich ihre eigene Lesart des Islams zurückgeholt, sie den monopolisierenden, maskulinistischen Interpretationen der Männer entrissen. Das Kopftuch bietet dieser letztgenannten Gruppe eine symbolische Ressource, mit deren Hilfe sie sich selbst neu definieren kann: Es ist möglich, sowohl Muslimin, als auch modern zu sein. Wir sollten diese Kandidatin [gemeint ist Moussaïd, GY] sich selbst frei definieren lassen, ohne dass wir für sie denken. Es wäre wohl kaum demokratisch und vollständig antifeministisch, sie durch genau die Art der Unterordnung zu definieren, gegen die sie ankämpft.« (Dounia Bouzar zitiert nach Libération, 8. Februar 2010)

Bouzar stützte die Vorstellung, der Islam müsse den Männern »entrissen« werden, gestand Frauen aber gleichzeitig zu, dass sie ihre eigene, unabhängige Interpretation der Religion haben können, wenn sie eine Verschleierung »französischen Stils« trügen (das Adjektiv »klein« legt den Wunsch nach Schutz der Femininität nahe, ein in den Diskussionen

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wiederkehrendes Thema). Anders als in den Diskursen zur Geschlechtergerechtigkeit, in denen das Kopftuch für die Unfähigkeit stand, selbst zu denken, vertritt Bouzar die Position, dass Frauen wie Ilhem Moussaïd Frankreich mit einem anderen Bild der Demokratie konfrontieren. Dieses Bild sollten PolitikerInnen sehr viel ernster nehmen, wenn sie wirklich der Freiheit dienen und den Republikanismus als spezifische Art der Partizipation und nicht als spezifische Kleiderordnung definieren wollten. Kurz gesagt argumentierte Bouzar, dass die Kandidatur Ilhem Moussaïds eine alternative Interpretation der zentralen Konzepte des nationalen Narrativs verkörperte. Die meisten KommentatorInnen interpretierten die Rolle Moussaïds aber nicht im Lichte der Möglichkeiten, die durch ihre Handlungen deutlich wurden. Sie konzentrierten sich stattdessen darauf, ob sie als Beispiel einer selbstbestimmten Frau angeführt werden sollte; diese Frage warfen ganz besonders jene auf, für die sich Kopftuch und Selbstbestimmung ausschließen, darunter viele FeministInnen. So heißt es auch in einem Artikel in Le Monde: »›Die Reaktionen von FeministInnen waren am schwersten zu ertragen‹, verrät die junge Frau [Moussaïd], die klar ausgedrückt hat, dass sie Verhütungsmittel und das Recht auf Abtreibung befürwortet. ›Obwohl ich erklärt habe, dass ich nicht unterdrückt bin, und ich denke, das ist ziemlich offensichtlich, gibt es immer noch eine Menge Unverständnis.‹« (Le Monde, 11. Februar 2010)

In dem zitierten Artikel in Le Monde macht Moussaïd deutlich, wie fließend sie das nationale Narrativ Frankreichs beherrscht. Zugleich versucht sie, dessen zentrale Bestandteile in ihrer Bedeutung zu verändern, indem sie den französischen feministischen Diskurs zur Geschlechtergerechtigkeit angreift, weil er Kopftuch tragenden Frauen nicht ausreichend erlaubt, ihre Handlungen selbst zu interpretieren. Moussaïd legt nicht nur die Geschlechtergerechtigkeit neu aus, sondern auch die Laïcité und die Verbindung zwischen Weiblichkeit und Republikanismus, wenn sie sagt: »Der Feminismus selbst kann eine Keule sein, mit der Frauen gezwungen werden, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten und bestimmten Normen zu entsprechen, statt ihre Emanzipation zu ermöglichen – es gibt nicht nur, und es sollte auch nicht nur eine Art geben, FeministIn zu sein […]. [D]ie Laïcité ist kein Prinzip, das Religion verbietet, sondern eines, das Kirche und Staat trennt – es ist möglich,

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zugleich laïc und MuslimIn zu sein.« (Ilhem Moussaïd zitiert nach Le Monde, 11. Februar 2010, Hervorhebungen im Original)

Diese Interpretation der Laïcité erinnert an Bemühungen in der Türkei, den Säkularismus so auszulegen, dass auch die Partizipation religiöser Menschen in Gesellschaft und Politik möglich ist. Wenn Ilhem Moussaïd nicht nur zum Kopftuch, sondern zu zahlreichen wie unterschiedlichen Themen eloquent ihre politischen Ansichten äußerte11, traf sie häufig auf Unverständnis. Für viele stand Moussaïds Kopftuch symbolisch für Ihre Unfähigkeit, kritisch und analytisch zu denken und zu handeln, was aber die Grundlage ihrer Kandidatur für die NPA war. Moussaïds Neudefinition des Säkularismus veranlasste Ni Putes Ni Soumises sogar dazu, eine Beschwerde gegen die NPA wegen der Unterstützung »offener Laïcité« einzulegen: »›Durch die Entscheidung, eine ›offene‹ Laïcité zu unterstützen, pervertiert die NPA die Werte der Republik und fordert, diese so zu lesen, dass sie einer regressiven Sicht auf Frauen entsprechen‹, so der Verband Ni Putes Ni Soumises in einer Stellungnahme.« (Nach The Guardian, 10. Februar 2010) Vor Gericht wurde der Fall wegen Mangels an strafrechtlichem Tatbestand verworfen. Dies macht aber deutlich, mit welch heftiger Ablehnung Kopftuchträgerinnen konfrontiert werden, wenn sie in Frankreich versuchen, das Nationalnarrativ umzudeuten, dessen Umgrenzung während der Burkadebatten – die zeitgleich mit der letztlich erfolglosen Kandidatur Moussaïds für ein politisches Amt stattfanden – verfestigt wurden. Es gab aber auch Stimmen, die Ilhem Moussaïds Kandidatur als Fortschritt in Richtung einer Zeit größerer Meinungsfreiheit deuteten: »Wenn eine Mehrheit [der NPA] sich letztlich entschieden hat, eine bedeckte Kandidatin zu unterstützen, bedeutete dies auch, einer neuen Generation zu erlauben, ihre Verantwortung wahrzunehmen, einer Generation, für die der Schleier eine andere Bedeutung hat als noch vor zehn Jahren. Nadia El Bouroumi, eine Stadträtin der PS [Parti Socialiste] aus Avignon bemerkt hierzu: ›MuslimInnen meiner Generation versuchten um jeden Preis so zu sein wie die anderen. Ilhems Generation hat diese Komplexe nicht.‹« (Le Monde, 11. Februar 2010)

Ilhem Moussaïd trug ein religiöses Symbol, das französische PolitikerInnen in den Bereich des Privaten verbannen wollten, während sie sich aktiv an der französischen Politik beteiligte. Sie verkörperte somit die Art Frau,

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die nicht zu der in den Kopftuch- und Burkadebatten entworfenen Vorstellung von Frankreich gehören durfte. Moussaïds kurze Präsenz in der öffentlichen Debatte Frankreichs verdeutlicht, wie wichtig nach wie vor die Frage ist, ob dem nationalen Narrativ zufolge MuslimInnen auch FranzösInnen werden können. Diese Debatten sind in Frankreich noch nicht beendet. 2013 beschäftigte sich eine zunehmend intensive Debatte mit dem Recht, das Kopftuch an nicht öffentlichen Arbeitsplätzen zu tragen, insbesondere, wenn die Angestellte mit (kleinen) Kindern interagiert. In Dezember 2008 wurde Fatima Atif ihre Anstellung von ihrem Arbeitgeber, der Kindertagesstätte Baby Loup in einem Banlieue von Paris, aufgrund ihres Kopftuchs gekündigt. Atif focht ihre Entlassung als religiös begründete Diskriminierung an und klagte in den folgenden fünf Jahren vor verschiedenen Gerichten. Nachdem sie bereits in mehreren Instanzen verloren hatte, entschied der Oberste Gerichtshof am 19. März 2013, dass Atif unrechtmäßig entlassen worden war. Am 27. November desselben Jahres stimmte jedoch das Oberste Berufungsgericht in Paris dem Argument des Staatsanwalts zu, dass kleine Kinder (bis zu drei Jahren) »besonders beeinflussbar« sind und dass die Kinder, die Baby Loup besuchen, aus »sozial benachteiligten Familien kommen, was sie noch anfälliger für Vorbilder [wie Kopftuch tragende Frauen] macht« . Daraufhin entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Entlassung nicht diskriminierend sei.12 In April 2013 ernannte Präsident François Hollande der Parti Socialiste neue Mitglieder der Observatoire de la laïcité (Beobachtungsgruppe der Laïcité). Diese wurden beauftragt zu beurteilen, ob eine neue gesetzliche Grundlage erforderlich sei, um Laïcité im privaten Beschäftigungssektor zu gewährleisten. Einige oppositionelle PolitikerInnen der UMP sprachen sich ebenso dafür aus wie einige PolitikerInnen aus Hollandes eigener Partei. Letztlich verkündete die Beobachtungsgruppe am 15. Oktober 2013, dass die bestehenden Gesetze ausreichten, um die Religionsausübung im privaten Beschäftigungssektor einzugrenzen. Diese Einschätzung wurde vielfach kritisiert, auch von Mitgliedern der Beobachtungsgruppe.13 Das Beispiel zeigt, wie Versuche, das Tragen des Kopftuchs gesetzlich zu regeln, genutzt werden, um die Bedeutung von Republikanismus, Laïcité und Geschlechtergerechtigkeit im nationalen Narrativ der Zugehörigkeit zu Frankreich zu vergrößern. Wie bereits zuvor erwähnt, führte das Verbot des Niqabs zu mehr Belästigungen von Niqab tragenden Frauen. Darüber hinaus führte die

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formelle Durchsetzung des Verbots durch die Polizei zu Unruhen. Im Sommer 2013 kam es im Zuge seiner Anwendung zu Ausschreitungen in französischen Banlieues.14 Am 18. Juli 2013, kurz vor dem Fastenbrechen während des Ramadan, ging Cassandra Belin mit ihrem Ehemann Michaël Khiri, ihrem kleinen Kind und ihrer Mutter in Trappes, einem Pariser Banlieue, spazieren. Dabei forderten drei PolizeibeamtInnen sie auf, ihren Schleier für eine Identitätskontrolle abzunehmen. Was danach geschah, ist nicht eindeutig geklärt. Jene Zeitungen, die den Angaben der Polizei folgten, berichteten, dass Herr Khiri die BeamtInnen angegriffen und versucht habe, einen von ihnen zu würgen und ins Gesicht schlug. Herr Khiri wurde daraufhin verhaftet. Frau Belin und Herr Khiri schilderten den Ablauf und die Geschehnisse gegenüber den Medien anders. Ihren Aussagen zufolge wurden Frau Khiris Personalien zuvor wiederholt kontrolliert und sie und ihr Ehemann hatten bereits mehrmals ohne anschließende gewalttätige Auseinandersetzungen die Geldstrafe für das öffentliche Tragen des Niqabs gezahlt. Sie gaben an, dass die PolizeibeamtInnen Frau Belins Mutter schubsten und Frau Belin und Herrn Khiri beleidigten. Daraufhin habe Herr Khiri lediglich versucht, sich und seine Schwiegermutter zu verteidigen.15 Am Abend nach Herrn Khiris Verhaftung versammelte sich eine Gruppe von Menschen vor der Polizeiwache, wo sie friedlich protestierte und seine Freilassung forderte. Noch später am selben Abend randalierte eine Gruppe von 200 bis 400 Jugendlichen in Trappes. Sie zündeten Mülleimer und Bushaltestellen an und bewarfen PolizeibeamtInnen mit Steinen. Eine kleine Gruppe entfachte den Aufruhr erneut in der darauf folgenden Nacht, indem sie Steine warf und 15 Autos anzündete. Zahlreicher Bilder brennender Autos und von PolizistInnen in Kampfausrüstung dominierten die französischen Medien tagelang. Im November 2013 wurde Herr Khiri zu einer Haftstrafe von drei Monaten und einer Geldstrafe in Höhe von 1.000 Euro verurteilt, was zu zahlreichen Medienberichten führte. Auch wurde berichtet, dass einer der drei involvierten PolizistInnen auf seiner privaten Facebook-Seite potenziell rassistische Kommentare veröffentlicht hatte.16 Die beiden Ausschreitungen (sowie ein weiterer kleinerer Aufruhr in Argenteuil aufgrund ähnlicher Umstände früher im Sommer) und die Verurteilung waren Anlass für eine erneute Debatte darüber, ob MuslimInnen im nationalen Narrativ als zu Frankreich gehörend anerkannt werden. Die Zeitung Le Monde bot verschiedentlich die Plattform für Kritik, die die Umsetzung des Verbots des Niqabs bemän-

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gelte. Jedoch herrschte auch Einigkeit darüber, dass der Republikanismus beschützt werden müsse. So schrieb der Soziologe Hugues Lagrange, dass die Unruhen im Kontext der sozioökonomischen Ausgrenzung der MuslimInnen in Frankreich zu sehen seien. Ähnlich argumentierte der Politologe Jacques de Maillard in seinem Artikel »Le voile révèle les failles du pacte républicain« (Der Schleier enthüllt das Scheitern des Gesetzes des Republikanismus): Es sei die zunehmende Wahrnehmung der Kluft zwischen muslimischen Jugendlichen und Ordnungskräften, die unter muslimischen Jugendlichen zu Misstrauen gegenüber der Polizei führe.17 Ein großer Teil der anhaltenden Debatte fokussiert Kopftuch, Burka und Niqab als Bedrohung des öffentlichen Lebens Frankreichs. In diese Debatten haben sich auch einige MuslimInnen eingebracht, sie weisen darauf hin, dass die Partizipation im öffentlichen Raum für MuslimInnen durchaus möglich ist. Die zu Wort kommenden MuslimInnen haben verschiedene Hintergründe, dabei nehmen viele von ihnen privilegierte Positionen in politischen und pädagogischen Institutionen in Frankreich ein. Sie haben gezeigt, dass sie die Debatten zum französischen Republikanismus und zur Laïcité sehr gut kennen und sich ihnen im gewissen Grade angepasst haben. Ihre Partizipation verdeutlicht, dass die Angst vor sozialen Spaltungen, die mit Kopftuch, Burka und Niqab verbunden werden, einen Prozess angestoßen hat, der französische Diskurse zu gesellschaftlicher Teilhabe und Zugehörigkeit gestärkt hat. Angesichts der oben beschriebenen Anpassung ist es nicht überraschend, dass das in den Debatten produzierte nationale Narrativ nur sehr wenige abweichende oder widersprechende Ansichten beinhaltet. Es herrscht in Frankreich weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Staatsbürgerschaft (citizen­ ship) und die strikte Trennung zwischen staatlichen und religiösen Institutionen sowie ein dominantes (wenn auch nicht vollständig von allen geteiltes) Nationalnarrativ von großer Bedeutung sind. Das nationale Narrativ entspringt dabei einer Form des Republikanismus, deren Ursprünge in der Französischen Revolution liegen, aus der später die Werte der Laïcité und der Geschlechtergerechtigkeit abgeleitet wurden. Damit übereinstimmend weisen Umfrageergebnisse darauf hin, dass viele der MuslimInnen ein Kopftuchverbot an Schulen befürworten (42 Prozent aller französischen MuslimInnen und 49 Prozent aller muslimischen Frauen stimmen im Jahr 2004 dem Kopftuchverbot zu).18 Die Tatsache, dass 82 Prozent der französischen Bevölkerung das Verbot des Niqabs befürworten, deutet an, dass es auch unter französischen MuslimInnen

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auf Zuspruch trifft (Pew Global Attitudes Project 2010). Organisationen wie Ni Putes Ni Soumises, innerhalb derer migrantische Frauen für eine bestimmte Interpretation von Geschlechtergerechtigkeit und in besonderem Maße für Verbote von Kopftüchern in ihren verschiedenen Formen kämpfen, entfachten Debatten, die die französischen Konstruktionen von Republikanismus und Laïcité bestärkten. Einige muslimische FeministInnen sind politisch aktiv, um für moderne, islamische, französische und verschleierte Frauen eine Nische zu schaffen. Die Diskussion über die Kandidatur von Ilhem Moussaïd bei den Regionalwahlen 2010 illustriert, dass solche Frauen eine politische Herausforderung für das nationale Narrativ des Republikanismus und der Laïcité darstellen können, wenn sie deutlich machen, dass auch bedeckte Frauen als republikanische Bürgerinnen aktiv sein können. Zugleich aber führte Moussaïds Arbeit nicht zu einem grundlegenden Hinterfragen des französischen Verständnisses von Geschlechtergerechtigkeit. Stattdessen entwirft sie einem spezifisch französischen feministischen Diskurs, in dem das »Französische« mit dem Leben als Muslimin kombiniert wird, indem für ein »kleines Kopftuch ›französischen Stils‹« und einen »emanzipatorischem Geist« plädiert wird (Dounia Bouzar zitiert nach Libération, 8. Februar 2010). Die Unruhen im Juli 2013 lassen vermuten, dass der Niqab zu sehr von dieser französischen Version des Kopftuchs abweicht. Sie weisen darauf hin, dass französische MuslimInnen in den Banlieues, deren Stimmen in der öffentlichen Debatte überwiegend nicht gehört werden, die Botschaft, die in die Kopftuchdebatten eingebettet ist, klar und deutlich vernommen haben: Du kannst nicht Französisch sein und gleichzeitig Symbole deiner Religion öffentlich zur Schau stellen. Der Innenminister Manuel Valls sieht in den oben beschriebenen Proteststrategien die Unfähigkeit, in Übereinstimmung mit der Rechtsstaatlichkeit zu leben.19 Im Gegensatz dazu deuten die Proteste in Trappes für uns an, dass den Protestierenden nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung standen, um sich in die französischen Debatten über Zugehörigkeit einzubringen. Dementsprechend haben sie auch ihre Entrechtung aus der öffentlichen Sphäre deutlich gemacht.

3. Zwischen Säkularismus, Demokratie und Islam Die Umdeutung des Kopftuchs in der Türkei

Der türkische Staat hat seit seiner auf säkularen Prinzipien basierenden Gründung durch Kemal Atatürk im Jahre 1923 das nationale Zugehörigkeitsgefühl durch eine strikte Kontrolle religiöser Bekundungen im öffentlichen Raum hergestellt. Seit der Existenz der Republik gab es Bekleidungsregelungen. Atatürk führte 1925 und 1934 zwei diesbezügliche Reformen durch, die als »Gesetz zu Hut und Kleidung« bekannt sind (şapka ve kıyafet devrimi). Dadurch wurde das öffentliche Tragen religiös inspirierter Kleidung untersagt, etwa des çarsaf (ähnlich dem Niqab) und des fes (der dunkelrote Hut ohne Krempe und mit Quaste, den Männer zur Zeit des Osmanischen Reiches trugen). Während das Gesetz keine eindeutige Aussage zu Tüchern traf, die Haar und Hals, nicht aber das Gesicht von Frauen bedecken, verboten einige regionale Behörden auch das Tragen des Kopftuchs. Diese Regelungen (und deren lokale Interpretationen) zielten darauf ab, einen säkularen öffentlichen Raum zu schaffen, was Bestandteil des von den Gründern der Republik angestrebten Prozesses der Hinwendung zum Westen war. So wurden Männer und Frauen dazu angehalten, westliche Kleidung zu tragen. Wer diese Gesetze während der ersten Jahre der Republik nicht einhielt, konnte durch die zu dieser Zeit tätigen Unabhängigkeitsgerichte verurteilt werden. Das Tragen religiöser Kleidung konnte sogar mit dem Tode bestraft werden (Aktaş 2006; Aybars 1975). Obgleich das allgemeine Kopftuchverbot von der amtierenden Regierung im Herbst 2013 aufgehoben wurde, ist das Kopftuch im nationalen Narrativ der Zugehörigkeit in der Türkei weiterhin ein umstrittenes Kleidungsstück, da es den Islam symbolisiert, den SäkularistInnen aus dem öffentlichen Raum fernhalten wollen. In den vergangenen Jahrzehnten

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gab es in der Öffentlichkeit, aber auch im Parlament (der Großen Nationalversammlung der Türkei: Türkiye Büyük Millet Meclisi) eine Unmenge von Kopftuchdebatten, die trotz der Aufhebung des Verbots anhalten. Die Tragweite dieser Debatten wurde in den jüngsten Diskussionen zu den historischen Entscheidungen der Unabhängigkeitsgerichte deutlich, deren Akten vor Kurzem durch das Parlament freigegeben wurden.1 Die bekannte Journalistin Ayşe Böhürler verknüpfte das, was Kopftuch tragenden Frauen während der Gründungszeit der Republik widerfuhr, damit, wie Kopftuch tragende Frauen heute bedrängt werden: »Nach den Statistiken der Unabhängigkeitsgerichte wurden 57 Menschen in den zweieinhalb Monaten nach Einführung des Hutgesetzes hingerichtet und Hunderte inhaftiert. Die Hinrichtung einer wandernden Händlerin für Kleidung und Tücher [bohçacı], die auf dem Weg zum Schafott überrascht fragte, ›Frauen tragen keine Hüte, warum meine Hinrichtung?‹, wurde von einigen so interpretiert, dass Frauen darauf vorbereitet werden sollten, Hüte zu tragen. […] Diese Frau, zwei Meter groß, mit vernarbtem Gesicht und schlangenartigen Zöpfen, dem schwarzen Tuch [puşu] und ihrem Glauben an die Geduld war Şalcı Bacı. […] Vielleicht finden wir nun die Möglichkeit, uns einem anderen Trauma zu stellen, das Frauen auch heute noch angetan wird. Vielleicht stehen wir dann an den ungeöffneten Gräbern der Kleidungsfolter, die nach dem Willen des Regimes durchgeführt wurden.« (Ayşe Böhürler zitiert nach Yeni Şafak, 26. November 2011) 2

Böhürler stellt eine Verbindung zwischen dem toten Leib von Şalcı Bacıs und dem andauernden Schmerz her, der religiösen Frauen zugefügt wird mit den politischen Versuchen, den Säkularismus in der türkischen Gesellschaft durch die fortdauernde Regelung der Kleidung von Frauen zu schützen. Die Mehrheit der türkischen Frauen hat immer Kopftuch getragen, und die restriktiven Regelungen gegen religiöse Bekleidung haben schwerwiegende Auswirkungen auf die sozioökonomische Stellung dieser Frauen gehabt (Kuru 2009, 187–188), aber ebenso auf ihre politische Partizipation und ihr Gefühl von nationaler Zugehörigkeit. Die rechtlichen Grundlagen für diese Ausschlüsse waren häufig unklar und jeder Fall wurde unterschiedlich gehandhabt. Sie basierten auf verschiedenen Interpretationen der Säkularismusklausel der türkischen Verfassung durch die Menschen, die Machtpositionen innehatten, zum Beispiel DekanInnen, FakultätsleiterInnen an Universitäten, Vorsitzende anderer

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staatlicher Institutionen, aber auch Angehörige der Armee, des Parlaments und der amtierenden Exekutive (Kuru 2009, 187–193). Die Bedeutung des Kopftuchs in der türkischen Politik und Gesellschaft wurde in vielen Bereichen diskutiert, in denen der säkulare Staat präsent ist, einschließlich des öffentlichen Dienstes, den Militäreinrichtungen und dem Parlament. Die vehementesten und hartnäckigsten Debatten über das Kopftuch fanden jedoch an türkischen Universitäten statt (Seggie 2011). Obwohl das Thema bereits seit den 1960ern intensiv diskutiert wurde, erfolgte ein direktes Verbot durch den Yüksek Ögretim Kurumu (Rat für höhere Bildung) erst 1982. In diesen Debatten steht einiges auf dem Spiel: Durch den Besuch von Universitäten erhalten Kopftuch tragende Frauen Zugang zu den bildungs- und beschäftigungsrelevanten Ressourcen, durch die sie in die Mittel- und Oberschicht aufsteigen können. Dies war historisch dem säkularen türkischen Bürgertum vorbehalten. Merve Kavakçı-Islam, eine Politikerin, die im Jahr 1998 ihren Platz im Parlament nicht einnehmen durfte, weil es ihr verboten war, den Amtseid mit Kopftuch abzulegen, argumentiert, dass es einige SäkularistInnen3 nicht stören würde, wenn eine Putzkraft ein Kopftuch trage – sie aber sehr wohl ein Problem damit hätten, wenn eine solche Person Klassengrenzen überschreiten würde und eine ähnliche Stelle einnehmen würde wie eine säkulare Frau (Kavakçı-Islam 2010, 22). An dieser Stelle markiert in der Türkei die Verwendung der Begriffe başörtüsü und türban (beides auf Deutsch Kopftuch) eine wichtige Unterscheidung in der Debatte. Viele SäkularistInnen betrachten Ersteres als eine harmlose Kopf bedeckung, wie schon bei der Putzkraft, und Letzteres als politische Stellungnahme. Viele Religiöse hingegen verwenden nur den Begriff başörtüsü und nicht türban, um zu betonen, dass ihre Bedeckung religiöser und nicht politischer Natur ist. So lässt sich häufig anhand der verwendeten Begriffe schlussfolgern, welche Position jemand vertritt: Türban steht für die Frau, die Klassengrenzen gefährdet, die im säkularen nationalen Narrativ eine Rolle spielen, während başörtüsü nicht als Bedrohung gilt. Wie auch in Frankreich, wurde das Kopftuch in politischen Diskussionen, in Medien und persönlichen Berichten zu einem Symbol des Kampfes um die Bedeutung des Säkularismus im nationalen Narrativ der Türkei. Auf Fotos aus den 1920er Jahren ist Atatürk neben türkischen Frauen in westlicher Kleidung zu sehen (Röcke, Kleider, keine Kopf bedeckung), um vorzuführen, was es bedeutete, zur neuen Republik Türkei

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zu gehören (Özyürek 2006). Diese Vorbilder wurden aber von Menschen wie Şalcı Bacı, also der normalen Bevölkerung, nicht immer begrüßt, die gegen die Hürden, ihre Religiosität öffentlich zum Ausdruck zu bringen, seit den frühen Jahren der Republik protestierten. Die Opposition zwischen säkularer Elite und religiöser Öffentlichkeit führte hinsichtlich der Bedeutung von Säkularismus, Demokratie und Islam zu Spannung im nationalen Narrativ. Wie schon im Falle Frankreichs untersuchen wir, wie diese Debatten das nationale Narrativ der Zugehörigkeit in der Türkei definieren. Die Republik wurde durch eine säkulare Elite gegründet, deren Erzählung von Säkularismus auf der Abwesenheit von Religion im öffentlichen Raum fußt. Diese Form des Säkularismus wurde durch die Elite als Voraussetzung der Demokratie narrativisiert. Gleichzeitig versuchte eine in weiten Teilen religiöse Gesellschaft weiterhin, die im Osmanischen Reich, dem Vorgänger der türkischen Republik, gutgeheißene Religiosität in den Bereich des Öffentlichen zurückzuführen. Damit schaffte sie das Fundament für ein alternatives nationales Narrativ. Im Folgenden zeigen wir, wie die religiöse Öffentlichkeit im vergangenen Jahrzehnt begann, ein religiös ausgerichtetes türkisches Nationalnarrativ zu formulieren. In der Türkei beruht der Säkularismus in starkem Maße auf Formen der Klassenpolitik. Während in der französischen Debatte Kopftuch tragende Musliminnen unabhängig von ihrer Nationalität tendenziell als »Immigrantinnen« dargestellt werden, beruhen die türkischen Debatten auf tief verwurzelten Klassenunterschieden. Im Verlauf von historischen Auseinandersetzungen hat sich die türkische Gesellschaft gespalten in eine säkulare Elite im urbanen Raum und eine im ländlichen Raum lebende religiöse Unterschicht. Über diesen Zeitraum hinweg haben türkische SäkularistInnen in die Institutionen der türkischen Republik investiert und von diesen Besitz ergriffen: Dies geschah zum Schutz ihrer Prinzipien und Werte mithilfe rechtlicher und militärischer Macht; durch den Schutz säkularer Schulen, Stadtviertel und öffentlicher Institutionen vor einer möglichen Bedrohung durch Religiöse; durch die Konstruktion eines »säkularen Türkentums« oder eine Neudefinition des Muslimischen im türkischen Staat, die den Praktiken und Einstellungen der regierenden türkischen Elite entsprach. Auf diese Weise garantierten sie seit der Gründung der Republik die säkulare Überlegenheit – politisch, ökonomisch und sozial.

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Dieses prosäkulare nationale Narrativ führte letztlich zu einer Gesellschaft, in der die Vorzüge des Türkischseins den als säkular erkennbaren BürgerInnen zufielen, diese genossen vollständige Teilhabe an türkischen Institutionen, ob nun im öffentlichen Dienst, in Schulen oder im Parlament.4 Wenn es um das Kopftuch als religiöses Symbol ging, wurden Frauen mit Kopftuch von einigen Säkularen als Außenseiterinnen in der Türkei dargestellt, was unlängst so weit ging, dass im öffentlichen Raum Aussagen als legitim galten wie die, solche Frauen gehörten zur Islamischen Republik Iran oder zu Saudi Arabien und sollten besser dort leben (siehe auch Göle 2002). Einige SäkularistInnen waren bestrebt, den Ausschluss von Frauen mit Kopftuch mittels der Zuschreibung »nicht zur Türkei zugehörig« aus der öffentlichen Sphäre zu forcieren und ihnen den Zugang zu grundlegenden Bürgerrechten wie Bildung und Beschäftigung im öffentlichen Dienst zu verwehren. In dieser Konzeptualisierung des Türkischseins bedeutet Zugehörigkeit, dass Menschen ihre Religion privat ausüben dürfen, während die Sphäre des Öffentlichen nach säkularen Prinzipien organisiert ist. In diesen Darstellungen sind Religiöse die ›Anderen‹ der säkularen Politik. Im Unterschied zu Frankreich jedoch, wo die KommunitaristInnen der Republik gegenüber als andere erscheinen, haben ReligionsbefürworterInnen in der Türkei mittlerweile eine stärkere politische Präsenz erlangt und starken Einfluss auf die Ausformulierung des gegenwärtigen nationalen Narrativs. Durch sich verschiebende Klassengrenzen ist eine islamische Elite aufgestiegen, die nun in Räume vordringt, die historisch von Säkularen besetzt, ja sogar für diese reserviert waren. Diese islamischen Eliten übernehmen Aspekte des Lebensstils der Mittel- und Oberschicht, erwerben Universitätsabschlüsse als ÄrztInnen, AnwältInnen und IngenieurInnen und behalten ihre religiösen Praktiken öffentlich wahrnehmbar bei. Sie machen Urlaub in 5-Sterne-Hotels und schwimmen derweil an nach Geschlechtern getrennten Stränden. Ihre Töchter fahren teure Autos, aber tragen dabei ein Kopftuch. Wegen des Aufstiegs der islamischen Elite sehen viele Säkulare die ReligionsbefürworterInnen als Bedrohung ihres Elitenstatus. In diesem Kontext ist das Kopftuch religiöser Frauen für säkulare AkteurInnen zum Symbol einer politischen und sozioökonomischen Gefahr geworden, und für religiöse AkteurInnen zum Symbol des Aufstiegs. Wesentlich für das Aufkommen dieses neuen, proreligiösen nationalen Narrativs ist die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve

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Kalkınma Partisi, im Folgenden AKP), die im August 2001 auf der politischen Bühne der Türkei erschien. Seit ihrem Wahlgewinn im Jahr 2002, der zum Teil auch auf dem Wahlversprechen beruhte, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben, hatten PolitikerInnen und UnterstützerInnen der AKP das Ziel, die säkulare Übermacht in der Türkei zu beenden. Ihrer Aussage nach wollten sie in der Türkei Klassengrenzen abschaffen und ein neues Zugehörigkeitsgefühl schaffen, das auf einer umfassenden Solidarität basiert und säkulare wie religiöse Menschen einschließt (Tugal 2009). Religiöse Parteimitglieder verwenden weiterhin Konzepte wie das der Demokratie und des Säkularismus, auf deren Basis die säkulare Elite das nationale Narrativ geschaffen hatte, sie interpretieren diese Konzepte jedoch anders, um neue Formen der nationalen Zugehörigkeit zu schaffen. Für die AKP und ihre UnterstützerInnen führt dieser Prozess der Neuinterpretation zu einer wirklichen Demokratisierung, während die Demokratie der Säkularen zum exakten Gegenteil geführt habe: zu strengen, exklusiven und hierarchischen Herrschaftsformen. Nach dem religiös ausgerichteten Verständnis von Demokratie und Säkularismus soll es religiösen BürgerInnen, insbesondere Frauen mit Kopftuch, ermöglicht werden, dieselben Rechte zu genießen wie Säkulare, etwa im Staatsdienst zu arbeiten oder an Universitäten zu studieren. Die AKP und ihre UnterstützerInnen sprechen sich für Formen der Gemeinschaft und der Solidarität aus, die alle religiösen und nichtreligiösen BürgerInnen5 umfasst, indem sie (strategisch) darauf hinweisen, dass Frauen mit Kopftuch bisher ungerecht behandelt wurden: Sie wurden öffentlich gedemütigt, ausgeschlossen und ihre Bürgerrechte eingeschränkt. Während das säkulare Nationalnarrativ seit der Gründung der Republik von den jeweiligen MachthaberInnen gestützt wurde, führte der Wahlerfolg der AKP im Jahr 2002 zu einem grundlegenden Wandel. Dementsprechend konzentrieren wir uns auf die Zeit nach 2002, um zu analysieren, wie sich das türkische nationale Narrative so stark aufspalten konnte zwischen denen, die sich für das historisch dominante Verständnis aussprechen, dass der türkische Staat eine säkulare Demokratie benötige, und denen, die im Rahmen der Diskussionen über das Kopftuchverbot an Universitäten und anderen staatlichen Institutionen ein neues Verständnis für die Verbindung zwischen Säkularismus, Demokratie und Islam entwickelt haben. Bezogen auf die öffentlichen Diskurse veranschaulichen wir, dass für SäkularistInnen das Prinzip des Säkularismus mit einer westlichen

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Orientierung, mit Modernität, Wissenschaft und Vernunft einhergeht, wodurch ein nationales Narrativ der Zugehörigkeit geschaffen wird, das auf dem Argument basiert, dass all diese Elemente für eine Demokratie erforderlich seien. Im Gegensatz dazu befürwortet die religiöse Seite eine alternative Interpretation und formuliert das nationale Narrativ um, indem sie die islamische Religion zu seiner Grundlage macht. Die Werte der Demokratie werden nicht abgelehnt, sondern man argumentiert, dass demokratische Freiheit auch uneingeschränkte Rechte für religiöse Menschen beinhaltet. Die proreligiösen PolitikerInnen entlehnen Ideen des liberal-politischen Diskurses, indem sie die Förderung der Diversität und einer offenen Zivilgesellschaft mit den demokratischen Werten der Meinungsfreiheit, einschließlich der Religionsfreiheit, verknüpfen und so einen islamischen Diskurs mit dem Liberalismus verbinden (Hale und Özbudun 2009). Durch die Verwendung der Kategorien (pro-)säkular und (pro-)religiös streben wir keine Reproduktion der Dichotomien derer an, die sich für oder gegen Säkularismus oder Religion aussprechen. Tatsächlich hat sich während der großen zivilgesellschaftlichen Proteste in Folge der angekündigten Zerstörung von Teilen des Gezi-Parks in Istanbul im Jahr 2013 gezeigt, dass viele Säkulare die Forderung der ReligionsbefürworterInnen nach Religionsfreiheit unterstützen; viele Religiöse protestierten gemeinsam mit Säkularen gegen die Politik des Neoliberalismus, gegen Gentrifizierung und den kulturellen Konservatismus der AKP. Im Juni 2013 formierte sich im städtischen Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul ein starker öffentlicher Widerstand gegen die Regierung der AKP. AnwohnerInnen des Taksim-Platzes hatten ursprünglich gegen die zu erwartende Zerstörung des Gezi-Parks protestiert, an dessen Stelle ein Einkaufszentrum gebaut werden sollte. Bei dem Versuch, die Bevölkerung davon abzuhalten, sich zu Protesten im Park zu versammeln, verwendete die Polizei Unmengen an Tränengas, das den Menschen auch direkt ins Gesicht gesprüht wurde. Als Reaktion verstärkten sich die Proteste zunehmend und entwickelten sich zu einer gesellschaftlichen Bewegung. Millionen gingen auf die Straße und protestierten gegen die Regierungspolitik der Umweltzerstörung, der Vernachlässigung von Frauen- und Minderheitenrechten und allgemein gegen den Versuch, unterschiedliche Lebensstile in der Türkei zu unterdrücken. Während dieser Zeit gab es Kopftuch tragende Frauen, die gemeinsam mit den unterschiedlichsten Gruppierungen, von UmweltschützerInnen bis Homosexuellen,

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gegen die Politik der Regierung protestierten. Die Teilnahme so verschiedener Gruppen an den Protesten deutet darauf hin, dass das nationale Narrativ der Türkei angesichts einer zunehmend autoritären Regierung wieder stärker Bezug nimmt auf jene Fragen der Demokratie, die über die Trennung von Säkularem und Religiösem hinausreichen. Es gab auch von religiösen politischen AkteurInnen organisierte Gruppen wie die Antikapitalistischen MuslimInnen (Anti-Kapitalist Müslümanlar) oder die Revolutionären MuslimInnen (Devrimci Müslümanlar), die sich gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der AKP und deren Monopol über den Islam in der Türkei ausgesprochen haben. Die Gruppen der ReligionsbefürworterInnen sind so vielfältig wie die der SäkularistInnen. Es gibt sicher auch Säkulare, die streng gegen alle Arten religiöser Verbindungen und Symbole sind, wie zum Beispiel Fazıl Say, der berühmte Klassik- und Jazzpianist, der 2013 öffentlich verkündete, dass er Atheist sei.6 Den Säkularismus zu befürworten heißt jedoch nicht immer, antiislamisch, nicht muslimisch oder nicht religiös zu sein. Es gibt ebenso Säkulare, die beten, während des Ramadan fasten und zum Opferfest (Kurban Bayramı) ein Opfer darbringen, und damit viele der Gebote des islamischen Glaubens erfüllen. Sie verwehren sich jedoch gegen die Politisierung des Islam, und sie fürchten politische Parteien oder staatliche Institutionen, die in Form von Scharia-Gerichten, von Kopftuchzwang in der Öffentlichkeit oder islamischer Erziehung in Schulen eine Einhaltung islamischer Bräuche, Gesetze und Werte erzwingen könnten. Zugleich fühlen sich viele BefürworterInnen des Säkularismus stark einem anatolischen Islam verbunden, in dem die kulturellen und traditionellen Wurzeln des Türkentums als mit der Religion verwoben konstruiert werden. Für die SäkularistInnen erfordert die Demokratie jedoch einen Säkularismus, durch den ein Einfluss der Religion auf die Politik verhindert wird. Analog zur Interdependenz des französischen Republikanismus mit der Laïcité argumentieren einige Säkulare in der Türkei, dass Demokratie auf Säkularismus beruhe, der islamische Glaube privat praktiziert werden solle und dass er zwar kulturellen Einfluss haben könne, jedoch nie mit der Kraft staatlicher Gesetze ausgestattet werden dürfe. Weil sich aber die Forderungen religiöser und säkularer Gruppen zum Teil überschneiden, haben zu verschiedenen Gelegenheiten, so auch bei den Protesten im Gezi-Park 2013, säkulare und religiöse BürgerInnen trotz unterschiedlicher Ansichten zur Religion gemeinsam gegen die Regierungspolitik demonstriert.

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Nach den Gezi-Protesten kündigte der Ministerpräsident am 30. September 2013 ein neues »Demokratisierungspaket« 7 an, das bedeutende Veränderungen für Kopftuch tragende Frauen umfasste. Demnach wird ihnen der Zugang zu öffentlichen Räumen, die in staatlicher Hand sind, nicht länger verwehrt. Anders gesagt: Auch mit Kopftuch können sie nun ohne weiteres staatliche Ämter, Universitäten und Schulen betreten und im öffentlichen Dienst arbeiten. Diese Aufhebung des Kopftuchverbots markiert den Sieg einer bestimmten Version des religiösen nationalen Narrativs über das säkulare, insofern das religiöse Kleidungsstück nun als Symbol fest in ehemals säkularen Räumen des Staates etabliert werden kann. Das Kapitel wird folgendermaßen fortgeführt: Zunächst geben wir einen Überblick über die wichtigsten politischen und sozioökonomischen Entwicklungen seit der Gründung der türkischen Republik 1923, um zu untersuchen, wie diese das nationale Narrativ beeinflusst haben, um dann die Rolle der Kopftuchdebatte in diesem Narrativ darzustellen. Anschließend wenden wir uns der Darstellung des Kopftuchs in Zeitungen zwischen 2002 und 2011 zu, wie auch ausgewählten Interviews mit Kopftuch tragenden politischen Aktivistinnen, um die Spannungen im gegenwärtigen nationalen Narrativ der Türkei zu analysieren und um aufzuzeigen, wie durch die fortdauernden Konflikte zwischen Säkularen und ReligionsbefürworterInnen dieses Narrativ sich in zwei Ausformungen aufspaltete. Wir verdeutlichen, wie das prosäkulare nationale Narrativ zunehmend ausschließlich vom Säkularismus abhängt, während die Demokratie als Form der Partizipation aus dem Blick gerät und die säkulare Vision der türkischen nationalen Zugehörigkeit mit dem grobschlächtigen Instrumentarium der Gesetze durchgesetzt werden soll. Im Anschluss analysieren wir religiös ausgerichtete Ansätze zum Kopftuch, um aufzuzeigen, wie mit ihrer Hilfe im Kontext von Religiosität und Demokratie die nationale Zugehörigkeit definiert wird. Die ReligionsbefürworterInnen beanspruchen, die Stimme der Zivilgesellschaft zu sein und von den Säkularen die Rolle der BeschützerInnen der Demokratie übernommen zu haben. Der Anspruch, liberale Prinzipien der Meinungsfreiheit in das nationale Narrativ der Türkei einzubinden, wird jedoch durch eine Geschlechterpolitik getrübt, die unserer Auffassung nach die Elemente des Ausschlusses des neuerdings dominierenden proreligiösen nationalen Narrativs deutlich werden lässt. Tatsächlich lässt sich die Reaktion der AKP auf die Gezi-Proteste einschließlich des Demokratisierungspakets

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als eine Anleihe bei der unverblümten Anwendung der Gesetzesmacht verstehen, wie man sie von SäkularistInnen kennt. Abschließend analysieren wir, wie sich in der Zivilgesellschaft aktive, religiöse Türkinnen auf diesem Terrain bewegen. So treffen Kopftuch tragende, offen religiöse Frauen auf nur wenig Unterstützung durch säkulare und religiöse Akteur­ Innen, wenn sie versuchen, auf die entsprechende Ungleichbehandlung der Geschlechter hinzuweisen. Bei ihren Versuchen, das nationale Narrativ umzudeuten, kritisieren diese Frauen sowohl die säkulare Republik als auch religiöse Männer in der Türkei dafür, dass sie Frauen mit Kopftuch in ihren politischen Kämpfen strategisch instrumentalisieren, während ihnen der volle Zugang zum öffentlichen Leben vorenthalten bleibt (obschon aus sehr unterschiedlichen Gründen). Letztlich sprechen sich diese Frauen für eine stärkere Inklusion in Politik und Gesellschaft der Türkei aus. Während der Gezi-Proteste gegen die Regierung im Jahr 2013 sprachen sich viele Gruppierungen, einschließlich Kopftuch tragender Frauen, für mehr Inklusion und Diversität aus. Mit der am 30. September 2013 erfolgten Aufhebung des Kopftuchverbots zeigte die AKP-Regierung, dass sie der Inklusion Kopftuch tragender Frauen in die öffentliche Sphäre verpflichtet ist. Doch wenngleich das Demokratisierungspaket einige Rechte der kurdischen Minderheit anerkannte, weist die politische Agenda der AKP gegenüber anderen diskriminierten Gruppen in der Türkei (etwa den AlevitInnen, der griechisch-orthodoxen Gemeinde und den ArmenierInnen) keine vergleichbare Sensibilität auf. Die Aufhebung des Kopftuchverbots stellt somit eine Fortsetzung des religiösen türkisch-nationalen Narrativs dar, das die nationale Zugehörigkeit durch den Islam und den Säkularismus definiert.

D as N arr ativ der nationalen Z ugehörigkeit in der T ürkei : S äkul arismus , D emokr atie und I sl am Der säkulare türkische Staat entstand aus der Asche des Osmanischen Reiches. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begründete eine als Jungtürken (Jeunes Turcs) bekannte neue Generation bürokratischer und militärischer Eliten eine politische und intellektuelle Bewegung, die das religiöse Fundament der Osmanischen Herrschaft 8 in Frage stellte. Angestrebt wurde ein Regierungssystem, das auf säkularen Prinzipien und nationalistischen Vorstellungen beruhte. Wie schon der Name der Gruppierung

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deutlich macht, bezogen sie ihre Inspiration aus dem französischen Nationalismus und ebenfalls aus der französischen Kultur und Literatur. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Jahr 1917 und einem vier Jahre dauernden Unabhängigkeitskrieg dienten diese Ideen des Nationalismus, des Säkularismus und der Modernisierung Mustafa Kemal Atatürk als Inspiration, als die türkische Republik 1923 neu gegründet wurde. Die Vorstellungen der Jeunes Turcs waren eine politische Reflexion der Position der Türkei als Brücke und als Bruch zwischen Europa und Asien. In den frühen Jahren der Republik wendete man sich staatlicherseits in den Politik- und Regierungsstrategien von Asien ab und zu Europa hin. Analog zur Säkularisierung während der Ausbildung der Nationalstaaten in Europa schufen Atatürk und seine Anhänger eine neue Form des Türkentums, das eher auf einer ethnisch-nationalen als auf einer islamischen Identität beruhte, die mit dem Osmanischen Reich assoziiert wurde (Karpat 2001, 353). Der türkische Säkularismus reflektiert auch das französische Prinzip der Laïcité und verfolgt damit das Ziel strikter staatlicher Neutralität im öffentlichen Raum. Ahmet Kuru bezeichnet dies als »aktiven Säkularismus« (Kuru 2009). Anders als in Frankreich besitzt der türkische Staat durch seine Institutionen jedoch die Kontrolle über religiöse Belange, etwa in Form des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı), das 1924 nach Abschaffung des Kalifats gegründet wurde. Die türkischen Eliten waren der Meinung, dass der Säkularismus notwendig sei für ihr Projekt der Nationalstaatlichkeit, von dem sie jedoch glaubten, es sei fragil und einer ständigen Bedrohung durch die religiöse Öffentlichkeit ausgesetzt. Deswegen wurden mit einem ab 1925 gültigen Gesetz alle proreligiösen politischen Parteien und alle vor der Republik bestehenden religiösen Institutionen verboten. Ersetzt wurden sie durch das neu gegründete Präsidium für religiöse Angelegenheiten, um mithilfe einer einzigen und staatlich kontrollierten Institution alle islamischen Belange in der Türkei zu regeln. Entsprechend gründete die Regierung 1924 die İmam-Hatip-Schulen9 für die Ausbildung von Imamen, die in Moscheen arbeiten sollten. Durch diese Institutionen sicherte sich der Staat das Machtmonopol in Fragen des Islam. Im Jahre 1937 benannte die türkische Führungsschicht sechs grundlegende Prinzipien des kemalistischen Staates und verknüpfte den Säkularismus mit Etatismus, Populismus, Republikanismus, Revolutionismus

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und Nationalismus.10 Diese Prinzipien spiegelten die Werte einer intellektuellen urbanen Elite wider, aber nicht unbedingt die der breiteren Öffentlichkeit. Die der türkischen Gesellschaft von oben auferlegten neuen sozialen Regeln verschärften die Klassenunterschiede und die Dichotomie zwischen Stadt und Land. Sie unterstützten die Etablierung der Herrschaft der Elite über jene, die als arme, religiöse BäuerInnen aus Anatolien wahrgenommen wurden (taşralı). So stellten sich die Gründer des Projektes der türkischen Republik von Anfang an gegen den Ausdruck von Religiosität.11 Indem sie damit Bevölkerungsteile, die nicht zur urbanen, intellektuellen herrschenden Klasse gehörten, ausschlossen und zum Verstummen brachten, führte diese Politik zu Widersprüchen mit dem von den Prosäkularen für sich beanspruchten Engagement für die Demokratie. Die strikte staatliche Kontrolle der Religion wurde mit dem Ende der Einparteienherrschaft im Jahr 1946 etwas gelockert. In den frühen Jahren der demokratischen Parteipolitik kam es in der Türkei im politischen Bereich zu einer Wiederbelebung religiöser Werte. Die 1950 an die Macht gekommene, rechtsgerichtete Demokratische Partei kritisierte die säkular herrschende Elite und schien in der Bevölkerung zunehmend Unterstützung von ReligionsbefürworterInnen zu erhalten, besonders aus ländlichen Regionen. Seither stellt die in Folge der Demokratisierung des politischen Feldes entstandene Spannung zwischen Säkularismus und Religion ein konstitutives Element populistischer Parteipolitik in der Türkei dar, das meist von konservativ-rechten Parteien verwendet wird (zum Beispiel von der Adalet Partisi, Gerechtigkeitspartei). Diese Spannungen verschärften sich in den 1970ern nach der Gründung der ersten Partei durch religiöse Gruppen, der Nationalen Ordnungspartei (Millî Nizam Partisi) im Jahr 1970. Schon nach einem Jahr existierte die Nationale Ordnungspartei wegen Verstoßes gegen das Verfassungsgebot des Säkularismus nicht mehr, aus dem gleichen Grund wurden die Nachfolgeparteien Nationale Heilspartei (Millî Selamet Partisi, 1972–1980), die Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, 1983–1998) und schließlich die Tugendpartei (Fazilet Partisi, 1998–2001) verboten. Obwohl keine dieser Parteien je eine Mehrheit bekam, bedienten sie sich der Spannungen zwischen Säkularen und Religiösen im nationalen Narrativ der Türkei und etablierten das Thema der Religion in der türkischen Politik, indem sie sich als Fürsprecher derer positionierten, die durch die antireligiösen Einstellungen der herrschenden Eliten entmachtet worden waren.

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Obwohl die religiösen Parteien durch demokratische Wahlen in der türkischen Politik Fuß fassen konnten, führte ihre Anwesenheit in diesem Bereich auch zu Interventionen des türkischen Militärs, das als Beschützer der säkularen Herrschaft auftrat. Die Mehrparteienpolitik in der Türkei wurde viermal durch Militärputsche unterbrochen, jedes Mal mit dem Ziel, den Pfad der türkischen Demokratie zu »korrigieren«. Als wichtigster und mächtigster Hüter des säkularen türkischen Staats wurde das Militär nicht nur als Schutz für die territoriale Einheit des Landes wahrgenommen, sondern aufgrund seiner starken Unterstützung des Säkularismus auch als Hüter des inneren Friedens. So wurde das Militär zum Wächter des Säkularismus, der proreligiösen Politikern die volle Partizipation an der türkischen Politik verwehrte. Dadurch hatte das Militär einen langfristigen Einfluss auf die Bedeutung und die Praktiken des Säkularismus und der Demokratie: Während des drei Jahre währenden Militärputsches von 1980 wurden praktisch alle zivilgesellschaftlichen Initiativen ausgesetzt und 1982 eine Militärverfassung eingeführt, die noch immer gilt.12 Im Bemühen, den Islam staatlich zu kontrollieren, wurde der vormals als Wahlfach bestehende Religionsunterricht auf Grundlage dieser Verfassung zum Pflichtfach gemacht. Und doch scheute sich auch das Militär nicht, den Islam zur Unterstützung der eigenen Aktivitäten einzusetzen. Während seiner Machtübernahme im Jahr 1980 versuchte das Militär den durch die strikte Interpretation des Säkularismus entstandenen politischen Konflikt dadurch aufzulösen, dass Islam und Türkentum als vereinigte Identitäten dargestellt wurden. Das barg das Potenzial, den Konflikt zwischen Linken und Rechten der späten 1970er Jahre zu beenden und das Überleben des Staates zu garantieren. Dieser Ansatz, später als »türkisch-islamische Synthese« bezeichnet, kennzeichnete den Beginn einer Identitätspolitik, die das nationale Narrativ in den folgenden Jahrzehnten dominieren sollte. Die islamistische Ideologie gewann an Popularität, auch der kurdische Nationalismus trat als politische Bewegung wieder in Erscheinung und unterminierte auch die vorherrschenden Definitionen von Demokratie in der Türkei. Seitdem spaltete sich die Gesellschaft zunehmend in Türkisch und Kurdisch sowie in Säkulare und IslamistInnen auf. Das Militär zeigte jedoch nie volle Unterstützung für religiöse politische AkteurInnen oder die Neuinterpretation des Säkularismus, die einen religiösen Einfluss auf politische Aktivitäten ermöglichte. Im Februar 1997 fand etwas statt, das häufig als »postmoderner Putsch« be-

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zeichnet wurde. Anders als bei anderen Militärputschen in der Türkei war diese Intervention weder abrupt, noch umfasste sie eine allgemeine Einschränkung des Alltagslebens der türkischen StaatsbürgerInnen. Sie war vielmehr ein sich langsam entwickelnder Prozess der Überwachung, Vernehmung und Inhaftierung, der auf zentrale Akteure islamistischer Politik abzielte. Zum Zeitpunkt des Putsches stand Präsident Necmettin Erbakan einer Koalitionsregierung vor und führte die Islamistische Wohlfahrtspartei an, zu diesem Zeitpunkt mit 21 Prozent Stimmanteil stärkste Fraktion im Parlament. Diese Bedrohung der Vormachtstellung der Säkularen wurde dem Militär offenbar zu viel; es zwang Erbakan zum Rücktritt und seine Partei wurde 1998 vom Verfassungsgericht verboten. Das Militär veranlasste anschließend umfassende Ermittlungs-, Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen gegen religiöse politische AkteurInnen und jene Liberale, die sie unterstützten. Viele Menschen, die als ReligionsbefürworterInnen galten, verloren ihre Anstellung bei militärischen und öffentlichen Behörden oder wurden mit Unterstützung des Militärs behördlich beobachtet. Der postmoderne Putsch ließ das Pendel der politischen Macht wieder zugunsten der säkularen politischen AkteurInnen zurückschwingen. Die vor dem Putsch erfolgten, religiös beeinflussten Veränderungen des nationalen Narrativs erwiesen sich jedoch als enorm widerstandfähig. So konnte dann die AKP nur fünf Jahre nach dem postmodernen Putsch eine Stimmenmehrheit von 34 Prozent erzielen und die Führung übernehmen (Hale und Özbudun 2009). Die Wurzeln der AKP liegen in der religiös-politischen Bewegung namens Millî Görüş, was wörtlich übersetzt »Nationale Vision« bedeutet. Millî Görüş steht seit der Gründung der Nationalen Ordnungspartei im Jahr 1970 für die Ideologie religiöser Politik in der Türkei. Nachdem der Fazilet Partisi (Tugendpartei) die politische Betätigung durch das Verfassungsgericht im Jahr 2001 verboten worden war, spaltete sich die Gemeinschaft der Millî Görüş in zwei Lager  – Konservative und Erneuerer (yenilikçiler). Die Konservativen unterstützten Necmettin Erbakan, den geistigen Führer von Millî Görüş. Sie gründeten 2001 die Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit). Die Erneuerer unterstützten Erdoğan, der mit seiner Anhängerschaft innerhalb der Millî Görüş-Bewegung zur neuen Generation gehörte (Şen 2004). Die Führung der AKP präsentierte sich als erneuernde Kraft in der türkischen Politik der ReligionsbefürworterInnen und begann, Begriffe wie Freiheit und Gleichheit in ihren politischen Kampagnen zu ver-

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wenden. Sie adaptierte auch eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die im Vergleich zur politischen Tradition der früheren Millî Görüş-Parteien neu war. Die AKP erhielt bei den Parlamentswahlen 2007 (46,5 Prozent) und 2011 (49,8 Prozent) wieder die Mehrheit und wurde damit zu einer der am längsten regierenden Parteien der türkischen Republik. Einige SäkularistInnen erleben die Religiosität der AKP als Bedrohung; sie befürchten, dass eine religiös beeinflusste Politik zu Vorschriften führt, die den Alltag der Menschen bestimmen, und dass über den Umweg von Politik und Gesetzgebung ein islamischer Lebensstil verordnet werden könne (Azak 2010). Tatsächlich wurden die Versuche der AKP, das Kopftuchverbot an staatlichen Institutionen im Jahr 2008 durch eine Verfassungsänderung aufzuheben, von vielen SäkularistInnen stark kritisiert. Weil dies als Bedrohung für die säkularen Prinzipien des türkischen Staats wahrgenommen wurde, musste sich die AKP wegen des Versuchs, das Verbot aufzuheben, einem Verfahren vor dem Verfassungsgericht stellen. Die Politik der AKP basiert auf dem Pendeln zwischen Religiosität und demokratischen Botschaften. Die Führung der AKP nennt sich »konservative Demokraten« und beseitigt so die »muslimische« oder »religiöse« Dimension der politischen Identität der Partei. Demgegenüber bezeichnet der Professor für Anthropologie Ahmet Yükleyen, der den Einfluss der Religion auf die türkische Politik untersucht, die ProtagonistInnen der AKP als »muslimische DemokratInnen«, womit er den Demokratisierungsprozess innerhalb der religiösen politischen Elite beschreibt und gleichzeitig den religiösen Einfluss in der Partei anerkennt (persönliche Korrespondenz mit Ahmet Yükleyen 2011). Damit ähneln sie den ChristdemokratInnen, die in einer Reihe europäischer Staaten etablierte Parteien bilden und unter Beweis stellen, dass selbst in säkularen Staaten Religiosität und Demokratie in der politischen Sphäre koexistieren können. Aus dieser Perspektive betrachtet, handelt es sich bei der AKP um eine religiöse, konservative und demokratische politische Partei, was auch in ihrer Definition von Säkularismus und Demokratie deutlich wird. Während des Wahlkampfes 2011 unterstrich die AKP noch einmal die Dominanz ihrer Interpretation von Säkularismus und Demokratie im nationalen Narrativ. Mit dem Wahlkampfslogan »Ein Traum, der wahr wurde« (Hayaldi gerçek oldu) bezog sich die Partei auf die revolutionäre »I have a dream«-Rede von Martin Luther King Jr., die gleichzeitig ein Appell für religiöse Inspiration und für Demokratie für alle war.

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PolitikerInnen der AKP interpretierten die Bedeutung von Säkularismus und Demokratie neu und vertraten die Auffassung, dass Säkularismus, Demokratie und Islam miteinander vereinbar sind (Yavuz 2009). Dieser Ansatz unterschied sich maßgeblich von dem säkularer politischer AkteurInnen, die weiterhin das auf den Prinzipien des Kemalismus basierende säkulare nationale Narrativ als grundlegend für die Republik bewarben. Darüber hinaus kam schon zu Beginn der Regierungszeit der AKP die Frage auf, ob ein religiöses Narrativ parallel zu einem säkularen bestehen kann oder ob es dieses verdrängt. Viele prosäkulare politische AkteurInnen schienen ihre Glaubwürdigkeit wie auch ihr Publikum verloren zu haben. In der türkischen Gesellschaft wurden die säkularen Interpretationen des Türkentums zunehmend als begrenzt, polemisch und überholt wahrgenommen. Als die AKP (2007) zum zweiten Mal in die Regierung gewählt wurde, wurde deutlich, dass die säkulare Politik nicht mehr in der Lage war, die politische Agenda zu bestimmen. Zur Zeit der Machtübernahme durch die AKP hatten viele türkische BürgerInnen akzeptiert, dass die Türkei eine im Alltag segregierte Gesellschaft war, deren Grenzen zwischen Religiösen und Säkularen sowie zwischen Stadt und Land verliefen, und die von einer säkularen Elite regiert wurde. Aber die PolitikerInnen der AKP konstruierten ein neues nationales Narrativ, das die AKP als Retterin der Türkei darstellte. Mithilfe der neuen Rahmung der Bedeutung von Säkularismus und Demokratie (und gestützt durch die wirtschaftlichen Erfolge der Türkei) wurde die Türkei in diesem nationalen Narrativ als ein neues Land mit Gemeinschaftssinn und Solidarität porträtiert, das religiösen und nicht religiösen BürgerInnen gleichermaßen Raum bietet. Während der gesamten Regierungszeit der AKP äußerten einige Säkulare Befürchtungen, dass das nationale Narrativ der AKP  – das die Türkei als Gemeinschaft imaginiert, die auf religiöser Solidarität gründet  –, sich auf das Alltagsleben auswirken könnte. Sie argumentierten, dass Menschen dadurch unter Druck gesetzt würden, ihre säkularen Ansichten aufzugeben, um von den religiös beeinflussten Entwicklungen in der türkischen Gesellschaft profitieren zu können. Säkular eingestellte JournalistInnen und AutorInnen proklamierten, dass sich die Dynamik der türkischen Gesellschaft umgekehrt hätte: Religiöse Menschen setzten nun Säkulare unter Druck, sich den religiösen Regeln anzupassen, wenn sie ihren sozialen Status behalten wollten.

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Die Realität hatte jedoch mehr Facetten als die Auseinandersetzung um religiöse und säkulare Macht, was auch anhand des Aufstiegs der neuen demokratischen Bewegungen gegen eine zunehmend autoritäre Regierung deutlich wird. Die Gezi-Proteste, die Menschen in der Türkei zusammenbrachten, um gegen die Regierungspolitik zu demonstrieren, zeigen beispielhaft eine allgemeine Unzufriedenheit mit neoliberaler Politik, Gentrifizierung und dem Versuch, unterschiedliche Lebensstile zu unterbinden, zum Beispiel durch Restriktionen beim Alkoholkonsum. Wir wenden uns nun der Untersuchung der Partizipation Kopftuch tragender Frauen unter solchen zivilgesellschaftlichen Bewegungen zu, sowie der Bedeutung dieser Partizipation bei der Entwicklung des nationalen Narrativs der Türkei. Zunächst skizzieren wir die Geschichte des Kopftuchverbots an türkischen Universitäten zwischen 1960 und 2001, um zu illustrieren, welche Bedeutung die Präsenz dieser Frauen bei der Entwicklung des nationalen Narrativs hatte. Anschließend analysieren wir die Kopftuchdebatten nach dem Aufstieg der AKP an die politische Macht, um die fortdauernde Transformation des nationalen Narrativs der Türkei zu untersuchen.

E ine kurze G eschichte des K opf tuchverbots an türkischen U niversitäten Anhand der Debatten über das Kopftuch in der Türkei kann auch der Wandel des nationalen Narrativs rekonstruiert und analysiert werden. Bekleidungsvorschriften spielen seit der Gründung der türkischen Republik eine wichtige Rolle, die Hut- und Bekleidungsgesetze (şapka ve kıyafet devrimi) wurden 1925 und 1934 durch Atatürk eingebracht. Diese Reformen stellten ein Kernelement für die Etablierung einer säkularen öffentlichen Sphäre in der Türkei dar, wobei westliche Kleidung zur visuellen Manifestation des nationalen Narrativs der Zugehörigkeit wurde. Während der 1960er Jahre wurden bedeckte Frauen prinzipiell von Universitäten verwiesen, weil sie die allgemeinen Bekleidungsvorschriften nicht befolgten, durch die seit Beginn der Republik religiöse Kleidung in der Türkei verboten war.13 Bei den Beschränkungen für Kopftuch tragende Frauen an Universitäten nutzten jedoch Verwaltungsangestellte an Universitäten und ProfessorInnen auch einen gewissen Spielraum aus. So konnte beispielsweise im Jahr 1964 eine Medizinstudentin mit Kopftuch an Vorlesungen

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und Prüfungen an der Universität von Istanbul teilnehmen und ihr Studium als Spitzenabsolventin beenden. Bei der Abschlussfeier wurde ihr jedoch nicht gestattet, die normalerweise dem oder der Jahrgangsbesten vorbehaltene Rede zu halten, damit ihre deutlich sichtbare, nicht säkulare Zugehörigkeit zur Türkei nicht öffentlich unterstützt würde. Nach dem Militärputsch von 1980 erließ General Kenan Evren ein vollständiges Verbot von Kopftüchern an Universitäten; im Jahr 1982 folgte ein Kopftuchverbot für Mitarbeiterinnen der Regierung. Darüber hinaus wurde das Kopftuchverbot seit 1981 nach Ermessen auch an Oberschulen14 und nach 1982 auch in der Verwaltung durchgesetzt (Cindoğlu 2011). In den Jahren nach Erlass des Verbotes wurde das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit sehr ambivalent gesehen. In einer fortdauernden Auseinandersetzung zwischen religiösen Studentinnen, die sich auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung beriefen, und dem Militär, das sich als Hüter des strengen türkischen Säkularismus verstand, wurde das Verbot im Laufe der 1980er und 1990er Jahre immer wieder aufgehoben und neu erlassen. Der von der Militärregierung 1980 gegründete Rat für höhere Bildung (Yüksek Ögretim Kurumu) erließ 1982 das Verbot von Kopftüchern an Universitäten, hob dieses Verbot jedoch 1984 wieder auf. Studentinnen, die aus religiösen Gründen das Kopftuch trugen, glaubten, die Aufhebung ginge auf die zunehmenden Proteste der Universitätsstudentinnen zurück. 1989 wurde das Verbot nach einer Beschwerde von Präsident Evren, dem General, der hinter dem Militärputsch von 1980 stand, durch das Verfassungsgericht wieder in Kraft gesetzt (Cindoğlu 2011, 33–34). Während der 1980er Jahre erweiterte der Rat für höhere Bildung die Regelung um einige Klauseln (1982, 1987 und 1988), durch die das Tragen von Kopftüchern an Universitäten zunächst erleichtert wurde. Nachdem das Verfassungsgericht dies als Verstoß gegen den Säkularismus wertete, wurde dieser Spielraum jedoch wieder eingeengt (Çağatay 2009). 1990 wurde der Sachverhalt (vorerst) abschließend rechtlich geregelt, indem der Kodex des Rats für höhere Bildung um Klausel 17 erweitert wurde. In dieser Klausel heißt es: »An Institutionen höherer Bildung besteht Freiheit in der Wahl der Kleidung, sofern kein geltendes Recht gebrochen wird« (Çağatay 2009, 5). Während dieser Zeit begann die Öffentlichkeit zwischen başörtüsü als neutralem Ausdruck der Religion und dem türban als Ausdruck religionsbefürwortender Politik zu unterscheiden. Der Präsident des Rats für höhere Bildung, Ihsan Doğramacı, spielte unter Bezug auf das säkulare

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nationale Narrativ eine besondere Rolle bei der Differenzierung zwischen beiden Formen, indem er bekundete, das başörtüsü sei »moderner« und deshalb an Universitäten eher »akzeptabel« (Çağatay 2009). 1992 erklärten säkular ausgerichtete staatliche Stellen jedoch, dass »sowohl başörtüsü als auch türban antithetisch zur laiklik (Säkularismus) seien« (KavakçıIslam 2010, 58). Anders ausgedrückt ist das Kopftuch, gleichgültig in welcher Ausprägung, gemäß des säkularen nationalen Narrativs eine Gefahr für den Säkularismus und sollte folglich nicht an staatlichen Institutionen, vorzugsweise aber gar nicht in der Öffentlichkeit getragen werden. Das führte zu einer rechtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Parlament unter Führung des damaligen Premierministers Turgut Özal15, dem Vorsitzenden der konservativen Mutterlandspartei (Anavatan Partisi), und dem Staatsoberhaupt, Präsident Evren. Premierminister Özal setzte sich für die Erlaubnis des Kopftuchs an Universitäten ein und sah das als Frage der Menschenrechte16 (ein Argument, das später von ReligionsbefürworterInnen aufgegriffen wurde), während sich Präsident Evren gegen das Kopftuch an höheren Bildungsstätten aussprach. Von 1991 bis 1998 war das Kopftuch an Universitäten nicht verboten. Diese verbotsfreie Zeit geht hauptsächlich auf die politische Strategie konservativer Volksparteien (wie der Mutterlandspartei) zurück, die auf Stimmen religiöser WählerInnen hofften. Nach dem Wahlsieg Erbakans und der Einsetzung einer islamistischen Regierung unter seiner Führung intervenierte jedoch das türkische Militär und setzte Premierminister Erbakan durch den sogenannten postmodernen Putsch am 28. Februar 1997 ab, um allen islamistischen Bewegungen ein Ende zu bereiten (Çağatay 2009). Das Kopftuchverbot wurde ebenfalls wieder in Kraft gesetzt, was 1998 auch von den RichterInnen des türkischen Verfassungsgerichts unterstützt wurde, indem sie verfügten, dass »in einem säkularen Staat die Religion nicht als Referenzrahmen dienen kann« (Kavakçı-Islam 2010, 58). Der Rat für höhere Bildung erließ entsprechend ein Verbot an allen Universitäten. Plötzlich sahen sich Studentinnen aufgrund des Kopftuchverbots außer Stande, einen Abschluss zu machen und protestierten massenhaft vor den Universitäten. Unter diesen Studentinnen bekam Leyla Şahin nationale wie auch internationale mediale Aufmerksamkeit, als sie 1998 ihren Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) brachte (Elver 2012).17 Ihr Fall spielte eine wichtige Rolle bei der Konstruktion des religiös ausgerichteten nationalen Narrativs wegen der Aussage, das Kopf-

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tuchverbot stelle eine Diskriminierung religiöser Studentinnen und eine Verletzung ihrer Religionsfreiheit dar. 2004 entschied der EGMR gegen Leyla Şahin mit der Begründung, Universitäten in der Türkei seien säkular und das Kopftuch als religiöses Symbol bedrohe die öffentliche Ordnung. Darüber hinaus stellten die Richter fest: »In einem Land wie der Türkei, in dem eine große Bevölkerungsmehrheit einer bestimmten Religion angehört, können an Universitäten ergriffene Maßnahmen, die der Ausübung von Druck durch bestimmte fundamentalistische religiöse Bewegungen gegenüber jenen vorbeugen, die dieser Religion nicht angehören […], nach Artikel 9(2) der Konvention [gemeint ist Menschenrechtskonvention über die Religionsfreiheit, GY] gerechtfertigt sein. In diesem Kontext dürfen säkulare Universitäten die Manifestation der Rechte und Symbole besagter Religion dadurch regeln, dass Ort, sowie Art und Weise der Manifestation eingeschränkt werden zum Zwecke der Aufrechterhaltung des friedlichen Miteinanders von Studierenden unterschiedlicher Religion und somit zum Zwecke des Schutzes der öffentlichen Ordnung, wie auch des Glaubens Dritter.« (EGMR, Sektion Vier, Der Fall Leyla Sahin gg. Türkei, Antragsnr. 44774/98, Urteil, Straßburg, Absatz 99)

Diese Entscheidung entspricht der Tendenz des Gerichts, seinen Ermessensspielraum zur Intervention in staatliche Angelegenheiten entsprechend der »margin of appreciation«-Doktrin eng auszulegen (Nieuwenhuis 2005; Koenig 2009). Nach der Bekanntgabe der endgültigen Entscheidung durch die Große Kammer des EGMR sagte Premierminister Erdoğan: »Das Gericht hat in dieser Sache nichts zu sagen, wir müssen die Ulama [muslimische Gelehrte] befragen« (Recep Tayyip Erdoğan zitiert nach Hürriyet, 16. November 2005), was praktisch bedeutet, dass religiöse Autoritäten in der Türkei wichtiger sind als europäische RichterInnen. Implizit verurteilte er damit das säkular und westlich ausgerichtete nationale Narrativ, durch das Recht und Zivilisation der westlichen Welt gegenüber dem islamischen Recht glorifiziert wird. In dieser Debatte argumentierten bekannte internationale PolitikerInnen, wie zum Beispiel die niederländische Abgeordnete Emine Bozkurt, dass der Fall von Leyla Şahin deutlich mache, dass die Kopftuchkontroverse sich nicht von außen lösen ließe, indem man sich an europäische Institutionen wende, sondern dass dies eine interne Angelegenheit darstelle (Zaman, 7. Februar 2008). Die AKP konnte sich mithilfe der Kopftuchfrage politisch etablieren und erklärte diese zur inneren Angelegenheit. Während die AKP zuneh-

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mend an Macht gewann, wurden viele Aspekte von Säkularismus und Religion auf Grundlage der Frage diskutiert, ob Kopftücher an Universitäten weiterhin verboten sein sollten. In Wahlkampfreden vor den Wahlen im November 2002 erklärte die AKP die Lösung der Kopftuchfrage zur Priorität.18 Nach der Niederlage Şahins vor dem Europäischen Gericht beschloss die Regierung der AKP, die Kopftuchfrage durch eine rechtliche Regelung im eigenen Land zu lösen. Mit diesem Ziel regte die AKP im Jahr 2008 eine Verfassungsänderung an, die jedoch nicht die nötige Zustimmung erhielt. Geplant war eine Aufhebung des Kopftuchverbots im Bereich der höheren Bildung durch Ergänzungsklauseln zu zwei Artikeln der Verfassung (Art. 42 und 10), die Chancengleichheit und die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen sicherstellen sollen. In Artikel 10 heißt es: »Männer und Frauen besitzen die gleichen Rechte. Der Staat ist verantwortlich für die praktische Umsetzung dieser Gleichberechtigung.« Der Zusatz zu Artikel 10 sollte folgendermaßen lauten: »Staatliche Organe und die Verwaltung müssen gemäß des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz agieren«, wobei »bei der Inanspruchnahme jeder Art öffentlicher Dienstleistungen« ergänzt wurde. Artikel 42 besagt, dass niemandem das Recht auf Bildung vorenthalten werden darf; er sollte auf Vorschlag der AKP um die folgende Klausel ergänzt werden: »Niemandem soll das Recht auf höhere Bildung aus gleich welchem Grund vorenthalten werden, sofern dieser nicht gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist gesetzlich geregelt.« Durch diese Klausel sollte garantiert werden, dass die Aufhebung des Verbots auf den Bereich der höheren Bildung beschränkt bleibt.19 Diese Vorschläge zur Verfassungsänderung führten in den Großstädten der Türkei zu massiven Straßenprotesten, sowohl für, wie auch gegen die Initiative. Letztlich schaffte es die AKP nicht, die säkulare Justiz von den Ergänzungen zu überzeugen, und die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zeigten wohl auch, wie zerrissen die türkische Gesellschaft in ihrem Verständnis der Stellung der Religion im nationalen Narrativ der Zugehörigkeit weiterhin war. Der Präsident der parlamentarischen Verfassungskommission, Burhan Kuzu, einer der bedeutendsten Professoren für Verfassungsrecht in der Türkei, legte in einer Rede überzeugend dar, weshalb die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen nicht gegen die ersten drei unveränderlichen Artikel der Verfassung verstießen.20 Darüber hinaus wäre die türkische Verfassung durch die Ergänzungen an die Konvention

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des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW), sowie an andere internationale Menschenrechtskonventionen angepasst worden. In diesen Konventionen wird das Recht auf Bildung als ein grundlegendes Menschenrecht anerkannt und die Ergänzungsvorschläge hätten der Einhaltung dieser Konventionen gedient. Die Änderungsvorschläge wurden am 6. und 9. Februar 2008, kurz vor Beginn des zweiten Semesters an türkischen Universitäten, zunächst vom Parlament gebilligt. Viele Universitäten hoben das Kopftuchverbot auf, ohne die offizielle Entscheidung des Verfassungsgerichts abzuwarten. Andere Universitäten und Fakultäten ließen Studentinnen mit Kopftuch jedoch weiterhin nicht zu. Es gab sogar Berichte in türkischen Zeitungen über Universitäten und einzelne Fakultäten, die Studentinnen mit Kopftuch nach wie vor nicht auf ihrem Gelände duldeten (Radikal, 5. Oktober 2010; Hürriyet, 25. Februar 2008). Am 6. März 2008 reichte dann die oppositionelle Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, im Folgenden CHP) eine offizielle Beschwerde beim Verfassungsgericht ein, da eine Aufhebung des Kopftuchverbots gegen den Säkularismus verstoße. Am 5. Juni 2008 erklärte das Verfassungsgericht die Ergänzungen für nichtig, ganz im Sinne des prosäkularen nationalen Narrativs, dem zufolge solche Ergänzungen den Säkularismus oder Artikel 2 der Verfassung untergraben würden. Darüber hinaus drohte das Verfassungsgericht der AKP am 14. März 2008 damit, sie zu verbieten und ihren AmtsträgerInnen jede politische Betätigung zu untersagen. Gegenwärtig hat der Rat für höhere Bildung das Kopftuchverbot inoffiziell aufgehoben. Im Jahr 2010 erließ Yusuf Ziya Özcan, Professor für Soziologie an der Technischen Universität des Nahen Ostens und ehemaliger Vorsitzender des Rats für höhere Bildung, eine neue Regelung, der zufolge nicht zulässig ist, dass religiöse StudentInnen des Unterrichts verwiesen werden. Auch Zafer Üskül, Professor für Verfassungsrecht und früherer Vorsitzender der Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments, äußerte sich ähnlich, als er sagte, dass UniversitätsprofessorInnen Studentinnen mit Kopftuch nicht überwachen und kontrollieren sollten (Zaman, 7. Oktober 2010). Aufgrund dieser neuen Regelungen des Rats für höhere Bildung und durch die Unterstützung bekannter PolitikerInnen können Studentinnen mit Kopftuch nunmehr Universitäten besuchen und tun dies auch, obschon sie an den Zugängen zur Universität oder in den Vorlesungsräumen manchmal noch immer auf Schwierigkeiten stoßen (siehe auch Seggie 2011).

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Tr ansformationen im nationalen N arr ativ : D ie türkischen M edien Um zu rekonstruieren, was anhand der Kopftuchdebatten über die Transformationen im nationalen Narrativ der Türkei erkennbar wird, haben wir entsprechende Berichte aus drei überregionalen Tageszeitungen (Hürriyet, Cumhuriyet und Zaman) für den Zeitraum 2002 bis 2011 analysiert (und die Analyse um ausgewählte Ereignisse bis 2013 ergänzt). Die Eigentumsverhältnisse dieser Zeitungen sowie die Zusammensetzung ihrer LeserInnenschaft spiegeln die unterschiedlichen Arten, auf die das türkische nationale Narrativ der Zugehörigkeit artikuliert wird. Das rührt teilweise daher, dass es enge Verbindungen zwischen einzelnen politischen AkteurInnen, den Medien und dem angesprochenen Publikum gibt. Zusätzlich haben wir Interviews mit einigen ausgewählten und für die Debatte bedeutenden AkteurInnen der Zivilgesellschaft geführt, einschließlich politisch aktiver, Kopftuch tragender Frauen. Aus unserer Analyse geht hervor, dass die säkularen und die religiösen Ansätze des nationalen Narrativs nicht zwei parallel koexistierende Versionen darstellen, sondern zunehmend als Widerstreit sich ausschließender nationaler Narrative erscheinen, die sich auf alternative Interpretationen der türkischen Geschichte und Politik stützen. Unsere Interviews verdeutlichen einige der Spannungen zwischen diesen säkular oder religiös beeinflussten Darstellungen des nationalen Narrativs der Türkei. Unsere kurze Analyse der Proteste gegen die AKP im Jahr 2013, in denen Religiöse und Säkulare zusammenkamen, verweisen jedoch auf die Möglichkeit, dass aus diesen Protesten ein neues nationales Narrativ entstehen könnte.21 Zaman, die größte Zeitung des Landes, hat eine proreligiöse Ausrichtung. Die Zaman wird politisch von Fethullah Gülen unterstützt, einem mächtigen religiösen Akteur mit einem ausgedehnten globalen Netzwerk, der Gewalt im Namen der Religion verurteilt und den interreligiösen Dialog sowie die religiöse Bildung unterstützt (Turam 2007; Yavuz und Esposito 2003; Yükleyen und Yurdakul 2011). In den 1960ern begann Gülen eher als religiöse denn als politische Führungsfigur. Er entwickelte sich in der Folge zum Anführer einer sozio-religiösen Bewegung, die Bildungsstätten in der ganzen Welt errichtete, um die türkisch-islamische Bildung zu verbreiten (Yavuz 2013). Als Ergebnis dieser und anderer Bemühungen gewann Fethullah Gülen politischen Einfluss in der Türkei.

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Er spricht sich für die Geschlechtertrennung aus, besonders auch für das Tragen des Kopftuchs, was auch in der Zaman deutlich wird. Obwohl die Zaman in der Türkei seit 1986 erscheint, hatte sie keinen großen politischen Einfluss bis zu dem Wahlsieg der AKP, deren humanistische und konservative Religiosität von der Zaman unterstützt wird. Die Zaman ist an eine gebildete, urbane, religiöse LeserInnenschaft gerichtet, mit detaillierten Berichten über internationale Ereignisse, aber auch intellektuellen und akademischen Artikeln, die von anerkannten Gelehrten verfasst sind. Die Zaman erscheint in 15 Ländern, wird in vielen weiteren Ländern vertrieben und besitzt ein beachtliches Publikum in und außerhalb der Türkei; die tägliche Auflage beträgt ca. 800.000. Um sicherzustellen, dass wir die religiöse Perspektive in der Kopftuchdebatte voll erfassen, haben wir Kernbereiche der Berichterstattung und Leitartikel der Zaman mit dem Inhalt von zwei weiteren, kleineren proreligiösen Zeitungen verglichen (Vakit und Yeni Şafak). Zum besseren Verständnis des säkular ausgerichteten Narrativs haben wir Daten aus der säkularen Tageszeitung Hürriyet erhoben, die eine geschätzte Auflage von einer halben Million besitzt. Die Hürriyet stand in der Vergangenheit für die Stimme der traditionellen politischen Elite. Lange Zeit bestand das Logo der Hürriyet aus einer türkischen Flagge mit dem Profil Atatürks und der Aussage: »Die Türkei gehört den Türken«. Darüber hinaus ist die Hürriyet auch das publizistische Vermächtnis der Mediendynastie Simavi, Sedat Simavi gründete sie 1948. Die Hürriyet ist mit ihrer einfachen Sprache und großen farbigen Bildern tendenziell schon immer etwas populistischer als andere Zeitungen. Die Zeitung vertrat seit jeher liberale, säkulare und antireligiöse Positionen, was nach ihrem Erwerb durch die Doğan-Mediengruppe des Geschäftsmannes Aydın Doğan im Jahr 1994 noch deutlicher wurde. Die Doğan-Mediengruppe ist enorm einflussreich durch ihre vielen auflagenstarken Zeitungen und populären TV-Sender, wie etwa CNN Türk. Bis 2011 gehörte zur Doğan-Gruppe auch die Millîyet, eine etwas anspruchsvollere Zeitung, der wir uns zuwenden, um einige Berichte der Hürriyet zu ergänzen. Mit dem Aufstieg der AKP begann für die nationalistischen und prosäkularen Zeitungen Hürriyet und Millîyet der Wettbewerb mit der Zaman um die dominante Stellung in der Medienlandschaft. Ohne eine bestimmte politische Partei offen zu unterstützen, war die Hürriyet (wie auch die Millîyet) der Regierung gegenüber eindeutig kritisch eingestellt und repräsentierte abweichende Sichtweisen innerhalb einer säkular ausgerichteten

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Öffentlichkeit. Nach kürzlich stattgefundenen Verhandlungen zwischen der Doğan-Mediengruppe und der Regierung erscheint die kritische Haltung der Hürriyet gegenüber der Regierung etwas gedämpfter.22 Unter den drei von uns analysierten großen Zeitungen ist die Cumhuriyet vielleicht die umstrittenste. 1924 im Anschluss an die Schaffung der Republik gegründet, war die Cumhuriyet die führende Mitte-LinksZeitung während der Zeit des kalten Krieges. Seither hat sie sich zu einer Plattform für die vehementesten Prosäkularen, speziell für KemalistInnen, entwickelt. Auf ihren Seiten finden sich auch extrem antireligiöse und gegen die AKP gerichtete Darstellungen. Die Cumhuriyet hatte schon immer eine kleine Auflage (2010: ca. 50.000), indem sie sich an eine kleine Zahl von gebildeten, links orientierten LeserInnen richtet. Ihre Rolle in medialen Debatten ist aber trotzdem relevant, weil sie den Randbereich des öffentlichen Diskurses auf säkularer Seite abdeckt. Die Cumhuriyet stellte für mächtige Figuren der türkischen Politik und Gesellschaft schon immer eine Gefahr dar. In den 1980ern und 1990ern wurden einige ihrer Autoren ermordet. 1993 wurde der bekannte Cumhuriyet-Autor Uğur Mumcu, der sich mit islamischen Bewegungen in der Türkei beschäftigte, durch eine Autobombe getötet. Die Cumhuriyet, die stets die Spannungen aufzeigte, die hinsichtlich der Rolle der Religion in der türkischen Politik bestehen, wurde in den 1990ern aufgrund ihrer provokativen und antiislamischen Inhalte mit einem Vertriebsverbot belegt. So wurde beispielsweise die Übersetzung eines Auszugs aus den als antiislamisch geltenden Satanischen Versen von Salman Rushdie abgedruckt, was belegt, dass der Säkularismus der Cumhuriyet über das hinausging, was die damaligen säkularen Mächte als akzeptabel betrachteten. Die Cumhuriyet repräsentiert zudem die Grenzbereiche säkularer Argumentation und bewegt sich manchmal nah an der Diffamierung der aktuell herrschenden proreligiösen Regierung. Weiterhin haben wir fünf Personen interviewt. In Istanbul sprachen wir mit der Journalistin und Filmproduzentin Ayşe Böhürler. Sie steht für eine kritische Haltung in den Medien, obwohl sie sich für die AKP engagiert. Daneben haben wir auch Atilla Yayla interviewt, der als Professor für Politikwissenschaften an der Plato Universität lehrt, einer neu gegründeten Privatuniversität in Balat, Istanbul. Er bot uns die Gelegenheit, einen Einblick in Sichtweisen von jenen UnterstützerInnen der AKP zu gewinnen, die liberal sind. In Ankara trafen wir die kritische Journalistin und Autorin Hidayet Şefkatli Tuksal. Tuksal ist besonders bekannt für

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ihre kritische Sichtweise auf die Instrumentalisierung des Kopftuchs. Sie stellte uns auch die Başkent Frauenplattform vor, deren Vorsitzende Berrin Sönmez wir in Ankara interviewten. Sönmez leitete eine Gruppe von Frauen, die die Kampagne »Kein Kopftuch, keine Stimme« unterstützten. Durch diese Kampagne während der Parlamentswahl 2011 sollte die Anzahl von Frauen im Parlament, die Kopftuch tragen, erhöht werden. Zeynep Göknil Sanal vom Generaldirektorat zum Status der Frauen (das Teil des türkischen Familienministeriums ist) und ebenfalls mit der Başkent Frauenplattform verbunden, gab uns eine Einführung in die Geschichte der Kopftuchdebatte an türkischen Universitäten, die sich zu ihrer Studienzeit entfaltete. In diesen Interviews erhielten wir aus erster Hand Informationen von AkademikerInnen, AktivistInnen und JournalistInnen, die sich in der türkischen Kopftuchdebatte engagieren.

P rosäkul are A rgumente in der K opf tuchdebat te : H erstellung eines fr agilen nationalen N arr ativs Wie es schon unsere Überschrift nahelegt, verweisen säkulare Argumente zum Thema Kopftuch vornehmlich auf die zentrale Rolle des Säkularismus als Eckpfeiler des nationalen Narrativs der Türkei. In ihrer fast ausschließlichen Fokussierung auf diese Dimension erscheint die säkulare Darstellung türkischer Zugehörigkeit zunehmend verengt und wird im Ergebnis auch fragil, da hier die Befindlichkeit eines abnehmenden, jedoch sehr lautstarken und historisch mächtigen Teils der Bevölkerung aufgegriffen wird. SäkularistInnen berufen sich auf zwei Argumente gegen das Kopftuch. Zum einen stehe das Kopftuch für eine Ablehnung der Aufklärung, einschließlich rationalem Denken und wissenschaftlicher Forschung. Zum anderen stelle das Tragen des Kopftuchs einen Rechtsbruch dar. Abschließend zeigen wir auf, wie durch Interventionen prosäkularer Frauen Argumente der Geschlechtergleichstellung Einzug in die Debatte halten.

Das Kopftuch als Ablehnung des Gedankens der Aufklärung Das die Aufklärung betreffende Argument zielt direkt auf das Tragen des Kopftuchs an Universitäten ab. So bezog sich beispielsweise der inzwischen verstorbene einflussreiche politische Karikaturist und langjährige

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Cumhuriyet-Autor Ilhan Selçuk auf die Bemerkung Galileos, die Bibel könne die Wissenschaft nicht ersetzen, als er die folgende Analogie hinsichtlich der Türkei formulierte: »Gegenwärtig durchlebt die Türkei die historische Tragödie des Galileo Galilei auf andere Weise. Wie? Der türkische Premierminister Erdoğan erhielt seine Bildung an einer Imam-Schule; er wurde Premierminister, obwohl er zu den Geistlichen hätte zählen sollen. […] Wenn ein junges Mädchen wegen ihres Glaubens ihr Haupt bedeckt, kann keiner etwas dagegen sagen; das Tragen des Kopftuchs verträgt sich jedoch nicht mit dem Konzept der Universität. Eine bedeckte Person wird sich sicher gegen die Evolutionstheorie aussprechen; es ist ganz natürlich, dass sie religiöse Glaubenssätze höher bewertet als die Freiheit der Wissenschaft. […] [Deshalb] bedeutet das Kopftuch an Universitäten das Ende der Freiheit der Wissenschaft« (Cumhuriyet, 31. Januar 2008).

Für prosäkulare AutorInnen wie Selçuk war ein religiöser Premierminister, der sich für die Freiheit einsetzt, Religiosität öffentlich zum Ausdruck zu bringen, kein Zeichen der liberalen Meinungs- und Religionsfreiheit. Er sah diese Entwicklung vielmehr als den Versuch an, sich in Richtung einer Ära vor der türkischen Republik zurück zu entwickeln, während der die Regierung unter dem Einfluss religiöser Doktrinen stand und wissenschaftliche Forschung vor dem Hintergrund der religiösen Schöpfungslehre unmöglich war. Selçuk behauptet nicht, dass religiöse Menschen per se nicht zur Türkei gehören. Vielmehr argumentiert er, dass religiöses Handeln nur außerhalb der Politik möglich sei, und dass dies auch so sein sollte: Erdoğan kann Imam sein und zur Türkei gehören, aber nicht ein religiöser Premierminister im säkularen türkischen Staat sein. Selçuk negiert damit die Möglichkeit der Vielfalt in der Identität – wer religiös ist, ist es demnach in allen Facetten des Lebens. Dass eine junge Frau mit Kopftuch Ärztin werden kann und dafür Biologie und Naturwissenschaften studiert, wäre aus diesem Blickwinkel schlicht unmöglich. Und wegen dieser vermeintlichen Unmöglichkeit würde eine Zulassung des Kopftuchs an Universitäten die Grundfesten der türkischen Republik bedrohen, die auf den Aufklärungsprinzipien der wissenschaftlichen Forschung und der rationalen Regierungsführung fußt. Diese säkulare Betonung der Aufklärung wie auch die Verknüpfung positivistischer Wissenschaft mit dem Säkularismus erscheint in öffentlichen Äußerungen prosäkularer PolitikerInnen, AutorInnen und

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JournalistInnen immer wieder. Die vielleicht wichtigste Aussage dieser Art findet sich in der Begründung des Verfassungsgerichts zum Verbot des Kopftuchs im Jahr 2008 (Benhabib 2011). In seiner Entscheidung erklärt das Verfassungsgericht, die Wurzeln des Säkularismus lägen in der »Renaissance, Reformation und der Aufklärung«23, und damit in historischen Prozessen, die sich hinter der europäischen Grenzen abspielten, und die erst im Rahmen der Gründung der türkischen Republik zu Orientierungspunkten im nationalen Narrativ der Türkei wurden. Wie jedoch die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in der Türkei verdeutlichen, sind diese Bezugspunkte primär für eine Elite von Bedeutung, wie etwa für die RichterInnen- und AnwältInnenschaft, die Urteile verfassen, nicht aber notwendigerweise für die allgemeine Öffentlichkeit. Sowohl in der Entscheidung des Verfassungsgerichts als auch fortwährend in den Leitartikeln der säkularen Medien, wird das Kopftuch als Symbol für das religiöse Dogma betrachtet, das an Universitäten als Institutionen der Freiheit der Wissenschaft keinen Platz hat. Wie in diesen Beiträgen schon anhand der Hinweise auf Renaissance, Reformation und Aufklärung deutlich wird, setzten SäkularistInnen die Tradition Atatürks fort, das nationale Narrativ der Türkei in einer westlichen Tradition geschichtlicher und intellektueller Entwicklung zu verorten, die größtenteils außerhalb der türkischen Grenzen stattgefunden hat.

Kopftuchtragen als Rechtsbruch In vielen Leitartikeln prosäkularer Medien wird betont, dass das Tragen des Kopftuchs an Universitäten eine Form des Rechtsbruchs darstelle. Darüber hinaus wird dort argumentiert, dass dadurch das Verfassungsprinzip des Säkularismus unterlaufen würde, das von Prosäkularen als strikte Trennung von Religion und Staat interpretiert wird, was wiederum bedeutet, dass in staatlichen Institutionen keine religiösen Symbole getragen werden dürfen. Der Säkularismus als Fundament des türkischen nationalen Narrativs ist jedoch brüchig geworden, zum Teil, weil seine Wurzeln außerhalb jener Geschichte liegen, die der Gründung der türkischen Republik voranging. In der prosäkularen Argumentation wurde diese Zerbrechlichkeit darin deutlich, dass auf fast einschüchternde Art und Weise darauf beharrt wurde, dass der Säkularismus dem Gesetz entspricht, das überindividuell durchzusetzen ist. Prosäkulare, die sich dieser Argumentation bedienten, hatten offensichtlich nicht das Gefühl, an

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den Säkularismus als tief verwurzelten Diskurs zur Definition türkischer Zugehörigkeit appellieren zu können. Im direkten Anschluss an den Aufstieg der AKP in den frühen 2000er Jahren setzten einige der wichtigsten politischen AkteurInnen und JournalistInnen das Tragen des Kopftuchs mit einem Gesetzesverstoß gleich, um dem Argument Nachdruck zu verleihen, das Kopftuch sei ungesetzlich und um es zu einem Symbol eines möglichen Zusammenbruchs der türkischen Republik zu machen. Der Präsident der Istanbul Universität, Kemal Alemdaroğlu, äußerte sich als strenger Vertreter des säkularen Gedankens folgendermaßen: »Der türban wurde vom Verfassungsgericht und dem Staatsrat als gesetzeswidrig erkannt. Das Gleiche gilt für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der türban ist ein Symbol. Er ist das Symbol des Fundamentalismus. Das [gemeint ist der Einzug des fundamentalistischen Islam in die Institutionen höherer Bildung, GY] ist nicht möglich.« (Kemal Alemdaroğlu zitiert nach Hürriyet, 10. Juli 2003)

Nach dieser Gleichsetzung des Kopftuchs mit dem fundamentalistischen Islam, einer politischen Bewegung, die den Staat auf religiösen anstelle von säkularen Prinzipien auf bauen möchte, wird der Fundamentalismus durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit unter Kontrolle gehalten, nicht durch den Willen der Menschen, die durch ein weitestgehend geteiltes nationales Narrativ miteinander verbunden sind. Dementsprechend hat auch Ahmet Necdet Sezer, Präsident der Türkei von 2000 bis 2007 und ebenfalls strikter Befürworter des säkularen Narrativs, die Kopftuch tragenden Ehefrauen von AKP-Ministern gezielt nicht zu wichtigen Feierlichkeiten in die Präsidentenresidenz eingeladen, etwa anlässlich des Jubiläums der Gründung der Republik am 29. Oktober 2003. Anlässlich dieses Ereignisses sagte er: »Die türkische Republik ist ein säkularer, demokratischer und rechtmäßiger Sozialstaat [sic 24]. Es gab in der jüngeren Vergangenheit den Versuch, sich gegen den säkularen Charakter des Staates zu positionieren. Ich wollte ihnen [den Mitgliedern der AKP-Regierung] diese Möglichkeit nicht geben.« (Ahmet Necdet Sezer zitiert nach Hürriyet, 30. Oktober 2003)

Durch die Verknüpfung von Säkularismus und Demokratie mit der Rechtsstaatlichkeit sagt Sezer implizit, dass Kopftücher für die Ablehnung des Rechtsstaats stehen, um ihn vorgeblich durch einen religiösen

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Staat zu ersetzen. Für Männer wie Alemdaroğlu und Sezer sind Kopftücher tatsächlich per Definition antisäkular; folglich sollten staatliche In­ stitutionen einschließlich behördlicher Gebäude vor Frauen mit Kopftuch geschützt werden. Demgemäß veröffentlichte der säkulare Präsident Ahmet Necdet Sezer nach der Entscheidung des EGMR gegen Leyla Şahin im Jahr 2004 ein offizielles Schreiben, in dem er die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und des Staatsrats zum Kopftuchverbot an Stätten höherer Bildung als übereinstimmend mit der Entscheidung des EGMR darstellte. Er unterstrich, dass der EGMR entsprechend dem türkischen Recht geurteilt hätte, nach dem säkulare Universitäten Studentinnen sanktionieren dürften, die sich nicht an diese Regelungen hielten.25 Sezer bezog sich auf die Entscheidung des EGMR, um zu bestätigen, dass Frauen mit Kopftuch den säkularen Grundsätzen nicht entsprächen. Während der Debatte des Parlaments über diese Entscheidung warnte die größte Oppositionspartei CHP die regierende AKP davor, dass sie keine Unterstützung aus Europa für ihre antisäkularen Vorstöße erwarten solle. Hierdurch wurde die Allianz der Prosäkularen mit der Kultur, der Geschichte und den Rechtssystemen Europas für ihre Darstellung des türkischen nationalen Narrativs erneut gestärkt. Auch die Cumhuriyet hat während der gesamten Regierungszeit der AKP immer wieder tief sitzende Ängste in Bezug auf das Kopftuch formuliert. Während der Debatte über die von der AKP angeregte Verfassungsänderung im Jahr 2008, die es Frauen gestatten sollte, in staatlichen Institutionen Kopftuch zu tragen, äußerte sich der erfahrene Journalist Orhan Bursalı folgendermaßen: »Die Einführung des Kopftuchs als Verfassungsrecht ist eine allgemeine Bedrohung! Die Durchsetzung des Kopftuchs im ganzen Land ist der größte Schritt dahin, die Religion ins Rechtssystem des Landes vordringen zu lassen und den Säkularismus zu beerdigen.« (Cumhuriyet, 7. Februar 2008) Interessanterweise setzt Bursalı das Recht darauf, ein Kopftuch zu tragen, mit der allgemeinen Durchsetzung des Kopftuchtragens gleich, wobei wieder implizit Bezüge zum Fundamentalismus hergestellt werden, indem keine andere Weltsicht mit der Zugehörigkeit zur Türkei vereinbar erscheint. Den Argumenten von Alemdaroğlu, Sezer, Bursalı und anderen BefürworterInnen des Säkularismus zufolge wird Religion de facto nicht als etwas wahrgenommen, dass jemand freiwillig praktizieren möchte, sondern als eine Kraft, die ein ganzes Volk und seine Gesellschaft trans-

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formieren könnte. In einem Interview mit der Hürriyet bezeichnet der bekannte türkische Wissenschaftler Şerif Mardin die Kraft der Religion als Druck, den die Nachbarschaft ausübt (mahalle baskısı), deren sozialen Normen sich alle zu unterwerfen haben (Saktanber und Çorbacıoğlu 2008; Özdalga 2007). Mit dem Anwachsen religiöser Kräfte würden Menschen unter Druck stehen, während des Ramadan zu fasten, nicht, weil sie gläubig sind, sondern weil man sonst von NachbarInnen, FreundInnen und KollegInnen aus dem sozialen Zusammenhang ausgeschlossen würde. In ähnlicher Weise bezog sich einer der Hauptpunkte der Diskussion in den säkularen türkischen Zeitungen auf den Gruppendruck an Universitäten, durch den nicht religiöse Frauen ohne Kopftuch diskriminiert werden könnten, wenn das Kopftuchverbot aufgehoben würde. Nach Ansicht vieler säkularer TürkInnen wäre dies wiederum das Ende des Säkularismus, dem zentralen Prinzip des säkularen türkischen Nationalnarrativs. Für Prosäkulare gilt es, den sozialen Druck der Religion mit rechtlichen Instrumenten der Macht und der Kontrolle in Schach zu halten. Durch die Implikationen dieser Position wird der Säkularismus jedoch von einem Diskurs der Zugehörigkeit mit breiter subjektiver Anziehungskraft zu einem Diskurs der Machtausübung gegenüber denjenigen, die ihre Religiosität öffentlich zum Ausdruck bringen möchten. Argumente dieser Art sprechen letztlich wahrscheinlich nur jene an, die ohnehin gegen das Kopftuch und andere Formen des Ausdrucks von Religion eingestellt sind. Wie brüchig das nationale Narrativ der Türkei mittlerweile ist, lässt sich auch an oft in der Cumhuriyet abgedruckten Zitaten von Mitgliedern der CHP-Opposition ablesen, die davor warnen, dass eine problematische »Konterrevolution« im Gange sei (Cumhuriyet, 7. Februar 2008). Diese Konterrevolution, so die These, bedrohe die historische Revolution Atatürks und das Bestehen des Säkularismus als Gründungsprinzip der türkischen Republik. Das darauf gründende säkulare nationale Narrativ stellt Frauen mit Kopftuch und ihre UnterstützerInnen als Gesetzesbrecher dar, als Bedrohung für den Säkularismus und als BefürworterInnen des fundamentalistischen Islam. Durch die Verbreitung dieses Bildes religiöser Frauen als Bedrohung des säkularen Staates haben sich die prosäkular ausgerichteten staatlichen Behörden von der religiösen Bevölkerung abgekoppelt. Das Rechtssystem wird zur Aufrechterhaltung der säkularen Herrschaft verwendet, so wie mithilfe des Gesetzes die Machtausübung gegenüber religiösen Menschen durch RichterInnen, Gerichte und Prozesse gerechtfertigt wird.

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Prosäkulare Frauen und Argumente der Geschlechtergleichstellung Während die Geschlechtergleichstellung in der Artikulation des nationalen Narrativs Frankreichs eine wichtige Rolle gespielt hat (was ebenso für die Niederlande und Deutschland gilt, wie wir noch sehen werden), war diese für das säkulare türkische Nationalnarrativ nur latent bedeutsam. Das Konzept der Gleichstellung der Geschlechter wurde hier erst durch prosäkulare Frauen in die säkulare Version des nationalen Narrativs eingeführt. Diese Frauen unterstützten eine Orientierung an westlichen Werten und erkannten im Säkularismus eine Garantie für die Gleichstellung der Geschlechter in der Türkei (Wiltse 2008). Viele säkular ausgerichtete Frauen waren sogar der Meinung, dass sie ihre Existenz dem Kemalismus zu verdanken hätten (Arat 2005, 18). Ähnlich wie ihre europäischen Pendants argumentierten prosäkulare politische Akteurinnen häufig, das Kopftuch stehe für Rückständigkeit und die Unterdrückung der Frau. Darüber hinaus schlossen sich aktiv gegen das Kopftuch eintretende türkische Frauen den rechtlichen Argumenten ihrer männlichen Mitstreiter an, um ein säkulares Nationalnarrativ zu stärken. Der Argumentation dieser Frauen nach steht das Kopftuch außerhalb des Gesetzes, nicht nur im türkischen Kontext, sondern allgemein – wodurch negiert wird, dass es überhaupt das Recht einer Frau sein könnte, ein Kopftuch zu tragen. In den 1990ern war es Nur Serter, die als Vizepräsidentin der Universität Istanbul das Kopftuchverbot aktiv durchsetzte. In ihrer Eigenschaft als Parlamentarierin der CHP äußerte sie sich 2008 folgendermaßen: »Das Kopftuch kann nicht im Kontext von Grundrechten und Freiheiten interpretiert werden. Es ist eine Art, sich zu kleiden, durch die Frauen zu Personen zweiter Klasse degradiert werden. Freiheiten sind Fortschritte« (Nur Serter zitiert nach Cumhuriyet, 7. Februar 2008). Necla Arat, Philosophieprofessorin, Gründerin des Studiengangs Women Studies an der Universität Istanbul und ebenfalls Abgeordnete der CHP verwendete ähnlich schlagkräftige Argumente: »Die Täuschung bezüglich der ›Freiheit für den türban‹ ist nichts anderes als eine Missachtung des Staates und der Verfassung. […] Der türban [ist] kein Problem der ›Freiheit und der Menschenrechte von Frauen‹, er stellt vielmehr eine Flucht vor der Freiheit dar, eine freiwillige Aufgabe erworbener Rechte und die Wahl freiwilliger Knechtschaft.« (Necla Arat zitiert nach Cumhuriyet, 31. Januar 2008)

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Wie schon im Fall Frankreichs wird bei solchen Argumentationen mit dem Tragen des Kopftuchs keine Form der Selbstbestimmung verbunden. Vielmehr wird diese Praxis als Zeichen der Unterordnung und Erniedrigung betrachtet. Während die Äußerungen dieser beiden Frauen keine zentrale Rolle in der breiteren Debatte spielten, dienten sie doch solchen Darstellungen als Unterstützung, die dem Säkularismus im türkischen Narrativ der Zugehörigkeit einen Ehrenplatz einräumen. Jedoch wird die innere Brüchigkeit dieses Narrativs daran deutlich, dass es sich auf das Gesetz als Mittel bezieht, mit dem das Türkentum mit Zwang durchgesetzt werden soll. Das wiederum ebnete den Weg für eine proreligiöse Neuformulierung des türkischen Narrativs der Zugehörigkeit.

D ie N euinterpre tation des S äkul arismus : D emokr atie br aucht R eligionsfreiheit Proreligiöse AkteurInnen in der Türkei erschaffen ein neues Narrativ der Zugehörigkeit. Statt wie in Frankreich eine alte Geschichte neu zu formulieren und dem aktuellen sozialen Kontext anzupassen, verweben sie das Konzept der Demokratie mit dem Islam. Das stellt de facto eine Negation jener Interpretation des Säkularismus dar, der von zentraler Bedeutung für das säkulare Nationalnarrativ der Zugehörigkeit zur Türkei war. Vor der Entwicklung eines neuen Narrativs bezogen sich die AKP und andere BefürworterInnen des Rechts, das Kopftuch zu tragen, vor allem auf religiöse Vorschriften und rechtfertigten damit die Ängste der Prosäkularen vor dem Einfluss der Religion auf die staatliche Herrschaft. Wie schon erwähnt, reagierte Erdoğan im Jahr 2004 auf die Entscheidung des EGMR im Fall Şahin mit der Äußerung: »Das Gericht hat in dieser Sache nichts zu sagen, wir müssen die Ulama [muslimische Gelehrte] befragen.« (Recep Tayyip Erdoğan zitiert nach Hürriyet, 16. November 2005) Das ließ vermuten, dass er das religiöse Gesetz über internationales Menschenrecht stellte, wodurch sich die Prosäkularen in ihren Ängsten nur bestätigt sahen. Ähnlich bezog sich Bülent Arınç, Mitglied der AKP und damaliger Parlamentspräsident, während des Wahlkampfes auf das Kopftuch als Zeichen der Ehre (namus26) und versprach den WählerInnen, es zu schützen und zu verteidigen: »Das Kopftuchproblem ist ein Problem der Ehre. Wir werden es lösen!« (Wahlveranstaltung in Kahramanmaraş, 18. Oktober 2002) Obwohl die Verwendung patriarchaler Terminologie

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von einigen die AKP unterstützenden proreligiösen AutorInnen kritisiert wurde, fand das Versprechen von Arınç als Wahlkampfgegenstand weite mediale Verbreitung, was wiederum die Vorstellung verstärkte, das Kopftuch symbolisiere eine Bedrohung für die säkularen, rationalen Grundlagen der türkischen Nation. Seither verwenden sowohl die AKP und ihre UnterstützerInnen wie auch proreligiöse Medien eine andere Terminologie, um in ihrer Argumentation für das Kopftuch eher »demokratische Freiheiten« oder die »Meinungsfreiheit« zu betonen, anstatt das Tragen des Kopftuches als religiöse Pflicht zu bezeichnen. Damit konstruieren sie ein neues türkisches nationales Narrativ. So sagte beispielsweise Premierminister Erdoğan bei einer Rede in Madrid im Jahr 2008, der politische Islam und dessen BefürworterInnen sollten an türkischen Universitäten vertreten sein. Erdoğan schreibt unter Bezug auf den liberalen Diskurs der Meinungsfreiheit die Bedeutung des Säkularismus um und argumentiert, dass das Kopftuch durchaus ein politisches Symbol des fundamentalistischen Islam sein kann, dies aber nicht bedeute, dass es verboten werden sollte: »Selbst wenn [Frauen] es als politisches Symbol tragen – kann das Tragen eines politischen Symbols als Vergehen betrachtet werden? Gibt es ein solches Verbot irgendwo anders auf der Welt?« (Recep Tayyip Erdoğan zitiert nach Zaman, 15. Januar 2008) Während sich Prosäkulare in ihren Anliegen auf den Diskurs der europäischen Aufklärung bezogen, verweist Erdoğan auf einen universellen (»irgendwo  […] auf der Welt«) Menschenrechtsdiskurs und argumentiert, dass politische Symbole nicht per se ein Angriff auf den Staat seien. Im türkischen Kontext bedeutete dies natürlich eine radikale Neuinterpretation des Säkularismus, weg von der französischen Laïcité, in der Religiosität im Privaten ausgedrückt wird, hin zu dem, was »offener Säkularismus« genannt wird, in dem die Diversität religiöser und nicht religiöser Bekundungen im öffentlichen Raum ihren Platz findet (Boucher 2012; Maclure und Taylor 2011). Während der Debatten im türkischen Parlament zur Entscheidung des EGMR im Fall Leyla Şahins verwendete die oppositionelle CHP beispielsweise das Argument des Rechtsbruchs, um die Absetzung der Regierung der AKP zu fordern.27 Die CHP war der Auffassung, dass die AKP dem türkischen Gesetz zuwider handele und untermauerte diese Behauptung mit der positiven Bewertung des Arguments des vorherigen Außenministers durch den EGMR. Dieses lautete, dass »der türban ein Symbol des Funda-

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mentalismus ist. […] Die türkische Rechtslage erlaubt keine Verwendung dieses Symbols im öffentlichen Raum.« Der damals amtierende Außenminister Abdullah Gül, der im Jahr 2007 Präsident der Republik wurde, entgegnete dem, dass die Regierung »auf der Seite der Freiheiten steht, [und] solche Probleme vorzugsweise nicht durch Verbote lösen möchte.«28 Mit Argumenten dieser Art stellten sich Erdoğan, Gül und andere proreligiöse AkteurInnen gegen die prosäkulare Darstellung, der Säkularismus sei die Garantie der »Freiheit der Wissenschaft« an Universitäten und das Fundament der Zugehörigkeit zur Türkei. Stattdessen beziehen sich proreligiöse AkteurInnen auf das Prinzip der Demokratie, das, wie schon zuvor dargestellt, in der prosäkularen Darstellung des nationalen Narrativs der Türkei eine immer geringere Rolle spielte. Nach Meinung dieser proreligiösen AkteurInnen wirkt der Säkularismus, wie er in der Türkei umgesetzt wird, gegen demokratische Freiheiten wie zum Beispiel die freie Meinungsäußerung, die für einen offenen Dialog und einen Gedankenaustausch im Kontext von Universitäten unerlässlich ist. Durch ihre Neudefinition des Säkularismus aus der Perspektive der liberalen Demokratie haben proreligiöse AkteurInnen das nationale Narrativ nicht nur neu interpretiert, sondern schon beinahe umgeschrieben.

Religionsfreiheit und die Stimme des Volkes Die zentrale Stellung der Demokratie in diesem neuen nationalen Narrativ wurde durch den Anspruch der Proreligiösen unterfüttert, für die Zivilgesellschaft zu sprechen. Während sich Prosäkulare an die historischen Eliten der türkischen Republik wandten, nahmen proreligiöse AkteurInnen für sich in Anspruch, den Wünschen »der Öffentlichkeit« Ausdruck zu verleihen. Aus religiöser Perspektive stellte die problematische Betonung des als Gesetz verstandenen Säkularismus in der prosäkularen Darstellung des türkischen Nationalnarrativs den Versuch dar, die türkische Öffentlichkeit zu kontrollieren, statt sie aktiv am öffentlichen Leben der Nation teilhaben zu lassen. Mustafa Acar, Professor an der neu gegründeten staatlichen Universität in der konservativen Stadt Kırıkkale in Zentralanatolien, zitierte die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Jahr 2007, aus denen hervorging, dass die »türkische Öffentlichkeit« (Türk halkı) eine Aufhebung des Verbots wünschte.29 Auf der Grundlage dieser Umfrage formuliert Acar seine These des säkularen Staats, der seine BürgerInnen zu Opfern macht:

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»Ein letzter Punkt bezieht sich auf die offene Wunde des Verbots des Kopftuchs [türban]. Dieses Verbot, das jeder verfassungsrechtlichen und juristischen Grundlage entbehrt, das sich zu einem Wundbrand entwickelt hat, weil es zu einem Instrument in einem Machtkampf geworden ist, und das eine Schande für die Türkei ist, wird von mehr als zwei Dritteln (66,9 Prozent) der TeilnehmerInnen dieser Erhebung abgelehnt. Erneut zeigt sich, dass dieses lächerliche Verbot an Universitäten vom türkischen Volk nicht gutgeheißen wird. Die türkische Bevölkerung erwartet, dass der neue Präsident der Republik, die neue Regierung und der neue Vorsitzende des Rats für höhere Bildung angemessen und reibungslos für eine Lösung dieses Problems sorgen, ohne die anderen politischen AkteurInnen zu brüskieren.« (Mustafa Acar zitiert nach Zaman, 10. Januar 2008)

Acar streitet zwar die Verfassungsmäßigkeit des Kopftuchverbots an Universitäten ab, die Hauptausrichtung seines Arguments zielt jedoch nicht auf die Rechtmäßigkeit des Verbots selbst ab, sondern auf die Tatsache, dass es nicht den Willen des Volkes repräsentiert. Umgekehrt haben proreligiöse politische AkteurInnen unter Bezug auf die Darstellung, sie repräsentierten die breitere Öffentlichkeit, durchgehend argumentiert, dass der Ausdruck von Religiosität im öffentlichen Raum einem demokratischen Prinzip entspricht. Während die Prosäkularen im Namen der kemalistischen Elite sprachen, die bis 2002 die türkische Republik regierte, haben die Wahlerfolge der Proreligiösen und Umfragen, wie die von Acar zitierte, einem neuen proreligiösen nationalen Narrativ Gewicht verliehen, in dem Demokratie und Islam als zentrale Prinzipien miteinander vereinbar sind.

Gleichstellung der Geschlechter: Respekt gegenüber Geschlechterdifferenzen? Frauen spielten in diesem neuen Narrativ eine Hauptrolle. Proreligiöse politische AkteurInnen argumentierten durchgängig, dass das Kopftuchverbot Frauen zu Opfern macht. Durch die Einschränkung der Freiheit, ihre Religion zum Ausdruck zu bringen, sowie ihrer Möglichkeiten zur Partizipation am politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben des Landes werden sie durch das Verbot eher noch verwundbarer als zu selbstbestimmt handelnden Staatsbürgerinnen. So entwickelte sich nach den Wahlen 2011 beispielsweise erneut eine Diskussion über die Änderung der parlamentarischen Bekleidungsvorschriften. Das ging zum Teil auf

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das Engagement religiöser Musliminnen zurück, die sich für ihre Platzierung auf den Wahllisten großer politischer Parteien eingesetzt hatten, allerdings ohne Erfolg. Nachdem die AKP die Wahlen mit fast absoluter Mehrheit gewonnen hatte, gab die Cumhuriyet überraschenderweise dem Vizepräsidenten der AKP, Hüseyin Çelik, die Gelegenheit, sich folgendermaßen zu äußern: »So wie wir nicht zwischen blonden und brünetten Frauen differenzieren, können wir meiner Meinung nach auch nicht zwischen Frauen mit oder ohne Kopftuch differenzieren. […] Die Mehrheit der Frauen der Abgeordneten trägt das Kopftuch. Sie haben dieselben Ansichten, aber diese Frauen dürfen nicht [ins Parlament], so wie es Männer können. Das ist eine Ungerechtigkeit gegenüber Frauen« (Hüseyin Çelik zitiert nach Cumhuriyet, 13. Oktober 2011).

Çelik geht davon aus, dass die Türkei dieses Problem bewältigen wird, wie das Problem auch schon zuvor an Universitäten gelöst wurde, wo Kopftücher seit 2010 zunächst stillschweigend, später auch deutlich offener zugelassen wurden. Das Demokratisierungspaket der AKP von 2013 umfasste die Aufhebung dieses Verbots und stärkte das von einer proreligiösen Politik angeführte nationale Narrativ. Diese Bestimmung ging über die Öffnung der Universitäten für Kopftuch tragende Frauen hinaus und erlaubte es diesen auch, an der offiziellen Politik teilzunehmen. Obwohl solche Aussagen den Eindruck erwecken könnten, dass die Gleichstellung der Geschlechter zu einem Kernelement des proreligiösen nationalen Narrativs der Türkei geworden ist, zeigen wir auf, dass Argumente zur Inklusion von Frauen sich nicht per se auf die Geschlechtergleichstellung beziehen, sondern eher auf das Recht, »angeborene« Unterschiede zwischen den Geschlechtern auszudrücken. Premierminister Erdoğan teilte anlässlich eines Treffens von Frauenrechts-NGOs im Juli 2010 mit, dass er nicht an die Gleichstellung der Geschlechter glaube, weil dies den physischen Möglichkeiten beider Geschlechter widerspreche. Er wiederholte diese Aussage beim 16. Konsultations- und Evaluationstreffen seiner Partei im Oktober 2012 mit folgenden Worten: »Es gibt Frauen, die im Fernsehen von der Gleichstellung der Geschlechter sprechen und diese fordern. Diese Gleichstellung ist im Bereich der Rechte akzeptabel, in jeder anderen Form jedoch widerspricht sie der Schöpfung. Ihr Frauen solltet erst einmal die Gleichheit untereinander hinbekommen. Ihr müsst erst noch

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dieses [Kopftuch-]Problem lösen, wo ist denn darin die Gerechtigkeit?« (Recep Tayyip Erdoğan zitiert nach Kader.org, Zugriff am 8. Juli 2012)

Erdoğan argumentierte stets, dass sich Frauen ohne Kopftuch solidarisch mit ihren Kopftuch tragenden Schwestern zeigen sollten. Er bezog sich dabei auf das Konzept der Umma, der globalen muslimischen Gemeinschaft, und verwendete Rumi-Zitate wie »Wir lieben die Wesen der Schöpfung wegen des Schöpfers« (so Erdoğan beim internationalen Treffen zur Geschlechtergleichstellung am 24. März 2011, organisiert durch die Gleichstellungskommission des türkischen Parlaments und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP). Diese Argumente wurden zuweilen von Kopftuch tragenden Frauen bestärkt. Während der Diskussionen um mögliche Verfassungsänderungen im Jahr 2008 rief etwa Nihal Bengisu Karaca als Kopftuch tragende Journalistin und Autorin zu einer Solidaritätsdemonstration von Frauen mit und ohne Kopftuch auf: »Bei dieser Prüfung von Geduld und Freiheit marschieren Frauen mit und ohne Kopftuch gemeinsam.« (Nihal Bengisu Karaca zitiert nach Zaman, 16. Oktober 2008) Aussagen dieser Art waren an prosäkulare Frauen gerichtet, die Argumente der Gleichstellung der Geschlechter in das prosäkulare nationale Narrativ einfließen ließen, in dem religiöse Frauen für die Negation von Frauenrechten und -freiheiten standen. Trotz solcher Appelle an die Solidarität haben Erdoğans öffentliche Reden aber die Spaltung der türkischen Gesellschaft entlang der Trennlinie der Religion auch verstärkt. In seinen Aufforderungen zur Solidarität hat es Erdoğan versäumt, die Bedenken säkularer türkischer Frauen aufzugreifen und sich ausschließlich auf deren mangelnde Solidarität mit ihren Kopftuch tragenden Schwestern konzentriert, indem er sagte: »Eine Frau mit Kopftuch sagt, sie würde die Rechte einer Frau ohne Kopftuch unterstützen. […] Andererseits kann meine Schwester, die ihr Haupt nicht bedeckt, nicht sagen, dass sie auch für die Frau mit Kopftuch kämpfen würde. Das ist das Geheimnis« (Recep Tayyip Erdoğan zitiert nach Millîyet, 23. Oktober 2010). Ähnlich argumentierte auch Nurhayat Kızılkan, Dozentin an der von der Gülen-Bewegung finanzierten Fatih Universität, als sie sagte, die Frauen in der Türkei seien gespalten, weil »Frauen in Machtpositionen der türkischen Frauenbewegung« religiöse Frauen nicht als ihresgleichen betrachteten (Nurhayat Kızılkan nach Zaman, 10. März 2005). Kızılkan

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wies darauf hin, dass bei den Feierlichkeiten zum Internationalen Frauentag am 8. März die Probleme religiöser Frauen unbeachtet blieben und kam zu dem Schluss, dass dies den Elitismus der (säkularen) Frauenbewegung in der Türkei widerspiegele (siehe auch Çağatay 2009). In ihrem Leitartikel spricht Kızılkan die soziale Ungleichheit und die unterschiedliche Klassenzugehörigkeit von religiösen und nicht religiösen Frauen an und beschuldigt Letztere, religiöse Frauen zu ignorieren, obgleich diese in der Türkei die Mehrheit ausmachen. Politische AkteurInnen wie Erdoğan und Kızılkan versichern prosäkularen Frauen zwar, dass sie nicht befürchten müssten, ihre Rechte einzubüßen und geben an, inklusiv zu sein, indem sie diese Rechte aus der Perspektive der freien Meinungsäußerung umschreiben. Faktisch orientieren sich die proreligiösen Argumente der Geschlechtergleichstellung aber am Konzept des Bevölkerungswillens und der freien Meinungsäußerung, die in Kombination zu einer Marginalisierung der prosäkularen Auffassung der Zugehörigkeit zur Türkei führen. Außerdem ist die Frage der Solidarität zwischen Frauen mit und ohne Kopftuch selbst in der AKP und unter ihren WählerInnen sehr umstritten (Aslan-Akman 2011). Mitglieder der AKP haben beispielsweise in Frage gestellt, ob Frauen mit Kopftuch moralisch mit unbedeckten Frauen vergleichbar seien. Diese Spannung zeigte sich ebenfalls in einem Beitrag von Şerif Erdikici für die Zaman, in dem sie betonte, dass unbedeckte Frauen denen mit Kopftuch durchaus gleichgestellt sein könnten, allerdings nur, wenn sie die AKP unterstützten (Zaman, 30. Oktober 2003). Anders ausgedrückt müssen Frauen mit und ohne Kopftuch ihre sittliche Moral durch die Mitgliedschaft in einer religiösen Partei deutlich machen. Während die AKP anhand des Kopftuchverbots ein nationales Narrativ entworfen hat, das sich auf eine religiös fundierte Interpretation von Demokratie und Menschenrechten stützt, scheint die Gleichstellungspolitik der AKP und ihrer Gefolgschaft Frauenrechte zunehmend zu negieren. Im späten Frühjahr 2012 hielt Erdoğan eine Rede zur Eröffnung einer Privatklinik. Er sagte, Abtreibung sei Mord und verkündete, dass die Regierung ein Gesetz zum Verbot von Abtreibungen in der Türkei vorbereitet 30 (Ünal und Cindoğlu 2013). Nachdem Widerstand sowohl von säkularen als auch von proreligiösen Frauen laut wurde, gab es keine weiteren Kommentare der AKP zum Verbot von Abtreibungen. Auf der unabhängigen Medien-Webseite Bianet.org beschreibt Ferhunde Özbay, eine erfahrene Feministin und Soziologieprofessorin an

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der Boğaziçi Universität, die Pläne der AKP zum Abtreibungsverbot als eine Form »demographischer Manipulation« und stellt die Frage: »Warum möchte die Regierungspartei mehr religiöse Hausfrauen mit Kindern?« (31. Mai 2012) Die Kopftuch tragende Journalistin Ayşe Böhürler gab selber an, gegen Abtreibungen zu sein, sagte aber auch: »Ich wünschte, das würde nicht auf diese Weise diskutiert.« (Ayşe Böhürler zitiert nach Hürriyet, 30. Mai 2012) Das Abtreibungsproblem legt nahe, dass die in der Kopftuchdebatte angeführten Geschlechterunterschiede auch Einfluss darauf haben, dass eine weibliche Pflicht zum Gebären artikuliert wird. Es scheint, dass im Laufe der Zeit Frauen im proreligiösen nationalen Narrativ zunehmend als Gegenstand einer Politik der Nationenbildung konstruiert wurden, indem zunächst in Bezug auf das Kopftuch von »Ehre« gesprochen wurde. In einem weiterem Schritt wurden trotz der Verweise auf die Meinungsfreiheit auf Grundlage der Sexualmoral von Frauen mit oder ohne Kopftuch Spaltungen erzeugt, zuletzt durch das versuchte Abtreibungsverbot, durch das Frauen dazu gezwungen werden sollten, Nachwuchs für die Nation zu gebären. Bei der proreligiösen Neuformulierung des nationalen Narrativs der Türkei unter Bezug auf Demokratie und die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit als Menschenrechte werden kurz gesagt die möglichen Widersprüche in dieser Darstellung anhand der proreligiösen Geschlechterpolitik deutlich. Im Folgenden zeigen wir, wie türkische Musliminnen mit diesen Spannungen umgehen, um ein anderes, wenn auch ungleich schwächeres, nationales Narrativ zu befördern.

D as weibliche nationale N arr ativ : D ie neuen F r auen der türkischen R epublik tr agen K opf tuch Wie die vorangegangenen Analysen der prosäkularen und proreligiösen nationalen Narrative nahelegen, finden politisch aktive Musliminnen in keinem der beiden Lager ohne weiteres eine Basis für ihren Anspruch auf Zugehörigkeit zur Türkei. Beide zeigen klar ausschließende Facetten und religiöse Frauen verweisen darauf, nicht nur Opfer von religiösen muslimischen, sondern ebenso von prosäkularen Männern zu sein (MarshallAldıkaçtı 2008). Im prosäkularen nationalen Narrativ gibt es eindeutig keinen Platz für sie: In dessen Darstellung der Zugehörigkeit sollten religiöse Frauen, die als solche erkennbar sind, nicht am öffentlichen Raum

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partizipieren. Zeitgleich stellten politisch aktive religiöse Frauen auch jenes nationale Narrativ der Zugehörigkeit in Frage, das vorgeblich in ihrem Namen von überwiegend männlichen, proreligiösen AkteurInnen geschaffen wurde. Sie entgegneten vielmehr, dass jenes proreligiöse nationale Narrativ sie für politische Zwecke instrumentalisiert, während es Frauen letztlich nur auf konservativ weibliche Rollen beschränkt, oder wie Özbay weiter oben zitiert wurde, auf die Rolle der »religiösen Hausfrau mit Kindern« (Bianet.org 2012). Viele prominente Musliminnen, die diese Meinungen teilen und ein hohes Maß an Sichtbarkeit im öffentlichen Raum haben, wurden medial als Gegengewicht zu prosäkularen politischen Akteurinnen präsentiert. Wir haben zwei dieser Frauen interviewt, beziehen uns aber auch auf die Memoiren einer weiteren Frau, sowie auf einen Gesprächsnachmittag mit einer Gruppe proreligiöser politischer Aktivistinnen. Hier geht es darum zu zeigen, wie diese Frauen prosäkulare und proreligiöse nationale Narrative aus ihrer religiösen Perspektive heraus in einen neuen Bezugsrahmen gesetzt haben. Religiöse Frauen haben in der Türkei darum kämpfen müssen, sich in Politik und Medien Gehör zu verschaffen – eine kleine Minderheit hat einen gewissen Einfluss auf die Debatten gehabt. So beispielsweise Ayşe Böhürler, die Gründungs- und aktives Mitglied der Frauenorganisation der AKP ist. Sie ist Inhaberin einer Medienfirma und arbeitet als Filmemacherin und Journalistin. Sie ist bekannt für ihre 13 Folgen beinhaltende Dokumentationsreihe mit dem Titel »Duvarların Arkasında: Müslüman Ülkelerde Kadın« (Hinter den Mauern: Frauen in muslimischen Ländern) von 2006, die als Vergleichsstudie das Leben muslimischer Frauen in verschiedenen muslimischen Ländern untersucht, sowie durch das begleitende Buch. Böhürler ist geschieden, hat Kinder und nutzt ihren Status, um die Erfahrungen von Frauen darzustellen, die alleinerziehend die Doppelbelastung aus Erwerbsarbeit und Kindererziehung erleben. Im Jahr 2003 sagte Böhürler: »Wir als religiöse Frauen mit Kopftuch bilden die Basis dieses Landes und sind am wenigsten entfremdet, haben aber auf offiziellen Plattformen kein Gewicht. Gegen diese Wahrnehmung müssen wir in Zahl und Charakter stark sein. Wir müssen uns gegenseitig stärken.« (Ayşe Böhürler zitiert nach Zaman, 23. Oktober 2003) In dieser Aussage, die sie in einem Interview mit der Journalistin Şemsinur B. Özdemir machte, bezog sich Böhürler zwar auf populäre proreligiöse Argumente, argumentierte allerdings im gleichen Atemzug,

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dass Frauen die Zivilgesellschaft repräsentieren. Zudem vertritt sie die These, Solidarität bedeute, Frauenrechte und Vielfalt zu verteidigen, statt mit einer einzigen Ideologie den Raum für die öffentliche Partizipation religiöser oder nicht religiöser Frauen zu definieren. Damit greift sie zwar die Solidaritätsargumente der AKP auf, stellt jene aber auf ein stärker an der Meinungsfreiheit orientiertes Fundament, ohne die widersprüchliche Äußerung zu treffen, dass nur religiöse Frauen moralisch seien. In diesem Sinne bezieht sich Böhürler nicht ausschließlich auf das proreligiöse nationale Narrativ, sondern verschränkt es mit Elementen des prosäkularen Narrativs. Dabei bezieht sie sich auf säkulare Argumente zum Schutz der Geschlechtergleichstellung, die auch bei der Gründung der Republik eine Rolle spielten und die im historischen Kontext mit der Bezeichnung »Frau der Republik« (Cumhuriyet kadını) verbunden sind. Böhürler nimmt für sich in Anspruch, eine neue Frau der Republik darzustellen: »›Bin ich eine Frau der Republik?‹ Wenn ich mir diese Frage stelle, ist meine Antwort ›Ja‹, auch wenn ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Bei einigen Darstellungen der Frau der Republik habe ich das Gefühl, mich wiederzufinden, bei anderen habe ich das Gefühl mich ins Jenseits bewegt zu haben. Zu dem Teil, der gebildet, frei im Denken und im Gewissen ist und dem soziale Teilhabe möglich ist, kann ich sagen ›Ja, ich bin eine Frau der Republik‹. Zu dem Teil, in dem diese Ideologie eine weibliche Identität vorschreibt, die ›untergeordnet, fraglos der Republik und damit dem Heim und der nationalen Identität gewidmet, bevormundet, notwendigerweise westlich und unbedeckt‹ ist, kann ich sagen: ›Ich fühle mich nie wie eine republikanische Frau.‹ Meine nationale Zugehörigkeit basiert dann betont darauf, dass ich meine eigene weibliche Identität frei wählen kann. Ich bin einer unabhängigen weiblichen Identität zugehörig.« (Ayşe Böhürler zitiert nach Yeni Şafak, 30. Oktober 2010)

Yurdakul und unsere Forschungsassistentin Özlem Kaya interviewten Ayşe Böhürler am 22. Dezember 2010 in ihrem Büro in Istanbul. Wir befragten sie zu diesem Leitartikel in der Yeni Şafak. Im Besonderen fragten wir, wie sie Republik und Religiosität in ihrer Identität vereinen kann, weil ja die »Republik«, auf die sie sich in dem Artikel bezieht, letztlich von ihr verlangt, das Kopftuch abzulegen, obgleich es ein integraler Bestandteil ihrer Identität ist. Zusätzlich spiegelt sich in ihrer Selbstbeschreibung eine Vielzahl an Identitäten, die ihr im prosäkularen nationalen Narrativ

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verwehrt werden und im proreligiösen Narrativ problematisch erscheinen. Sie antwortete, dass sie von den politischen Strukturen der Republik profitiert, die Frauen selbst mit Kopftuch Möglichkeiten eröffnen, einschließlich ihrer aktiven Partizipation im öffentlichen Raum. Aus diesem Blickwinkel trägt das prosäkulare nationale Narrativ, demzufolge Frauen unzweifelhaft zur Republik gehören, positiv zum Leben von Frauen bei. Darüber hinaus machte Böhürler die Erfahrung von Ausschluss, als sie versuchte mit proreligiösen Männern in den Medien zusammenzuarbeiten, was sie dazu brachte, das religiös ausgerichtete nationale Narrativ zu hinterfragen. Zu anderer Gelegenheit schrieb sie dazu: »Unsere männlichen muslimischen Autoren konnten sich nicht daran gewöhnen, mit konservativen Frauen zu arbeiten. Sie fanden uns zu ernsthaft, manchmal auch langweilig oder störend. […] Der Machtdiskurs war immer patriarchal, auch wenn er muslimisch geprägt war. Und wir waren uns dessen immer bewusst […]. Wenn wir [als Musliminnen] heute in den Medien präsent sind, haben wir das nicht dank, sondern trotz [der männlichen Kollegen] geschafft.« (Ayşe Böhürler zitiert nach Yeni Şafak, 30. Januar 2010)

Um sich selbst als zur Türkei zugehörig verstehen zu können, hat Böhürler einen Weg zwischen den immer weiter auseinanderdriftenden prosäkularen und proreligiösen Versionen des nationalen Narrativs eingeschlagen. Sie versuchte, das mit proreligiösen Positionen assoziierte Recht auf freien und öffentlichen Ausdruck der Religion mit den Möglichkeiten prosäkularer Positionen, die für Partizipationsrechte von Frauen stehen, zu kombinieren. Diese Wege zur politischen Partizipation sind im proreligiösen nationalen Narrativ zunehmend eingeschränkt, da hierin Frauen wiederholt als dem Haushalt und der Sphäre der Reproduktion zugehörig angesehen werden und nicht der Sphäre der Öffentlichkeit. Während Böhürler in unserem Interview sagt, sie sei keine Feministin, weil sie »einige Merkmale des Feminismus« nicht akzeptiert, verweist sie zugleich darauf, dass »es andere religiöse Frauen gibt, die sich als islamische Feministinnen bezeichnen«. Böhürler bezieht sich hierbei auf die einflussreiche und provokante Autorin Hidayet Şefkatli Tuksal, die für ihre kritische Lesart des Koran aus islamisch-feministischem Blickwinkel bekannt ist. Wie auch Böhürler, die sich kritisch über die Dominanz muslimischer Männer in medialen Diskussionen äußert, ist Tuksal der Meinung, dass muslimische Frauen auf doppelte Weise Opfer

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werden: In erster Linie durch muslimische und in zweiter Linie durch säkulare Männer. Tuksal formuliert ihre eigene Version der Geschlechtergleichstellung, die sich abhebt von der Diskussion um die »Ehre«, wie sie von Bülent Arınç während des Wahlkampfes der AKP geführt wurde, von dem durch Erdoğan verteidigten Unterschied der Geschlechter, aber auch von der unbedeckten oder sogar religionsfeindlichen Existenz, die im prosäkularen nationalen Narrativ propagiert wird. Tuksal ist vielmehr der Meinung, dass muslimische Männer nicht genug tun, um muslimische Frauen und das Kopftuch zu unterstützen: »Es ist viel schmerzhafter, wenn Leute, mit denen wir dieselben Ziele zu verfolgen glauben, uns ausschließen. Manchmal stellen wir uns folgendes Szenario vor. Leute, lasst uns zusammenkommen, 50 Frauen, dann zu diesen Männern gehen, unsere Kopftücher zusammenknüllen und sie nach ihnen werfen: ›Hier habt ihr das Kopftuch!‹ Lasst uns denen das Kopftuch schenken und sagen: ›Nehmt es und beschäftigt ihr euch mal eine Weile damit!‹« (Hidayet Şefkatli Tuksal zitiert nach Haber Vitrini, Online Nachrichtenportal, 13. Juni 2004)

Indem sie ihr Kopftuch nach diesen männlichen politischen Akteuren wirft, möchte Tuksal gegen die politische Instrumentalisierung ihres Kopftuchs protestieren, eine Instrumentalisierung, durch die ihr in politischen Debatten die volle Partizipation versagt wird. Ähnlich wie Tuksal und Böhürler erlebte auch Merve Kavakçı-Islam eine doppelte Form der Schikane in der Politik. In ihrem Buch »Headscarf Politics in Turkey: A Postcolonial Reading« beschreibt sie, wie sie 1999 von säkularen Abgeordneten angegriffen wurde, nachdem sie wegen ihres Kopftuchs nicht ihren Platz als gewähltes Mitglied des Parlaments einnehmen konnte: »Mein Name und mein Bild wurden aus den Dokumenten des Parlaments entfernt […] [und] ich wurde aus der Geschichte des Parlaments getilgt. Die Partei versuchte auch, einfach weiterzumachen und so zu tun, als sei ich nicht ›passiert‹. Zeitgleich wurde mir die Staatsbürgerschaft entzogen und eine Reihe von Anklagen formuliert, unter anderem wegen Aufrufs zu Hass, Diskriminierung, Verunglimpfung des Staates und versuchtem Sturz des Regimes.« (Kavakçı-Islam 2010, 78)

Sie wurde zum Opfer beider Seiten des politischen Spektrums: Die prosäkularen Mitglieder des türkischen Parlaments buhten sie aus, als sie

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ihren Eid als gewähltes Parlamentsmitglied abzulegen versuchte, wobei die Mitglieder ihrer eigenen Partei – der Tugendpartei (Fazilet Partisi), die ein Vorläufer der AKP ist – sie nicht unterstützten. Während der Parlamentswahl 2011 nahm die Kopftuchdebatte in der Türkei eine überraschende Wendung, als eine Gruppe von Kopftuch tragenden Frauen eine Initiative zur Repräsentation von Frauen mit Kopftuch im Parlament ins Leben rief, und damit weiterführte, was Merve Kavakçı-Islam begonnen hatte. Sie verfassten einen offenen Aufruf an alle Parteivorsitzenden, Kopftuch tragende Kandidatinnen aufzustellen und ihnen Listenplätze zu geben, auf denen sie tatsächlich eine Chance auf Wahlerfolg hatten. Bei einer von ihnen organisierten Demonstration vor dem Parlamentsgebäude verwendeten sie die Parole: »Keine Kandidatin mit Kopftuch, keine Stimme!« bzw. »Kein Kopftuch, keine Stimme!« (Başörtülü aday yoksa, oy da yok!) Bei diesen Protesten bezogen sie sich auf das Militärmemorandum von 1997, das auch als »Prozess des 28. Februar« bekannt ist (in diesem setzte das türkische Militär die damalige Regierung stark unter Druck; wir sind bereits weiter oben auf den auch als postmodernen Putsch bezeichneten Prozess eingegangen, der zum Rücktritt des proreligiösen Premierministers Necmettin Erbakan führte). Sie bezogen sich aber ebenfalls auf den Fall von Merve Kavakçı-Islam. Obwohl dieses Argument nach den Wahlen durch den Vizepräsidenten der AKP Hüseyin Çelik aufgegriffen wurde, beeinflusste es nicht die Wahlen an sich, so dass es weiterhin keine Kopftuch tragenden Frauen im türkischen Parlament gibt. Es erweckt demzufolge den Anschein, dass Kopftuch tragende Frauen ein politisches Symbol sowohl im prosäkularen wie auch im proreligiösen nationalen Narrativ sein können, aber diese Narrative nichtsdestotrotz Frauen keinen Raum gewähren, aktiv am formalen politischen Prozess teilzunehmen. Das von Erdoğan am 30. September 2013 verkündete Demokratisierungspaket könnte diese Möglichkeit allerdings schaffen. Im Juli 2012 verbrachte Yurdakul einen Tag mit Zeynep Göknil Sanal und Berrin Sönmez von der Başkent Frauenplattform, zwei Frauen, die während der Parlamentswahlen 2011 prominent an der Organisation der Kampagne »Kein Kopftuch, keine Stimme!« beteiligt waren. In den am 4. Juli 2012 in Ankara geführten Interviews waren beide der Ansicht, die AKP hätte das Kopftuch während der Wahlkämpfe als Instrument im politischen Wettbewerb benutzt, besonders im Jahr 2011. Der Beweis dafür sei, dass die AKP nur eine Kandidatin mit Kopftuch aufgestellt hatte,

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die auf der KandidatInnenliste für die Stadt Antalya stand, die im Wesentlichen prosäkular ausgerichtet ist. Somit war es strategisch unwahrscheinlich, dass sie gewählt werden würde. Die Mitglieder der Başkent Frauenplattform, ob mit oder ohne Kopftuch, haben vielgestaltige politische Ansichten. Viele sind der AKP gegenüber jedoch kritisch eingestellt, obwohl (oder vielleicht weil) die AKP ihre erste Wahl 2002 mutmaßlich auch wegen des Versprechens gewann, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben. Das Gründungsmitglied der AKP Fatma Ünsal trat bei den Wahlen 2011 als unabhängige Kandidatin an, wurde aber trotz der Wahlkampfspenden von Frauen nicht gewählt. Während des Wahlkampfs wurde Ünsal als »die unerwünschte Stimme in der AKP« bezeichnet, wobei sie vor allem bei hochrangigen männlichen Politikern der AKP »unerwünscht« war, weil sie diesen kritisch gegenüberstand. Zeitgleich fällt es vielen der kritischen Frauen schwer, die AKP vollständig abzulehnen, weil sie der Partei nach wie vor zugutehalten, dass sie ihnen einen Weg in die politische Partizipation geebnet hat. So sagte zum Beispiel die Vorsitzende der Başkent Frauenplattform Berrin Sönmez, dass diese Plattform die Kampagne »Kein Kopftuch, keine Stimme!« nur indirekt unterstützte, weil sie den Mitgliedern der AKP in ihrer Organisation nicht schaden wollte. Sönmez gab an, dass die Frauen, die in der Kampagne aktiv sind, ein Konzept der Zugehörigkeit befürworteten, das auf dem Schutz pluraler Identitäten und Lebensstile basiere, einschließlich der Möglichkeit mehrfacher Identitäten – und damit nicht nur das Recht, Kopftuch zu tragen, sondern auch die Rechte von Homosexuellen verteidigten. Dabei forderten sie auch eine Verfassungsänderung zum Schutz verschiedenster Lebensstile. Die Situation der religiösen Frauen wurde sowohl durch das säkulare, wie auch durch das muslimische Patriarchat ignoriert. Dessen Diskurs der doppelten Schikane verdeutlicht, wie sowohl die prosäkulare Betonung des Säkularismus und des Rechts als auch der proreligiöse Diskurs der Demokratie und der Religionsfreiheit im Kontext traditioneller Frauenrollen den täglichen Kampf um das Bestehen als religiöse Frau in der Türkei verdeckt. Für religiöse Frauen wie Ayşe Böhürler, Hidayet Şefkatli Tuksal, Merve Kavakçı-Islam und die in der Kampagne »Kein Kopftuch, keine Stimme!« engagierten Frauen war das Recht darauf, im öffentlichen Raum der Türkei existent zu sein, wichtiger als die Diskussion darüber, ob der Säkularismus in der Türkei überlebt. Zugleich widersetzten sie sich den traditionellen Rollen, die sich religiöse Männer für sie

Zwischen Säkularismus, Demokratie und Islam – Türkei

ausmalten, die diese Frauen auf das Kinderkriegen beschränken wollten. Stattdessen vertraten sie eine Vorstellung der Zugehörigkeit zur Türkei, die Teil eines post-säkularen nationalen Narrativs ist – eines, in dem die Partizipation im öffentlichen Raum für eine Pluralität von Identitäten möglich ist und Zugehörigkeit in höchstem Maße inklusiv definiert ist. Die zivilgesellschaftliche Bewegung von 2013, die ihren Ausgang in Istanbul im Gezi-Park am Taksim nahm, spiegelt diese Version eines nationalen Narrativs wider, das sich stark an Demokratie und Vielfalt orientiert. Ministerpräsident Erdoğan kam diesem Appell mit seinem Demokratisierungspaket von 2013 scheinbar nach. Jedoch unterscheidet sich sein Verständnis von Demokratie und Diversität deutlich von dem der Gezi-DemonstrantInnen und dem der von uns interviewten proreligiösen Frauen. Wenngleich das Demokratisierungspaket bestimmte Rechte der KurdInnen offiziell anerkannte und das Kopftuchverbot auf hob, wurden andere diskriminierte Gruppen (etwa die Aleviten sowie religiöse, ethnische und sexuelle Minderheiten) weitgehend ignoriert. Die Bevorzugung sunnitisch-islamischer Gruppen gegenüber anderen löste unter Säkularen ebenso wie bei KritikerInnen der AKP (wie den Antikapitalistischen MuslimInnen) und diskriminierten Minderheiten starkes Unbehagen aus. Am 31. Oktober 2013 zogen vier Kopftuch tragende Frauen für die AKP ins türkische Parlament ein: Nurcan Dalbudak, Sevde Beyazıt Kaçar, Gülay Samancı und Gönül Şahkulubey. Dies war das erste Mal seit dem Fall Merve Kavakçı-Islam im Jahr 1999, dass dies geschah. Ihr Glück währte nicht lange. In ihrer Anwesenheit erklärte der CHP-Abgeordnete Şafak Pavey vor dem Parlament, die AKP-Mitglieder kümmerten sich lediglich um ihr eigenes Recht, das Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen, und nicht darum, anderen in der Türkei diskriminierten Gruppen Freiheiten zu gewährleisten. Viele BürgerInnen der Türkei, darunter andere Abgeordnete der CHP und Kopftuch tragende Frauen unterschiedlicher religiöser Gruppen, wie etwa die Antikapitalistischen MuslimInnen, die die AKP-Politik ablehnen, sowie die von uns interviewten proreligiösen Frauen, prägen eine Version des nationalen Narrativs, die sich von der prosäkularen wie von der proreligiösen Version unterscheidet. Hier wird deutlich, wie global relevante Themen, etwa Frauen- und Minderheitenrechte, aber auch der Umweltgedanke der Gezi-DemonstrantInnen, im nationalen Narrativ der Türkei zunehmend dominant geworden sind.

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Im Jahr 2014 ist die Kopftuchdebatte in die türkischen und europäischen Medien zurückgekehrt, da neue Bestimmungen in der Türkei das Tragen des Kopftuchs ab der fünften Schulklasse erlauben. Sollten Schülerinnen unter zehn Jahren ein Kopftuch tragen? Und wenn sie es tun, geschieht dies dann aufgrund ihrer eigenen durchdachten Zustimmung oder auf Druck ihrer Familien? KritikerInnen des Kopftuchs argumentieren, es bedrohe säkulare Prinzipien, die Gleichheit der Geschlechter sowie neuerdings auch Kinderrechte. Diese neuesten Diskussionen über die Erlaubnis, ab der fünften Klasse Kopftuch zu tragen, deuten darauf hin, dass der Kampf nun über die Körper von Kindern ausgefochten wird (Korteweg und Yurdakul, Hürriyet Daily News, 11. November 2014).31

4. Was heißt Toleranz? Das Kopftuch in den Niederlanden

Am 20. Dezember 2005 brachte der populistische und migrationsfeindliche Politiker Geert Wilders, damals unabhängiges Mitglied des niederländischen Parlaments, einen Antrag für ein Verbot der Burka in der Öffentlichkeit ein. Die eher linke Tageszeitung De Volkskrant zitierte seine Argumentation: »Die ganze Idee hinter der Burka steht dem entgegen, wie wir in den Niederlanden Frauen behandeln. Frauen müssen sich nicht dafür schämen, wie sie aussehen. Die Burka beruht auf dem Islam, wofür es in den Niederlanden einfach keinen Platz gibt. In diesem Sinne geht es bei diesem [Gesetz] darum, die moderaten Muslime in den Niederlanden zu unterstützen, die sich sehr bemühen, sich richtig zu integrieren. […] [Außerdem] ist es in diesen unsicheren Zeiten wichtig, dass Menschen in der Öffentlichkeit immer identifizierbar sind. Man muss erkennen können, wer jemand ist.« (Geert Wilders zitiert nach De Volkskrant, 21. Dezember 2005)

Wilders bezog sich damit auf eine ganze Reihe von bekannten Themen, um die zu diesem Zeitpunkt die niederländische Debatte über Kopftuch, Niqab und Burka kreiste: die Gleichstellung der Geschlechter, der vermeintlich nicht zu den Niederlanden gehörende Islam, die Identifizierbarkeit in Zeiten des Terrors; er rief aber auch dazu auf, »moderate Muslime« zu unterstützen. Seit Wilders Vorsitzender der Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit, im Folgenden PVV) ist, bekundet er immer wieder, dass er nichts gegen MuslimInnen habe, aber ihre Religion nicht möge. Diese strategische Abstufung in seiner Argumentation legitimiert seine Behauptung, »moderate Muslime« zu unterstützen. So kann er sich auf die zwei fest im niederländischen Nationalnarrativ verankerten Konzepte der Toleranz und des Pragmatismus berufen, um die Grenzen der natio-

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nalen Zugehörigkeit zu skizzieren. Indem er sich dann auf die islamische Bekleidung von Frauen bezieht, mobilisiert er mit der Gleichstellung der Geschlechter einen neueren Topos im nationalen Narrativ, der eingebettet ist in aktuelle Diskurse um liberale Freiheiten. Wilders erzielte mit seinen Aktionen enorme politische Erfolge: 2010 wurde seine PVV mit 23 von 150 Sitzen drittstärkste Fraktion in der zweiten Kammer des niederländischen Parlaments. Das lässt darauf schließen, dass seine Darstellung des nationalen Narrativs der Niederlande großen Rückhalt genießt. Wilders und seine Wählerschaft reagierten auf den Wandel der niederländischen Gesellschaft von einem relativ homogenen, weißen, christlichen Land (allerdings mit großen inneren, insbesondere konfessionellen Differenzen) zu einer ethnisch vielfältigen Gesellschaft. ImmigrantInnen aus vornehmlich muslimischen Ländern wie der Türkei und Marokko kamen erstmals in den 1960ern und 1970ern in großer Zahl als »GastarbeiterInnen« in die Niederlande. Nach und nach holten viele dieser (meist männlichen) Immigranten ihre Familien nach. Laut den jährlichen Erhebungen der zentralen Statistikbehörde (CBS) fühlen sich die Kinder von ImmigrantInnen in den Niederlanden heimischer als gebürtige NiederländerInnen derselben Generation, die Kinder von ImmigrantInnen werden jedoch von der nicht migrantischen Bevölkerung nicht unbedingt als den Niederlanden zugehörig wahrgenommen (CBS 2010, 170; Duyvendak 2011). Ebenso unterstreichen Diskussionen über die Stellung von MuslimInnen in der niederländischen Gesellschaft ihre ›Fremdheit‹, was auch geschieht, wenn Kinder und EnkelInnen der Eingewanderten als ImmigrantInnen bezeichnet werden (el-Tayeb 2011). Hinzu kommt, dass niederländische MuslimInnen ihre PartnerInnen häufig in den Heimatländern ihrer Eltern suchen, weshalb 85 Prozent der marokkanischen und 67 Prozent der türkischen Migrationsbewegungen in die Niederlande ihre Grundlage in Familiengründungen oder -zusammenführungen haben (SCP [Sozial-Kulturelles Planungsbüro] Jaarraport Integratie 2011, 40). Die Migrationsbilanz für die Türkei war 2012 negativ (es sind 300 Menschen mehr aus den Niederlanden in die Türkei migriert als anders herum), und bei einer niederländischen Gesamtbevölkerung von 16,8 Mio. lag die Zahl der 2012 aus Marokko eingewanderten Menschen bei 300. Vermutlich wird also bei der Diskussion über Menschen mit türkischem oder marokkanischem Hintergrund zukünftig die Bezeichnung ›Immi­ grantIn‹ immer weniger zutreffend sein (CBS Jaarraport Integratie 2012). Trotzdem haben die früheren Migrationswellen zu einer grundlegenden

Was heißt Toleranz? – Niederlande

Veränderung des niederländischen Straßenbildes geführt, besonders in den größeren Städten, wo mittlerweile 50 Prozent der BewohnerInnen sogenannte ImmigrantInnen sind (SCP Jaarraport Integratie 2007, 20). Diese Tatsachen führen zu anhaltenden Spannungen über die Themen der Diversität und Differenz in den Niederlanden. In diesem Kontext sind Kopftuch, Niqab und Burka zu Symbolen der Ablehnung der niederländischen Kultur geworden, und 40 Prozent der nicht migrantischen NiederländerInnen sind der Meinung, dass »Musliminnen mit Kopftuch sich nicht an unsere Gesellschaft anpassen« (SCP Jaarraport Integratie 2009, 273). Das bedeutet, dass eine beträchtliche Zahl niederländischer Musliminnen als den Niederlanden nicht zugehörig verortet wird. Schätzungen zufolge tragen ca. 25 Prozent der Frauen mit türkischem und 40 Prozent der Frauen mit marokkanischem Hintergrund ein Kopftuch (Lettinga 2011, 40), und geschätzte 300 Frauen tragen einen Niqab (Moors 2009a). Wie in Frankreich und Deutschland überdecken auch in den Niederlanden Debatten über die Religionsausübung von ImmigrantInnen die fortdauernden sozioökonomischen Ungleichheiten. Zwar stehen in den Niederlanden geborene oder dort aufgewachsene Kinder von ImmigrantInnen gemessen an verschiedenen sozioökonomischen Indikatoren sehr viel besser da als ihre Eltern, von denen viele wegen ihrer Fähigkeit zu körperlicher Arbeit und nicht wegen ihres Bildungsstandes ins Land geholt wurden. Trotzdem befeuert die fortbestehende Diskrepanz zwischen dem durchschnittlichen Bildungsstand und der sozioökonomischen Stellung der zweiten Generation weiterhin Diskussionen um die Stellung von ImmigrantInnen und ihren Kindern in der niederländischen Gesellschaft (CBS 2012, 87). In den späten 1990er Jahren veränderte sich die Integrationsdebatte in den Niederlanden: Während bisher sozioökonomische Hindernisse fokussiert wurden, rückte nun die These in den Vordergrund, die mangelnde Partizipation resultiere aus der Kultur der ImmigrantInnen (Bjornson 2007; Duyvendak und Scholten 2012; Entzinger 2003, 2006; Prins 2004). Das niederländische Integrationsgesetz von 1998 war das erste in Europa, das Kurse zum Erlernen von Sprache und Kultur für neue ImmigrantInnen verpflichtend vorschrieb. Mit dem Erlass dieses Gesetzes verschob sich die öffentliche Aufmerksamkeit von der bisher vorherrschenden Sorge um die mangelnde sozioökonomische Teilhabe hin zu Bedenken bezüglich der Segregation von ImmigrantInnen und ihrem Mangel an kulturellen Kompetenzen.

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1998 musste sich der niederländische Staat außerdem erstmalig mit einer rechtlichen Diskussion des Kopftuchs auseinandersetzen, als LehrerInnen den Eltern einer Schülerin mitteilten, ihre Tochter müsse im Sportunterricht das Kopftuch abnehmen. Die Eltern wandten sich mit dem Fall an die Gleichbehandlungskommission (Commissie gelijke behandeling, im Folgenden CGB), die in ihrem Sinne entschied wie später auch ein Gericht (CGB Nummer 1997–149).1 In Frankreich führten ähnliche Fälle im Jahr 2004 letztlich zum gesetzlichen Verbot des Kopftuchs an Grund- und Oberschulen. In der niederländischen Debatte jedoch begann mit diesem Fall eine bis heute andauernde Periode, in der die CGB unverbindliche Empfehlungen ausspricht, wo in der niederländischen Öffentlichkeit, im Berufsalltag und im Bildungssektor der Ausdruck von Religiosität seinen Grenzen finden sollte.2 Anders als in Frankreich gab es keine legislativen Bemühungen, neue Gesetze dazu zu verabschieden, wo das Kopftuch getragen werden darf und wo nicht (obwohl entsprechende Verordnungen bisweilen im Parlament diskutiert werden). Vielmehr wird die Bedeutung des Kopftuchs an öffentlichen Orten wie Schulen, Behörden und Arbeitsplätzen vor dem Hintergrund wachsender Bedenken zur Integration von ImmigrantInnen immer wieder neu verhandelt. Anders als zum Kopftuch gab es seit Dezember 2005 jedoch Versuche, den Niqab zu verbieten. Wie auch in anderen Ländern verwendeten JournalistInnen und PolitikerInnen in den Niederlanden für den Niqab den Begriff »Burka«. Wenn in den Niederlanden über ein »Burkaverbot« diskutiert wird, geht es eigentlich um den Niqab, denn die Burka wird von niederländischen Musliminnen nicht getragen. Der erste im Parlament zugelassene Antrag auf ein Burkaverbot in der niederländischen Öffentlichkeit kam von Geert Wilders, der Staatsrat beurteilte diesen Vorstoß jedoch als nicht verfassungsgemäß. Die Angelegenheit war damit aber nicht erledigt und das 2010 bis 2012 regierende (und durch die PVV von Geert Wilders tolerierte) Minderheitenkabinett versprach in seiner Koalitionsvereinbarung, das Verbot zu verabschieden. Im Herbst 2011 brachte die Regierung erneut ein Gesetz zum Verbot der Burka ein. Trotz der (nicht bindenden und eher als Empfehlung geltenden) Entscheidung des Staatsrats, dass ein solches Gesetz nicht verfassungsgemäß sei, plante die Regierung im Januar 2012 die Implementierung ihres Vorhabens. Der Gesetzesvorschlag sah für die Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit eine Geldstrafe von bis zu 380 Euro vor (NRC, 27. Januar 2012). Noch vor der Zustimmung des niederländischen Senats zum Gesetz schied die

Was heißt Toleranz? – Niederlande

Regierung jedoch im April 2012 aus dem Amt, wodurch das Verfahren in der Schwebe blieb. Im Zuge dieser fortdauernden rechtlichen Verfahren und Parlamentsdebatten wird eine Fülle an Argumenten vorgebracht. Diese Argumente beziehen sich implizit auf Konzepte, die das nationale Narrativ der Niederlande in der Vergangenheit ausmachten, insbesondere auf die Toleranz, den Alltagspragmatismus und eine starke Unterstützung liberaler Werte, einschließlich der Geschlechtergerechtigkeit und der Rechte von Homosexuellen. Mithilfe dieser Konzepte verhandeln Menschen das, was die Anthropologin Annelies Moors (2009b) als »Politik des Unbehagens« (politics of discomfort) bezeichnet, als die tief sitzende negative Reaktion, die Menschen empfinden, wenn sie auf eine Frau mit Niqab treffen (oder, wie wir meinen, in geringerem Maße auch bei Frauen mit Kopftuch). Die Entscheidungen der CGB und die Debatten im Parlament werden dabei zu Schauplätzen, an denen die nationale Zugehörigkeit mit Kriterien umschrieben wird, die zwar auf das Gesetz bezogen sind, die aber häufig von einem tief empfundenen Gefühl des Unbehagens, ja sogar der Wut all derer befeuert werden, die das Kopftuch als Ablehnung alles Niederländischen wahrnehmen. Bei diesen Verhandlungen sind Debatten um das Kopftuch und die Burka eigentlich Diskussionen darüber, wer die Kriterien für Zugehörigkeit festlegt – diejenigen, die das Kopftuch als Symbol niederländischer Toleranz betrachten, oder die, die es als Zeichen nicht tolerierbarer Andersartigkeit sehen. Die andauernden Debatten über die Regelungen zu Kopf- und Gesichtsbedeckungen münden in eine Beschreibung nationaler Zugehörigkeit, in der das Kopftuch entweder zum Symbol ausbleibender Integration wird oder aber das Potenzial besitzt, neu zu interpretieren, was es bedeutet, niederländisch zu sein. Im Vergleich zu Frankreich sind die zum Ausdruck gebrachten nationalen Narrative weniger einheitlich. Besonders in den Kopftuchdebatten werden Toleranz, Pragmatismus und Geschlechtergerechtigkeit als Begründung für ganz widersprüchliche Sichtweisen herangezogen, ob das Kopftuch seinen Platz in den Niederlanden hat oder nicht. Und doch führen die entsprechenden unterschiedlichen Interpretationen des niederländischen Nationalnarrativs nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft wie in der Türkei, auch wenn sich größere Spannungen abzeichnen als in Frankreich. Wie in Frankreich wird der Niqab als nicht tolerierbares Zeichen der Unterdrückung von Frauen einheitlich abgelehnt. Allerdings interpretieren die relevanten AkteurInnen den nieder-

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ländischen Pragmatismus in Bezug auf den Niqab unterschiedlich und verleihen so auch der nationalen Zugehörigkeit eine je eigene Bedeutung. Im Folgenden analysieren wir, wie durch diese Debatten widersprüchliche Versionen des niederländischen Nationalnarrativs entstanden sind. Zunächst beschreiben wir jedoch die historischen Wurzeln des Narrativs der Zugehörigkeit. Anschließend analysieren wir unsere Daten aus Zeitungen und Parlamentsdebatten sowie aus Interviews mit drei niederländischen Musliminnen, die sich politisch für die Inklusion Kopftuch tragender Niederländerinnen einsetzen. Im Anschluss widmen wir uns zunächst dem Kopftuch und dann der Burka und dem Niqab. Wir beleuchten dafür jeweils die rechtlichen und sozialen Entwicklungen, bevor wir analysieren, wie die verschiedenen AkteurInnen in den Debatten über Kopftuch und Burka die nationale Zugehörigkeit deutlich machen. Am Ende des Kapitels erörtern wir, wie drei stark in der niederländischen Politik engagierte Frauen, von denen zwei ein Kopftuch tragen, mit diesen nationalen Narrativen der Zugehörigkeit umgehen: Sie sind Musliminnen, die für eine umfassende Partizipation in der niederländischen Gesellschaft stehen, aber gleichzeitig immer damit konfrontiert sind, dass ihr Gefühl der Zugehörigkeit bei anderen auf Ablehnung stößt.

D as niederl ändische N ationalnarr ativ der Z ugehörigkeit : Toler anz , P r agmatismus und G leichberechtigung Die Idee der Toleranz als ein Kernelement des nationalen Narrativs betrifft die Fähigkeit, mit Menschen umzugehen, deren Werte oder Verhaltensweisen die Grenze dessen markieren, was denen zuwider ist, die in der Position sind, sie tolerieren zu können (Brown 2006). Mit dem niederländischen Nationalnarrativ wurde in der Vergangenheit mithilfe der Toleranz ein ausgleichender Ansatz gepflegt, um mit der Diversität in der Öffentlichkeit umzugehen (Prins 2004, 32; siehe auch Bracke 2011; Lettinga und Saharso 2012). Die Bevölkerung in der 1581 gegründeten Republik der Niederlande gehörte den verschiedensten Konfessionen an, wobei es zwischen den unterschiedlichen protestantischen Glaubensgemeinschaften sowie zwischen Protestanten und Katholiken große Spannungen gab. Toleranz ermöglichte diesen Gruppen das Zusammenleben. Während des 18. und 19. Jahrhunderts beeinflusste die ausgeprägte Identität als

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ProtestantIn oder KatholikIn die Gründung streng voneinander getrennter religiös definierter Sphären, die trotz allem friedlich nebeneinander koexistierten. Aus diesem Prozess, der das Zusammenleben erleichterte, entstand das Prinzip der staatlichen Neutralität in Religionsfragen, was im Falle der Niederlande bedeutet, dass alle Religionen gleichermaßen vom Staat unterstützt werden (Bijsterveld 2005; van der Burg 2009). Fred Bruinsma und Matthijs de Blois (2007) bezeichnen dieses staatliche Engagement als eine Form des »aktiven Pluralismus«. Anders als in Frankreich ermöglichte die Tolerierung der Differenz ein Gefühl der Zugehörigkeit zur niederländischen Nation durch die Anbindung an Untergruppen. Diese Form der Zugehörigkeit wurde zum Fundament der Versäulung der Gesellschaft sowie der Politik im frühen 20. Jahrhundert, oder, anders ausgedrückt, zum Fundament »einer gesellschaftlichen Unterteilung auf der Grundlage von Ideologie oder Religion« (Buruma 2007, 79). Die Versäulung ließ entstehen, was in Deutschland aktuell als Parallelgesellschaften und in Frankreich als communalisme bezeichnet wird, allerdings ohne die mit beiden Begriffen einhergehende negative Konnotation. Vom frühen 20. Jahrhundert an bis zur Mitte der 1960er Jahre waren die Niederländer Mitglieder von Kirchen und Gemeindegruppen, besuchten Schulen und soziale Veranstaltungen, wurden in Krankenhäusern und von Gemeindeorganisationen gepflegt und stimmten für politische Parteien  – und all dies beruhte auf religiösen oder weltanschaulichen Werten. Hierzu zählten verschiedene protestantische und katholische Glaubensgemeinschaften, aber auch sozialistische und humanistische Vereinigungen, die ihre eigenen Säulen hatten. Niemand hätte bestritten, dass die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen die Zugehörigkeit zu den Niederlanden konstituierte. Nur die Eliten der einzelnen Säulen interagierten miteinander, die gewöhnlichen Leute lebten ihr Leben vollständig ohne Kontakt zu Mitgliedern anderer weltanschaulicher Segmente. Die Grundlage dafür war der Ansatz des Lebenund-leben-Lassens, der durch das Prinzip der Toleranz ermöglicht wurde (Buruma 2007, 80; Lijphart 1989). Die Versäulung sowie die damit einhergehende Unterteilung der Bevölkerung in (meist religiöse) Gruppenzugehörigkeiten endete im Großen und Ganzen in den 1960ern, mit dem Aufkommen einer weitreichenden Säkularisierung und Individualisierung. Im Jahr 1970 waren noch mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirchengemeinde, 1999 war dieser Wert auf 27 Prozent gesunken und nur noch knapp die Hälfte der

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Gemeindemitglieder besuchten den Gottesdienst häufiger als einmal in zwei Wochen (Buruma 2007, 80). Durch den Prozess der Säkularisierung und die wachsende Bedeutung von Individualisierung und Selbstverwirklichung verschob sich der Fokus der Toleranz von den Beziehungen zwischen Gruppen hin zu den Beziehungen zwischen Individuen (Wouters 1987; de Swaan 1996). Buruma argumentiert: »Ohne den religiösen Hintergrund musste die Toleranz eine neue, allgemeinere Bedeutung der Akzeptanz sozialer und kultureller Differenzen in einer pluralistischen Gesellschaft annehmen.« (2007, 80) Und tatsächlich blieb selbst nach dem Rückgang der Religiosität als prägendem Element der Gesellschaft und des Alltags die Toleranz ein wichtiges Mittel im Umgang mit einer zunehmenden Diversität in Bezug auf Sexualität und sich verändernde Geschlechterverhältnisse. Obwohl sich also das Leben der Menschen dramatisch veränderte, blieb die Toleranz eine Konstante im Narrativ der niederländischen Zugehörigkeit. Im Falle der Niederlande ist die Toleranz nicht unbedingt eine tief verwurzelte moralische Idee, sondern eher ein pragmatischer Ansatz zum Umgang mit Differenz (siehe auch WRR 2007, Kapitel 3; Bryant 1997, 158). Anstatt sich mit den Prinzipien auseinanderzusetzen, die die Gruppenzugehörigkeiten oder die individuellen Entscheidungen von Personen beeinflussen, befördert die Toleranz eine Form der Indifferenz gegenüber der Differenz: Die Motivationen Einzelner sind nicht von Belang, solange sie sich nicht negativ auf das Handeln Dritter auswirken. Wenn heute von der Toleranz als Kernkonzept im niederländischen Nationalnarrativ erzählt wird, erscheint dies nicht als Ergebnis ihrer moralischen Relevanz, sondern eher als intelligente und pragmatische Anwendung derselben auf Probleme der Diversität. Die NiederländerInnen waren so in der Lage, den Zwist zwischen KatholikInnen und ProtestantInnen (sowie zwischen den protestantischen Glaubensgemeinschaften) zu überwinden und auch die im frühen 17. Jahrhundert ins Land strömende jüdische Bevölkerung aufzunehmen, die in der Folge mit zum Goldenen Zeitalter der Niederlande beitrug. Die Toleranz ist also auch ein politisches und wirtschaftliches Gut. Einige sind der Ansicht, dass diese Verknüpfung von Toleranz und Pragmatismus im Boden der Niederlande selbst verwurzelt ist – um Land zu gewinnen, das unter dem Meeresspiegel lag, war es nötig, dass »hart arbeitende Menschen aller Religionen  […] zusammenarbeiten  – selbst wenn sie einander als Ketzer oder Heiden betrachteten. Selbst im 21. Jahrhundert verwenden Niederländer den Begriff ›Polder-System‹, um eine politische Kultur zu beschreiben, in der Differenzen zwischen Be-

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völkerungsteilen beiseite gelassen werden, um gemeinsame Probleme zu bewältigen.« (Buruma 2007, 78) Die Toleranz stellt sich also als tief verwurzelte Anwendung des Pragmatismus dar und beeinflusst sowohl das Alltagsleben als auch politische, legislative und rechtliche Verfahren. Im nationalen Narrativ wird die Anwendung der Toleranz und des Pragmatismus eher zu einem Mittel, das die Beachtung bestimmter Werte sicherstellen soll, als dass Toleranz und Pragmatismus selbst Werte darstellen. Die sich daraus ergebenden Verhaltensweisen beeinflussen, wie sehr sich Menschen der niederländischen Nation zugehörig fühlen. Die Betonung darauf, dass die Toleranz eher eine Verhaltensweise als ein Wert an sich darstellt, macht sie aber auch anfällig. Wenn die Toleranz ihren praktischen Wert einbüßt, gibt es kein moralisches Gerüst, das sie weiter stützen würde, und die Grenzen der Zugehörigkeit können so verschoben werden, dass vormals Tolerierte ausgeschlossen werden. Das Ende der Versäulung und eine stärkere Betonung des individuellen Wohlergehens, der Selbstverwirklichung und der Autonomie führten zu einer solchen Verschiebung: Die Zugehörigkeit als gruppenbasierte Mitgliedschaft auf der Grundlage religiöser Werte wurde unwichtiger. Gleichzeitig gewann die Individualisierung bzw. der Ausdruck einer eigenen Individualität dadurch an Gewicht, dass die Gleichstellung von Frauen und Männern, aber auch die von Homo- und Heterosexuellen garantiert wurde. Die rechtliche Gleichstellung wurde zum normativen Ziel der Anwendung von Toleranz und Pragmatismus und zur neuen Grundlage der Zugehörigkeit zur niederländischen Gesellschaft. Die naheliegende Annahme, dass die große Bedeutung des persönlichen Ausdrucks und der Selbstverwirklichung zu einer extrem heterogenen Gesellschaft führt, lässt sich nicht bestätigen. Historisch betrachtet war die niederländische Gesellschaft von einer weitgehenden Wertekonformität geprägt und die nationale Zugehörigkeit basierte auf gemeinsamen, gruppenübergreifenden Werten. Als die religiöse Identität noch die primäre Quelle der Diversität darstellte, beeinflussten calvinistische Werte einen Großteil des niederländischen Alltagslebens. Anders ausgedrückt wurde die Diversität durch die Konformität geteilter calvinistischer Werte begrenzt. Van der Veer führt dazu aus: »Obwohl die Katholiken vor den 1960ern im Land die Mehrheit stellten, hatte sich das calvinistische Ethos der Genügsamkeit und moralischer Strenge in der gesamten Bevölkerung verbreitet, auch bei den Katholiken, Sozialisten und Kommunisten.« (Van der Veer 2006, 118)

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Nach dem Einbruch des niederländischen Säulensystems wurden die Werte des Calvinismus durch liberale Werte ersetzt, die mit der Meinungsfreiheit, der Geschlechtergerechtigkeit und Homosexuellenrechten assoziiert werden. Deshalb halten Außenstehende die Niederlande häufig für im herkömmlichen Sinne sehr liberal – also für sehr offen in Fragen der Sexualität und sehr engagiert für die Gleichstellung der Geschlechter. In Wirklichkeit hat sich jedoch der niederländische Konformismus von seiner strikt auf religiösen Werten beruhenden Orientierung hin zu einer ähnlich strengen Beachtung dieser ›liberalen‹ Werte verschoben. Die NiederländerInnen sind entsprechend sehr ›liberal‹, aber auch sehr konformistisch (Duyvendak 2006; 2011; Mepschen et al. 2010). Statt durch diese Liberalisierung zu einer breiten Vielfalt von Werten und Gewohnheiten zu gelangen, halten sich die NiederländerInnen weiterhin an ihr nationales Motto »doe maar gewoon, dan doe je al gek genoeg« (»verhalte dich wie gewohnt, das ist verrückt genug«).3 Wie Sarah Bracke (2011) ausführt, verdeckt ein solcher Konsens die Unzulänglichkeiten bei der Emanzipation der Frauen wie auch bei den Errungenschaften bei Frauen- und LGBTI-Rechten, während MuslimInnen die Rolle als gefährliche ›Andere‹ zugewiesen bekommen (siehe auch Haritaworn et al. 2008). Wir haben an anderer Stelle dargelegt, dass durch Diskussionen vermeintlich ›muslimischer‹ Praktiken wie die der ›Ehrenmorde‹ deutlich sichtbare Grenzen der Zugehörigkeit gezogen werden, wobei die Geschlechtergerechtigkeit als eine Errungenschaft dargestellt wird, die durch die Handlungen von MuslimInnen gefährdet werde (Korteweg und Yurdakul 2009; Yurdakul und Korteweg 2013). Das kann zu Formen der Intoleranz führen, die als Verteidigung der Toleranz ausgegeben werden: Paul Mepschen, Jan Willem Duyvendak und Evelien Tonkens (2010) zeigen, wie die Verteidigung von Homosexuellenrechten und der sexuellen Freiheit eine spezifische Form der Islamophobie beeinflusst. Die Toleranz ist fest eingebunden in diesen Prozess: »In diesem Kontext wurde der Ausdruck von Homophobie zunehmend als der säkularen ›Tradition der Toleranz‹ gänzlich ›fremd‹ dargestellt.« (2010, 967) Im niederländischen Nationalnarrativ ist die Toleranz also nicht nur durch ein hohes Maß an Pragmatismus im Umgang mit Differenz unterfüttert, sondern auch durch ein ähnlich starkes Maß an Konformismus in Bezug auf die zugrunde liegenden Werte, die den Alltag und das öffentliche Engagement der Bevölkerung prägen. Aktuellen Darstellungen dieses nationalen Narrativs zufolge war die niederländische Gesellschaft

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historisch immer in der Lage, mithilfe von Toleranz und Pragmatismus mit Differenzen umzugehen. Gegen Ende der 1960er Jahre etablierten sich allmählich weitgehend liberale (linke) Werte als konsensfähig. Als um dieselbe Zeit herum der Zuzug einer großen Zahl von ImmigrantInnen aus mehrheitlich muslimischen Gesellschaften begann, wurde die Religion wieder zum Gegenstand der Toleranz, allerdings wurde die Religion jetzt viel stärker mit Außenstehenden assoziiert. Einige der den ImmigrantInnen zugeschriebenen Verhaltensweisen wurden entweder als massiver Affront oder als gefährlich für die niederländische Mehrheitsgesellschaft angesehen. Die errungenen liberalen Rechte schienen durch die Religiosität der MuslimInnen in Gefahr. Van der Veer fasst es folgendermaßen zusammen: »Die stille Revolution der 1960er Jahre wird in den Niederlanden als Befreiung gefeiert, besonders von allen Hindernissen, die dem Vergnügen im Weg standen. Für die Niederländer stehen MuslimInnen für den Diebstahl am Vergnügen.« (Van der Veer 2006, 118 f.) Dieser wahrgenommene »Diebstahl« warf die Frage auf, ab welchem Punkt Abscheu Intoleranz oder den Ausschluss aus dem öffentlichen Raum der Niederlande rechtfertigen könnte. Um diese Frage zu beleuchten, wenden wir uns den Kopftuch- und Burkadebatten zu und analysieren, wie das nationale Narrativ der Zugehörigkeit gegenüber neuen niederländischen BürgerInnen mit muslimischem Hintergrund definiert wird.

V erstärkung des nationalen N arrativs der N iederlande Um den Verlauf der Kopftuch- und Burkadebatten nachzuzeichnen, haben wir uns mit vier überregionalen Zeitungen der Niederlande befasst. Diese Zeitungen decken das gesamte politische Spektrum ab. Das anspruchsvolle NRC Handelsblad ist eine gemäßigte Zeitung, die sich mit profunden Problemanalysen an eine gebildete LeserInnenschaft wendet. De Volkskrant als ursprünglich katholische Zeitung steht seit Jahrzehnten für die sozialdemokratische Linke. Die Trouw als ursprünglich christlich orientierte Zeitung mit Wurzeln im protestantischen Widerstand gegen das nationalsozialistische Besatzungsregime widmet sich nach wie vor religiösen Themen ausführlicher als andere und bietet sowohl antireligiösen, besonders antiislamischen, als auch religionsbefürwortenden Stimmen ein Forum. Abschließend steht De Telegraaf für eine rechtsliberale Haltung und ist die populistischste der vier von uns untersuchten Zeitungen.

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Sie hat unter diesen vier Zeitungen auch die höchste Auflage. Zusammen decken diese Zeitungen die verschiedenen politischen milieuspezifischen Haltungen in der niederländischen öffentlichen Debatte ab. Wir sammelten alle Nachrichten und Meinungsartikel zu Kopftuch, Burka und Niqab für den Zeitraum zwischen 2004 und 2011, zu einem Zeitpunkt also, als die Kulturalisierung der Integrationsdebatte schon ein fait accompli war. Darüber hinaus untersuchten wir auch eine Reihe von Parlamentsdebatten, parlamentarischen Anfragen und Gesetzesvorschlägen. In den Niederlanden gibt es eine Vielzahl politischer Parteien, um die 11 oder 12 sind in den einzelnen Legislaturperioden regelmäßig im Parlament vertreten und Koalitionsregierungen sind die Regel. Diese Parteien repräsentieren SozialistInnen (Socialistische Partij, SP), Grüne (GroenLinks), SozialdemokratInnen (Partij van de Arbeid, PvdA), gemäßigte Liberale (Democraten 66, D66), ChristdemokratInnen (Christen Democratisch Appèl, CDA), ChristInnen (die ChristenUnie mit eher linken, die Staatkundig Gereformeerde Partij, Reformierte Politische Partei, SGP, mit eher rechten Positionen in sozialen Fragen), Rechtsliberale (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, VVD) und Rechtsextreme (Partij voor de Vrijheid, PVV), aber auch kleine Gruppen wie TierrechtlerInnen (Partij voor de Dieren, PvdD). PolitikerInnen dieser Parteien versuchen sich damit zu profilieren, dass sie klar erkennbare Positionen zu Themen wie dem Kopftuch und der Burka beziehen. Für den Versuch, die anhaltende Entwicklung des niederländischen Nationalnarrativs nachzuverfolgen, sind diese Debatten deshalb von besonderem Interesse: PolitikerInnen stützen sich auf die immer wieder bemühten Konzepte, die ein solches Narrativ ausmachen, verstärken sie oder interpretieren sie neu, und manchmal versuchen sie sogar, neue Konzepte oder neue Anwendungen alter Konzepte hinzuzufügen. Weiter unten konzentrieren wir uns im Besonderen auf die parlamentarische Debatte zum Staatshaushalt 2009, während der Geert Wilders die Einführung einer »Kopflumpensteuer« vorschlug. Solche Momente verdeutlichen, wie verschiedene PolitikerInnen sich auf Elemente des nationalen Narrativs stützen, um die Grenzen der Zugehörigkeit in den Niederlanden zu definieren. Anders als in Frankreich und Deutschland beteiligen sich niederländische Musliminnen aktiv an politischen und medialen Diskussionen. Linke Parteien wie die PvdA, GroenLinks und die SP wurden während des untersuchten Zeitraums auch durch starke niederländische Musliminnen im Parlament vertreten. Dazu zählen unter anderem Frauen wie Naïma Azough für GroenLinks, Saadet Karabulut für die SP und Nebahat Albay-

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rak für die PvdA, während die Debatte zu Gender und Islam im rechten Spektrum zu einem großen Teil durch Ayaan Hirsi Ali geprägt wurde, bis sie 2006 aus der Regierung ausschied. Auf der lokalpolitischen Ebene ist Fatima Elatik (PvdA) als Bezirksbürgermeisterin eines großen Stadtteils von Amsterdam ein Beispiel für eine hochrangige, Kopftuch tragende Politikerin mit Exekutivvollmachten. In den Medien prägen Frauen wie Naema Tahir, Nehad Selim und Nazmiye Oral mit regelmäßigen Kolumnen die Debatte. Insgesamt vertreten prominente niederländische Musliminnen eine ganze Bandbreite von Interpretationen des Islam in der niederländischen Gesellschaft. All diese Frauen stehen für Handlungsmacht, ihre Teilhabe an diesen Debatten steht im Widerspruch zu der These, der Islam unterdrücke Frauen. Ihre Argumente ähneln teils, wie im Falle der bekannten Politikerin Ayaan Hirsi Ali, den Positionen jener, die vorgeblich keine Probleme mit MuslimInnen haben, den Islam jedoch ablehnen (gemäß der Argumentationslinie der PVV). Doch selbst dann illustrieren ihre Handlungen, dass es möglich ist, Muslimin und gleichzeitig unabhängig handelnde Person zu sein (siehe aber auch Haritaworn et al. 2008). Andere niederländische Musliminnen haben sich durch alternative politische Aktivitäten eine Nische geschaffen, sind aber nicht notwendigerweise (oder nur selten) in der parlamentarischen oder medialen Diskussion präsent. Im letzten Absatz dieses Kapitels erörtern wir zwei Interventionen solcher Frauen und präsentieren das Interview mit Fatima Elatik, einer sehr erfolgreichen Politikerin der Partei der Arbeit (PvdA). Die hier erwähnten niederländischen Musliminnen repräsentieren verschiedene Aspekte niederländischer muslimischer Kultur und Politik. Ayaan Hirsi Ali nimmt in gewissem Sinne die Rolle der ›Ausnahmemuslimin‹ ein, die sich durch das Annehmen der westlichen Kultur selbst befreit habe und infolgedessen die Notwendigkeit zu bestätigen scheint, nicht geläuterte MuslimInnen aus der Öffentlichkeit auszuschließen (Haritaworn et al. 2008; siehe auch Bracke 2011). Wir sind jedoch der Ansicht, dass sich viele andere Musliminnen aus komplexeren Positionen heraus an den öffentlichen Diskussionen beteiligen. Diese Frauen bewegen sich in sehr viel komplexeren Beziehungsgeflechten innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften, denen sie angehören, und ihre Interventionen in die Kopftuchdebatten zeigen einen sehr viel facettenreicheren Zugang zu Fragen der Zugehörigkeit in den Niederlanden. Im Allgemeinen spiegelt die Kopftuchdebatte eine starke Verbindung zwischen dem, was im Parlament geschieht, und der medialen Bericht-

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erstattung wider. Der allergrößte Teil der niederländischen Zeitungsberichte über Kopftuch und Niqab beziehen sich auf deren rechtliche Reglementierung und die Orte, an denen Kopftuch und Niqab getragen werden dürfen bzw. zu denen es einer Regelung bedarf. Die medialen Diskussionen betreffen von der Regierung auf kommunaler und nationaler Ebene vorgeschlagene oder angenommene Regelungen. Dazu gehören auch Regelungen für den Bildungsbereich sowie Fälle, die vor die CGB gebracht wurden. Einige wenige Zeitungsberichte behandeln Diskriminierungen am Arbeitsmarkt, die von Kopftuch tragenden Musliminnen berichtet und manchmal auch im Parlament behandelt wurden. Wo sich die Berichterstattung nicht explizit auf die Vereinbarungen konzentriert, widmet sie sich der Bedeutung des Kopftuchs und besonders der Frage, weshalb Frauen das Kopftuch tragen und wie es symbolisch interpretiert werden sollte. Obwohl die von uns interviewten Frauen manchmal Teil der medialen und parlamentarischen Diskussionen waren, wurde selten ihre ganze Geschichte erzählt. Wie auch in Frankreich werden Kopftuch und Gesichtsbedeckungen einzeln diskutiert. Im Folgenden wenden wir uns zunächst den Kopftuchdebatten zu und anschließend den Debatten um das Verbot der Burka, die sich eigentlich auf den Niqab beziehen.

R egelungen zum K opf tuch in den N iederl anden In den Niederlanden erfolgt die formale Reglementierung des Kopftuchs durch gezielte Vorgaben, die als Richtlinien für den Arbeitsplatz und in öffentlichen Einrichtungen dienen. Zusätzlich wird im öffentlichen Diskurs, ob angeregt durch PolitikerInnen oder zivilgesellschaftliche AkteurInnen, eine Art informeller Richtschnur produziert, da hier bestimmt wird, was angemessene Reaktionen auf Kopftuch tragende Frauen sind. Anders als in Frankreich gab es in den Niederlanden keine Versuche, Gesetze zu verabschieden, um das Kopftuch von bestimmten Orten, etwa Schulen oder Arbeitsumgebungen, ganz zu verbannen. Statt bezogen auf Räume wird das Tragen des Kopftuchs eher an der Schnittstelle zwischen Raum und Tätigkeit geregelt. Anders ausgedrückt hängt die Frage der Zulässigkeit des Kopftuchs vom Raum und von der Rolle der Person ab, die das Kopftuch trägt. Während es also einer Richterin untersagt ist, ein Kopftuch zu tragen, ist es einer Klägerin erlaubt. Je größer die vom Staat verliehene Autorität einer Frau ist, desto unwahrscheinlicher ist es in der

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Regel, dass sie ein Kopftuch tragen darf (Richterinnen und Polizistinnen dürfen also kein Kopftuch tragen, während dies für andere Angestellte des öffentlichen Dienstes möglich sein kann, besonders in Berufen ohne Publikumsverkehr). So sind also Positionen, die mit einer Entscheidungsbefugnis oder staatlicher Autorität einhergehen, Menschen vorbehalten, die kaum (mehr) Merkmale muslimischer Identität aufweisen. Zwar mag dies auf den ersten Blick einem Gleichheitspostulat folgen wie auch im Falle Frankreichs und in einigen Teilen Deutschlands, doch reproduzieren die niederländischen Regelungen eher die milieubasierten Statusunterschiede, die in den niederländischen Wohlfahrtstaat eingeschrieben sind (Bussemaker 1993; Korteweg 2006). Wie auch in der Türkei scheint das Kopftuch dann problematisch zu werden, wenn Frauen der Mittelund Oberschicht anfangen, es in der öffentlichen Sphäre von Arbeit und Politik zu tragen. Die Regulierung des Kopftuchgebrauchs beruht auf einer Reihe rechtlicher Prinzipien. Hierbei sind drei Artikel der niederländischen Verfassung von besonderer Bedeutung: Artikel 1 bezieht sich auf die Gleichbehandlung und das Diskriminierungsverbot, Artikel 6 auf die Religions- und Glaubensfreiheit und Artikel 23 auf die Freiheit religiöser Bildung, was auch die finanzielle Unterstützung religiöser Schulen durch den Staat einschließt (van Bijsterveld 2005). Darüber hinaus trat 1994 das Gesetz zur Gleichbehandlung (Algemene wet gelijke behandeling) in Kraft, in dem detailliert dargelegt wird, worauf die Verfassungsprinzipien der Gleichbehandlung und des Diskriminierungsverbots hinauslaufen. Die Anwendung dieser Gesetze wird weiterhin in der Praxis ausgearbeitet. Zwischen 1995 und 2012 haben die CGB und anschließend das Niederländische Institut für Menschenrechte Fälle auf der Grundlage des Gesetzes zur Gleichbehandlung verhandelt. Von 1995 bis Mitte des Jahres 2012 gab es 121 Fallanhörungen vor der CGB. Die Entscheidungen der CGB basierten auf dem Prinzip der staatlichen Neutralität im Bereich der Religion unter Abwägung zweier gegensätzlicher Prinzipien: 1) der Eindruck staatlicher Unterstützung bestimmter religiöser Symbolik, wenn das Kopftuch in unterschiedlichen institutionellen Räumen zugelassen wird und 2) die mögliche Einschränkung des Rechts auf freie Religionsausübung und damit auch der Freiheit zur vollständigen Teilhabe am öffentlichen Leben, wenn das Kopftuch in diesen Räumen verboten wird. Hier führte die niederländische Interpretation der staatlichen Neutralität, die Fred Bruinsma und Matthijs de Blois (2007) als »aktiven Pluralismus«

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bezeichnen, zu kontextspezifischen Entscheidungen. Sie basieren auf dem Prinzip, dass die staatliche Neutralität auch durch eine vernünftige Einbindung der Religionsausübung aufrechterhalten werden kann (vgl. auch Verhaar und Saharso 2004). Seit jedoch die Öffentlichkeit jenen religiösen Symbolen mehr Aufmerksamkeit schenkt, die religiöse Unterschiede äußerlich sichtbar machen, forderten politische AkteurInnen in jüngerer Zeit eine engere Interpretation der staatlichen Neutralität. Dabei ging es um ein Kopftuchverbot für Mitarbeiterinnen des öffentlichen Dienstes und den erfolgreichen Vorschlag, dass Polizeiuniformen einen »neutralen Lebensstil« widerspiegeln sollten. Wir werden also im Fall der Niederlande ZeugInnen dessen, wie eine Form von Neutralität, die auf der Toleranz gegenüber religiösen Symbolen im öffentlichen Raum basierte, so verändert wird, dass Toleranz und Neutralität als gegensätzlich erscheinen. In dieser neueren Interpretation steht die Neutralität für den strengen Säkularismus, wie er in Frankreich und von türkischen SäkularistInnen befürwortet wird (Nickolson 2010; siehe auch Akkerman 2005; Maussen 2012). Die Anwendung des »aktiven Pluralismus« durch die CGB in Fragen staatlicher Neutralität in Religionsangelegenheiten inspirierte immigrationsfeindliche PolitikerInnen wie Geert Wilders, die CGB als ein Organ der »linken Kirche« darzustellen, um ein Verständnis des Säkularismus im Stil der französischen laïcité zu fordern. Wie wir im Folgenden zeigen, spiegeln die Diskussionen über den Ansatz der CGB bezüglich des Kopftuchs wider, wie weit die in der öffentlichen Kopftuch-Diskussion artikulierten, widerstreitenden Versionen des niederländischen Nationalnarrativs auseinanderliegen.

D as K opf tuch und zwei V ersionen des niederl ändischen N ationalnarr ativs Die öffentliche Diskussion über das Tragen des Kopftuchs drehte sich um Toleranz, Pragmatismus und die Geschlechtergerechtigkeit. Diese Konzepte untermauern jedoch ganz unterschiedliche Definitionen nationaler Zugehörigkeit. Letztlich haben die in der öffentlichen Debatte dominierenden AkteurInnen zwei widerstreitende Versionen des nationalen Narrativs hervorgebracht. Im ersten werden liberale Werte unterstrichen, besonders die Geschlechtergerechtigkeit, allerdings auf Kosten des weit-

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reichenden Konzepts der Toleranz. Im zweiten wird die Toleranz verteidigt, allerdings fällt die Verteidigung aufgrund einer ›Politik des Unbehagens‹ recht schwach aus, da das Kopftuch als Ausdruck der Ungleichheit der Geschlechter wahrgenommen wird.

Die Politik der Intoleranz, die Verteidigung der Geschlechtergerechtigkeit und der Befreiung von der Religion Einige der sich öffentlich äußernden niederländischen Musliminnen, wie zum Beispiel Ayaan Hirsi Ali und Naema Tahir, versuchten die Öffentlichkeit zu einer Interpretation des Kopftuchs zu beeinflussen, nach der dieses Kleidungsstück nicht zu den Niederlanden gehöre. Hierzu verknüpften sie das Kopftuch mit der Unterdrückung von Frauen und antiwestlichen Formen islamischer Politik. Ihre Begründungen unterscheiden sich, aber für sie alle steht das Kopftuch für die Ablehnung niederländischer Werte, weshalb es jenseits des Tolerierbaren liege. Diese Darstellungen des Kopftuchs rücken vor allem die Frage der Handlungsmacht von Musliminnen in den Vordergrund. In einem am 13. April 2004 im NRC veröffentlichten Kommentar schrieb Ayaan Hirsi Ali, damals Parlamentarierin und Sprecherin für Integrationsangelegenheiten der rechtsliberalen VVD, dass die seinerzeit gültigen Gesetze zu viel Raum für Konflikte böten. Sie führte eine Liste von Entscheidungen der CGB sowie Diskussionen in der zweiten Kammer des Parlaments an, die sich auf einen Regierungsvorschlag bezogen, Gefängniswärterinnen mit sicheren Kopftüchern auszustatten (mit denen Inhaftierte die Wärterinnen nicht erwürgen könnten). Hirsi Ali stellte eingangs die Frage, ob wir über ein kleines Stück Stoff überhaupt so viel diskutieren sollten, um diese Frage dann selbst zu bejahen. Nach der Forderung, dass die Regierung klar festlegen sollte, wann und wo das Kopftuch getragen werden könne, umriss Hirsi Ali die Bedeutung des Kopftuchs: »Einfach ausgedrückt argumentieren Moslems wie folgt: Der Körper einer Frau löst bei Männern Begierde aus. Männer und Frauen, die keine Verwandten ersten Grades und nicht den Regeln des Islam gemäß verheiratet sind, sollten einander vollständig meiden. Das ist unmöglich, also soll sich die Frau so kleiden, dass sie möglichst keine Begierde weckt. Das alles basiert auf zwei Grundannahmen. Die erste ist, dass Männer ihr sexuelles Verlangen nicht kontrollieren können. Die zweite ist, dass Frauen verantwort-

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lich sind für die innere Schwäche des Mannes. Deshalb bleiben sie zu Hause und bedecken ihren Körper. All dies steht im Koran und ist in den Traditionen des Propheten ausgearbeitet.« (Nach NRC, 13. April 2004)

Weiter erklärte Hirsi Ali, dass sich Musliminnen, die sich von dieser repressiven Interpretation ihrer Sexualität, ihres Körpers und ihrer Person zu befreien versuchten, dem Risiko extremer Gewalt durch Familienmitglieder aussetzten, die diese Normen »auf Teufel komm raus« durchsetzen wollten. Deshalb, so Hirsi Ali, müsse die Regierung einschreiten und sicherstellen, dass Musliminnen in ihrem frei gewählten, unbedeckten Ausdruck ihrer Persönlichkeit geschützt werden, was der französischen Argumentation entspricht, das Kopftuch könne nie freiwillig gewählt sein. Für Hirsi Ali steht das Kopftuch für eine grundlegende Form der Ungleichheit der Geschlechter, in der Männer Frauen dazu zwingen, ein extrem eingeschränktes Leben zu führen. Sie beruft sich auf den Wert der Geschlechtergerechtigkeit, um zu erklären, weshalb das Kopftuch so weit wie möglich aus der niederländischen Gesellschaft getilgt werden sollte. Obwohl Toleranz den Kern des nationalen Narrativs ausmacht, steht das Kopftuch für Hirsi Ali jenseits des Tolerierbaren, da es hart erkämpfte liberale Werte bedrohe, besonders jene der Geschlechtergerechtigkeit, die eine zentrale Stellung im niederländischen Nationalnarrativ einnehmen. Die als religiöse Muslimin aufgewachsene Hirsi Ali setzte ihren persönlichen Hintergrund strategisch ein, um einem nicht religiösen Publikum zu ›erklären‹, weshalb es das Kopftuch und alles, wofür es steht, fürchten sollte. Naema Tahir, Kolumnistin und in niederländischen Integrationsdebatten aktive Anwältin, bezog sich ebenfalls auf ihre eigenen Erfahrungen als muslimische Frau, um das Kopftuch als Symbol der Ungleichheit der Geschlechter darzustellen, allerdings auf andere Weise als Hirsi Ali. In einer Kolumne reagierte Tahir auf die französischen Demonstrationen muslimischer Frauen gegen das Kopftuchverbot. Sie schrieb »Es muss ein Gefühl großer Macht sein, meine Schwester«, daran teilhaben zu können, das Kopftuch zu »einem der kompliziertesten Kleidungsstücke unserer Zeit« zu machen (nach Tahir, NRC, 24. Januar 2004). Anschließend führte Tahir ihre eigene Kindheit an, um einem niederländischen Publikum ihre Sicht auf die Bedeutung des Kopftuchs zu erläutern. Sie berichtete von ihren Erfahrungen als Jugendliche in Pakistan und argumentierte, dass das Kopftuch zu einer Möglichkeit wurde, mit der sexuellen Aufmerksamkeit von Männern zu spielen, während sie äußerlich den stren-

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gen Sittlichkeitsregeln entsprach: »Mein Kopftuch wurde zu einem kulturell festgelegten Ausdruck dessen, wie ich meine Sinnlichkeit äußern konnte«, eine Möglichkeit zur Rache an »meinen Onkeln und Neffen, die in ihren engen westlichen Jeans diktierten, wie sich ›ihre Frauen‹ zu benehmen hatten, obwohl sie selbst sich in keiner Weise einschränkten.« (Nach NRC, 24. Januar 2004) Anders als Hirsi Ali, die das Kopftuch ausschließlich als erzwungene Verdeckung der weiblichen Sexualität sieht, erkennt Tahir im Anlegen des Kopftuches einen Anteil an Handlungsmacht. Sie führt eine Reihe möglicher Gründe auf, weshalb Frauen in den Niederlanden das Kopftuch tragen: als »ein Statement gegen die westliche Gesellschaft […] ein Gegengewicht zum Druck der eigenen sozialen Gruppe. Und als Siegespreis: um den Imam, den Bruder, den Vater und den an der Ecke stehenden Idioten-der-dich-Hure-nennt auf Abstand zu halten.« (Nach NRC, 24. Januar 2004) Wenn Tahir nahelegt, dass diese Form der Handlungsmacht eine Reaktion auf Unterdrückung sei, begründet sie damit ähnlich wie Hirsi Ali den Ausschluss Kopftuch tragender Frauen in den Niederlanden. Unabhängig davon, ob sie hinter den Handlungen von Frauen nur männliche Macht oder eine Art Selbstbestimmung sehen, stimmen Hirsi Ali und Tahir also darin überein, dass das Kopftuch für eine Form der Geschlechterungleichheit steht, die niederländischen Werten widerspricht. Nicht nur Geschlechtergerechtigkeit wurde als Begründung für eine auf Ausschluss gerichtete Interpretation der nationalen Zugehörigkeit herangezogen. Andere Argumentationen stützten sich zum Beispiel auf religiöse Werte. So entschied die CGB beispielsweise 2011, dass die katholische Don Bosco Oberschule zu Unrecht von einer 14-Jährigen gefordert hatte, sie möge ihr Kopftuch ablegen oder die Schule verlassen. Diese Entscheidung entsprach der Vorstellung des »aktiven Pluralismus«, nach dem »Schulen verpflichtet sind, die Religionen und Glaubensgemeinschaften in der niederländischen Gesellschaft zu achten« (nach Bruinsma und De Blois 2007, 120; siehe auch Akkerman 2005). Das bedeutet, dass Schulen weder Schülerinnen noch Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs verwehren dürfen. Religiöse Schulen jedoch haben dieses Recht, solange sie nachweisen können, dass dieses Verbot erforderlich ist, um die einzigartige religiöse Identität der Schule zu schützen. Als die Don Bosco Oberschule vor Gericht zog, um ein rechtsverbindliches Urteil zu erhalten, gewann die Schule den Fall. Die Schülerin, Imane Mahssan, und ihr Vater fochten diese Entscheidung auf einer höheren Instanz an, unterlagen aber auch dort.

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Auf den Don-Bosco-Fall folgte eine Vielzahl an Leitartikeln zur Bedeutung des Islam und der Muslime in den Niederlanden. Noch vor der ersten Gerichtsentscheidung verfassten Geert Wilders und sein Fraktionsvorsitzender im Senat, Machiel de Graaf, einen Kommentar, in dem sie André Rouvoet, den Fraktionsvorsitzenden der calvinistisch-orthodoxen CU, in seinem Bestreben unterstützen, die Scharia in den Niederlanden zu verbieten. De Graaf und Wilders bezogen sich dabei ausdrücklich auf den Fall der Don Bosco Oberschule und vertraten die Meinung, das »Symbol der Scharia par excellence ist das Kopftuch.« Weiter schrieben sie: »Es geht nicht nur um Frauen. Es geht auch um Christen, Juden, Apostaten, Atheisten und Homosexuelle. Es geht um uns alle. Für das Überleben unserer Werte, unserer Identität, unserer Kultur und unserer Freiheit ist es von größter Wichtigkeit, die Scharia in allen ihren Ausdrucksformen zu verbieten: keine neuen Moscheen und Imame, keine islamischen Schulen und Burkas. Die Scharia hat keinen Platz in freien Gesellschaften. Ein Verbot der Scharia muss kommen.« (Nach Trouw, 26. Februar 2011)

Kurz gesagt benutzten Wilders und seine politischen KollegInnen den Don-Bosco-Fall, um zentrale Elemente des niederländischen Nationalnarrativs miteinander zu verknüpfen und zu behaupten, die herrschende Interpretation der Toleranz führe zu einem Angriff auf die Geschlechtergerechtigkeit, die Homosexuellenrechte und die Meinungsfreiheit. Auch die Kolumnistin der Zeitung Trouw Elma Drayer bezog sich auf den Don-Bosco-Fall, um zu erklären, dass Musliminnen natürlich, wie wir alle wüssten, das Recht haben, ein Kopftuch zu tragen, wenn sie wollen. Das sei, was »die Toleranz von uns verlangt.« Gleichzeitig wüssten wir auch, so Drayer, dass »sich einwickelnde« muslimische Frauen ein Gesellschaftskonzept stützen, in dem der öffentliche Raum den Männern gehört. Um frei zu bleiben, müssten wir deshalb sicherstellen, dass Personen in amtlichen Positionen kein Kopftuch tragen (alle Zitate nach Trouw, 8. April 2011). Auf diese Weise wurde die Diskussion über das Kopftuch schnell zu einer Diskussion der Frage, ›wer wir sind‹ und was wir tolerieren können und sollten. Das ›Wir‹ in den Darstellungen von Wilders und Drayer schloss dabei religiöse muslimische Frauen aus. Während Drayer der Meinung war, diese Frauen sollten toleriert werden, wollte Wilders sie nur dann in der niederländischen Öffentlichkeit sehen, wenn sie ihr Kopftuch abnehmen.

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Im Gegensatz dazu beanspruchte die im Fokus des Don-Bosco-Falles stehende Schülerin Imane Mahssan ihre Zugehörigkeit zu den Niederlanden, indem sie öffentlich auf ihre Wurzeln in der Stadt Volendam verwies, in der sie geboren und aufgewachsen war. Auch sah sie es als ihr Recht an, mit ihren langjährigen Freundinnen zusammenzubleiben. Dadurch versuchte Mahssan als junge, niederländische muslimische Frau einen Raum der Zugehörigkeit zu schaffen: Verwurzelt in Volendam, Muslimin, Kopftuch tragend und dem katholischen Glauben gegenüber tolerant ruft sie die niederländischen Gerichte an, um zu schützen, was sie als ihr Recht empfindet. Wilders und Drayer jedoch räumen Mahssan mit ihrer Sicht des niederländischen Narrativs der Zugehörigkeit nicht einmal die Möglichkeit ein, solch ein Selbstbild zu beanspruchen. Die Argumentationen von Wilders und Drayer machen deutlich, dass das Kopftuch ein tief sitzendes Unbehagen weckt. Dies stärkt eine Interpretation des Nationalnarrativs der Zugehörigkeit, die nahelegt, dass liberale Werte vor einem islamischen Angriff geschützt werden müssen. Vor dem Hintergrund der These von Van der Veer, dass MuslimInnen für die NiederländerInnen den Diebstahl am Vergnügen versinnbildlichen (Van der Veer 2006, 119), ist ein Leserkommentar zu einem Blogpost erhellend. Die betreffende Website wird von einer Gruppe junger niederländischer MuslimInnen betrieben, die ihre Zugehörigkeit zu den Niederlanden deutlich machen, indem sie ihre Seite »Wir bleiben hier« (www.wijblijvenhier.nl) nennen. Als eine junge, Kopftuch tragende Frau schildert, welche Schwierigkeiten sie hatte, einen Job als Kassiererin in einem niederländischen Supermarkt zu bekommen, folgt dieser Leserkommentar: »Ich glaube, Aldi ist im Recht. Es ist einem Unternehmen erlaubt, Neutralität auszudrücken. Was soll ich als Kunde [tun], der seinen Wein bezahlt, und eine Frau mit Kopftuch gibt mir den Beleg. Ich weiß wegen ihres Kopftuchs, dass sie das als große Sünde ansieht. Das möchte ich eigentlich nicht erleben. Religion bedeutet auch, Entscheidungen zu treffen, die einen auch einschränken können, aber als guter gläubiger Mensch akzeptiert man das und wird dadurch geläutert. Man möchte nicht auf Leute treffen, die für Bier und Wein bezahlen.« 4

Dieser Leser nimmt an, dass die Kassiererin wegen ihres Kopftuchs ein moralisches Urteil über seine Einkäufe fällen würde. Der Kommentar des Lesers verdeutlicht, wie sehr die Kopftuchdebatten nach wie vor vom Nachhall jenes Christentums beeinflusst sind, das so lange prägend für

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das niederländische Nationalnarrativ der Zugehörigkeit war. Die Vorstellung, das Kopftuch stünde für ein negatives Urteil über Nichtgläubige, erinnert an die Beurteilung des rechtschaffenen Lebens in der calvinistischen Interpretation, die den niederländischen Alltag noch immer prägt, obwohl sich so viele NiederländerInnen vermeintlich von der Religion gelöst haben. Das gleiche Phänomen spiegelt sich in der Gerichtsentscheidung wider, nach der die Don Bosco Oberschule Imane Mahssan den »Anspruch auf Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung« absprechen durfte, weil dies »unausweichlich die Gefühle Anderer betrifft, die an ihr Recht glauben, diesem Ausdruck nicht ausgesetzt sein zu müssen.«5 Dieser Ansatz scheint ein Recht auf Freiheit von unerwünschten religiösen Bekenntnissen zu begründen, was eher dem französischen als dem niederländischen Ansatz zum Säkularismus im öffentlichen Raum entspricht. Das durch das Kopftuch hervorgerufene Unbehagen stellt es in gewissem Maße jenseits des Tolerierbaren. PolitikerInnen, JournalistInnen und RichterInnen beriefen sich auf die Verteidigung der Geschlechtergerechtigkeit und die Freiheit gegenüber der Religion und unterstrichen so die zentrale Stellung liberaler niederländischer Werte im nationalen Narrativ, obwohl sie bei der Bewertung dessen, ob Frauen mit Kopftuch vollständig zur niederländischen Gesellschaft gehören können, gleichzeitig den Geltungsbereich der Toleranz einschränkten.

Die Politik des Unbehagens und die Verteidigung der Toleranz Die Diskussionen über das Kopftuch, in denen die Verteidigung liberaler Werte für das niederländische Nationalnarrativ höher gewichtet wurde als die Anwendung der Toleranz, fanden auch Widerspruch, häufig von Frauen, die sich seit Jahren in feministischer und antirassistischer Politik engagieren. Diese AkteurInnen möchten einen Schwerpunkt auf Wahlmöglichkeiten und Freiheiten legen und damit den in der niederländischen Geschichte tief verwurzelten Werten Toleranz und Pragmatismus genügend Berücksichtigung schenken. Während sich allerdings die BefürworterInnen eines Kopftuchverbots mit Nachdruck argumentierten, erschienen auf Inklusion angelegte Positionen oft verhalten und ambivalent. Diejenigen, die sich für Toleranz und Pragmatismus aussprachen, bekundeten häufig ein persönliches Unbehagen gegenüber dem Kopftuch, selbst wenn sie sich für das Recht von Frauen einsetzten, es tragen zu dürfen. Diese bedingte Unterstützung

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für das Kopftuch (es ist in Ordnung, wenn du es tragen willst, aber es ist nichts für mich), ist charakteristisch für die Niederlande. Ein Kopftuch erregt immerhin Aufmerksamkeit. Dies aber steht im Widerspruch zum inoffiziellen niederländischen Nationalmotto »verhalte dich normal, das ist verrückt genug«, das wiederum die zentrale Bedeutung der Konformität im nationalen Narrativ verdeutlicht. Als Variante gab es in Zeitungen den kleinen Trend, über das Kopftuch als modische Entscheidung zu berichten. Letztlich erschien dieser Diskurs als Versuch, das Gefühl der Bedrohung durch das Kopftuch (wie in den Forderungen nach Ausschluss etwa von Hirsi Ali und Wilders dargestellt) zu verringern. Stattdessen wurde es zum Ausdruck einer Jugend umgedeutet, die noch nicht komplett eingeschüchtert ist vom Mantra der Normalität, das die alltägliche nationale Identität in den Niederlanden bestimmt. Auch diejenigen, die sich für das Recht von Frauen einsetzen, ihre Religiosität so auszudrücken, wie sie es für richtig halten, haben es schwer damit, die starken Thesen über eine Verbindung des Kopftuchs mit der Unterdrückung von Frauen zu widerlegen. Während es in den Niederlanden eine breite Übereinkunft bezüglich liberaler Werte gibt, war der Kampf gegen die geschlechtsspezifische Ungleichheit in der jüngeren Vergangenheit primär in der politischen Linken beheimatet. Bei der Frage des Kopftuchs führte dies wiederum zu einem Einfluss des Unbehagens auf die Politik, da diejenigen, die am stärksten den Pluralismus unterstützen, sich auch am stärksten politisch gegen Unterdrückung engagieren. So stand beispielsweise Femke Halsema als Fraktionschefin von GroenLinks der Partei vor, die einen multikulturell verstandenen Pluralismus und eine Integrationspolitik im Sinne des Multikulturalismus fördern will. Dies würde auch das Recht von Frauen einschließen, in weiten Teilen des öffentlichen Dienstes ein Kopftuch zu tragen (Lettingau and Saharso 2012). In einem medial viel beachteten Interview mit De Pers (erschienen in einer Gratis-Tageszeitung mit einer Auflage von 200.000 Stück, die zwischen Januar 2007 und März 2012 herauskam) wurde Halsema gefragt, was sie persönlich vom Kopftuch halte: »Interviewer: Was denken Sie über das Kopftuch? Halsema: Ich habe kein Problem damit, solange es aus freien Stücken getragen wird. Interviewer: Was denken Sie darüber? Halsema: Ich denke, dass es wirklich traurig ist, dass Frauen ihr wunderschönes Haar verstecken.

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Interviewer: Das ist alles? Halsema: Nein. Ich sage das so scherzhaft. Aber wenn ich in die Schule meiner Kinder komme, finde ich es manchmal schwierig – ich komme eigentlich aus der feministischen Bewegung – mich da zwischen all den verschleierten Frauen wiederzufinden. Ich würde niemals ihre Rechte angreifen. Aber ich kann den Augenblick kaum abwarten, in dem sie ihre Tücher in Freiheit abwerfen. Ich würde am liebsten alle Frauen in den Niederlanden ohne Kopftuch sehen. Ich glaube nicht, dass irgendein Gott Bekleidungsregeln aufstellt. Die werden von den Männern gemacht, die die Religion erklären. Die Emanzipation der Frauen lässt sich aber nicht von oben erzwingen. Sie muss von den Frauen selbst kommen. Ich habe gesagt, dass auch Polizistinnen Kopftuch tragen dürfen sollten. Ich habe mich mit Cisca Dresselhuys [Herausgeberin eines feministischen Mainstream-Magazins in den Niederlanden] gestritten, als sie bei Opzij keine Frauen mit Kopftuch einstellen wollte. Das heißt aber nicht, dass mir das Kopftuch keine Schwierigkeiten bereitet.« (Bessems 2009)

Dieses Zitat lässt erkennen, welche Probleme entstehen, wenn versucht wird, eine feministische Interpretation des Kopftuchs im Sinne der Positionen von Hirsi Ali und Tahir mit einer Politik der Toleranz zu vereinen, bei der es um freie Meinungsäußerung und Wahlfreiheit geht. Einerseits kann Halsema auf der Grundlage einer von der Kategorie Geschlecht unabhängigen Interpretation der Toleranz Kopftuch tragende Polizistinnen unterstützen (womit sie bei dieser Frage zu einer Minderheit gehört), während sie andererseits an einer geschlechtsspezifischen Interpretation des Kopftuchs als »von Männern gemacht« festhält, die eng an die Positionen von Hirsi Ali und Tahir anknüpft. Das sich daraus ergebende Bild spiegelt ein Narrativ der Zugehörigkeit wider, in dem Kopftuch tragende Frauen Platz finden, weil sie auf dem Weg zur Freiheit im niederländischen Sinne seien. Sie werden deshalb toleriert, weil der Kontakt mit niederländischen Werten und Gewohnheiten möglicherweise heilsam sein könne. Diese heilsame Wirkung mündet in Halsemas Narrativ darin, dass Frauen im Augenblick der (wahren) Freiheit ihr Kopftuch »abwerfen«. Halsemas Interview mit De Pers sorgte in den niederländischen Medien für Aufruhr. Die Journalistin und Autorin Jutta Chorus vertrat in einem Kommentar zu Halsemas Äußerungen die Meinung, die niederländische Debatte zum Kopftuch sei wegen der von Wilders und Hirsi Ali vertretenen Positionen verknöchert. Sie schrieb:

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»Die linken Parteien unterstützen die neuen Kulturen, die in die Niederlande gekommen sind, aber sie hängen in einem Mantra der Verteidigung fest, ohne eine eigene neue Vision. Femke Halsema erklärte letzte Woche in De Pers, dass sie persönlich ein Problem mit Kopftüchern habe. […] Diese Meinung ist wahrscheinlich durch die Straßen in ihrer Nachbarschaft in Amsterdam beeinflusst, im Kern basiert sie aber auf einer feministischen Konzeptualisierung von vor 30 Jahren und nicht auf der Realität. Auf diese Weise kommt sie, über den Pfad der Emanzipation der Frauen, bei den gleichen Irritationen an wie Wilders. […] Halsema wurde übrigens umgehend von ihren Parteimitgliedern des Verrats beschuldigt. Negative Äußerungen über Kopftücher, egal wie sehr sie auf dem Feminismus basieren, sind offenbar nicht links genug.« (NRC, 22. September 2009)

Die Analyse von Chorus weist deutlich auf die Spannungen zwischen verschiedenen freiheitlichen Werten hin, mit denen sich linke Parteien in den Niederlanden konfrontiert sehen. Chorus zufolge vertreten diejenigen, die das Tragen von Kopftüchern tolerieren, unterschwellig dieselben niederländischen Werte wie jene, die Kopftuch tragende Frauen von der nationalen Zugehörigkeit zu den Niederlanden ausschließen würden. Diese Spannung erwächst im Wesentlichen aus dem Glauben an die persönliche Entscheidung, die dem Wert entspricht, den die NiederländerInnen seit den 1960er Jahren dem Individualismus und der Selbstverwirklichung beimessen, aber auch aus der tief sitzenden Abneigung gegen das Kopftuch als Symbol für Frauen, die sich für Unterdrückung entscheiden. Die Interpretation des Kopftuchs als Symbol der Unterdrückung in Frage zu stellen, ist ein Versuch, diese Spannung zwischen Toleranz und der auf das Kopftuch projizierten Ablehnung von Werten zu vermeiden. Mögliche Wege hierzu sind die Darstellung des Kopftuchs als Zeichen jugendlicher Rebellion (wie bei Naema Tahir) oder jugendlicher Verwirrung. Die Diskussion über das Kopftuch als Mode (ein kleiner, aber anhaltender Trend in der niederländischen Berichterstattung) stellt unserer Auffassung nach eine pragmatische Strategie dar, um die politische Dimension des Kopftuchs zu mindern und damit seine Toleranz zu erleichtern. Ein vielsagendes Beispiel stammt aus der Kurzgeschichte einer Oberschullehrerin in Amsterdam, welche das NRC auf seiner Umschlagrückseite veröffentlichte: »Seit sie auf unsere Schule ging, trug Melike ein Kopftuch. An einem von der Schule organisierten Discoabend sticht ein junges Mädchen mit langem, offenem, schwarzem Haar aus der mehrheitlich allochthonen Schülerschaft hervor. Sie trägt eine

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durchscheinende Bluse und eine aufreizend enge Hose. Es ist Melike. Zum nächsten Unterricht erscheint Melike wieder sittsam gekleidet mit Kopftuch. Ich frage sie, weshalb sie ihr Haar während der Disco nicht bedeckt hat. Sie zuckt mit den Schultern und murmelt: ›Ach, Frau Lehrerin.‹ ›Aber weshalb bedeckst du deine Haare jetzt?‹ Sie schaut mich überrascht an und antwortet: ›Wenn ich mir morgens richtig die Haare machen möchte, müsste ich ja so früh aufstehen, um dann noch pünktlich hier zu sein.‹« (Nach NRC, 26. Juli 2004)

Diese Geschichte erweckt den Eindruck, die NiederländerInnen machten möglicherweise aus einer Mücke einen Elefanten. Die Lehrerin, die diese Geschichte verfasst hat, scheint im Kontext der Kopftuchdebatten das Gefühl zerstreuen zu wollen, das Kopftuch könne hart erkämpfte niederländische Werte bedrohen. Dieses Mädchen wird die niederländische Gesellschaft nicht untergraben, sie kommt ja kaum rechtzeitig aus dem Bett. Gleichzeitig kann die erzählende Lehrerin den niederländischen Liberalismus ausleben, weil sie sich ja sehr aufgeschlossen gibt (oder was dafür gehalten wird – weshalb sollte eine Lehrerin überhaupt interessieren, was ihre SchülerInnen anziehen?). Schon diese kleine Alltagsepisode verdeutlicht, wie sich auch diejenigen, welche die Hysterie um das Kopftuch stoppen wollen, unterschwellig an den zentralen Werten Toleranz und Pragmatismus orientieren. So stellten Abgeordnete der PVV anlässlich eines Staatsbesuchs der Königin Bea­ trix im Oman im Januar 2012 eine parlamentarische Anfrage, um zu erfahren, weshalb die Königin beim Besuch einer Moschee ein Kopftuch trug. Laut Zeitungsberichten wurde gefragt, ob »dieses traurige Schauspiel« nicht hätte verhindert werden können und ob dem Kabinett nicht bewusst war, dass das Staatsoberhaupt auf diese Weise die Unterdrückung der Frauen legitimiert hat (nach De Volkskrant, 12. Januar 2012). Als sie während einer Pressekonferenz zum Ende ihres Besuchs nach ihrer Meinung dazu befragt wurde, seufzte die Königin und sagte, das alles sei »so ein Unsinn«. Der »Seufzer der Beatrix« wurde in jener Woche zum Lieblingsthema der niederländischen Presse und es gab zahllose Leitartikel zur Unsinnigkeit der Kopftuchdebatten im Sinne des niederländischen Grundsatzes »verhalte dich normal, das ist verrückt genug«. Die KommentatorInnen waren größtenteils auf Seiten der Königin und sprachen sich nostalgisch für eine Rückkehr zu Zeiten aus, in denen die NiederländerInnen noch kosmopolitische Ansichten vertraten und verstanden, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Gewohnheiten haben können. Sie sehnten sich nach

Was heißt Toleranz? – Niederlande

dem früheren niederländischen Narrativ der Toleranz, nach den Zeiten, in denen einem Kopftuch mit einem Achselzucken begegnet werden konnte. Die niederländischen Kopftuchdebatten sind also durch gegenläufige Interpretationen des Kopftuchs geprägt: einerseits als erzwungene religiöse Verpflichtung und Zeichen der Unterdrückung von Frauen, andererseits als Ausdruck des freien Willens, der die niederländischen Werte der Toleranz und des Pragmatismus erfordert. Die Diskussionen um das Kopftuch brachten zwei Versionen des nationalen Narrativs hervor. Beide unterstrichen die zentralen Elemente im niederländischen Nationalnarrativ, ohne allerdings in eine eindeutige und kohärente Darstellung zu münden. Für AkteurInnen wie Hirsi Ali, Tahir, Wilders und Drayer kann das Kopftuch nicht zu den Niederlanden gehören, weil sie es für unvereinbar mit liberalen Werten besonders im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit halten und es für sie über das hinausgeht, was in der niederländischen Gesellschaft tolerierbar sei. Aus dem Bedürfnis, die niederländische Identität zu schützen, resultiert ihre pragmatische Ablehnung des Kopftuchs und all dessen, wofür es vorgeblich steht. Viele andere fühlten sich jedoch hin- und hergerissen zwischen dem persönlichen Unbehagen beim Anblick von Frauen mit Kopftuch und dem Konflikt aufgrund der eigenen Intoleranz gegenüber der Andersartigkeit, die das Kopftuch darstellt. Die Letztgenannten bezogen sich auf dieselben Elemente des niederländischen nationalen Narrativs wie jene, die eine nationale Zugehörigkeit zu den Niederlanden für Kopftuch tragende Frauen ablehnen, sie versuchten aber trotzdem den Raum für Inklusion zu finden. In einigen Fällen führte dieses Streben nach Inklusion zur Entpolitisierung des als Bedrohung wahrgenommenen Kopftuchs, indem seine modische Verwendung betont wurde. Um zu veranschaulichen, wie diese Dualität die fortdauernde Produktion des niederländischen nationalen Narrativs beeinflusst, wenden wir uns dem Vorschlag von Geert Wilders zu, eine »Kopflumpensteuer« einzuführen.

Die »Kopflumpensteuer«: Unmögliche Gesetze und die Grenzen der Toleranz Jedes Jahr Mitte September erklärt das niederländische Kabinett seine Haushalts- und Politikpläne. Am Tag danach erhalten die einzelnen Fraktionsvorsitzenden im Unterhaus das Wort, um ihre Positionen darzulegen. Diese Reden sind in der Regel sehr lebhaft und werden häufig von KollegInnen durch Fragen unterbrochen. Am 17. September 2009 ging

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Geert Wilders ans Mikrofon, um die Kritik seiner Partei an den Vorschlägen des amtierenden Kabinetts aus ChristdemokratInnen und SozialdemokratInnen zu formulieren. Bevor er seinen Vorschlag zur Einführung einer Steuer auf das Tragen von Kopftüchern machte, begann Wilders seine Rede mit einer Metapher, nach der das amtierende Kabinett in einem Auto auf dem Weg ins Nichts sitze, beherrscht von der Angst davor, was außerhalb des Autos auf sie warte. Dann fuhr Wilders fort: »Doch die Ehrlichkeit erfordert es [anzuerkennen], dass das Kabinett auch bestimmte Dinge erreicht hat. Es läuft gut mit der Integration. Wenigstens mit der Integration der Niederlande in die dar al-islam, die islamische Welt. In ganz Europa öffnen die Eliten die Pforten. Nicht mehr lange, und eine von fünf Personen in der EU ist Muslim. Das sind gute Neuigkeiten für das Multikulti-Kabinett, das die Verbeugung vor den Gräueln Allahs als seine wichtigste Aufgabe ansieht.« (Nach TK h-33229, 16. September 2009, 2–69)

Wilders führte weiter aus, dass für diese politische Elite die Diversifizierung der niederländischen Landschaft selbst dann eine Bereicherung darstelle, wenn es bedeute, dass »es immer mal wieder Tote gibt [in Bezug auf den Mord an Theo van Gogh6], jemand vergewaltigt wird und das Land langfristig bankrottgeht.« Mit diesen Äußerungen bezog sich Wilders auf die »Eurabien«-Diskurse, denen zufolge Europa von muslimischen ImmigrantInnen überrannt wird (Bat Ye’or 2005). Auf diese Diskurse bezog sich auch Anders Breivik (der im Sommer 2011 77 NorwegerInnen ermordete, um den Multikulturalismus zu bekämpfen sowie das, was er als islamische Übernahme Europas ansah). Kurz gesagt beschwor Wilders einen Diskurs der islamischen Bedrohung und Eroberung, der über Ländergrenzen hinweg prägend für den Diskurs der europäischen Rechten ist. Diese Bedrohung wiederum müsse eingedämmt werden, nicht durch die Schaffung einer paneuropäischen Identität, sondern durch den Schutz nationaler Eigenheiten. Im Fall der Niederlande bedeutet dies den Schutz der Geschlechtergerechtigkeit sowie der Rechte von Homosexuellen (was andernorts nicht mit repressiver Politik von rechts assoziiert werden würde). In seiner Parlamentsrede positionierte sich Wilder strategisch als Retter der niederländischen Nation: »Eine bessere Umwelt beginnt mit dir selbst [ein niederländischer Umweltslogan]. Viele Menschen in den Niederlanden sind verärgert über die Verschmutzung der

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Öffentlichkeit durch den Islam. Anders ausgedrückt sieht an einigen Orten das Straßenbild eher aus wie in Mekka oder Teheran: Kopftücher, Hass-Bärte, Burkas und Männer in merkwürdigen, langen, weißen Gewändern. Lasst uns deswegen etwas unternehmen. Lasst uns unsere Straßen zurückerobern. Lasst uns sicherstellen, dass die Niederlande wieder wie die Niederlande aussehen. Diese Kopftücher sind in Wirklichkeit ein Zeichen der Unterdrückung der Frau, ein Zeichen der Unterordnung, ein Zeichen der Unterwerfung. Sie bilden ein Symbol der Ideologie, die darauf aus ist, uns zu kolonisieren. Deshalb ist es Zeit für einen Frühjahrsputz auf unseren Straßen. Wenn unsere neuen NiederländerInnen ihre Liebe für eine Wüstenideologie des 7. Jahrhunderts so gerne zeigen wollen, sollten sie in ein islamisches Land gehen, nicht hierher. Nicht in die Niederlande.« (TK h-33229, 16. September 2009, 2–68–9)7

Das sind Standardphrasen von Wilders, mit denen er die Bedrohung ausmalt, dass der Islam die »niederländische« Kultur, ihre Gewohnheiten und Überzeugungen auslösche. In solchen Darstellungen teilt Wilders zunächst mit, wie groß diese Bedrohung tatsächlich sei (was die Linke in seinen Augen völlig unterschätzt), um seine Partei dann als Retter des bedrohten niederländischen Nationalstaats zu positionieren. Während der Parlamentsdebatte schlug Wilders Folgendes vor: »Mein erster Vorschlag: warum nicht eine Kopftuchsteuer einführen? Ich würde sie gerne eine Kopflumpensteuer nennen. Einmal im Jahr muss eine Lizenz erstanden werden […] Ich meine, 1000,- Euro wären eine schöne Summe. Dann kriegen wir endlich etwas dafür zurück, was uns schon so viel gekostet hat. Ich würde sagen: Der Verschmutzer zahlt.« (TK h-33229, 16. September 2009, 2–69)

Um noch deutlicher eine Verbindung zwischen Islam und Geschlechterungerechtigkeit zu zeigen, schlug Wilders darüber hinaus vor, dass die Einkünfte aus der 1000-Euro-Steuer für das Kopftuch an Frauenhäuser gespendet werden sollten. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser abwegige Vorschlag selbst in der stark polarisierten politischen Landschaft der Niederlande für Sprachlosigkeit sorgte und die anderen ParlamentarierInnen Schwierigkeiten hatten, eine geeignete Antwort zu finden. Wilders’ Erfolg in Meinungsumfragen war zum großen Teil das Ergebnis seiner Fähigkeit, die Presse zu manipulieren und mit viel zitierten Beiträgen den Ton einer Debatte zu bestimmen. Selbst wenn ein Großteil der Berichte über seine Vorstöße und Aussagen kritisch ausfiel, hat

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es Wilders doch geschafft, solche Äußerungen verlauten zu lassen, die andere, ob aus den Medien, der Politik oder dem intellektuellen Milieu, zu einer Reaktion darauf zwingen. Ereignisse von hoher Medienrelevanz wie die jährlichen Parlamentsdebatten zwingen ParlamentarierInnen, die in der Manipulation der Medien nicht so geübt sind wie Wilders, zu markigen, ebenfalls zum Zitiertwerden einladenden Statements, die sich dann oft auf das nationale Narrativ beziehen. Agnes Kant als damalige Fraktionsvorsitzende der oppositionellen Sozialistischen Partei und erste Gegenrednerin, begegnete Wilders mit Spott: »Das ist zu absurd, um darauf zu reagieren, aber ich schlage auch eine Steuer vor: eine Steuer auf Wasserstoffperoxid für [das Bleichen der] Haare, weil ich das als Verschmutzung empfinde.« (TK h-33229, 16. September 2009, 2–69) Auch Pechtold von der gemäßigt linken Partei D66 (damals in der Opposition) fragte Wilders, ob er glaube, er sei in Leiden (und nicht in Den Haag), wo das jährliche Kabarettfestival der Niederlande stattfindet. Er fragte dann noch, ob Wilders auch eine Sondersteuer für den »Hut von Minister Plasterk« vorschlagen wolle. Diese Antworten bezogen sich alle auf die im niederländischen Kontext so hoch geschätzte Normalität. Andere versuchten, die Widersprüche an Wilders’ Vorschlag aufzuzeigen, und forderten besonnenen Pragmatismus. So fragte beispielsweise Femke Halsema (GroenLinks) Wilders, wie er behaupten könne, sich für die Umwelt und höhere Steuereinnahmen einzusetzen, wenn er gleichzeitig vorschlägt, die Kraftstoffsteuer zu senken. Wilders ging nicht auf diese Antworten ein, sondern beschrieb, weshalb niederländische Muslime, die den niederländischen Staat so viel kosten würden, besteuert werden müssten: »Sie kommen nicht hierher, weil sie denken, dass dies so ein schönes Land ist, voller Kafir, Ungläubiger. Sie kommen hierher beispielsweise wegen der Sozialleistungen.« Nach einigen Runden des Spotts und der Appelle an die Vernunft, auf die Wilders antwortete, dass »die Botschaft der Partei für die Freiheit für mehr Sozialpolitik und gegen die Islamisierung einem wachsenden Teil der niederländischen Bevölkerung zusagt«, ging Pechtold auf das ein, was er als Kern der Angelegenheit betrachtete, und sprach Wilders direkt an: »Solange Sie versuchen, das Land auf Ihre Weise zu spalten, mit Ihren xenophoben, rassistischen Äußerungen in Richtung [bestimmter] Bevölkerungsgruppen, werde ich hier immer wieder stehen.« (TK h-33229, 16. September 2009, 2–70)

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Indem Pechtold die Äußerungen von Wilders als spaltend und rassistisch bezeichnete, ebnete er den Weg für weitere ernsthafte Kritik. So berief sich beispielsweise Arie Slob von der ChristenUnie auf die niederländische Geschichte der religiösen Toleranz und fragte Wilders nach seinem Verständnis von Freiheit und Respekt: »Sie beziehen sich sehr oft auf die christlich-jüdischen Traditionen unseres Landes. Ich glaube, dass eine dieser Traditionen darin besteht, einander mit Respekt zu behandeln, selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Warum praktizieren Sie das nicht? Ich verstehe es wirklich nicht. Es ist auch ein Bruch damit, wie wir über Jahrhunderte in diesem Land miteinander umgegangen sind.« (TK h-33229, 16. September, 2009, 2–70)

Femke Halsema von der Partei GroenLinks spann diesen Bezug zum nationalen Narrativ noch weiter. Auf Wilders’ Vorschlag zur Kopftuchsteuer entgegnete sie: »Als erstes fühlte ich mich an die religiöse Verfolgung während der Reformation erinnert. Das ist es, was Sie eigentlich fordern: den Koran verbieten, das Kopftuch verbieten, es mit einer Steuer belegen. Das ist kein großer Unterschied zum Bildersturm. Deshalb brauchten wir die Aufklärung. Dann dachte ich ein wenig weiter nach und mir fiel die einzige Entsprechung [zu ihrem Vorschlag] ein: Iran. Was Sie wollen, ist die Moralpolizei. Das ist, was Sie vorschlagen. Schämen Sie sich!« (TK h-33229, 16. September 2009, 2–71)

Wilders konterte, dass er genau das Gegenteil wolle, nämlich verhindern, dass die Niederlande wie der Iran aussehe, aber die Bemerkungen von Halsema und Slob machten klar, dass Wilders die Grenzen der niederländischen Prinzipien der Toleranz und des Pragmatismus überschritten hatte. Abschließend ging Halsema auf die Behauptung von Wilders ein, er wolle dem Tragen des Kopftuchs entgegenwirken, weil es für die Unterdrückung der Frauen stehe: »Meiner Ansicht nach sollte es im Kern einer zivilisierten Gesellschaft darum gehen, dass Frauen die Freiheit haben, zu glauben und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Sie aber möchten eine rückständige Kultur einführen.« (TK h-33229, 16. September 2009, 2–71)

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Niederländische PolitikerInnen versuchten also, den Aussagen Wilders’ über eine von Kopftuch tragenden Frauen verkörperte Gefahr des Islam zu begegnen, indem sie sich auf die lange Tradition der Toleranz und des Pragmatismus bezogen. Sowohl die Toleranz als auch der Pragmatismus gründen in der Beachtung liberaler Werte, in diesem Fall der Geschlechtergerechtigkeit, die nicht als singuläre Handlungsoption verstanden wird, sondern als Möglichkeit, dass Frauen ihre Handlungen frei bestimmen können. Wilders war mit seinem Besteuerungsvorschlag nicht erfolgreich (später gab er zu, dass er dieses Ergebnis erwartet hatte). Und doch hat die Fähigkeit von Wilders, Konzepte wie das der »Kopflumpensteuer« in den niederländischen politischen Diskurs einzubringen, den Rahmen der Debatte beeinflusst, selbst wenn der Begriff »Kopflumpen« meist in kritischem Kontext erwähnt wird (Korteweg 2013). Es wird also deutlich, wie selbst der fehlgeschlagene Versuch einer gesetzlichen Regelung informelle Regelungen einführen kann, indem er die diskursive Interaktion in der Öffentlichkeit beeinflusst.

R eglementierungen von B urk a und N iqab Die Versuche zur Reglementierung von Burka und Niqab folgten einem anderen Muster als im Fall des Kopftuchs. Sowohl die Berichterstattung über das Thema als auch die Parlamentsdebatten bezogen sich in erster Linie auf gesetzliche Regelungen. Wie auch in Frankreich ging es für PolitikerInnen und MeinungsbildnerInnen eher um die Frage, wo das Verbot greifen sollte, als darum, ob es überhaupt erlassen werden sollte. Die Forderungen nach derlei Reglementierungen werden aber durch die gleiche Gesetzeslage eingeschränkt, die auch bei der Regelung des Kopftuchs zu einer Beurteilung von Einzelfällen führte. Insofern Burka und Niqab religiöse Überzeugungen ausdrücken, sind sie prinzipiell geschützt, solange kein angemessener Grund für eine Einschränkung dieses Rechts angeführt werden kann. Annelies Moors (2009a) hat als eine der ersten in den Niederlanden systematisch erforscht, wer dort den Niqab trägt. Ihren Ergebnissen zufolge betrifft dies ca. 300 Frauen, von denen viele Konvertitinnen oder marokkanische Frauen der zweiten Generation sind. Etwa die Hälfte dieser Frauen trägt den Niqab nur zeitweise. Die von Moors interviewten Frauen gaben alle an, dass sie sich selbst dazu entschlossen haben, das Kleidungsstück

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zu tragen, was im Widerspruch zu den Annahmen der VertreterInnen eines Burkaverbots steht. Laut Moors (2009a) gab es die erste umfassende öffentliche Diskussion zur Burka 2003 und 2004, als in einer Berufsschule (ROC) versucht wurde, drei Mädchen das Tragen eines Gesichtsschleiers auf dem Schulgelände zu untersagen (Moors 2009a). Sie hatten schon eingewilligt, die Gesichtsbedeckungen während des Unterrichts, bei Prüfungen und in den praktischen Ausbildungsanteilen abzunehmen, wollten sie aber zu anderen Gelegenheiten tragen dürfen. Dies wollte das ROC-Vorstandsgremium nicht erlauben, woraufhin die Mädchen den Fall vor die CGB brachten. Sie brachten dort vor, aufgrund ihrer Religion anders behandelt zu werden als andere SchülerInnen. Im Falle des Kopftuchs wäre diese Argumentation akzeptiert worden. Während die CGB in einem früheren Fall, der sich auch auf Gesichtsbedeckungen bezog, zugunsten einer Schülerin entschieden hatte, tat sie das in diesem Fall nicht. Stattdessen folgte sie der Argumentation des ROC, dass die Erfordernisse der Kommunikation und der Sicherheit im Bildungsbereich wichtiger seien als das Recht auf freien Ausdruck und die freie Ausübung der Religion. Der Fall wurde auch im Parlament diskutiert, aber sowohl der Gesetzgeber als auch die Regierung beschlossen, zu diesem Zeitpunkt nicht zu intervenieren. Lediglich wurde die Bildungsministerin Maria van der Hoeven beauftragt, Richtlinien für Bekleidungsregeln in Bildungseinrichtungen zu entwickeln. Danach erließen verschiedene Universitäten solche Bekleidungsregeln, selbst wenn dort keine einzige Studentin ihr Gesicht bedeckte. Einige dieser ersten Richtlinien waren eher restriktiv, während andere den jeweiligen Fakultäten die Entscheidung überließen, was sie in ihrem institutionellen Umfeld für sinnvoll hielten. Nach seinem Austritt aus der rechtsliberalen VVD wegen der Unterstützung der Partei für den EU-Beitritt der Türkei nutzte Geert Wilders im Jahr 2005 das Thema der Gesichtsbedeckungen, um seine Rolle als Kämpfer gegen die islamische Bedrohung in der niederländischen Politik zu zementieren. Wilders schlug ein Verbot der »Burka« in der gesamten Öffentlichkeit vor. Nach einer Parlamentsdebatte wurde sein Antrag mit der Unterstützung der beiden Regierungsparteien VVD und der christdemokratischen CDA angenommen. Der angenommene Antrag wurde jedoch nicht in Gesetzesform gegossen, weil er das niederländische Verfassungsprinzip der Gleichbehandlung religiöser Symbole verletzte und

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auch der niederländischen Interpretation staatlicher Neutralität im öffentlichen Raum widersprach – hier ist der Umgang vergleichbar mit dem Kopftuch. Außenministerin Rita Verdonk kündigte kurz vor den Wahlen 2007 an, einen verfassungskonformen Antrag zum Burkaverbot einzubringen. Ihre Partei, die VVD, verlor die Wahlen jedoch und war während der nächsten Legislaturperiode in der Opposition. Das nach den Wahlen 2007 gebildete Kabinett aus ChristdemokratInnen, SozialdemokratInnen und der Christen-Unie einigte sich darauf, dass Gesichtsbedeckungen in verschiedenen öffentlichen Bereichen, nicht jedoch vollständig verboten werden sollten, da solch ein umfassendes Verbot weder der Verfassung noch den europäischen Menschenrechtsbestimmungen entsprechen würde. Es wurde stattdessen geplant, das Verbot auf den Bereich der Bildung und den öffentlichen Dienst zu konzentrieren (Moors 2009a, 13–16). Dieses Verbot wurde so auch umgesetzt. Nach den Parlamentswahlen 2010 bildeten VVD und CDA eine Minderheitenregierung, die von Geert Wilders PVV toleriert wurde. Die PVV hatte bei den Wahlen den größten Stimmenzuwachs und wurde mit 15,5 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft. Wilders versprach die Minderheitenregierung zu tolerieren, wenn im Gegenzug die Burka verboten würde. Am 16. September 2001 verkündete der Justizminister ein vollständiges Burkaverbot wie in Frankreich. Nach Zeitungsberichten traf der Minister bei der Pressekonferenz zur Ankündigung des Burkaverbots folgende Aussagen: »Das Tragen der Burka widerspricht der Art, wie wir in der Öffentlichkeit interagieren: erkennbar und ansprechbar.  […] Fast alle haben dieses Gefühl: So gehen wir nicht miteinander um. Menschen fühlen sich ›unheimisch‹.« Er führte aus, dass die Regulierung von Kleidung nicht seltsam sei, schließlich sei es auch nicht erlaubt, nackt durch die Straßen zu laufen. Indem Donner anführt, dass 98 Prozent der muslimischen Frauen ohne Burka herumlaufen, zieht er in Zweifel, ob die Burka für den Islam wirklich von Bedeutung sei. »Und nicht alles, was Menschen im Namen der Religionsfreiheit tun möchten, ist auch erlaubt. Diese Freiheit muss im öffentlichen Interesse beschränkt werden können.« (De Volkskrant, 16. September 2011) Donner rechtfertigt den Verbotsvorschlag in erster Linie mit dem Argument, dass die Menschen Unbehagen empfinden, und verwendet dafür den Germanismus »unheimisch«. Andererseits sagt er, dass die öffentliche Ordnung ein solches Verbot erforderlich mache (obwohl er selbst zu-

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gibt, dass nur wenige Frauen eine Burka tragen). Donners Bemerkungen legen nahe, dass ein Unbehagen das »öffentliche Interesse« der niederländischen Gesellschaft immens gefährden könne. Die Regierung ging über den Hinweis des Staatsrats der Niederlande hinweg, dass ein Verbot verfassungswidrig sei, und erließ im Januar 2012 ein offizielles »Burkaverbot«. Da das Kabinett jedoch im April 2012 zurücktreten musste, bevor der niederländische Senat dem Gesetz zustimmen konnte, hing das Verfahren wieder in der Schwebe. Auch der Niqab wird auf kommunaler Ebene reglementiert. Es gibt insbesondere immer wieder Berichte über die kommunalen Sozialämter, die Frauen mit Niqab sanktionieren, weil sie angeblich deshalb keine Beschäftigung finden könnten, weil sie vorsätzlich eine Gesichtsverhüllung tragen. Letztlich steht dem Versuch, ein landesweites Verbot der Burka zu erlassen, aber nicht der mangelnde Willen von PolitikerInnen oder der Regierung im Wege (obwohl auch das eine Rolle spielt), sondern die niederländische Verfassung, die ein Verbot islamischer Gesichtsbedeckungen fast unmöglich macht. Wie schon beim Kopftuch ist die Reglementierungspraxis der Niederlande auf nationaler sowie auf kommunaler Ebene ein Flickenteppich aus Teilverboten.

D ie B urk a und eine (weitgehend) ge teilte V ersion des nationalen N arr ativs Das mit dem Kopftuch assoziierte Unbehagen wurde im Fall der Burka zur offenen Aversion. In ihrer Analyse der generellen Verwendung des Begriffs der Burka zur Beschreibung aller islamischen Gesichtsbedeckungen verweist Moors (2009a) darauf, dass die betreffenden Frauen in den Niederlanden eher einen Niqab oder Tschador als eine Burka tragen. Die trotz vielfältiger Korrekturversuche verschiedener AkteurInnen weiterhin hartnäckige Verwendung des Begriffs der Burka zur Beschreibung des Niqabs oder des Tschador liegt ihrer Auffassung nach an der Assoziation der Burka mit den Taliban (Moors 2009a, 17). Moors führt aus, dass der Begriff Burka nach dem 11. September 2001 während der Invasion Afghanistans weitere Verbreitung fand und dass niederländische PolitikerInnen den Begriff absichtlich, manchmal aber auch unreflektiert verwenden, um diese Assoziation zu verstärken (Moors 2009a, 18). Gleich-

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zeitig wurden die anfangs unterschiedlichen Schreibweisen des Begriffs durch die dominante Schreibweise boerka ersetzt, in der sich das niederländische Wort boer (Bauer) findet, das die Assoziation fehlender Kultiviertheit weckt. Die in dieser Bezeichnung implizit enthaltene Aversion schlägt sich auch in der Art und Weise nieder, wie sich verschiedene AkteurInnen in Debatten darüber, wo die Burka verboten werden sollte, auf Toleranz, Pragmatismus und Gleichberechtigung bezogen.

Toleranz, Pragmatismus, Geschlechtergerechtigkeit und die Aversion gegenüber der Burka In den medialen Diskussionen über die Burka wurde als allgemeiner Konsens deutlich, dass die Burka grundsätzlich nicht tolerierbar sei. So zitierten Medien während der Diskussion eines Vorschlags zum Verbot der Burka im Jahr 2008 das Mitglied der Sozialistischen Partei Ronald van Raak, der darüber berichtete, wie er im Park einmal eine »Burka tragende« Frau sah: »Das war ganz ehrlich unangenehm. Da war eine Frau, die keinen Augenkontakt mit mir wünschte. Wir gehörten nicht zueinander.« (Nach NRC, 25. April 2008) Viele Frauen vermeiden Augenkontakt mit fremden Männern. Trotzdem machte das Tragen des fraglichen Kleidungsstücks dieses Vermeiden für van Raak auf eine Weise explizit, die ihn (und andere) die Burka als Äußerung verstehen ließ, nicht Teil der gleichen Gesellschaft zu sein. Die Vorstellung, dass die Burka Kommunikation verhindere und eine Ablehnung der Partizipation an der niederländischen Gesellschaft bedeute, wird in den meisten Medienberichten als unhinterfragte Wahrheit dargestellt. Die niederländischen Debatten über die Regelungen zur Burka oszillieren zwischen Bekenntnissen der Abneigung und Berücksichtigung von Toleranz und Pragmatismus. Geert Wilders setzte sich lange populistisch für ein völliges Verbot der Burka ein und unterbreitete entsprechende Vorschläge schon Jahre, bevor ein Verbot in Frankreich erfolgte. Seiner Meinung nach erforderte die Verteidigung niederländischer Werte eine pragmatische Ablehnung der Toleranz für dieses Kleidungsstück. Andere AkteurInnen verknüpften jedoch ihre persönlichen ablehnenden Empfindungen weniger bereitwillig mit Rechtfertigungen für Unterdrückung oder Intoleranz. So äußerte der damalige Bürgermeister und spätere Vorsitzende der Partei der Arbeit (PvdA) Job Cohen seine Abneigung gegen-

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über Burka und Niqab, fügte aber hinzu, dass seine persönliche Reaktion keinen staatlichen Handlungsbedarf begründe: »Ich persönlich finde es furchtbar, eine Frau in einer Burka herumlaufen zu sehen. Aber ob mir das gefällt oder nicht, ist kein Verbotskriterium.« (Nach Trouw, 28. September 2009) Diese Aussage schaffte es im NRC unter die »Zitate der Woche«, wahrscheinlich wegen des besonders unter seinen Gegnern verbreiteten Ruf Cohens, allzu freundlich mit ImmigrantInnen umzugehen. In den Kopftuchdiskussionen hätte das Bekenntnis einer so tief sitzenden Abneigung zu politischen Schwierigkeiten geführt, wie auch aus der Erfahrung von Femke Halsema deutlich wird. Dagegen ist die persönliche, rein auf Gefühlen basierende Ablehnung der Burka ein fast schon obligatorisches Element der niederländischen Burkadebatten. Das Zitat von Cohen verdeutlicht, dass solche Abneigungsbekundungen in Bezug auf Burka und Niqab vollständig akzeptabel und sogar mit dem Anspruch auf Toleranz vereinbar sind. Dies steht im Widerspruch zu den Kopftuchdebatten: Wer hier auf eine traditionelle Interpretation der zentralen niederländischen Werte und Gewohnheiten pocht, hat nicht den Freiraum, trotzdem sein Unbehagen zu äußern. Die Spannung zwischen Aversion und Toleranz bestimmte die Diskussionen über »Burkaverbote« über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg. Im Jahr 2008 vertrat das regierende Kabinett aus christdemokratischen (CDA), sozialdemokratischen und christlichen (ChristenUnie) Parteien die Auffassung, ein Totalverbot verstoße gegen die niederländische Verfassung sowie gegen die europäische Menschenrechtskonvention. Deswegen entschlossen sie sich für Teilverbote beispielsweise im öffentlichen Personenverkehr, in Schulen sowie in Fällen, die hauptsächlich öffentliche Bedienstete und NutzerInnen öffentlicher Dienstleistungen betreffen (z. B. durch Studentinnen oder Frauen, die Sozialleistungen beziehen). Zur Rechtfertigung dieser Teilverbote bezeichnete Premierminister Balkenende (CDA) die Burka als »Kommunikationshindernis«. Und Integrationsministerin Vogelaar (PvdA) verwies darauf, dass zwar nur wenige Frauen eine Burka tragen, dies aber nicht bedeute, dass dies nur ein Randproblem sei. »Die Burka ruft Ängste hervor. Sie wird mit Radikalismus assoziiert. Wir müssen das ernsthaft berücksichtigen.« (Nach NRC, 9. Februar 2008) Wie auch in weiten Teilen der Kopftuchdiskussion argumentieren diese PolitikerInnen aus der Perspektive der BetrachterInnen und nicht

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aus dem Blickwinkel der Trägerinnen des Niqab. Aus dieser Perspektive heraus scheint es unklar, ob Burka tragende Frauen zu den Niederlanden gehören können. Die MinisterInnen, die weiterhin an der Toleranz und dem Pragmatismus der Niederlande festhielten, entwickelten eine fast schon republikanisch zu nennende Lösung für das Burkaproblem, indem das Tragen als vollständig private Praxis erlaubt blieb, jedoch jeder Anschein staatlicher Unterstützung ausgelöscht wurde. Durch das Verbot der Burka in Teilen des öffentlichen Raums, insbesondere dem Regierungssektor, wurde diesen Frauen statt der vollen Zugehörigkeit nur ein symbolischer Besucherstatus gewährt: Niqab tragende Frauen können den öffentlichen Raum der Niederlande betreten, aber nicht an staatlichen Institutionen teilhaben. Die Tatsache, dass nur wenige Frauen überhaupt eine religiöse Gesichtsbedeckung tragen, motivierte dazu, den niederländischen Pragmatismus deutlich zu bekunden. So besuchten beispielsweise im Jahr 2008 fünf MinisterInnen das Unterhaus des Parlaments, um den Ansatz des Kabinetts zu den Teilverboten von Gesichtsbedeckungen wie Niqab oder Burka zu erläutern. Eine der Überschriften in der Berichterstattung über diese Parlamentsdiskussion lautete: »Fünf MinisterInnen diskutieren einen Nachmittag lang über 100 Frauen, die eine Burka tragen« (nach NRC, 25. April 2008). Der Artikel beginnt mit der Beobachtung, dass dies zu einem Verhältnis von eins zu zwanzig zwischen MinisterInnen und Frauen führte und dass »wenige BürgerInnen der Niederlande jemals so viel Aufmerksamkeit vom Kabinett erhalten werden.« (Nach NRC, 25. April 2008) Dies implizierte die Kritik, dass die MinisterInnen ihre wertvolle Zeit für die Gewohnheiten eines winzigen Teils der niederländischen Bevölkerung verschwendeten. So fragte der damalige Abgeordnete und Beauftragte für Integration der PvdA, Jeroen Dijsselbloem, den Parlamentarier Henk Kamp (VVD), welche Probleme sie zu lösen versuchen, indem Gesichtsbedeckungen verboten werden. Es gebe offensichtlich gewichtigere Probleme, die Abgeordnete und MinisterInnen diskutieren sollten (nach NRC, 25. April 2008). Die Vorstellung, dass die aufgewendete Zeit im Verhältnis zur Schwere eines Problems stehen sollte, kennzeichnet den niederländischen Pragmatismus. Während es sich für Menschen wie Wilders tatsächlich um das dringlichste Problem der Niederlande handelte, sprachen sich Dijsselbloem und andere dafür aus, die niederländischen Probleme woanders zu sehen. Doch selbst für die Partei Dijsselbloems, die PvdA, könnten Burka tragende Frauen nie

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vollständig zu den Niederlanden gehören, und von Dijsselbloem ist die Bemerkung bekannt, er finde die Burka »fürchterlich« (nach De Volkskrant, 22. Dezember 2005). Nur sehr wenige AkteurInnen sprachen sich explizit für Toleranz gegenüber der Burka aus bzw. für das Recht, sie zu tragen. Diese Position wurde am ehesten in Interventionen außerhalb der etablierten Medien aufgegriffen. In einem Versuch, auf die mit der Burka assoziierte Abneigung einzugehen, bot ein Kollektiv aus KunststudentInnen über eine Website eine »Winter-Burka« zum Verkauf an (Bessems 2009). Auf der Internetseite sieht man ein fließendes Gewand, das den Kopf, das Gesicht und die Schultern bedeckt und eine mit Fellrand besetzte Öffnung für die Augen besitzt. (Die Website hat auf Facebook 250 likes – keine große Zahl, aber doch ein Hinweis auf eine gewisse Reichweite.) Diese KunststudentInnen machen auf ironische Weise den pragmatischen Anspruch darauf geltend, eine Burka tragen zu dürfen: Im niederländischen Winter ist es für RadfahrerInnen nötig, das Gesicht zu bedecken. Ihre Website erinnert auch an die Einordnung des Kopftuchs als modisches Statement. Die Website, die für diese »Winter-Burkas« wirbt, beantwortet auf einer Unterseite mit häufig gestellten Fragen (FAQ) auch die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit des Kleidungsstücks: »Auch wenn die Medien den Begriff des Burkaverbots verbreitet haben, ist es in den Niederlanden juristisch unmöglich, ein bestimmtes Kleidungsstück zu verbieten. […] Wir glauben deshalb, dass das Tragen der Winter-Burka unter das unveräußerliche Recht fällt, sich warm anzuziehen.« (Bessems 2009)

Die Idee der »Winter-Burka« fußt auf der für die Niederlande typischen Erfahrung, bei kaltem Wetter Rad zu fahren. Damit soll ein Kleidungsstück normalisiert werden. Statt dass es als fremd angesehen werden muss, könne es im Winter tatsächlich nützlich sein. Dieser leicht ironische Ausdruck des niederländischen Pragmatismus bezieht sich trotzdem auf eine für die MacherInnen dieser Website wichtige Problemstellung: Pragmatismus, das Recht auf Selbstbestimmung und den freien Ausdruck der Persönlichkeit. Auf diese Weise sind die StudentInnen über die Modegeschichten in den Zeitungen hinausgegangen, um ein Verständnis von Zugehörigkeit auszudrücken, das auch Kleidungsstücke wie die Burka umfassen kann. Ihren Zweck beziehen sie auf den Schutz des Gesichts vor Kälte, eine Erfahrung, die Muslime und Nichtmuslime teilen, statt auf

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den Ausdruck von Religiosität und anderen Unterschieden. Dadurch versuchten sie die Abneigung gegen die Burka zu unterlaufen, die die Debatte in so weiten Teilen beeinflusst, und eine entspanntere, pragmatischere und tolerantere Einstellung dazu zu entwickeln. Derlei Versuche, die Prinzipien der Toleranz und des Pragmatismus (durch Ironie vermittelt) auf die Burka anzuwenden, wurden durch Thesen zur Geschlechtergerechtigkeit unterhöhlt. Angesichts des Arguments der Gleichberechtigung führte der wahrgenommene Mangel an Selbstbestimmung der Frauen zu einem hohen Maß an Abneigung der Burka. Der Anspruch auf Zugehörigkeit wird bei Frauen, die die Burka (oder den Niqab) tragen, komplett negiert. Diese Ablehnung aber erscheint im Einklang mit einem an Toleranz und Pragmatismus ausgerichteten Verhalten. Cisca Dresselhuys, frühere Chefredakteurin des feministischen Magazins Opzij (frei übersetzt: Aus dem Weg!) schrieb in einem Kommentar: »Wenn ich in Amsterdam auf eine Frau in einer Burka treffe – und glücklicherweise passiert das nur sehr selten – erschreckt mich das zu Tode. Nicht weil ich wie Geert Wilders glaube, dass sich unter dieser verdeckenden Kleidung ein Al-QaidaKämpfer mit einer Kalaschnikow versteckt, sondern weil ich es abstoßend finde, eine Frau zu sehen, die sich, gezwungen durch Kultur, Religion oder Männer, selbst so komplett unsichtbar macht. Als Feministin, die einen Großteil ihres Lebens genau dagegen gekämpft hat, empfinde ich die Burka als ein sehr unerwünschtes Kleidungsstück.« (Nach Trouw, 29. Mai 2010)

Dresselhuys kann sich nicht vorstellen, dass es (trotz gegenteiliger Indizien, siehe Moors 2009a) der Wunsch einer Frau sein kann, den Niqab zu tragen. Deshalb bezieht sie sich auf ein Verständnis weiblichen selbstbestimmten Handelns, das durch die Grundsätze individueller, liberaler Freiheiten bestimmt ist (siehe auch Mahmood 2005; Korteweg 2008). Dresselhuys rückt die Assoziationskette von Burka zu Terrorismus bzw. öffentlicher Sicherheit in den Vordergrund (Argumente, die an Wilders und die Plattform PVV erinnern), verwirft diese jedoch vor dem Hintergrund der – ihrer Meinung nach – viel substanzielleren Bedrohung für die Geschlechtergerechtigkeit, die vermeintlich vom Niqab ausgeht. Das führt natürlich zur Frage, ob diese Geschlechtergerechtigkeit denn so fragil ist. Kann es sein, dass diese vielbeschworene niederländische Errungenschaft viel weniger gesichert und stabil ist, als die Rhetorik zur Burka (und zum Kopftuch) vermuten lässt?

Was heißt Toleranz? – Niederlande

Ä usserungen des D issens : K unst, H umor und niederl ändische E mpfindlichkeiten Einige Musliminnen intervenierten in den Debatten, indem sie Thesen zu Toleranz und Pragmatismus mit dem niederländischen Sinn für trockenen Humor kombinierten, um eine alternative Version des niederländischen Nationalnarrativs zu formulieren. Dabei wurden drei Botschaften transportiert: 1. Die Kopftuch- und Burkadebatten stehen im Widerspruch zur Anwendung von Toleranz und Pragmatismus. 2. Es ist möglich, auch mit Kopftuch zu den Niederlanden zu gehören. 3. Das wirkliche Problem am Kopftuch ist, dass es zu Diskriminierungen am Arbeitsmarkt führt. (Pragmatismus sowie das Recht auf Gleichbehandlung würden erfordern, dies zu ändern.) Die niederländische Ehrenamtlichenorganisation für muslimische Frauen Al Nisa (arabisch für »die Frauen«) entwickelte auf der Grundlage der Vorstellung, dass es möglich ist, auch mit Kopftuch Niederländerin zu sein, eine Plakatkampagne mit dem Titel Echt Nederlands (»Echt niederländisch«). Sie benutzten Äußerungen von Geert Wilders, um zu zeigen, wie Moslimas (Musliminnen) mit unterschiedlichem Hintergrund ihren Anspruch auf Zugehörigkeit in den Niederlanden formulieren. Die Vorsitzende von Al Nisa, Leyla Çakir, erklärte uns im Interview, wie es zu dieser Kampagne kam. Sie erzählte, wie Wilders im März 2010 in den Regionalwahlen erhebliche Gewinne einfuhr. Als auf diese Wahlen dann die Ankündigung vorgezogener Parlamentswahlen folgte, sagte Çakir zu den Frauen von Al Nisa: »Leute, wir können nicht einfach schweigen«, selbst wenn das bislang ihre Strategie im Umgang mit Geert Wilders war, um ihm nicht noch mehr Medienaufmerksamkeit zu bescheren. Sie tauschten Ideen aus und beschlossen, mithilfe von Bildern eine Diskussion auszulösen: »Wir fanden auch, dass es etwas Spielerisches sein sollte, etwas Humorvolles, dass es aber auch ein starkes Statement sein sollte. Und wir dachten darüber nach, was wir als Moslimas erleben, dass Leute sagen, ›du kannst nicht gleichzeitig Niederländerin und Moslima sein.‹« (Interview mit Leyla Çakir, 22. Januar 2012)

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Für Çakir und die Frauen von Al Nisa ging es bei den Kopftuchdebatten ganz klar um die nationale Zugehörigkeit zu den Niederlanden. Durch ihre Plakatkampagne versuchten sie, ihre Rolle im niederländischen nationalen Narrativ zu verteidigen, indem sie auf niederländische Gewohnheiten und Werte verwiesen. Sie erstellten eine Liste von Äußerungen von Geert Wilders, einschließlich der, er könne Muslime auch »roh« genießen (ein niederländischer Ausdruck, der bedeutet, man würde auch vor einem Kampf nicht zurückschrecken). Al Nisa machte daraus ein Plakat einer muslimischen Frau mit einem nach holländischer Tradition blau-weiß gemusterten Kopftuch, die gerade das ebenso traditionelle Gericht rohen Hering isst. Die Verwendung dieser Holland-Klischees beweist ihr profundes Verständnis des niederländischen Humors. Die Frauen von Al Nisa entwarfen noch drei weitere Plakate. Auf einem davon beziehen sie sich auf die Diskussion um die Kopflumpensteuer. Darauf zu sehen ist eine Frau mit Kopftuch, das als »steuerfrei« abgestempelt wurde, sowie der Spruch »Geselliger können wir es machen«. Damit verwiesen sie auf eine Anzeigenkampagne der niederländischen Steuerbehörde, die besagte, dass sie zwar nicht dafür sorgen könne, dass Steuern zahlen mehr Spaß macht, aber einfacher können sie es machen. Alle Plakate wurden selbst hergestellt und durch Spenden in Form von Geld, Zeit, Material und Dienstleistungen ermöglicht. Diese strategische Entscheidung sollte den Vorwurf entkräften, die Großzügigkeit der Regierung zu missbrauchen (obwohl sie in Blog-Beiträgen trotzdem beschuldigt wurden, von Subventionen zu profitieren). Die Frauen auf allen vier Plakaten sind Musliminnen, einschließlich einer blonden Frau, die einen Tee trinkt und die Menschen dazu einlädt, sie in ihrer Moschee auf eine Tasse dieses traditionell niederländischen, aber ebenso traditionell marokkanischen Getränks zu besuchen. Çakir erzählte von den vielen positiven Reaktionen auf die Kampagne, die Medien schenkten ihr viel Aufmerksamkeit und Schulen, Cafés, Nachbarschaftszentren und sogar ein Schulbuchverlag für Sozialkunde fragten nach den Plakaten. Sie erwähnte aber auch eine Vielzahl an negativen Reaktionen. Sie erhielt E-Mails, in denen gefragt wurde: »Wer glauben Sie, dass Sie sind? Sie werden niemals Niederländerin sein, und dieses Kopftuch ist wirklich nicht niederländisch.« (Interview mit Leyla Çakir, 22. Januar 2012) Sie erhielt Zuschriften, in denen sich Leute über den Terrorismus und alles Negative ausließen, das sie mit dem Islam as-

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soziieren. In unserem Interview wurde deutlich, dass Çakir sich dadurch nicht einschüchtern ließ. Sie sah es eher als Möglichkeit an, ein Gespräch zu beginnen. Sie ging sogar so weit, die Absender der negativen Kommentare einzuladen, »um sich kennenzulernen und das bei einer Tasse Tee zu diskutieren«, was einige sogar annahmen. Çakir konnte so zeigen, wie sie das niederländische Polder-Modell des pragmatischen Dialogs anwendet. Nach dem Erfolg der Plakatkampagne entwarf Al Nisa im Jahr 2011 als Reaktion auf den Vorschlag zum Burkaverbot auch noch einen Cartoon. Çakir erzählte uns, dass sie ein Interview mit Wilders gelesen hatte, in dem er sagte, die Burka sei nicht niederländisch und in den Niederlanden müsse man sich in die Augen schauen können. Sie hielt dieses Argument für zu schwach und konnte kaum glauben, dass »das das ultimative Argument sein sollte, dass [Wilders] […] jetzt, nach sechs Jahren, in den Ring warf« (Interview mit Leyla Çakir, 22. Januar 2012). Die Antwort in Form des Cartoons zeigt Justitia mit einem Niqab an Stelle der Augenbinde, so dass ihre Augen sichtbar sind, das Gesicht aber bedeckt ist. In ihren Waagschalen liegen die Worte »Angst« und »Selbstbestimmung«. Damit sollte, so Çakir, ein »Ja zur Selbstbestimmung und ein Nein zur Angst« vermittelt werden. In unserem Gespräch kam Çakir beim Thema des vorgeschlagenen Burkaverbots auf das Konzept der Toleranz zu sprechen. Zunächst erklärte sie, dass die Argumente von Justizminister Donner zur Kommunikation von Angesicht zu Angesicht unaufrichtig seien: »Seien wir doch mal ehrlich, wenn er wirklich glaubt, in den Niederlanden sollten wir uns in die Augen schauen, dann sollten wir auch Sonnenbrillen und Helme loswerden. Es ist kindisch, oder?« Dann fuhr sie fort: »Ich glaube aber eigentlich, dass wirklich niederländisch zu sein bedeutet, tolerant zu sein. Ich spreche bewusst von Toleranz, weil Toleranz auch etwas Negatives hat, schließlich heißt es ja, dass man etwas erduldet. Das ist auch hier der Fall. Er [der Niqab] ruft ein Gefühl des Unbehagens hervor, selbst unter MuslimInnen. Ich wusste, dass diese Aktion auch von MuslimInnen kritisiert werden würde, weil sie Donner beipflichten: Sie glauben ebenfalls, dass er nicht hierher gehört.« (Interview mit Leyla Çakir, 22. Januar 2012)

Die eigentlich von Çakir verbreitete Botschaft, die erforderliche Toleranz auch dessen, was gefürchtet wird, führte sowohl bei MuslimInnen als auch bei NichtmuslimInnen zu Gefühlen des Unbehagens und der Ab-

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neigung. Wegen der Burka-Aktion dachten viele, Al Nisa sei ein Verband von Trägerinnen des Niqab, weshalb Çakir dann ein Foto des Vorstands auf ihre Website stellte (Frauen mit und ohne Kopftuch, aber keine mit Gesichtsbedeckung), um zu zeigen, »wie vielfältig wir sind«. Çakir nimmt sich dieser Probleme als gläubige Muslimin ohne Kopftuch an. Zwei weitere Frauen, die wir interviewt haben, beteiligen sich als Kopftuchträgerinnen an diesen Debatten. Sowohl ihre politischen Aktivitäten als auch das von ihnen verkörperte Fachwissen werfen ein Schlaglicht auf die Konstruktion der nationalen Zugehörigkeit in den Niederlanden. Im Jahr 2009 gründete sich eine kleine Gruppe, die Polder Moslima Headscarf Brigade (PMHB), als Reaktion auf fortdauernde Diskriminierung am Arbeitsmarkt, besonders von Kopftuch tragenden Frauen, die in höhere Positionen aufsteigen wollen. Immer mehr niederländischer Musliminnen erzielen höhere Bildungsabschlüsse, treffen aber am Arbeitsmarkt auf große Probleme. Nora el Jebli erzählte uns als ein frühes Mitglied von PMHB davon, wie sie ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Art der Diskriminierung dazu bewogen, Sprecherin der PMHB zu werden. Sie hatte sich auf eine Stelle als Buchhalterin bei einer großen niederländischen Firma beworben, hatte am Telefon und per E-Mail mit der Personalabteilung kommuniziert, bis es eine Einigung über die Bedingungen ihrer Anstellung gab. Sie beschrieb den Moment, in dem sie in die Firma kam, um ihren Vertrag zu unterschreiben: »Als ich reinkam, konnte ich sehen, dass die Personalchefin von meiner Erscheinung geschockt war. Ich werde mir natürlich nie hundertprozentig sicher sein können, aber ich glaube, sie hatte vorher ein ganz anderes Bild von mir. […] und dann sagte sie, dass sie gerufen worden sei und für zehn Minuten weg müsse. Ich sagte, ›kein Problem‹. Und nach zehn Minuten kam sie dann zurück und sagte, sie hätte gerade von ihrem Vorgesetzten gehört, dass der Posten intern an jemanden anders vergeben worden sei. Und die Stelle war zuvor fünf Monate lang unbesetzt.« (Interview mit Nora el Jebli, 25. Januar 2012)

El Jebli beschwerte sich nicht und klagte auch nicht gegen das Unternehmen, zum Teil, weil sie zwei Wochen später eine andere Stelle fand. Allerdings motivierte sie diese Erfahrung, die Einladung anzunehmen, bei PMHB Mitglied zu werden. Ihre erste Aktion zielte darauf ab, das Unternehmen zu finden, das Mitarbeiterinnen mit Kopftuch am besten behandelt. 2009 verlieh die PMHB das erste und bislang einzige silberne

Was heißt Toleranz? – Niederlande

Kopftuch an eine Supermarktkette, weil die Kassiererinnen problemlos mit Kopftuch arbeiten durften. Sie fügten sogar noch ein goldenes Innenfutter hinzu, weil auch die Filialleiterin ein Kopftuch tragen konnte. Nora el Jebli erzählte jedoch, dass es ihnen nicht möglich war, weitere ArbeitgeberInnen ausfindig zu machen, die gegenüber Frauen mit Kopftuch in gehobenen Positionen etwa im Management oder anderen hochqualifizierten Bereichen positiv eingestellt waren. Sie haben sich in ihren Netzwerken umgehört und so viele Menschen wie möglich befragt, fanden aber keine entsprechenden ArbeitgeberInnen. El Jebli wurde in Amsterdam geboren und wuchs dort als Kind von Eltern auf, die aus Marokko stammten. Sie sieht sich selbst als Niederländerin. Sowohl in ihrer ehrenamtlichen Arbeit mit PMHB als auch in ihrer Arbeit für eine Organisation, die jugendlichen MigrantInnen in Bildungsfragen und bei Praktika auf dem Weg ins Berufsleben behilflich ist, hatte sie das Gefühl, der Anspruch von MuslimInnen auf Zugehörigkeit würde permanent in Frage gestellt. Die Frauen, die ihr davon erzählten, dass sie mit Kopftuch keine Arbeit fanden (was aus ihrer Sicht mit marokkanischem oder türkischem Namen ohnehin schwer genug war), und die Schwierigkeiten der Jugendlichen, Praktikumsplätze zu finden, die sie für den Oberschulabschluss brauchten, verstärkten bei ihr das Gefühl, dass sie sich zwar zugehörig fühlen kann, die nicht migrantischen NiederländerInnen das aber nicht so sehen. Sie berichtete davon, wie die Jugendlichen, mit denen sie arbeitete, auf die Hindernisse reagierten, auf die sie stießen. Viele sagten, sie würden »zurück nach Marokko oder in die Türkei« gehen, selbst wenn sie keine enge Verbindung dorthin hatten. Während Çakir sich gegen solche Tendenzen (die sie ebenfalls in ihrer Arbeit erlebte) einsetzte, schien el Jebli dafür keine Kraft mehr zu besitzen. Sie dachte selbst darüber nach, in ein anderes europäisches Land umzusiedeln, um die niederländischen Debatten hinter sich zu lassen. Wir interviewten auch eine der wenigen niederländischen Politikerinnen mit Kopftuch, eine Bezirksbürgermeisterin (stadsdeelraadvoorzitter) in Amsterdam, Fatima Elatik. In dieser Funktion ist sie für einen Stadtteil Amsterdams mit 112.000 EinwohnerInnen verantwortlich und Vorgesetzte von 1000 Angestellten. Als in Amsterdam geborene und aufgewachsene Tochter marokkanischer Eltern ist sie der festen Überzeugung, durch und durch Niederländerin zu sein. Als gewählte Repräsentantin konnte sie einige der Probleme umgehen, die el Jebli beschrieb. Und doch gab auch sie zu verstehen, dass sie sich selbst zwar vollständig als Amster-

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damerin und Niederländerin fühlt, andere aber diese Auffassung nicht immer teilen. Elatik ist leidenschaftliche Verfechterin des Dialogs und des Gesprächs als Weg zur Lösung von Meinungsverschiedenheiten oder Glaubensfragen. Sie begrüßt auch die Reibung, die ein solcher Dialog mit sich bringt, und verdeutlicht dies mit dem Bild des Sandkorns in einer Auster, das zu einer Perle wird. Im Gespräch ging es unter anderem um die CGB, die eine Plattform für die fortdauernde Debatte darüber bietet, ob das Kopftuch in bestimmten Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens erlaubt sein soll oder nicht. In diesem Zusammenhang tauchte die Frage auf, ob diese Plattform der Idee einer niederländischen Zugehörigkeit, die auch das Kopftuch umfasst, eher schade oder nutze. Elatik sprach sich vehement gegen diese Polarisierung aus. Sie betont vielmehr, wie CGB wichtig solch eine Plattform für die dringend erforderliche Diskussion sei. Wie Çakir glaubt auch Elatik, dass es vor allem um den Dialog geht: Nur wenn Menschen die Spannungen zwischen sich benennen, können sie auch Fortschritte machen. Als spezifisches Beispiel erwähnt sie ihre Arbeit mit einer jungen Frau, die ein Praktikum in einer Kinderbetreuungseinrichtung absolvierte und sich weigerte, Vätern die Hand zu geben. Die Leitung der Einrichtung bat Elatik um Rat und Elatik sprach mit der jungen Frau. Sie erklärte der jungen Frau, dass sie sich um die wertvollste Person im Leben eines Menschen kümmere – dem Vater nicht die Hand zu schütteln, würde ihn stark beunruhigen. Die junge Frau verstand das und änderte ihr Verhalten. Elatik meint, das zeige, dass Menschen voreilige Schlüsse über das Verhalten oder die Ansichten anderer ziehen, ohne die real vorhandenen Möglichkeiten zu besprechen, und bewies so ihren Glauben an den niederländischen Pragmatismus mit seiner Betonung des Dialogs in Zeiten des Konflikts. Gleichzeitig sagte Elatik aber auch, dass sie es leid sei, ständig ihr Kopftuch erklären zu müssen. »Ich bin so viel mehr als dieses Tuch!« Sie erzählte, dass sie in Cafés geht, in denen auch Alkohol serviert wird, dass sie allen die Hand schüttelt und dass sie ihrem Vater gesagt hat, dass sie, wenn sie einen schönen Mann sieht, lange und gründlich hinschaut. Kurz gesagt trägt Elatik zwar ihr Kopftuch (und kann es sich auch nicht anders vorstellen), das bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass ihr Verhalten der Liste der Verhaltensweisen entspricht, die so oft mit diesem Kleidungsstück assoziiert werden – sowohl von denen, die meinen, ein solches Symbol der Unterdrückung der Frauen sollte nicht toleriert

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werden, als auch von jenen, die es tolerieren wollen, dabei aber ein tiefes Unbehagen verspüren. Elatik sagte, sie verfolge einen »spielerischen Ansatz« zur Kopftuchdebatte und verwendete damit dasselbe Wort, wie Çakir und el Jebli es für ihre Interventionen in der öffentlichen Diskussion fanden. Einige Monate vor unserem Interview hatte ein Mitglied der PVV gefordert, Elatik solle nicht ins Gebäude des Provinzparlaments gelassen werden, weil sie die Bekleidungsvorschriften verletzte. Als sie dort zu einem Treffen eingeladen war, versendete sie den Tweet »mal sehen, ob sie mich reinlassen«. Als das Parlament in Fragen zum Kopftuch der Königin verstrickt war, schrieb Elatik in einem Tweet, sie finde das rote besser als das blaue, und deutete damit an, wie sinnlos sie diese Diskussion finde. Sie sagte uns denn auch, dass sie »den Seufzer von Königin Beatrix wirklich wunderbar fand. Was sich diese 150 Feiglinge im Parlament nicht zu sagen trauen, drückte sie mit nur einem Seufzer aus.« Elatik unterschied sich in ihren Reaktionen zur andauernden Kopftuchdebatte von den anderen Frauen, die wir interviewt haben. Als Mitglieder der PVV öffentlich androhten, sie nicht in das Gebäude des Provinzparlaments zu lassen, ignorierte sie das mit einem Achselzucken. Nora el Jebli dagegen fühlte sich durch die konstanten Spannungen bezüglich ihres Kopftuchs so ausgelaugt, dass sie in Erwägung zog, die Niederlande zu verlassen. Leyla Çakir hat vor, in den Niederlanden zu bleiben, fühlt sich dort aber zunehmend beunruhigt. In einem Interview im Jahr 2008 sah sie sich selbst noch unproblematisch als Niederländerin. In unserem Gespräch vom Januar 2012 jedoch verwendete sie den Begriff »sie«, wenn sie über Einheimische ohne Migrationshintergrund sprach. Nach der Zukunft befragt, sagte Çakir einerseits, sie glaube, dass die NiederländerInnen die Debatte fortführen würden und sich alles letztlich normalisieren würde. Sie konnte sich andererseits jedoch auch schwerwiegendere Formen der Exklusion vorstellen: Sie sagte, dass die Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs und der teilweisen Kollaboration mit den Deutschen nicht so lange zurückliegt. Auch die Tatsache, dass der Begriff Apartheid ein politisches System bezeichnet, das von Nachkommen von NiederländerInnen verbreitet worden ist, sollte die Menschen zum Nachdenken bringen. Diese drei Frauen verdeutlichen, welchen Raum es für Alternativen oder den Einfluss von möglichen Stimmen des Protests vor dem Hintergrund des nationalen Narrativs gibt. In Frankreich zeigte das Beispiel von

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Ilham Moussaïd die Grenzen der politischen Partizipation für Kopftuch tragende Frauen auf. In den Niederlanden hingegen gab es die Aktionen der Polder Moslima Headscarf Brigade und die Kampagnen von Al Nisa sowie die umfassende Partizipation einer einflussreichen Politikerin mit Kopftuch. Die Stellungnahmen der drei Frauen sind innerhalb des niederländischen Nationalnarrativs nachvollziehbar, sie beziehen sich vor allem auf Toleranz und Pragmatismus und bedienen sich dabei für die Niederlande typischer Formen des Humors und der Direktheit. Aber diese ironischen Aussagen können auch echte Verzweiflung darüber verdecken, dass eine Partizipation langfristig kaum möglich erscheint und die Toleranz im Schwinden begriffen ist. In einem Interview von 2008 unterstützte Naïima Azough (Abgeordnete für GroenLinks, deren Eltern aus Marokko eingewandert waren) die Aussage, dass junge Frauen sich selbst dafür entscheiden, das Kopftuch zu tragen. Wie Çakir, el Jebli und Elatik sprach sie sich gegen eine vereinfachende Verknüpfung zwischen Kopftuch und der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern aus. Trotzdem sorgte sie sich, dass junge Musliminnen das Kopftuch zunehmend nicht als religiöses Symbol, sondern »wie den Irokesenschnitt« als Zeichen des Protests verstanden. Als etwas, dem sich junge, niederländische Musliminnen zuwenden, um gegen eine Gesellschaft zu rebellieren, von der sie das Gefühl haben, sie akzeptiere sie nicht. Während die dominierenden Interpretationen des niederländischen nationalen Narrativs eine Art Balance der Stimmen für und gegen das Tragen islamischer Kleidung in der Öffentlichkeit herzustellen scheinen, legen die Darstellungen dieser drei muslimischen Niederländerinnen nahe, dass die Argumente der Inklusion die des Ausschlusses kaum aufzuwiegen vermögen. Gleichzeitig wurde durch die Debatten ein Raum für einige Musliminnen mit Kopftuch geschaffen, sich auf ihre Weise Gehör zu verschaffen. Sie verwendeten dazu den trockenen und direkten, typisch niederländischen Humor, aber auch künstlerische Ausdrucksformen und öffentlichkeitswirksame Aktionen, um klar zu machen, dass Kopftücher mittlerweile genau so sehr zur Landschaft der Niederlande gehören wie Deiche und Windmühlen.

5. Homogenität oder Diversität? Die Interpretation des nationalen Narrativs in den deutschen Kopftuchdebatten

Gegen Ende des Jahres 2003 entbrannte in Deutschland eine öffentliche Debatte darüber, ob muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürfen. Einer deutschen Lehrerin mit afghanischen Wurzeln, Fereshta Ludin, wurde die Anstellung an einer Schule in Stuttgart verwehrt, da sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollte. Sie reichte eine Klage gegen Diskriminierung aufgrund religiöser Überzeugungen ein. Nachdem ihr Fall durch alle Rechtsinstanzen ging, entschied schließlich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), der Schulverwaltung fehle die gesetzliche Grundlage, um Ludin die Anstellung wegen des Kopftuchs zu verwehren. Zugleich äußerte das Gericht jedoch die Befürchtung, das Kopftuch könne als religiöses Symbol den staatlichen Bildungsauftrag gefährden. Das Kopftuch wurde als mögliche Quelle einer Gefahrensituation in deutschen Klassenzimmern dargestellt. Das Gericht betrachtete das Kopftuch als Symbol einer grundlegenden sozialen Bedrohung, wie folgende Aussage zeigt: »In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen, das die Abgrenzung zu Werten der westlichen Gesellschaft […] ausdrückt« (BVerfGE, 2BvR; siehe Fournier und Yurdakul 2006, 172). Allerdings erklärte das Gericht auch, dass die zum Zeitpunkt der Klage Ludins geltenden Gesetze keine klare Grundlage für ein Verbot des Kopftuchs im Klassenzimmer boten. Das Verfassungsgericht rief die einzelnen Bundesländer dazu auf zu entscheiden, ob Lehrerinnen an Schulen Kopftuch tragen dürfen.1 Seitdem haben eine Reihe von Bundesländern eigene Gesetze dazu erlassen, abhängig vom historischen Hintergrund, von der unterschiedlich religiös oder mi-

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grantisch geprägten Bevölkerung und vor allem den aktuell herrschenden politischen Kräften in den jeweiligen Ländern. Als Ergebnis des Falls wurde das Kopftuch zum Kristallisationspunkt der Integrationsdebatten, die sich 2004 nach der Bildung der Großen Koalition aus der christdemokratischen (CDU) und der sozialdemokratischen Partei (SPD) entwickelten (Amir-Moazami 2007; Berghahn und Rostock 2009; Sauer und Rosenberg 2012; Yurdakul 2006; Fournier und Yurdakul 2006). Diese Integrationsdebatten kreisten um das nationale Narrativ der Zugehörigkeit, indem diskutiert wurde, wie MuslimInnen zu deutschen BürgerInnen gemacht werden könnten (Özyürek 2011; Yurdakul 2009). Die bis zum Jahr 2000 geltenden, auf dem jus sanguinis basierenden Regelungen zur deutschen Staatsbürgerschaft gingen auf 1904 eingeführte Gesetze zurück. Sie waren ein klarer Beleg dafür, wie die Zugehörigkeit in Deutschland definiert wurde: beruhend auf der Vorstellung einer einheitlichen ›deutschen‹ Identität, die es zu bewahren gelte. In den Debatten zur Integration von ImmigrantInnen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wirkte dieses Ideal der Homogenität weiter fort und ließ wenig Raum für Differenz, besonders im Fall von MuslimInnen. Umgekehrt argumentieren MuslimInnen in Deutschland, dass die muslimische Identität das ›Deutschsein‹ sozial und kulturell bereichere, statt das Ideal der Homogenität zu bedrohen. Sie entwickeln deshalb ein Narrativ der Diversität. Die Debatten um das Kopftuch zeigen die Spannungen zwischen diesen beiden Interpretationen des nationalen Narrativs; es wird verhandelt, wer zu Deutschland gehört und wer nicht. Obwohl es ein nationales Narrativ der Homogenität gibt, ist Deutschland aus historischer Sicht ein Amalgam kulturell, politisch und sozial unterschiedlicher Gruppen. Dies wird auch aus der Präsenz verschiedener kultureller Traditionen, ethnischer Minderheiten und zweier christlicher Konfessionen deutlich. Als einer der späten modernen Nationalstaaten besteht Deutschland aus Bundesländern, die zum Teil sehr viel länger als eigenständige Länder mit spezifischen kulturellen Eigenheiten bestanden denn als Teil des 1871 gegründeten deutschen Nationalstaats (Plessner 1974). Noch heute ist der Regionalstolz sehr stark ausgeprägt und viele Menschen sehen sich eher als BayerInnen oder BerlinerInnen denn als Deutsche. Diese traditionelle Bedeutung der Regionen zeigt sich auch im föderalen System der Bundesrepublik: Die Landesregierungen werden zum Teil von Parteien regiert, die eine der Bundesregierung entgegengesetzte Agenda vertreten. Seit der Gründung der Bundesrepublik

Homogenität oder Diversität?

Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich die Bundesländer wirtschaftlich sehr unterschiedlich, wobei Baden-Württemberg, Bayern und Hessen meist die Spitzenpositionen einnahmen und als wirtschaftlicher Motor Deutschlands fungierten. Am anderen Ende finden sich die Länder im Norden und (seit der Wiedervereinigung 1990) im Osten, die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Diese wirtschaftlichen Unterschiede werden jedoch durch ein verfassungsrechtlich festgeschriebenes Solidarsystem gemildert: Die wichtigste Rolle spielt hier der Länderfinanzausgleich, nach dem reichere Bundesländer einen Anteil ihres Steueraufkommens ärmeren Bundesländern zukommen lassen müssen. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass trotz des nationalen Narrativs, das auf der Konstruktion einer imaginierten homogenen Gesellschaft beruht, Deutschland in Wirklichkeit ein politisch, historisch, sozial und wirtschaftlich heterogenes Land ist. Die jüngste Quelle der Vielfalt liegt in der Einwanderung aus vorwiegend muslimischen Ländern, die bereits in den 1950er Jahren begann, als ImmigrantInnen aus der Türkei und anderen Ländern zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Gegenwärtig sind abgesehen von Konfessionslosen Muslime die größte nicht christliche Bevölkerungsgruppe. Die 4,3  Mio. MuslimInnen in Deutschland entsprechen fast 5,2 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung. 63 Prozent der muslimischen Bevölkerung stammen aus der Türkei (Haug, Müssig und Stichs 2009). Außer Türkeistämmigen gehören zur muslimischen Bevölkerung Deutschlands auch Menschen aus dem Iran, dem Irak, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Albanien, Marokko, Pakistan, Palästina und dem Libanon sowie MuslimInnen aus anderen arabischen, afrikanischen und asiatischen Ländern. Trotz dieser Vielfalt an Ursprungsländern wird in Deutschland ›muslimisch‹ oft als ›türkisch‹ verstanden und werden die beiden Begrifflichkeiten werden häufig synonym gebraucht. MuslimInnen in Deutschland, besonders die türkischer Herkunft, konnten hinsichtlich der sozioökonomischen Stellung im Vergleich zu NichtmuslimInnen noch immer nicht aufholen. Kinder aus Familien türkischer ImmigrantInnen schneiden im Bildungsbereich unterdurchschnittlich ab: 27 Prozent von ihnen brechen die Schule ab, bei Deutschen ohne Migrationshintergrund sind dies nur 3,9 Prozent (Statistisches Bundesamt 2010). In diesem Kontext wird auf Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund in deutschen Schulen verwiesen, aber bis heute konnte keine Studie exakt belegen, wo und wie diese Diskriminie-

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rung erfolgt, obwohl es unterschiedliche Thesen hierzu gibt (Diefenbach 2007). Für einige liegt es am Schulsystem, für andere an den Lehrkräften und wieder andere sehen die Schuld beim deutschen Staat, weil er in den vergangenen Jahrzehnten keine speziellen Programme für Kinder von ImmigrantInnen eingeführt hat. Gleichzeitig gibt es eine signifikante Zahl an DeutschtürkInnen, die erfolgreich Hochschulabschlüsse erwerben (Kirsten et al. 2008). Auch gibt es zwar bekannte Deutschtürk­ Innen in der Politik (Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen), in den Medien (Nazan Eckes, eine populäre Moderatorin), im Literatur- und Kunstbetrieb (Emine Sevgi Özdamar, eine berühmte Literatin, sowie Fatih Akın, ein international anerkannter Regisseur) und im Geschäftsleben (Vural Öger, Gründer eines großen Reiseunternehmens); allerdings ist diese Gruppe verhältnismäßig klein im Vergleich zur deutschtürkischen Gesamtbevölkerung. Die Geschichte der sozialen und politischen Vielfalt in Deutschland beeinflusst auch die Diskussionen zur ›Integration‹2 von MuslimInnen. Dem nationalen Narrativ der Zugehörigkeit zufolge hat Deutschland seine historische Diversität verwaltet, indem es bestimmte soziale Normen, kulturelle Symbole und rechtliche Regulierungen geschaffen hat, die für die EinwohnerInnen bindend sind. Manche PolitikerInnen argumentieren, wenn sich nur alle EinwohnerInnen Deutschlands, besonders muslimische ImmigrantInnen, an diese festgelegten Normen halten, bestimmte kulturelle Symbole und die rechtlichen Grundlagen der deutschen Gesellschaften achten, dann könnten auch alle ImmigrantInnen problemlos in Deutschland integriert werden. Riem Spielhaus verweist auf die Problematik des Begriffs ›Integration‹, weil er ein ›Wir‹ und ein ›die Anderen‹ schaffe, wobei ›die Anderen‹ Wege finden müssten, dem ›Wir‹ ähnlicher zu werden (2012a). Nach Spielhaus versäumen PolitikerInnen oft die Definition, was ›Integration‹ ist oder was Einzelne tun können, um sich zu ›integrieren‹. Stattdessen werden MuslimInnen als Beispiel der Nichtintegration angeführt. So verwendete beispielsweise der Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) den Begriff »Integrationsverweigerer«, als er über MuslimInnen sprach (Der Spiegel, 5. September 2010). Zu anderer Gelegenheit kam Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit ihrer berühmten Äußerung »Multikulti ist […] absolut gescheitert!« zu dem Schluss, dass die einzig wirksame Form der Politik zur Lösung sozialer Probleme darin bestehe, MuslimInnen in die deutsche Gesellschaft zu »integrieren« (Deutsche Welle, 17. Oktober 2010).

Homogenität oder Diversität?

Dabei war der Multikulturalismus nie offizielle Politik in Deutschland, er wurde eigentlich nur von den Grünen befürwortet. Die damalige Oppositions- und heutige Regierungspartei CDU kam in ihrer am 6. November 2000 der Zuwanderungskommission vorgestellten »Arbeitsgrundlage« sogar zu folgendem Schluss: »Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland und darf es auch künftig nicht werden. […] Multikulturalismus und Parallelgesellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel muss eine Kultur der Toleranz und des Miteinander sein – auf dem Boden unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der eigenen Identität. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird.« (CDU 2000)

Dieser Versuch, eine imaginierte homogene deutsche Gesellschaft durch den Verweis auf eine ›Leitkultur‹ wiederzubeleben, prägt den Ansatz der CDU im Bereich der Integrationspolitik nach wie vor. In dieser und anderen Pressemitteilungen sowie in öffentlichen Reden vieler CDU-PolitikerInnen bilden MuslimInnen das Hauptziel der Debatte um eine ›Leitkultur‹, wobei hauptsächlich TürkInnen und AraberInnen als diejenigen ausgemacht werden, die sich der ›deutschen Leitkultur‹ verschließen würden. Viele Organisationen deutscher MuslimInnen haben versucht, die Partizipationsmöglichkeiten muslimischer ImmigrantInnen in der deutschen Gesellschaft zu verbessern. Diese Organisationen übernehmen zum Teil die Integrationssprache, um mit dem deutschen Staat kommunizieren zu können. Die bekanntesten muslimischen Organisationen sind der Islamrat und der Zentralrat der Muslime. Sie genießen eine halboffizielle Anerkennung der deutschen Regierung, da sie zur seit 2006 jährlich stattfindenden Deutschen Islam Konferenz (DIK) eingeladen wurden. Die Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami (2009) weist in ihrer Analyse dieser Konferenz nach, wie Regierungsbehörden nach Wegen suchen, um in einen Dialog mit den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften einzutreten. Diese Gemeinschaften sind ihrerseits interessiert, sich institutionell in Deutschland zu etablieren, was die Regierung gegenwärtig im Rahmen ihrer Bemühungen zur Verbesserung der ›Integration‹ unterstützt. Anhand der Kontroversen über das Kopftuch kristallisiert sich heraus, wie nationale Zugehörigkeit in der deutschen Integrationsdebatte verhandelt wird. Um zu zeigen, wie sich in den deutschen Kopftuchdebatten Konflikte um Zugehörigkeit in Deutschland ablesen lassen, werden wir in

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diesem Kapitel folgendermaßen vorgehen: Zunächst betrachten wir, wie sich in der Geschichte des deutschen Nationalnarrativs der Zugehörigkeit das Konzept rassischer Homogenität in ein Konzept kultureller Homogenität verwandelt hat. Anschließend erörtern wir, wie die HauptakteurInnen der Konstruktion des aktuellen nationalen Narrativs der Zugehörigkeit als ›die Deutschen‹ im Gegensatz zu ›den MuslimInnen‹ dargestellt werden. Danach zeigen wir, wie ›die Deutschen‹ als zentrale Ideen des nationalen Narrativs der Zugehörigkeit die Neutralität des Staates, die ›Leitkultur‹ und die Gleichberechtigung der Geschlechter aufrufen. Auf dieser Grundlage wird versucht, im öffentlichen Dienst (insbesondere an Schulen) tätigen Frauen das Tragen des Kopftuches zu untersagen. Abschließend erfolgt die Erörterung einer anderen Konstruktion des Deutschseins, nämlich eines Deutschseins der Vielfalt oder Diversität. Diese Perspektive stärken viele Stimmen und Schriften derer, die als ›MuslimInnen‹ klassifiziert werden und die teils ein Kopftuch tragen.

D as deutsche N arr ativ der Z ugehörigkeit : H omogenität, religiös - weltanschauliche N eutr alität des S ta ates und G eschlechtergerechtigkeit Nationale Narrative sind immer konfliktbehaftet, weil sie sich aus dem Spannungsfeld unterschiedlicher Interpretationen der Zugehörigkeit entwickeln. Im Fall des deutschen Nationalnarrativs macht die Last der Geschichte eine Diskussion um Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit besonders schwierig. Nach dem Holocaust sah sich die deutsche Nation vor die schwierige Aufgabe gestellt, sich selbst neu zu erfinden. Das führte jedoch nicht zwangsläufig zu einer vollständigen Neuschreibung des deutschen Nationalnarrativs. Vielmehr wurden Elemente daraus, die schon vor 1933 bestanden, und selbst solche, die zur Nazizeit (1933–1945) besonderes Gewicht bekamen, neu definiert, um ein nationales Narrativ zu schaffen, das vorgeblich frei davon war, den Völkermord zu rechtfertigen. Die Homogenität zieht sich als zentrales Element des deutschen Nationalnarrativs wie ein roter Faden durch die gesamte deutsche Nationalgeschichte, allerdings, besonders vor und nach dem Holocaust, in unterschiedlichen Interpretationen. Vom späten 19. Jahrhundert (mit der Gründung des deutschen Nationalstaats im Jahr 1871) bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde

Homogenität oder Diversität?

Homogenität verknüpft mit einem ethnisch-rassischen Verständnis von Zugehörigkeit. Nach dem Holocaust wurde das Konzept einer ›deutschen Rasse‹ durch die offenere Definition einer ›deutschen Kultur‹ ersetzt, die auch demokratische Werte umfasst. Homogenität ist immer das Ergebnis eines Herstellungsprozesses und keine statische Größe. Deutschland als Nation entwickelte sich aus verschiedenen Traditionslinien heraus, in der Mitte Europas an der Schnittstelle diverser Handelsrouten gelegen und mit einer Bevölkerung, die sich unter anderem aus den Nachfahren verschiedener fremder Armeen zusammensetzte, von den alten Römern bis zu den Schweden, aber auch aus ImmigrantInnen aus Frankreich, den Niederlanden und Russland. Der Diskurs der Homogenität war in starkem Maße das Ergebnis einer bewussten Konstruktion mithilfe politischer Kampagnen, staatlicher Institutionen und blanker Propaganda. Er kann mit Bezug auf den Philosophen und Soziologen Helmut Plessner (1974) als eine Reaktion auf Minderwertigkeitskomplexe betrachtet werden: Während Frankreich und Großbritannien bereits lange als Nationalstaaten etabliert waren, ist Deutschland mit seiner Gründung des Nationalstaates 1871 eine »verspätete Nation« (Plessner 1974). Anstatt die historische kulturelle Vielfalt anzunehmen, die sich aus dem Zusammenschluss einer Vielzahl deutschsprachiger Länder ergab, betonte der neue deutsche Nationalstaat die Homogenität. Nach einem Jahrzehnt der Kriege, einschließlich eines Krieges gegen das vornehmlich deutschsprachige Kaiserreich Österreich-Ungarn, konsolidierte der preußische Kanzler Otto von Bismarck den ersten deutschen Nationalstaat und wurde Kanzler dieses neuen Kaiserreiches. Vor 1871 wurde die Idee der deutschen Nation durch die Vorstellung der Kulturnation ausgedrückt, in der die deutschen Völker durch eine gemeinsame Kultur und Sprache miteinander verbunden waren, nicht jedoch in einem Nationalstaat. Deutschland war ein Konglomerat aus Fürstentümern, Herzogtümern und Stadtstaaten wie Lippe, Sachsen-Weimar-Eisenach und Lübeck. Bemerkenswert ist, dass Bismarcks Konsolidierung des neuen Nationalstaats als »kleine Lösung« galt, weil die deutschsprachigen Teile des Reiches von Österreich-Ungarn ausgenommen blieben.3 Bismarck versuchte die nationale Einheit dadurch herzustellen, dass bestimmte Gruppen als Außenseiter und Bedrohung für die Nation dargestellt wurden. Das betraf beispielsweise im Kulturkampf die von Rom aus gelenkte katholische Kirche (Chin et al. 2009, 16), aber auch die slawische Minderheit der SorbInnen, deren Sprache in Schulen verboten wurde.

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Historisch betrachtet wurde die vorgebliche Homogenität des deutschen Nationalstaates also ganz explizit mit Blick auf die Idee des ›Anderen‹ konstruiert. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg waren die neuen ›Anderen‹ der Nation die polnischen Arbeiter in den Kohleminen und Stahlwerken des Rheinlands und die armen jüdischen ImmigrantInnen (sogenannte OstjudInnen), die vor dem Ersten Weltkrieg aus dem russischen Zarenreich nach Deutschland gekommen waren. Alle diese Menschen wurden zunehmend als einer anderen ›Rasse‹ zugehörig angesehen (Aschheim 1983; Klusmeyer und Aleinikoff 2001). Dieses »Rassedenken«, wie Hannah Arendt es nannte, wurde mithilfe der Eugenik und den Theorien zur »Rassenhygiene« in der Politik, aber auch in der akademischen Welt verbreitet (Arendt 1973; Bodemann 2010; Chin et al. 2009). Die Polarisierung zwischen den angeblich unterschiedlichen ›Rassen‹ führte zu Hierarchien zwischen ›uns‹ und ›denen‹, die durch die Vorstellung der ›Verunreinigung der Rassen‹ noch verstärkt wurden. Der zuerst zu Zeiten Bismarcks entwickelte Gedanke, dass die als Nichtdeutsche Bezeichneten eine »Gefahr für die Nation« darstellten, wurde zur Rechtfertigung des nationalsozialistischen Regimes (Arendt 1973). Nach dem Zweiten Weltkrieg verabschiedeten sich die Deutschen von der Überzeugung, dass die ›deutsche Nation‹ der Ausdruck einer ›deutschen Rasse‹ sei. Im Nachkriegsdiskurs wurde das Konzept menschlicher Rassen und damit auch die Artikulation jedes Narrativs, das mit ›Rasse‹ assoziiert werden könnte, gänzlich vermieden.4 Stattdessen wurde das ›Deutschtum‹ so definiert, dass es auf »kollektiver Schuld« basiert und eine »Schicksalsgemeinschaft« kennzeichnet (Chin et al. 2009, 22). Darin wird deutlich, wie die Verantwortung für den Holocaust zu einem der zentralen Elemente des ›Deutschseins‹ geworden ist (Yurdakul und Bodemann 2006). Als der frühere Kanzler Helmut Kohl in seiner Rede vor der israelischen Knesset im Jahr 1984 von der »Gnade der späten Geburt« sprach und verlangte, dass die Nachkriegsgenerationen in Deutschland davon befreit werden sollten, die Bürde des Holocaust tragen zu müssen, wurde er dafür in Deutschland stark kritisiert. Es wurde an »die Verantwortung« erinnert, die aus dem Mord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden erwachse.5 Und doch führte diese Verabschiedung des Konzepts ›Rasse‹ nicht zur Ablehnung des Konzepts des ›Andersseins‹. So beschwor die nationale Phantasie nunmehr ›kulturelle‹ Unterschiede zwischen Ost und West herauf anstelle von ›rassischen‹ und ethnischen Unterschieden. In der

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Bundesrepublik wurde die nationale Einheit und die Solidarität mit den »unterdrückten Brüdern und Schwestern« im Osten proklamiert: eine Perspektive, die es Westdeutschen erlaubte, herabzublicken auf die ärmeren BewohnerInnen der »Zone« (Kurzform für Ostzone, die auf die sowjetische Besatzungszone verweist und den offiziellen Namen der Deutschen Demokratischen Republik umgeht).6 Diese Perspektive stärkte die Selbstwahrnehmung Westdeutschlands als einzig wahre deutsche Demokratie. Umgekehrt stellte sich die DDR als Paradies der ArbeiterInnen und BäuerInnen dar und bezichtigte die Bundesrepublik als Rückzugsort für frühere Nazis und als Sinnbild des halsabschneiderischen Kapitalismus. Nach der Wiedervereinigung veränderte sich das Narrativ erneut. Westdeutschland galt Ostdeutschland gegenüber als überlegen, wodurch zwei verschiedene Arten des Deutschseins entlang territorialer und politischer Trennlinien konstruiert wurden: Ossis und Wessis. Wessis stellten die Ossis fast wie eine unterlegene ethnische Gruppe dar, als sie ihre Vorurteile mit den vier Ps für »passiv, pazifistisch, pessimistisch und paranoid« zusammenfassten, wie sich die FAZ 2009 erinnerte (FAZ, 14. März 2009). Obwohl Ossis eindeutig Mitglieder derselben deutschen Nation sind, wenn auch durch die Teilung Deutschlands und die Errichtung der Berliner Mauer über Jahrzehnte abgetrennt, werden sie in Medien und Politik stigmatisiert. So sagte beispielsweise Thilo Sarrazin im TV-Politmagazin Panorama am 14. September 2010, dass Ossis »dümmer als Wessis« seien. Noch heute, fast 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, behaupten sich in den Medien und der Politik Stereotype gegenüber Ossis. Während Ossis und Wessis füreinander die jeweils ›Anderen‹ waren, wurden neue ImmigrantInnen die ›Anderen‹ für alle Deutschen. Ab 1956 wurde im Rahmen des Gastarbeiterprogramms zur Unterstützung des ›Wirtschaftswunders‹ eine große Zahl an ausländischen ArbeiterInnen angeworben und nach Westdeutschland geholt. Der Status der GastarbeiterInnen wurde geschaffen, um sie im neuen Land als temporäre Gäste zu kennzeichnen, die nicht vorhätten, langfristig zu bleiben (Herbert 1990). Diese Vorstellung teilten ursprünglich sowohl die Deutschen wie auch die ausländischen Arbeitskräfte. Während das Anwerbeabkommen zunächst nur Italien, Spanien und Griechenland umfasste,7 wurden später weitere Abkommen mit Ländern wie der Türkei, Marokko, Portugal und Tunesien abgeschlossen. Ab 1961 wurden ImmigrantInnen aus der Türkei schnell zur größten Gruppe ausländischer ArbeitnehmerInnen in Deutschland. Nach dem türkischen Militärputsch unter General Kenan

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Evren am 12. September 1980 wurde die türkische Linke nahezu vollständig zerstört. Viele TürkInnen kamen als politische Flüchtlinge in die Bundesrepublik und auch sie wurden als GastarbeiterInnen tituliert. Nach der deutschen Wiedervereinigung brach die ostdeutsche Wirtschaft zusammen. Während die sozialen Sicherungssysteme Westdeutschlands die nun von steigender Arbeitslosigkeit betroffenen Ostdeutschen vor den schwersten wirtschaftlichen Härten schützten, führten die psychologischen Auswirkungen dieser Übergangsphase im Zusammenspiel mit unterschwellig bereits bestehenden xenophoben Tendenzen dazu, dass viele Ostdeutsche für Neonazi-Propaganda gegen ImmigrantInnen anfällig wurden. Es folgte eine Reihe gewalttätiger Übergriffe auf AusländerInnen. Am Anfang standen die viel beschriebenen Ausschreitungen in den ostdeutschen Städten Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992). Auf westdeutscher Seite wich die Feierlaune der Wiedervereinigung der eher düsteren Aussicht enormer Kosten für die Umwandlung der früheren DDR in einen wettbewerbsfähigen Teil der westlichen Wirtschaft. Durch die wachsende Arbeitslosigkeit, die wirtschaftliche Rezession des Jahres 1993 und steigende Steuern wurde das Vertrauen der WählerInnen in die seit 1982 bestehende Kohl-Regierung zusehends erschüttert (Dale und Ruspini 2002). Als Sündenbock für die schwächelnde Wirtschaftslage machten rechtsgerichtete PolitikerInnen schon bald MigrantInnen und Flüchtlinge aus. Sie behaupteten, MigrantInnen würden Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, während Flüchtlinge die Sozialsysteme ausnützten. Die eindeutig rassistischen Untertöne dieses politischen Diskurses können als Auslöser für die Serie rassistischer Angriffe gegen Flüchtlinge und ImmigrantInnen angesehen werden, die ihren traurigen Höhepunkt in den Brandanschlägen auf die Häuser türkischer Familien in den westdeutschen Städten Mölln (am 23. November 1992) und Solingen (am 29. Mai 1993) fanden. Dieser Ereignisse wird noch immer gedacht, um die Öffentlichkeit auf den bestehenden Rassismus in der deutschen Gesellschaft hinzuweisen (Die Tagesschau, 24. November 2012). Nach den Angriffen bekundeten viele deutsche BürgerInnen wie auch PolitikerInnen und andere öffentliche Personen ihre Unterstützung für türkische ImmigrantInnen. Ein solches Ereignis war eine von türkischen ImmigrantInnen organisierte Demonstration in Berlin (Berliner Morgenpost, 12. Juni 1993; Milliyet, 19. Juni 1993). Auf institutioneller Ebene wurden zu dieser Zeit neue Regierungsprogramme zur Rassismusbekämpfung eingeführt.

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Gleichzeitig sahen sich die türkischen BewohnerInnen Deutschlands damit konfrontiert, dass ihre Partizipation am deutschen Wirtschaftssystem schwieriger wurde. Zudem mussten sie sich mit den langfristigen Auswirkungen schwerer körperlicher Arbeit und den Nachteilen begrenzter Deutschkenntnisse auseinandersetzen. Vielen türkischen ImmigrantInnen der ersten Generation fiel es schwer, sich der wandelnden deutschen Wirtschaft und Gesellschaft verbunden zu fühlen. Letztlich hatten Fremdenfeindlichkeit und die wirtschaftliche Unsicherheit in Folge der Wiedervereinigung eine enorme Auswirkung auf diese migrantische Bevölkerung. In Kreuzberg, jenem Berliner Bezirk mit einem großen türkischen Bevölkerungsanteil, der vor der Wiedervereinigung an die Mauer grenzte, gibt es das Sprichwort: »Als die Mauer fiel, brach sie über den Türken zusammen« (Duvar Türkler’in üzerine düştü). Während TürkInnen der zweiten Generation beim Spracherwerb und im Bereich des kulturellen Alltagswissens besser dastehen, sind sie wie andere Deutsche mit Migrationshintergrund in den Medien, im Parlament und der Verwaltung noch immer unterrepräsentiert. Kulturelle Differenzen besonders zwischen deutschen MuslimInnen und deutschen ChristInnen werden von einigen politischen AkteurInnen nach wie vor als »unüberbrückbar« angesehen, besonders von der aktuell regierenden CDU (Chin et al. 2009, 13). Als, wie weiter oben angeführt, Angela Merkel (CDU) 2010 verkündete, der Multikulturalismus sei in Deutschland gescheitert, verdeutlichte sie damit, wie das nach wie vor bestehende Verlangen nach Homogenität noch immer die Grundlage der deutschen nationalen Zugehörigkeit bildet. Dieses Verlangen drückt sich in der öffentlichen Herabwürdigung der vorhandenen multikulturellen Vielfalt aus, besonders von Seiten rechtsgerichteter, populistischer Politik. Die weiter bestehende Bedeutung der Homogenität spiegelt sich auch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht wider. Entsprechend des »ethnisch-kulturellen Verständnisses nationalstaatlicher Mitgliedschaft« setzt die Zugehörigkeit zu einem Staat (»Staatsangehörigkeit«) die Zugehörigkeit zu einer ethnisch-kulturellen Gemeinschaft (»Volkszugehörigkeit«) voraus (Brubaker 1992: 51). Bis 1999 war diese Definition ethnisch-kultureller Staatlichkeit Merkmal des Staatsangehörigkeitsrechts, weshalb ImmigrantInnen von einer kollektiven Aufnahme ausgeschlossen waren. Anders als das französische staatszentrierte Verständnis von Nation, das ImmigrantInnen die Staatsangehörigkeit ermöglicht, um ihre Assimilation in der französischen Gesellschaft zu vereinfachen, erschwerte die an

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der Idee des Volkes orientierte deutsche Staatlichkeit die Einbürgerung von ImmigrantInnen (Brubaker 1992; Hansen und Koehler 2005; Schönwälder und Triadafilopoulos 2012). Im Jahr 1999 entwickelte die Regierungskoalition aus Grünen und SPD ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz, dem zufolge die Staatsangehörigkeit erstmalig ein Geburtsortprinzip (jus soli) und nicht mehr nur ein Abstammungsprinzip (jus sanguinis) sein sollte. Allerdings stieß die Vorstellung, dass ImmigrantInnen im Allgemeinen und türkische EinwanderInnen im Besonderen die Staatsangehörigkeit nun qua Geburt in Deutschland erwerben könnten, auf massiven Widerstand bei der konservativen CDU, die für sich in Anspruch nahm, damit für einen signifikanten Teil der deutschen Bevölkerung zu sprechen. Da auch der von CDU und CSU dominierte Bundesrat dem Staatsangehörigkeitsgesetz zustimmen musste, war die Regierung zu einem Kompromiss gezwungen, um überhaupt eine Veränderung zu ermöglichen. Gemäß dem neuen Gesetz können Kinder, die nach dem Jahr 2000 in Deutschland geboren wurden, eine doppelte Staatsangehörigkeit erhalten: die deutsche sowie die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern. Dieser grundlegende Wandel vom jus sanguinis zum jus soli umfasst allerdings in Folge des politischen Kompromisses auch folgendes Paradox: Diese in Deutschland geborenen Kinder müssen, um als Erwachsener die deutsche Staatsangehörigkeit behalten zu können, zwischen dem vollendeten 18. und 23. Lebensjahr die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern ablegen (Die Bundesregierung, undatiert)8. So wird deutlich, wie trotz dieses revolutionären Wandels im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht die konservative Seite des politischen Spektrums noch immer durch ein Bedürfnis nach Homogenität geleitet wird. Den Gegensatz zu diesem Bedürfnis nach Homogenität bildet in diesem Fall die Realität der Vielfalt. Konservative Deutsche haben stets besonders große Schwierigkeiten mit der Vielfalt durch Immigration gehabt, die längst empirische Realität ihrer Gesellschaft ist. Bei türkischen ImmigrantInnen erhalten zwei spezielle Aspekte der Differenz besondere Aufmerksamkeit: Religion und Gender. Der Umgang mit religiösen Unterschieden wird erörtert, indem das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates herangezogen wird. Das Prinzip der Neutralität staatlicher Institutionen soll sicherstellen, dass alle BürgerInnen ohne Ansehen ihrer Religion gleichbehandelt werden. Die Umsetzung orientiert sich am französischen Modell, das auf die Entfernung aller religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum setzt.

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Und doch wird diese Neutralität in der Praxis angefochten, indem vehement verteidigt wird, was einige als deutsche Kultur betrachten. Während beispielsweise Mitglieder der Grünen und der SPD das Verbot aller religiösen Symbole in staatlichen Schulen unterstützen, behandeln Mitglieder der ChristdemokratInnen und die eher rechts orientierten Liberalen der Freien Demokratischen Partei (FDP) christliche und seit dem Holocaust auch jüdische religiöse Symbole als Ausdruck deutscher Kultur, die die Grundlage für die nationale Zugehörigkeit in Deutschland bildeten. Ebenso vehement wird auf das deutsche Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit gepocht. Auch dies lässt die zugrunde liegende Vorstellung erkennen, dass ImmigrantInnen problematische Geschlechterverhältnisse pflegen würden, die auf patriarchalen Normen basieren und zu Phänomenen wie den Ehrenmorden führen würden (Korteweg und Yurdakul 2010). Myra Marx Ferree führt aus, dass der deutsche Feminismus weder auf der Geschlechtergerechtigkeit im liberalen Sinne gründe noch auf dem Ideal, dass Frauen frei über ihr Leben entscheiden können, sondern auf der politischen Prämisse »sozialer Gerechtigkeit, familiärer Werte und staatlicher Verantwortung für das Allgemeinwohl« (Ferree 2012: 2). So werden jüdisch-christliche Formen der Religiosität wie auch eine spezielle Interpretation der Geschlechtergerechtigkeit als deutsches Kulturgut gekennzeichnet. Nachdem das Prinzip des jus sanguinis durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 zum Teil aufgeweicht wurde, begannen CDU und CSU eine Diskussion über die sogenannte Leitkultur in Deutschland. Sie hatten sich damit abgefunden, dass die ImmigrantInnen wohl in Deutschland bleiben würden. Statt aber anzuerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, erklärten sie es zu einem Land der ›Integration‹, in dem ImmigrantInnen lernen sollten, ihr Leben im Einklang mit den Grundsätzen deutscher Kultur zu organisieren. In einem Positionspapier forderten CDU und CSU, dass ImmigrantInnen die deutsche ›Leitkultur‹ als die ihre anerkennen sollten. Um dem Ausdruck zu verleihen, sollten sie Deutsch lernen, der deutschen Nation gegenüber loyal sein und sich an ihre politischen und rechtlichen Institutionen anpassen. Douglas Klusmeyer dekonstruiert dieses Konzept, indem er zeigt, dass die Konzeptualisierung der ›Leitkultur‹ seitens der CDU/CSU auf den »Fundamenten der europäischen Zivilisation« auf baue und inhärent an christliche und jüdische Traditionen gebunden sei (›christlich-jüdische Leitkultur‹) (Klusmeyer 2001, 521; siehe auch Mushaben 2005; Pautz

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2005). Das zugrunde liegende politische Argument ist, dass Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen eine ›Wertegemeinschaft‹ darstelle, die durch MuslimInnen bedroht sei (Sarrazin 2010). Das Konzept der ›Leitkultur‹ wurde auch von linksliberalen Deutschen kritisiert. So kritisierte beispielsweise Andrea Nahles als Generalsekretärin der SPD (der damals größten Oppositionspartei in Deutschland) die folgende Botschaft der CDU: »Die christlich-jüdische Tradition, die Aufklärung und historischen Erfahrungen sind die Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und bilden die Leitkultur in Deutschland, der sich die CDU besonders verpflichtet weiß.« (Die Welt, 17. November 2010) Nahles zufolge fördere dieser Beschluss der CDU den Ausschluss und die Stigmatisierung der MuslimInnen in der deutschen Gesellschaft: »Nichts verbindet so sehr wie ein gemeinsamer Gegner, und der ist vor allem der Islam. Glaubt man den begleitenden Kampfrufen, dann sind Muslime pauschal Menschen aus ›fremden Kulturkreisen‹, sie haben andere Werte, erkennen unsere freiheitliche Demokratie nicht an, sind unaufgeklärt, unterhöhlen unser Rechtssystem und nisten sich in unseren Sozialsystemen ein.« (Die Welt, 17. November 2010)

Nahles wies darauf hin, dass die Botschaft des Ausschlusses seitens der CDU den jüdisch-christlichen Werten der Würde und der Freiheit für alle sogar widerspreche. Darüber hinaus verurteilte sie auch den Versuch, ein ›Wir-Gefühl‹ zu schaffen, das sich gegen ›die Anderen‹ richtet, die sich im Konflikt mit Deutschlands säkularer Ordnung befänden. Außerdem führte sie aus, dass die Idee einer ›Leitkultur‹ – sowie das darauf beruhende Gefühl des ›Wir gegen sie‹ – die falsche Antwort auf das Problem sei, wie das gemeinsame Alltagsleben in Deutschland gut zu gestalten ist. Abschließend bemerkt Nahles, dass das CDU-Konzept der ›Leitkultur‹ bestenfalls nebulös erscheint: »Was das genau meint? Diese Antwort bleibt uns CDU/CSU seit Jahren schuldig« (Die Welt, 17. November 2010). Nahles verweist hier auf ein massives Problem des CDU-Konzepts der ›Leitkultur‹. Schließlich ist nicht wirklich klar, was ›Deutschsein‹ heutzutage bedeutet.9 Das erklärt vielleicht auch, weshalb die ›Leitkultur‹ der CDU anstelle einer positiven Definition des Deutschseins (was Deutschsein ist) eine negative Definition bietet (was Deutschsein nicht ist). Auf dieser Grundlage können MuslimInnen zu den ›Anderen‹ werden, die ›uns‹ gegenüberstehen. Die Ängste vor einer explosionsartigen Zunahme der muslimischen und einer Abnahme der deutschen Gesellschaft wer-

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den durch Bilder von Kinderwagen schiebenden Frauen mit Kopftuch geschürt. Dazu kommt die Angst vor islamistischem Terrorismus, verstärkt durch Imaginationen und Darstellungen aggressiver Männer of Color. In diesem Kontext zwischen konservativer ›Leitkultur‹ und Multikulturalismus entwickeln sich die deutschen Kopftuchdebatten.

R eglementierung des K opf tuchs in D eutschl and : K önnen M uslim I nnen deutsch sein ? Das Bundesverfassungsgericht hatte 2003 die Entscheidung, ob Lehrerinnen an staatlichen Schulen ein Kopftuch tragen dürfen, den einzelnen Bundesländern überlassen. In der Folge gab es in den Medien und der Politik eine lange Diskussion darüber, wo und wann Kopftücher erlaubt oder verboten sein sollten. In Baden-Württemberg, dem Bundesland, in dem Fereshta Ludin arbeiten wollte, wurde ein Gesetz zum Verbot des Kopftuchs erlassen, weshalb Ludin nicht mit Kopftuch unterrichten durfte. Diese Regelung ist Teil der Bildungsgesetzgebung und bezieht sich speziell auf Lehrkräfte. Anders als in Frankreich oder der Türkei liegt der Fokus für Bundesländer wie Baden-Württemberg nicht direkt auf SchülerInnen als zukünftige oder gegenwärtige BürgerInnen, sondern auf den Lehrkräften, die SchülerInnen darin unterrichten sollen, BürgerInnen zu werden. Nur Hessen und Berlin sind über die Reglementierung des Kopftuchs an Schulen hinausgegangen und haben das Kopftuch im öffentlichen Dienst überhaupt verboten. Während die Nutzerinnen öffentlicher Dienstleistungen, einschließlich Schülerinnen, das Recht haben, ein Kopftuch zu tragen, bemühen sich diese Bundesländer darum, keine öffentliche Unterstützung für den Islam erkennen zu lassen. Wie wir bereits weiter oben ausgeführt haben, verdeckt der Anspruch auf Homogenität die eigentlich vorhandene enorme Heterogenität. Das ist gerade für das Verständnis von Regelungen auf Länderebene von besonderer Bedeutung. Die auf Probleme des Föderalismus in Deutschland spezialisierte Politikwissenschaftlerin Julia von Blumenthal (2009) analysiert, wie die politischen Prozesse in verschiedenen Bundesländern zu unterschiedlichen Ansätzen zur Reglementierung des Kopftuchs geführt haben. Von Blumenthal zeigt auf, wie unterschiedlich die einzelnen Bundesländer mit dem Kopftuch und im Weiteren auch mit der Vielfalt in der Bevölkerung umgehen. Die Verantwortung für die unterschied-

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lichen Entscheidungen in der Kopftuchdebatte liege bei staatlichen und religiösen Organisationen in den einzelnen Bundesländern sowie im bundesrepublikanischen Föderalismus, dem zufolge die Bundesländer für Bildungsfragen zuständig sind. Ihrer Meinung nach wirkt sich das Ineinandergreifen von parteipolitischen Spannungen und kulturellen und historischen Gegebenheiten der spezifischen Bundesländer auf die Politik und Gesetzgebung zum Kopftuch aus (2009). Entsprechend werden durch die einzelnen Landesregierungen unterschiedlich verstandene Formen des deutschen nationalen Narrativs inkorporiert und umgesetzt. Nach von Blumenthal folgen die Bundesländer bei der Reglementierung des Kopftuchs vier unterschiedlichen Modellen. Das erste davon ist das liberale Modell. In den betreffenden Landesparlamenten wurden bislang keine Entscheidungen zu religiösen Symbolen getroffen und das Kopftuch wird in Streitfällen je nach Kontext behandelt. Dieses politische Vorgehen findet sich in den östlichen Bundesländern, mit Ausnahme von Berlin, sowie in Hamburg, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz. Die zweite Kategorie ist die des flexiblen Reglementierungsmodells. Hier gibt es ein Verbot religiöser Symbole, wobei aber unklar ist, ob es sich auch auf jüdisch-christliche Symbole erstreckt (in Bremen und Niedersachsen). Die dritte Kategorie umfasst das christliche Modell, das religiöse Symbole verbietet, da diese die religiös-weltanschauliche Neutralität bedrohen würden. In diesen Bundesländern sind jedoch jüdisch-christliche Symbole wie Kreuz und Kippa in Schulen erlaubt, weil sie als Teil der kulturellen und nicht der religiösen Traditionen Deutschlands konstruiert werden (siehe auch die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts von Baden-Württemberg im Jahr 2004). Diese Regelungen sind wirksam in Bayern, Baden-Württemberg, im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Hessen. Die letzte Kategorie ist die des säkularen Modells, das in Berlin verabschiedet wurde, und das ein vollständiges Verbot aller religiösen Symbole für alle im öffentlichen Dienst Beschäftigten vorschreibt (von Blumenthal 2009). Es wird also deutlich, dass es in Deutschland keinen einheitlichen politischen Ansatz zum Umgang mit dem Kopftuch gibt. So kann keinesfalls gesagt werden, dass Kopftücher in Deutschland vollständig verboten seien. Weder die politische Ausrichtung der jeweils regierenden Partei noch die der Wahlbevölkerung der einzelnen Bundesländer führte automatisch zu restriktiveren oder weniger restriktiven Ansätzen. So wurde ein gesetzliches Verbot in einigen Bundesländern beispielsweise durch die SPD unter-

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stützt (z. B. in Baden-Württemberg und Niedersachsen). Auch nach einem Regierungswechsel zu weiter links stehenden rot-grünen Koalitionen wurden die bestehenden Kopftuchverbote für Lehrerinnen in diesen Ländern nicht aufgehoben. Auf der anderen Seite wurde im damals CDU-regierten Hamburg kein Kopftuchverbot verabschiedet, obwohl sich die CDU auf Bundesebene klar gegen das Unterrichten mit Kopftuch aussprach. Obwohl sich die kontroverse Debatte in Medien und Politik hauptsächlich auf das Kopftuch muslimischer Frauen in staatlichen Schulen bezog, gab es auch eine weniger prominente Diskussion, bei der es um den allgemeinen Arbeitsmarkt ging. JournalistInnen hoben in manchen Artikeln zu diesem Thema hervor, dass die politischen Entscheidungen zum Kopftuch in den einzelnen Bundesländern sich auch merklich auf die soziale Situation Kopftuch tragender Frauen ausgewirkt hätten, und zwar auch jenseits der unmittelbaren Reglementierung von Angestellten im öffentlichen Dienst. So begannen auch private ArbeitgeberInnen zu erklären, sie wollten keine Frauen mit Kopftuch beschäftigen. Es gab jedoch nur wenige Medienberichte und akademische Studien zur Diskriminierung Kopftuch tragender Frauen am Arbeitsmarkt (Ast und Spielhaus 2012; Frings 2010; Peucker 2010). Einige der betroffenen Frauen haben ihre Fälle vor Gericht gebracht, die dann meist zu ihren Gunsten entschieden. Das entspricht einem allgemeinen Trend deutscher Landgerichte, in Diskriminierungsfällen zugunsten von Angestellten zu entscheiden. Bei einem bekannteren Fall ging es um eine Verkäuferin, der die weitere Beschäftigung in einer Parfümerie untersagt werden sollte, nachdem sie anfing, ein Kopftuch zu tragen (Berghahn 2009). Die Verantwortlichen begründeten dies damit, dass sich das Kopftuch negativ auf die Verkäufe auswirken würde. Nachdem die Verkäuferin geklagt hatte, urteilte das Bundesarbeitsgericht, dass die Entlassung der Frau nicht rechtmäßig gewesen sei (Bundesarbeitsgericht [BAG], 10.10.2002 – 2 AZR 472/01). Als sie wieder zur Arbeit erschien, wurde die Kopftuch tragende Frau in eine andere Abteilung versetzt, so dass sie keinen direkten Kundenkontakt mehr hatte (Berghahn 2009). Wie Susan Rottmann und Myra Marx Ferree (2008) anmerken, liegt die rechtliche Grundlage dieser Entscheidungen in der Religionsfreiheit begründet, die dem Interesse der ArbeitgeberInnen gegenübersteht. Darüber hinaus wurde mithilfe des Antidiskriminierungsgesetzes (2006) auf wirksame Weise ein allgemeiner Konsens erreicht, nach dem religiöse Diskriminierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt als nicht akzeptabel gilt.

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Es werden also zwei gegenläufige Entwicklungen erkennbar: Einerseits untersagen einige Bundesländer ihren öffentlich Bediensteten, ein Kopftuch zu tragen, während andererseits Antidiskriminierungsgesetze Anwendung finden, um privatwirtschaftlich beschäftigten Frauen mit Kopftuch zu helfen. Diese gegenläufigen Trends haben ihren Ursprung in der Interpretation der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Die Interpretation dieser Neutralität wirkt sich in der Folge darauf aus, bis zu welchem Grad die einzelnen Bundesländer die Homogenität im öffentlichen Raum (im Gegensatz zur Privatwirtschaft) durchsetzen. Abschließend zeigen wir, wie solche Interpretationen durch das besondere Verständnis der Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland beeinflusst werden (Ferree 2012, Howard 2012). Für Kopftuch tragende Frauen in Deutschland scheinen die in vielen Bundesländern geltenden Vorschriften gegen das Kopftuch den Schutz vor Diskriminierung einzuschränken. In ihrem Artikel über die Strategien Kopftuch tragender Frauen gegen die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt verweist die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus darauf, dass es diesen Frauen noch nicht gelungen ist, adäquate Ansätze zu entwickeln (Spielhaus 2012b). Sie führt aus, dass Frauen Diskriminierungen oft vermeiden, indem sie sich gar nicht bewerben, weil sie davon ausgehen, nicht angenommen zu werden. Wenn sie aber diskriminiert werden, wenden sie sich meist nicht an die zuständigen Stellen und suchen keine Hilfe (Spielhaus 2012b: 249–250). Spielhaus konzentriert sich auf die Frage, wie Kopftuch tragende Frauen ihre Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewerten. Ihre Arbeit legt nahe, dass sich die Kopftuchdebatten in Deutschland, wie auch in den anderen in diesem Buch besprochenen Ländern, auf den Alltag Kopftuch tragender Frauen deutlich auswirken. Im Vergleich zum Kopftuch hat der Niqab in Deutschland relativ wenig Aufmerksamkeit erfahren. Nach den ›Burkaverboten‹ in Frankreich und Belgien begannen 2011 auch deutsche politische AkteurInnen eine ähnliche Diskussion zu einem Verbot im Bundesland Hessen. Die größte Kontroverse in dieser Region drehte sich um eine deutschmarokkanische Frau, die als Angestellte des öffentlichen Dienstes der Stadt Frankfurt einen Niqab trug. Nach einem Verbot durch die örtlichen Behörden verbot der hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) die Burka im Februar 2011 für öffentlich Bedienstete im ganzen Bundesland. Aktuell gibt es in keinem anderen Teil Deutschlands ein Burkaverbot, noch wird eines dis-

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kutiert. Die damalige Europaabgeordnete und liberale Politikerin Silvana Koch-Mehrin (FDP) nannte die Burka ein »mobiles Gefängnis«. Sie vertrat zusammen mit einigen ParteigenossInnen die Auffassung, dass die Burka nicht nach Europa gehöre, und sprach sich für ein europaweites Verbot aus (womit sie sich klar auf die französische Niqab-Debatte bezog und die französischen Argumente auf die europäische Politik anwandte). Da aber keine nennenswerte Reaktion folgte, können wir den Umgang mit dem Niqab in unserer Analyse der Situation in Deutschland vernachlässigen. Er wirkt sich zur Zeit nicht signifikant auf das nationale Narrativ aus. In Deutschland erfolgt die Reglementierung des Kopftuchs im Kontext einer breiteren Debatte zur öffentlichen und rechtlichen Anerkennung des Islam. Die evangelische und die katholische Kirche sowie jüdische Religionsgemeinschaften besitzen nach deutschem Recht bestimmte Rechtsprivilegien. Gemäß des Grundgesetzes von 1949 (Art. 140) können religiöse Vereinigungen den Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften erlangen, sofern ihre Verfasstheit und die Zahl ihrer Mitglieder Stabilität und Dauer garantieren und die Mitgliedschaft klar erkennbar geregelt ist. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, müssen sich Religionsgemeinschaften selbst als durch das Zivilrecht geregelte Vereine organisieren. Seit den frühen 1970er Jahren haben islamische Gruppen in Deutschland versucht, einen rechtlich privilegierten Status für ihre religiösen Gemeinschaften zu erlangen, sind aber wiederholt von den Gerichten abgewiesen worden. Es scheiterten verschiedene Versuche, den Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erhalten, womit der Islam öffentlich anerkannt und den christlichen Kirchen vor dem Gesetz als Organisation gleichgestellt wäre (Jonker 2000, 313). Das Problem lag einerseits in der juristischen Definition und andererseits in der Deutung dessen, was einen ›offiziellen Status‹ ausmache. Deutschen RechtsexpertInnen zufolge erfordere das Grundgesetz kein bestimmtes rechtliches Vorgehen zur Anerkennung einer Religionsgemeinschaft. Aus dieser Perspektive war der Islam in Deutschland schon immer offiziell anerkannt. Die Erlangung des Status als Körperschaft öffentlichen Rechts, die bestimmte rechtliche und steuerliche Vorzüge mit sich brächte, ist allerdings eine andere Sache. Hierfür wurden im Grundgesetz bestimmte Voraussetzungen formuliert, die der Rechtsauslegung nach von den RepräsentantInnen muslimischer Organisationen bei der Antragstellung nicht erfüllt wurden, so dass die Anträge abgelehnt werden mussten (bis zum Erfolg von Ahmadiyya

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Muslim Jamaat im Jahr 2013).10 Begründet wurde die Ablehnung damit, dass die Antrag stellenden Organisationen nicht in der Lage waren, einen rechtlich verbindlichen Mitgliedsstatus für ihre Mitglieder nachzuweisen, da es solche Formen der Mitgliedschaft in vielen muslimischen religiösen Organisationen nicht gibt (siehe auch Azzaoui 2012). Die KritikerInnen einer solchen Auslegung deutschen Verfassungsrechts sahen in den ablehnenden Bescheiden ein weiteres Mittel zur Durchsetzung deutscher Homogenität, dieses Mal jedoch auf institutioneller und nicht auf individueller Ebene (Fournier und Yurdakul 2006). Auch auf Seiten deutscher Behörden wird das Fehlen repräsentativer Organisationen von MuslimInnen in Deutschland häufig beklagt, weil es beim Umgang mit komplexen sozialen Problemstellungen die Suche nach GesprächspartnerInnen erschwert. In der auch im Folgenden noch vorgestellten, auf Bundesebene angesiedelten Deutschen Islam Konferenz (DIK) kamen RepräsentantInnen verschiedener muslimischer Organisationen zusammen, um im Zeitraum von 2006 bis 201211 bestehende Probleme mit VertreterInnen der Bundesregierung zu erörtern. Einige Bundesländer öffnen sich langsam dafür, islamische religiöse Inhalte in einem entsprechenden Schulfach zu unterrichten. AlevitInnen12 wird seit 2008/9 in Nordrhein-Westfalen und Bayern zuerkannt, auf der Grundlage des Grundgesetzes (Art. 7 Abs. 3) das Recht auf Religionsunterricht zu beanspruchen, seit 2009 auch in Hessen. Im Herbst 2013 erkannte Hessen auch den islamischen Religionsunterricht zweier muslimischer Organisationen an: DITIB (Diyanet İşleri Türk İslam Birliği/Türkisch-Islamische Union für Religion e. V., mit Ursprung in der Türkei) und Ahmadiyya Muslim Jamaat (eine internationale muslimische Gemeinschaft mit Verbindung nach Südasien). In Nordrhein-Westfalen wurden die Regelungen für Schulen im Jahr 2012 geändert und islamischer Religionsunterricht eingeführt. Dieser Änderung gingen Beratungen mit einem Beirat des Landesministeriums voraus, in dem auch RepräsentantInnen muslimischer Verbände vertreten sind. Ebenfalls 2012 unterzeichnete die Hamburger Regierung ein Abkommen mit drei muslimischen Organisationen (zwei sunnitischen und einer alevitischen), das für beide Seiten neue Rechten und Pflichten einführte (Freie und Hansestadt Hamburg 2012). Einerseits erklärten sich die sunnitischen und alevitischen Organisationen bereit, wirksame Integrationsstrategien fortzuführen. Andererseits sagte der Hamburger Senat bestimmte Regelungen in verschiedenen sozialen Bereichen zu, unter anderem bezüglich des islamischen Religions-

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unterrichts und islamischer Begräbnisriten. Dieses offizielle Abkommen zwischen einer Landesregierung und muslimischen Organisationen war das erste seiner Art in Deutschland.13 Der Kampf um religiöse Anerkennung spiegelt auch die fortdauernde Auseinandersetzung darüber wider, was es heißt, MuslimIn in Deutschland zu sein, und ob Deutsche auch MuslimInnen sein können. Es gab positive Veränderungen bezüglich der religiösen Anerkennung in verschiedenen Bundesländern. Wie aber unsere Analyse der Rolle des Kopftuchs in diesen Debatten veranschaulicht, ist die ›Integration‹ muslimischer ImmigrantInnen in Deutschland nach wie vor hoch umstritten.

A nalyse der deutschen K opf tuchdebat te Um die deutsche Kontroverse nachzuvollziehen, analysieren wir Zeitungsartikel, Material von der Webseite der Deutschen Islam Konferenz sowie Interviews mit ausgewählten Frauen, die aktuell in die Kopftuchdebatten involviert sind. Bei den Zeitungen konzentrieren wir uns auf die tageszeitung (im Folgenden taz), die Süddeutsche Zeitung (im Folgenden SZ) sowie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden FAZ). Diese anspruchsvolleren Blätter wurden für den Zeitraum von 2004 bis 2011 untersucht. Dazu kommt die große Boulevardzeitung Bild für den Zeitraum von 200614 bis 2011 (für ausgesuchte Fälle mit Aktualisierungen bis 2013). Gegebenenfalls wurde dieses Material um weitere Medienquellen ergänzt, etwa in Form der Wochenzeitung Die Zeit und der Internetausgabe der täglichen Nachrichtensendung Die Tagesschau. Die erstgenannte Zeitung taz ist eine linke, den Grünen nahestehende Tageszeitung, die im Allgemeinen positiv gegenüber ImmigrantInnen eingestellt ist. Sie wird in Berlin publiziert und hat auch einen Schwerpunkt auf dieser Stadt mit dem größten Anteil muslimischer ImmigrantInnen in Deutschland. Darüber hinaus berücksichtigen wir zwei weitere überregionale Zeitungen, die SZ und die FAZ. Die SZ richtet sich an eine linksliberale LeserInnenschaft, die FAZ an ein gebildetes, politisch aber eher liberalkonservativ ausgerichtetes Publikum. Die politischen Ansichten in der Bild gelten als konservativ bis rechts orientiert, die Zeitung zeigte sich allerdings erstaunlich flexibel beim Wechseln bestimmter Positionen, so etwa, als sie Helmut Kohl vor den Wahlen 1998 die Unterstützung entzog, um sie dem Kanzlerkandidaten der SPD, Gerhard Schröder, zukommen zu lassen. Es

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handelt sich um die meistverkaufte Boulevardzeitung Europas. Durch die Analyse von Zeitungen, die das gesamte politische Spektrum abdecken (links, linksliberal, liberalkonservativ und populistisch), stellen wir sicher, dass unsere komparativen Schlussfolgerungen für Deutschland nicht das Ergebnis der politischen Ausrichtung nur einer Zeitung sind, sondern eine Gesamtanalyse der Debatte abbilden. Viele gesellschaftliche AkteurInnen, einschließlich PolitikerInnen, FeministInnen, Mitglieder von muslimischen und besonders auch türkischen Gemeinschaften wie auch RepräsentantInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen (muslimischer wie auch nicht muslimischer Prägung), haben ihre eigene Art der Wiedergabe des deutschen nationalen Narrativs der Homogenität. Dies schlägt sich in den Meinungsbeiträgen wie auch in der faktischen Berichterstattung nieder. Wir konzentrieren uns auf die Debatten ab dem Jahr 2004, nachdem der Fall Fereshta Ludins die verschiedenen Bundesländer dazu veranlasste, gesetzgeberisch tätig zu werden. Die drei großen Tageszeitungen taz, FAZ und SZ legten den stärksten Fokus auf das Kopftuchverbot an Schulen. Sowohl die taz als auch die FAZ druckten Interviews mit bekannten PolitikerInnen, AkademikerInnen und FeministInnen ab, die in der Debatte verschiedene Positionen einnahmen. Die taz zeigte sich einer gesellschaftlichen Diversität gegenüber offener als andere Zeitungen und ihre AutorInnen äußerten sich kritischer, was mögliche Restriktionen für das Tragen des Kopftuchs angeht. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle AutorInnen der FAZ derlei Restriktionen unterstützt hätten; vielmehr gab es auch dort einige sehr kritische Kommentare. Die SZ räumte dem Thema insgesamt sehr viel weniger Platz ein als die taz oder die FAZ. Stattdessen waren viele Artikel in der SZ den Kopftuchdebatten in Frankreich, der Türkei und anderen europäischen Ländern gewidmet. Die lebhaftesten und überraschendsten Debatten fanden sich in der Bild. Anders als in der Berichterstattung zur Kopftuchdebatte in den seriösen deutschen Zeitungen waren die Artikel in der Bild nicht ausschließlich auf die Frage eines Verbots von Kopftuch oder Burka in Schulen oder im öffentlichen Dienst beschränkt. Stattdessen präsentierte die Bild konkurrierende Narrative des Kopftuchs. Diese reichten von solchen, die das Kopftuch in einem schlechten Licht erscheinen ließen (d. h. als politisches Symbol der Unterdrückung der Frauen, als Symbol gewalttätiger, patriarchaler, nicht westlicher Praktiken oder als Zeichen gescheiterter ›Integration‹), bis zu solchen, in denen die Diskriminierung von Frauen mit Kopftuch beschrieben wurde. Das Kopftuch wurde beispielsweise in

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zahlreichen Berichten erwähnt, in denen es um Terrorismus, Bankraube, die ›Integration‹ von MuslimInnen und Gewalt gegen Frauen ging (z. B. Fälle von Ehrenmorden, Zwangsehen und Gewalt in Afghanistan und Pakistan). Andere Artikel jedoch waren der Diskriminierung von oder der Gewalt gegen muslimische Frauen mit Kopftuch gewidmet. Um auf die öffentliche Meinung einzuwirken, bot die Bild nicht nur redaktionelle Beiträge wie die übrigen Zeitungen, sie generierte vielmehr auch eigene Inhalte zum Thema. So verkleidete sich die nicht muslimische Bild-Journalistin Katharina Nachtsheim als ›muslimische Frau‹ und beschrieb, wie es sich anfühlte, einen Tag lang eine »Burka-Frau« zu sein (Bild, 8. Mai 2010; Bild, 9. Mai 2010). Zusätzlich zu den Zeitungsdaten haben wir auch die politischen Diskussionen im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz (DIK) analysiert. Hierzu wurde das gesamte Material zum Kopftuch erfasst, das zwischen 2006 und 2013 auf der Webseite der DIK zu finden war. Die DIK ist ein profiliertes, von der Regierung unterstütztes Diskussionsforum zu Themen, die MuslimInnen in Deutschland betreffen. Sie wurde 2006 von der Großen Koalition als Teil einer Integrationsplattform ins Leben gerufen und hatte bis 2013 das Format einer jährlichen Konferenz. Organisiert wurde die Konferenz vom Innenministerium, das auch die TeilnehmerInnen einlud. Diese waren RegierungsvertreterInnen und Fachleute, aber auch einzelne muslimische BürgerInnen sowie VertreterInnen muslimischer Organisationen. Inzwischen wurde die DIK umstrukturiert, statt der Treffen im großen Plenum gibt es Sitzungen in thematisch ausgerichteten Arbeitsausschüssen. Darüber hinaus unterhält die DIK eine Webseite, auf der sowohl die offiziellen Berichte als auch schriftliche Beiträge einzelner TeilnehmerInnen der DIK veröffentlicht werden. Für eine dritte Quellengrundlage führte Yurdakul Interviews mit drei Frauen durch, um ihre Ansichten über Konflikte der Zugehörigkeit in den Kopftuchdebatten in Deutschland zu erfahren. Dr. Naika Foroutan ist eine iranisch-deutsche Wissenschaftlerin und Organisatorin der Jungen Islam Konferenz sowie Vorsitzende des Projekts HEYMAT, das sich der Erforschung hybrider Identitäten und der Strategien der Zugehörigkeit junger MuslimInnen in Europa widmet. Soraya Hassoun ist eine Kopftuch tragende Studentin, deren Eltern aus dem Libanon und Deutschland stammen. Sie schrieb ihre Masterarbeit über islamischen Feminismus in Deutschland im Rahmen des interdisziplinären Studiengangs der Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin. Für das Internetportal Muslimische

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Stimmen für muslimische Frauen in Deutschland ist sie als Redakteurin aktiv. Außerdem wurde Hüda Sağ interviewt, eine Kopftuch tragende Muslimin mit türkischem Hintergrund, die an der Universität Bielefeld studiert hat. Sie nahm im Jahr 2011 an der Jungen Islam Konferenz in Berlin teil.

Das deutsche N ationalnarrativ in den Kopftuchdebatten Der Fall der Lehrerin Fereshta Ludin war der erste, der bis vor das Bundesverfassungsgericht ging. Er war bestimmend für die Kopftuchdebatte in den Jahren nach 2004. Viele sahen in Ludins Kopftuch eine Bedrohung für die verbindenden jüdisch-christlichen Werte Deutschlands sowie für die staatliche Neutralität und die Geschlechtergerechtigkeit. Während die Bundesländer nach der Entscheidung im Fall Ludin dabei waren, Regeln für das Tragen des Kopftuchs auszuhandeln, drehte sich die gesellschaftliche Debatte vor allem um die Frage der staatlichen Neutralität wie auch um Aspekte der Gleichberechtigung. Deutsche FeministInnen problematisierten das Kopftuch außerdem als Symbol der Unterdrückung von Frauen. Nach dem Ludin-Fall wurde der Kopftuchstreit zu einem Teil einer allgemeinen Diskussion über den Islam und die ›Integration‹, sie stand aber nicht unbedingt im Zentrum dieser Diskussion. Nach 2009 jedoch führten drei weitere Fälle zu einem Wiederaufflammen der Kopftuchdebatte: der Mord an der Kopftuch tragenden Marwa el-Sherbini in einem deutschen Gerichtssaal, die Veröffentlichung des kontroversen und gegen ImmigrantInnen gerichteten Buches »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin sowie eine Diskussion des Kopftuchs im Rahmen der DIK. Nach der Erörterung dessen, wie die Debatte durch den Fall Ludin bestimmt wurde, analysieren wir diese drei Fälle, um zu zeigen, wie eine vorherrschende Version des deutschen Nationalnarrativs weiterhin durch das Verlangen nach Homogenität geprägt wird. Auch erörtern wir, welche Spannungen sich im Bezug auf die Realitäten der Vielfalt ergeben.

Religiöse Neutralität des Staates: Homogenität versus Diversität Während die Kontroverse um das Kopftuch Ludins zwischen 2003 und 2004 seinen Höhepunkt erreichte, gab es in der deutschen Politik eine Spaltung, die sich dramatisch auf das politische Klima in Deutschland auswirkte. Diejenigen, die sich für das Recht muslimischer Lehrerinnen

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stark machten, an staatlichen Schulen ein Kopftuch zu tragen, versuchten das nationale Narrativ neu zu definieren, indem die Macht der Homogenität zugunsten der Anerkennung von Differenz und Diversität eingeschränkt werden sollte. Die VerteidigerInnen der deutschen Homogenität als Fundament nationaler Zugehörigkeit jedoch nutzten das staatliche Prinzip religiöser Neutralität und die Verteidigung der Gleichberechtigung als Argumente gegen das Recht von Lehrerinnen, mit Kopftuch an staatlichen Schulen zu unterrichten. Bei der Diskussion über den Ludin-Fall wurden häufig Argumente zur Gleichberechtigung und zur religiösen Neutralität des Staates angeführt und es ist nicht einfach, Material zu finden, in dem diese beiden Ideen getrennt behandelt werden. Als beispielsweise 3000 MuslimInnen im Januar 2004 für Ludin demonstrierten, sagte Lale Akgün, Bundestagsmitglied für die SPD und Sprecherin ihrer Partei zu Fragen des Islam: »Es ist grotesk, die demonstrative Unterordnung unter ein Symbol der Geschlechtertrennung als ›Emanzipation‹ zu bezeichnen und darin gewissermaßen den ›Normalfall‹ weiblicher muslimischer Existenz zu sehen. […] Wer wirklich Emanzipation im Sinne der Aufklärung und des Humanismus will, der schaut kritisch auf einen Kopftuchdiskurs, bei dem es nicht um die einzelne muslimische Frau geht, sondern um die religiös-kulturelle Deutungsmacht innerhalb des Islam.« (taz, 26. Januar 2004; ursprünglich veröffentlicht als Positionspapier am 17. Dezember 2003 unter www.laleakguen.de)

Frauen wie Akgün verstehen sich als privilegierte Erklärerinnen muslimischer Kultur für die breitere deutsche Öffentlichkeit. Durch das Argument, das Kopftuch stehe für die Geschlechterunterdrückung und kennzeichne den Islam als undemokratisch, unterstützt und schützt Akgün gleichzeitig das deutsche Verständnis von Gleichberechtigung und religiös-weltanschaulicher Neutralität (mit klaren Anleihen beim türkischen säkularistischen Diskurs der Aufklärung, wie in Kapitel 3 dargestellt). Ähnliche Argumente wurden auch von nicht muslimischen PolitikerInnen in Machtpositionen verwendet. So äußerte zum Beispiel Angela Merkel als damals neu gewählte Kanzlerin in einem Brief gegenüber ihren ParteigenossInnen in der CDU, die ›christliche Werteordnung dürfe nicht gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates ausgespielt werden‹ (FAZ, 3. Januar 2004). Parlamentspräsident und SPD-Mitglied Wolfgang Thierse ergänzte noch die Sorge um die Gleichberechtigung.

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Zwar habe der Staat »grundsätzlich die Pflicht zur Neutralität gegenüber allen Religionen«, aber es gebe einen Unterschied: »Ein Kreuz ist kein Symbol von Unterdrückung, das Kopftuch für viele muslimische Frauen schon.« (FAZ, 4. Januar 2004) Kurz gesagt sprachen sich diese PolitikerInnen nicht für die Neutralität eines strikten Säkularismus wie in Frankreich oder der Türkei aus, wo Religiosität nicht in den öffentlichen Raum vordringen soll. Sie argumentierten vielmehr, dass christliche Symbole eine Wertorientierung darstellten, die nicht nur annehmbar ist, sondern geschützt werden sollte. Die Darstellung islamischer Symbole hingegen wird vor dem Hintergrund der vermeintlichen Ungleichbehandlung der Geschlechter abgelehnt. Auf diese Weise schützten sie die deutsche Homogenität, indem sie an die deutsche christliche Kultur und Geschlechtergerechtigkeit appellierten. Solche Argumente könnten den Eindruck erwecken, dass das Gebot religiöser Neutralität in ganz Deutschland gleich bedeutend ist. Tatsächlich aber bedeutet die staatliche Neutralität ganz Unterschiedliches für die verschiedenen gesellschaftlichen AkteurInnen in den einzelnen Bundesländern. So gilt beispielsweise in Bundesländern mit einer CDU-Regierung oder einer Regierungsbeteiligung der CDU die staatliche Neutralität als vereinbar mit einer öffentlichen Wertschätzung jüdisch-christlicher Werte, da letztere Deutschlands Bildungskultur in der Vergangenheit maßgeblich beeinflusst hätten (SZ, 26. Juli 2007; taz, 12. Januar 2004). Viele AutorInnen sprachen sich jedoch gegen diese unscharfe Trennung zwischen ›Religion‹ und ›Kultur‹ aus, darunter auch Mark Siemons, ein Journalist der FAZ, der sich auf die oben erwähnte Bemerkung Angela Merkels bezog: »Angela Merkel schreibt in ihrem Brief an Parteifreunde, auch der weltanschaulich neutrale Staat habe den ›Bezug auf christliche Quellen unserer Werteordnung und Grenzen der Verfügbarkeit‹ nötig. Doch dieses Argument beträfe, wäre es ernst gemeint, den religiösen Inhalt, den es als politische Position zu artikulieren gälte, nicht dessen kulturelle Repräsentation. Was genau verspricht sich die Politik von Kreuzen, Kapellen und Christbäumen als bloßen Erinnerungszeichen einer historisch gewordenen Christlichkeit?« (FAZ, 7. Januar 2004)

An dieser Stelle hinterfragt Mark Siemons, der regelmäßig Beiträge über die Belange von Deutschtürken für die FAZ verfasst, die vermeintliche religiöse Neutralität als Ausdruck von Kultur. Die Argumente von Mer-

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kel und anderen CDU-PolitikerInnen waren explizit auf die Überschneidungen zwischen deutscher Kultur und christlicher religiöser Symbolik bezogen. Damit schufen sie das Bild einer vorgeblich homogenen Gesellschaft, aus der NichtchristInnen, etwa JüdInnen und MuslimInnen, ausgeschlossen waren. Auch in anderen Artikeln wurde die unscharfe Trennung zwischen Religion und Kultur problematisiert: So wurde von Eltern berichtet, die einen Konflikt zwischen ihrem eigenen Glauben und den in einigen Schulen erlaubten religiösen Symbolen sahen (SZ, 26. Juni 2008). Sie empfanden diese als missionarisch, unabhängig davon, ob sie islamisch waren oder nicht. Diese Eltern würden den strikten Säkularismus Frankreichs oder der Türkei bevorzugen, sie blieben aber im Fall Deutschlands eine Minderheit. Auf ähnliche Weise wurden Ende des Jahres 1990 die jüdisch-christlichen Symbole und das staatliche Neutralitätsprinzip auf den Prüfstand gestellt. Eine Elterngruppe aus Bayern beschwerte sich darüber, dass ihre Menschenrechte verletzt würden, und verlangte ein Verbot religiöser Symbole in Schulen. Dies bezog sich hauptsächlich auf Kruzifixe. In seiner Entscheidung erlaubte das Landgericht den Schulen in Bayern, Kruzifixe in den Klassenzimmern zu behalten, obwohl dies gegen das Prinzip der staatlichen Neutralität verstieß. Letztlich verwarf das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidung, weil die Kruzifixe die Religionsfreiheit verletzten und nicht verfassungsgemäß seien (BVerfGE 93, 1 1 BvR 1087/91). Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gibt es nach wie vor Kruzifixe in bayerischen Schulen (Schaal 2006).15 Im deutschen Kontext bedeutet die staatliche Neutralität also nicht, dass in den verschiedenen Bundesländern mit allen Religionen gleich umgegangen wird. Ganz im Gegenteil: Christliche Symbole werden zu kulturellen Symbolen umgedeutet. Sie werden zu Zeichen der deutschen Zugehörigkeit erklärt, weshalb sie auch ihren Platz in staatlichen Schulen haben. Da muslimische Traditionen als außerhalb der traditionellen deutschen Kultur liegend angesehen werden, können einige Bundesländer argumentieren, dass sowohl die staatliche Neutralität als auch der ›Schulfrieden‹ gefährdet seien, wenn muslimische Lehrerinnen ein Kopftuch tragen, nicht aber, wenn christliche (oder in manchen Fällen jüdische) Symbole sichtbar sind. Dieser Argumentation entsprechend wird die religiöse Bedeutung des Kopftuchs als gegensätzlich zu Traditionen christlicher Kultur gesehen. Das Prinzip religiöser Neutralität bleibt dadurch erhal-

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ten, dass statt der religiösen die kulturelle Dimension des Christentums betont wird. Gleichzeitig werden auch ›jüdisch-christliche Werte‹ und ›muslimische Werte‹ als Gegensätze positioniert, zum Teil auch durch die Annahme, sie seien in sich homogen. Einige der führenden deutschen Politikerinnen, die mit Immigration befasst sind, wie zum Beispiel Barbara John, Rita Süssmuth (beide CDU) und Marieluise Beck von den Grünen, widersprachen Behauptungen zum Kopftuch, die auf dieser Interpretation religiös-weltanschaulicher Neutralität beruhten. Diese Frauen verteidigten die UnterstützerInnen des Kopftuchs dadurch, dass sie nicht nur die Realität deutscher Vielfalt betonten, sondern auch den Respekt für diese Diversität. In einem offenen Brief äußerten sie sich über die Beschränkungen des Kopftuchs für Lehrerinnen an staatlichen Schulen folgendermaßen: »Jenseits der Frage, ob man für eine striktere Säkularisierung der Institution Schule eintritt oder auch dort die religiöse Pluralität unserer Gesellschaft sichtbar werden lassen will, ist die Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften verfassungsrechtlich geboten. Eine unterschiedliche Behandlung islamischer Symbole gegenüber den christlichen und jüdischen ist integrationspolitisch äußerst problematisch, verstärkt Konflikte statt sie zu reduzieren. Ein […] Kopftuchverbot, das zudem noch geschlechtsspezifisch wirkt, wäre eine religiös bedingte Diskriminierung mit praktischen Berufsausschluss.«16

Obwohl diese Frauen ganz unterschiedliche politische Parteien repräsentieren, haben sie gemeinsam dazu aufgerufen, Diversität anzuerkennen und religiöse Symbole gleichberechtigt zuzulassen. Dass sich Marieluise Beck als Mitglied der Grünen für eine solche Anerkennung ausspricht, verwundert nicht, da ihre Partei schon in der Vergangenheit den Multikulturalismus befürwortete. Überraschender ist, dass Barbara John und Rita Süssmuth als Mitglieder der CDU forderten, die staatliche Anerkennung der christlichen Religion auch auf andere von Menschen in Deutschland ausgeübte Religionen auszuweiten. Sie verknüpften diese Forderung mit der Unterstützung für das Kopftuch, wie auch aus dem oben zitierten offenen Brief deutlich wird. Dadurch sprachen sie sich klar für das Prinzip der Gleichbehandlung aus und verwehrten sich gegen die Unterscheidung zwischen Christentum und Islam, auf die sich einige der BefürworterInnen der Beschränkungen für das Kopftuch berufen.

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Diese Art der Argumentation wurde jedoch heftig kritisiert. Im Februar 2004 erklärten fast hundert Akademikerinnen, Politikerinnen, Künstlerinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen, von denen viele türkischer Herkunft waren, dass der Aufruf gegen Kopftuchverbote von Marieluise Beck und anderen Politikerinnen bestenfalls fehlgeleitet war. Sie bezichtigten Beck und andere des Paternalismus und sagten, die Zahl der Frauen, die wirklich freiwillig ein Kopftuch tragen, würde enorm überschätzt. Vielmehr glaubten sie, dass viele Musliminnen in Deutschland das Kopftuch schon abgelegt hätten, und wenn sie es noch trügen, dann weil sie sich von der Gesellschaft zurückgewiesen fühlten und »praktisch machtlos gegen die Instrumentalisierung durch islamistische Kräfte [seien]« (taz, 14.–15. Februar 2004). In ihrem offenen Brief fragten diese Frauen Marieluise Beck: »Wer würde sich innerhalb der muslimischen Bevölkerung durch die Untersagung des Kopftuchs in den Schulen ausgegrenzt fühlen? Es wären nur diejenigen, die unter dem Einfluss der Islamisten stehen und für die das Kopftuchtragen nicht nur im Privatleben, sondern auch im öffentlichen Dienst als unverzichtbar gilt. Alle, für die die Religion eine private Angelegenheit ist, und alle, die gegenüber religiösen Vorschriften indifferent sind, kennen und akzeptieren problemlos das Verfassungsprinzip von der Neutralität der Schule.« (taz, 14.–15. Februar 2004)

Diese Beck widersprechenden Stimmen, die zum Teil von deutschen Musliminnen und führenden Mitgliedern türkischer MigrantInnenorganisationen stammen, geben eine klar säkulare Perspektive wider, die stark an die türkische Interpretation des Säkularismus erinnert. Ihrer Meinung nach ist der Islam eine Privatangelegenheit und gehört das Kopftuch nicht in staatliche Schulen. Ihr offener Brief wandte sich gegen eine Auslegung des Neutralitätsgebots, die Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs in der Schule erlauben würde. Aus dieser säkularen Perspektive bedeutet die staatliche Neutralität, dass in staatlichen Institutionen generell keine religiösen Symbole zu finden sein sollten. In dieser Hinsicht unterschied sich ihre Position grundlegend von der Unterstützung christlicher Symbole in Schulen durch PolitikerInnen der CDU, und damit auch von der in Deutschland vorherrschenden Interpretation des religiösen Neutralitätsprinzips. Scheinbar führte also die Kopftuchdebatte zu einer Neubetrachtung des Konzepts der staatlichen Neutralität. Zusammenfassend beschrieb

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die taz 2004, dass sich die Debatte im Kern um die Frage drehe, ob ein Verbot alle religiösen Symbole in staatlichen Schulen oder aber nur das Kopftuch betreffen sollte (taz, 5. Januar 2004; taz, 8. Januar 2004). Oberflächlich betrachtet war dies also eine Diskussion über die Spannung zwischen der Verpflichtung staatlicher Schulen, staatliche Neutralität zu repräsentieren, und den religiösen Freiheitsrechten von Lehrkräften. Auch die Spannung zwischen Homogenität und Diversität spielt weiterhin eine wichtige Rolle in der zugrunde liegenden Debatte sowie in der Entwicklung des deutschen nationalen Narrativs der Zugehörigkeit, wie auch die Argumente von Lale Akgün und der offene Brief deutscher Musliminnen nahelegen. Zugleich stehen jedoch Geschlechterfragen im Zentrum dieser Debatte, was uns noch einmal die Komplexität der gesamten Problemstellung vor Augen führt.

Geschlechtergerechtigkeit, das Kopftuch und der Playboy: Varianten des Feminismus? Die Spannung zwischen dem Wunsch nach Homogenität und den Realitäten der Diversität zeigte sich auch in den Diskussionen deutscher FeministInnen.17 Nachdem die konkrete Frage bezüglich des Kopftuchs von Fereshta Ludin geklärt war, nahmen deutsche FeministInnen das Kopftuch als Ausgangspunkt, um ihre Argumentation zur Verteidigung der Geschlechtergerechtigkeit zu stärken. Wie schon von vielen KommentatorInnen angemerkt, waren antimuslimisch eingestellte FeministInnen der Meinung, das Kopftuch sei ein politisches Symbol der Unterdrückung der Frauen, weshalb es in der deutschen Gesellschaft, welche die Geschlechtergerechtigkeit fördert, keinen Platz habe (Beck-Gernsheim 2006; Lutz 2009; Rommelspacher 2010; Yurdakul 2010; siehe auch Lennox 1995 für eine Analyse früherer Debatten). Für den Zentralrat der Muslime sowie für verschiedene FeministInnen wie Seyran Ateş, Serap Çileli, Necla Kelek, Alice Schwarzer und Viola Roggenkamp ist das Kopftuch ein unmissverständliches Symbol der Unterdrückung von Frauen (FAZ, 2. Februar 2006; FAZ, 11. Februar 2006; FAZ, 15. Dezember 2007; FAZ, 12. September 2008; taz, 11. Februar 2004). Necla Kelek, die sich durch die Veröffentlichung ihres Bestsellers »Die fremde Braut« im Jahr 2005 einen Namen als Soziologin mit genauer Kenntnis der türkischen Gemeinschaft in Deutschland machte, ist entschieden dagegen, dass junge Mädchen ein Kopftuch tragen. Kelek nutz-

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te ihre Bekanntheit, um einer Diskussion über Grundschulmädchen mit Kopftuch Gehör zu verschaffen. Von der Plattform der DIK aus argumentierte Kelek, dass Mädchen durch das Kopftuch zum Objekt sexuellen Begehrens gemacht und ihrer Kindheit beraubt würden, was einem Bruch des Grundgesetzes gleichkomme: »Das Grundgesetz ist da eindeutig. Religionsmündig ist man in Deutschland ab dem 14. Lebensjahr. Deshalb meine ich, dass das Kopftuch an Grundschulen nichts zu suchen hat. Das Kopftuch macht Mädchen bereits vor der Pubertät zu Sexualwesen, ihnen wird das ›Recht auf Kindheit‹ genommen. Das kann nicht im Sinne unserer Gesellschaft sein, die den gleichberechtigten, selbstbewussten und selbstverantwortlichen Bürger braucht. Wer kleinen Mädchen das Kopftuch aufdrängt, missbraucht die Religionsfreiheit.« (DIK, 14. April 2009)

Indem Kelek sich auf Kinder als nicht einwilligungsfähige Personen konzentrierte und kritisierte, der Islam und muslimische Männer würden nicht nur muslimische Frauen, sondern auch Mädchen unterdrücken, verstärkte sie das Bild eines rückständigen Islams. Damit sprach sie auch das Problem der Handlungsmacht von Frauen an: Ihrer Meinung nach werden muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, unterdrückt. Diese Zuschreibung ist ein wiederkehrendes Thema in allen Ländern, die in diesem Buch analysiert werden. Kelek war Mitglied verschiedener Ausschüsse und fungierte dort im Auftrag der Bundesregierung als Expertin für Fragen der ›Integration‹, der Frauenrechte und des Islam. Unter anderem wurde sie in die DIK berufen, die ihr eine Plattform für ihre oben angeführte Argumentation bot. Obwohl Kelek einen stigmatisierenden Diskurs über ihre türkische Abstammung führte, stellte sie sich als ›authentische‹ Stimme muslimischer Frauen dar, die unter den patriarchalen Regeln des Islam leben und in ihren eigenen Gemeinschaften schweigen müssen. Kelek verwies regelmäßig darauf, dass es eine enge Beziehung zwischen der Geschlechtergerechtigkeit und der ›Integration‹ türkischer Gemeinschaften in die deutsche Gesellschaft gebe, und stellte somit diese Gemeinschaften als fähig dar, ›deutscher‹ zu werden. Sie formulierte damit auch eine mit antimuslimischen Diskursen zu vereinbarende Botschaft, nämlich den Aufruf an Deutschland, muslimische Frauen vor muslimischen Männern zu retten (Yurdakul 2010). Für Kelek können muslimische Frauen nur befreit werden, wenn sie sich ›westlich‹ orientieren. In Keleks Interviews

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und Zeitungsartikel sieht sie sich und andere Immigrantinnen implizit als »Code-Brecherinnen«, die die muslimische Kultur für ein deutsches Publikum dechiffrieren. Sie will damit eine Stimme für alle Frauen sein, anstatt die unterschiedlichen Erfahrungen türkischer Frauen in Deutschland zu reflektieren. Ihre individuellen Erfahrungen als Frau mit türkischem und muslimischem Hintergrund werden in der öffentlichen Diskussion als Beweis dafür angeführt, dass Frauen durch den Westen befreit werden müssen, in diesem Fall in Deutschland und nach den Regeln ›westlicher Kultur‹. Alice Schwarzer, die bekannte Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma und Veteranin der deutschen Frauenbewegung, unterstützt die Position von Necla Kelek (Ferree 2012: 74–76). In einigen sehr umstrittenen Aussagen verglich Schwarzer das nationalsozialistische Narrativ zur ethnisch-rassischen Homogenität bewusst mit dem zeitgenössischen Islam. In den Parallelen, die Schwarzer zwischen NationalsozialistInnen und MuslimInnen zog, verglich sie das Kopftuch mit dem Judenstern: Ihrer Ansicht nach kennzeichnet das Kopftuch Frauen als Musliminnen, wie der gelbe Stern JüdInnen kennzeichnete. Die folgende Aussage von Schwarzer führte zu einer hitzigen Debatte in den Medien: »Das Kopftuch ist die Flagge des Islamismus. Das Kopftuch ist das Zeichen, das die Frauen zu den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht. Als Symbol ist es eine Art ›Branding‹, vergleichbar mit dem Judenstern. Und real sind Kopftuch und Ganzkörperschleier eine schwere Behinderung und Einschränkung für die Bewegung und die Kommunikation. Ich finde es selbstverständlich, dass wir uns an Ländern wie Frankreich ein Beispiel nehmen und das Kopftuch in der Schule und im Kindergarten untersagen, für Lehrerinnen und Schülerinnen.« (FAZ, 4. Juli 2006)

Schwarzers antimuslimischer Ton und ihr Vergleich des Kopftuchs mit dem Judenstern brachte ihr die Aufmerksamkeit deutscher Medien und politischer AkteurInnen ein, von denen viele kritisierten, dass Schwarzer zu weit gehe, wenn sie den Judenstern für ihre Zwecke instrumentalisiert. Schwarzer hat trotzdem auch später in verschiedenen Büchern ähnlich argumentiert, indem sie weiterhin betont, dass das Kopftuch als Ausdruck des »Islamismus« in Deutschland nicht toleriert werden sollte (Schwarzer 2002; 2011). Schwarzers Aussagen wurden auch von einigen Musliminnen in Deutschland heftig kritisiert. Für Schwarzer und Kelek bietet der Feminis-

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mus sowohl eine klare Analyse des Kopftuchs – es unterdrückt Frauen – wie auch einen klaren Ansatz zur Lösung des Problems – es sollte verboten werden. Verschiedene deutsche Musliminnen hinterfragten solche vermeintlich klaren Analysen. So berichtete zum Beispiel Die Zeit, dass die junge Muslimin Saliha Kubilay Schwarzer während einer öffentlichen Diskussion an einer Universität mit der Frage konfrontierte: »An welcher Stelle der feministischen Bewegung sind Sie eigentlich stehen geblieben, dass Sie bis heute nicht mitbekommen haben, dass es längst auch in Deutschland einen islamischen Feminismus gibt?« (Die Zeit, 26. Januar 2011) Mit ihrer Frage verdeutlichte Kubilay gegenüber Schwarzer – und damit auch Die Zeit gegenüber ihrer LeserInnenschaft –, dass ihre Lesart des Feminismus eine Vielfalt an Perspektiven außer Acht lasse. Dennoch sehen viele BeobachterInnen, insbesondere deutsche FeministInnen, als entscheidenden Aspekt die Entscheidungsfreiheit von Frauen in Gefahr. Viele bezweifeln, dass muslimische Frauen sich freiwillig für das Kopftuchtragen entscheiden würden, anstatt die Möglichkeit zu nutzen, ihr Haar als Zeichen der ›Integration‹ in die deutsche Gesellschaft offen zu zeigen (taz, 23. Juli 2004; taz, 19. Oktober 2006; taz, 20. August 2009). Frauen wie Akgün, Kelek und Schwarzer erwarten von muslimischen Frauen, die sich Deutschland zugehörig fühlen, dass sie sich zwangsläufig gegen das Tragen des Kopftuchs einsetzen. Dadurch wird die Homogenität als beständiger Pfeiler des nationalen Narrativs der Zugehörigkeit erneut gestärkt. Akgün, Kelek, Schwarzer und andere könnten argumentieren, dass sie sich nicht gegen Diversität wenden, sondern gegen eine Homogenität, die der konservative Islam durchsetze, indem er die Mehrheit der Kopftuch tragenden Frauen in Deutschland zu dieser Praxis zwinge. Gemäß einer solchen Argumentation entfalte sich Diversität dann, wenn Frauen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen ihr Haar bzw. ihre Körper zeigen können. Tatsächlich wird in der Medienberichterstattung Nacktheit bei muslimischen Frauen mit erfolgreicher ›Integration‹ assoziiert, während die Bedeckung mit fehlgeschlagener ›Integration‹ in Deutschland verknüpft wird. Im Mai 2011 berichtete der Auslandsrundfunk Deutsche Welle über Sila Sahin, die erste deutschtürkische Schauspielerin, die sich nackt im Playboy abbilden ließ.18 Mit seiner Frage, ob nacktes Posieren als ultimativer Akt der ›Integration‹ gesehen werden solle, charakterisiert der Reporter Sila Sahin als eine muslimische Frau, die durch die Aktaufnahmen im Playboy befreit worden sei. Die deutsche Wochenzeitung Die Zeit

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problematisierte dieses Verständnis der Emanzipation und hinterfragte die eine Sensation suggerierenden Interviews zu Sahins Nacktheit. Unter der kühnen Überschrift »Brüste mit Migrationshintergrund« (Die Zeit, 19. April 2011) wirft die Journalistin die Frage auf, weshalb Sahin ihre Erziehung, ihren ethnisch-nationalen Hintergrund und den Druck ihrer Eltern als Teil ihrer Story thematisieren musste, um Aufmerksamkeit für ihre Bilder zu erzeugen. Die Berichterstattung des Playboy wie auch das Posieren Sahins bedienten das Klischee von türkischen Frauen, die sich im Westen emanzipieren, indem sie ihre Bedeckung aufgeben.

Homogenität in der Diversität: ›Leitkultur‹ oder kulturelle Vielfalt? Wie die vorangegangene Erörterung des feministischen Ansatzes zum Kopftuch zeigt, war der Kopftuchstreit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ludin-Fall nicht beendet. Die fortdauernde Spannung zwischen Homogenität und Diversität in den Kopftuchdebatten wurde noch einmal durch zwei Ereignisse der späten 2000er Jahre deutlich: durch den Mord an Marwa el-Sherbini am 1. Juli 2009 und die Veröffentlichung des Buchs von Thilo Sarrazin am 6. September 2010. Mit dem Mord an Marwa el-Sherbini im Jahr 2009 wandelte sich die mehrheitlich negativ geprägte Diskussion über das Kopftuch in den deutschen Medien plötzlich, der Ton wurde differenzierter und selbstkritischer. Die Kopftuch tragende muslimische Immigrantin Marwa elSherbini wurde von dem Russlanddeutschen Alex W. ermordet. El-Sherbini hatte Alex W. 2009 verklagt, weil er sie als Terroristin, Hure und Islamistin beschimpft hatte, während sie ihrem Sohn auf der Schaukel eines Spielplatzes in ihrer Nachbarschaft in Dresden Anschwung gab. Während der Gerichtsverhandlung erstach Alex W. el-Sherbini mit einem mitgebrachten Messer. El-Sherbini starb noch vor Ort. Sie war im dritten Monat schwanger, ihr Ehemann und ihr dreijähriger Sohn mussten den Mord mit ansehen. Nach dem Mord an el-Sherbini erlebten die Medien und der politische Diskurs in Deutschland eine Phase der Selbstreflexion. Die Aufmerksamkeit wandte sich der Diskriminierung von MuslimInnen zu, besonders von Kopftuch tragenden Frauen als Ziel von antimuslimischem Rassismus. Vor dem Hintergrund der Darstellung el-Sherbinis als fromme Muslimin, Mutter und hochqualifizierte Immigrantin (sie war Pharma-

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zeutin, die sich in Deutschland weiterbilden wollte) diskutierten JournalistInnen und PolitikerInnen über die Beziehung zwischen Kopftuch und ›Integration‹. Anfänglich entbrannte eine Kontroverse darüber, ob Deutsche diesem Mord genug Aufmerksamkeit gewidmet hätten. Es wurde zwar sofort nach dem Mord darüber berichtet, der Fokus erweiterte sich aber erst nach Straßenprotesten in Deutschland und Ägypten, bei denen die Menschen sich empört über diesen Mord in einem deutschen Gerichtssaal zeigten, in dem el-Sherbini Schutz für sich und ihre Familie zu finden gehofft hatte. Das veranlasste den Autor und Journalisten Claudius Seidl, eine kritische Reflexion des Mordes an el-Sherbini im Besonderen und der Kopftuchdebatte im Allgemeinen anzumahnen: »Nein, der Mord war kein Zeichen dafür, dass die deutsche Gesellschaft islamophob wäre – beschämend für diese Gesellschaft war aber der Umstand, dass es erst die Trauer und das Entsetzen der Ägypter brauchte, damit der deutschen Öffentlichkeit endlich bewusst wurde, was hier, mitten unter uns, geschehen ist. Und all die Kopftuchverbieter und Musliminnenbefreier, all die, die meinen, die Emanzipation der muslimischen Frau fange mit der Kleiderordnung an, all jene, die deutschen Kindern nicht den Schleier einer muslimischen Lehrerin zumuten wollen: Können die vielleicht mal ein Jahr lang schweigen und nachdenken: aus Pietät gegenüber der toten Kopftuchträgerin Marwa el Sherbini?« (FAZ, 12. Juli 2009)

Der Mord an el-Sherbini führte Deutschen auf andere Art vor Augen, wie MuslimInnen zum Opfer werden können – nicht als Opfer der eigenen Religion, sondern als Opfer der Islamophobie. Die Frage, ob Seidl voreilig die Rolle der deutschen Islamophobie abgestritten habe, führte dazu, dass die Diskussionen über den Mord an elSherbini zu einem Wendepunkt in den großen deutschen Medien sowie in der Politik wurden. Nach dem Mord begannen deutsche Medien und PolitikerInnen die Einwanderungspolitik intensiv aus einer kritischeren Perspektive heraus zu diskutieren und aufzuzeigen, wie diese Politik möglicherweise zu Ungleichheit und Gewalt führt. Die Kopftuchträgerin el-Sherbini wurde als handlungsmächtige Frau dargestellt, die ihren Angreifer vor Gericht brachte. Dass das deutsche Gerichtswesen sie nicht schützen konnte, stellte in Frage, dass die Übernahme deutscher Kultur und Werte für deutsche Musliminnen den Weg zur Emanzipation ebne. Und doch führte kurz nach diesem Mord Thilo Sarrazin mit seinem Buch »Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen«

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(2010) die Kopftuchdebatte wieder zurück in die bekanntere, auf Ausschluss bedachte Form medialer und politischer Diskussion. Thilo Sarrazin, SPD-Politiker, früherer Finanzsenator des Landes Berlin und ehemaliges Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, hatte schon vor dem tragischen Tod el-Sherbinis mit seiner Forderung, Einwanderung zu begrenzen, von sich reden gemacht und fiel seit 2009 mit antimuslimischen und immigrantInnenfeindlichen Schriften und Interviews auf. Sein Buch von 2010 und darauf bezogene Äußerungen beschäftigten die deutschen Medien mehr als ein Jahr lang. Einer der am häufigsten zitierten Ausschnitte aus seinem Interview in der vierteljährlich erscheinenden Kulturzeitschrift Lettre International bezieht sich auf die »Kopftuchmädchen«: »Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.« (Sarrazin 2009, 200–201)

Indem Sarrazin seine Litanei mit der angeblichen Produktion »ständig neue[r] kleine[r] Kopftuchmädchen« beendete, beschwor er das Bild einer Masse von ImmigrantInnen in Deutschland herauf, die nicht beschäftigungsfähig und von Sozialleistungen abhängig seien. Mithilfe umstrittener statistischer Daten erklärte Sarrazin, dass MuslimInnen mit ihrer hohen Fruchtbarkeitsrate die deutsche Gesellschaft übernehmen würden. Er verglich Deutschland mit dem Balkan und sagte, dass die TürkInnen Deutschland genau so erobern würden, wie die KosovarInnen den Kosovo übernommen hätten, nämlich nicht mit Waffen, sondern durch eine hohe Geburtenrate. Auf diese Weise reduzierte er türkische Frauen auf ihre reproduktiven Fähigkeiten und gab ihnen die Schuld für das, was er die »Selbstabschaffung« Deutschlands nennt. »Deutschland schafft sich ab« wurde mehr als eine Million Mal verkauft. Es war in vielen Zeitungsläden erhältlich, aber auch an Tankstellen und in Supermärkten, häufig prominent vor den Kassen platziert. In einem Versuch, die LeserInnenschaft von Sarrazin zu analysieren, verortete der bekannte deutsche Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit Sarrazin als die Stimme eines Teils der deutschen Mittelklasse, der Probleme mit der Einwanderungspolitik Deutschlands habe. Er erklärte, dass die

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Aussagen Sarrazins zu unproduktiven ImmigrantInnen, durch die es zu einer sozialen Auflösung kommen könne, an die Nazipropaganda vor dem Zweiten Weltkrieg erinnere, in der damals die jüdische Bevölkerung zum Sündenbock für die wirtschaftlichen Probleme der deutschen Gesellschaft gemacht wurde (Spiegel Online, 18. September 2010). Viele deutsche Prominente, aber auch der Zentralrat der Juden und die Türkische Gemeinde in Deutschland äußerten in Pressemitteilungen, Büchern und Medieninterviews massive Kritik an Sarrazin. In der Zeit nach dem Mord an el-Sherbini sprachen sich viele KritikerInnen Sarrazins explizit gegen den von ihm geschaffenen rassistischen Diskurs aus. Gleichzeitig forderten sie von der deutschen Gesellschaft, aufmerksamer zu sein, wenn es um die Diskriminierung von MuslimInnen geht, auch von Frauen, die sich entscheiden, als Ausdruck ihrer Religiosität ein Kopftuch zu tragen. Die Gleichzeitigkeit der lautstarken Empörung über Sarrazins Argumente auf der einen Seite und der enormen Popularität seines Buches auf der anderen Seite verdeutlicht, wie komplex die Debatte in Deutschland ist. Sarrazin hat definitiv einen Nerv getroffen. Trotz der Kritik an Sarrazin war es nicht möglich, ihn zum Schweigen zu bringen, da dies gegen die Meinungsfreiheit verstoßen hätte. So wurde zum Beispiel als Konsequenz seiner umstrittenen Schriften ein Parteiausschlussverfahren seitens der SPD gegen ihn angestrengt, letztlich erlaubte die Schiedskommission der SPD ihm jedoch, Parteimitglied zu bleiben. Dass Sarrazin sich weiter äußern durfte, bot aber auch seinen GegnerInnen eine Plattform für ihre Gegenpositionen: Während Sarrazin Thesen formulierte, die an die Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg erinnerten, nutzten viele Deutsche die aufgekommene Debatte, um klarzustellen, dass sie eben nicht mehr jene rassistischen Deutschen der Nazizeit waren. Wie auch in der Sarrazin-Debatte deutlich wurde, oszillieren Medienberichterstattung und politische Diskussionen zwischen Begegnungen mit den Realitäten der sozialen, politischen und historischen Vielfalt Deutschlands und einer tief verwurzelten Sehnsucht nach Homogenität, besonders, wenn es um Fragen der ›Integration‹ von MuslimInnen geht. Viele wichtige politische AkteurInnen sprechen sich für soziale und kulturelle Homogenität aus, wie zum Beispiel in der Debatte um die ›Leitkultur‹, und stigmatisieren MuslimInnen als Gefahr für diese Homogenität.19 Zur gleichen Zeit erhielt Fereshta Ludin, die zum öffentlichen Symbol der Ablehnung des Kopftuchs geworden war, im Jahr 2012 den an-

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gesehenen Drei-Königs-Preis für ihren Beitrag zu einem interreligiösen Projekt zwischen einer islamischen Grundschule in Berlin Kreuzberg, einem Bezirk mit einem hohen migrantischen Bevölkerungsanteil, und der Clemens-Brentano-Grundschule in Lichterfelde, einem vornehmlich durch die Mittelklasse geprägten Bezirk Berlins. Dieser Preis wird vom Diözesanrat Berlin vergeben, einer Verwaltungseinheit der katholischen Kirche für das Erzbistum Berlin, einer eigenständigen Organisation, die der Pflege des katholischen Erbes und der Entwicklung des interreligiösen Dialogs in Deutschland gewidmet ist. Während ihrer kurzen Rede anlässlich der Preisverleihung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sprach Ludin auch über die Bedeutung des interreligiösen Dialogs in der Pädagogik, wobei sie ihre Rolle als Lehrerin betonte. Die scheinbare Ironie dessen, Ludin als Person zu positionieren, die für die deutsche Gesellschaft einen Beitrag zur Entwicklung des interreligiösen Dialogs leistet, verdeutlicht, wie einige politische und religiöse Milieus durch ein Narrativ der Vielfalt verändert werden können, wie wir im Folgenden zeigen.

D ie N eudefinition des ›D eutschseins ‹: E in nationales N arr ativ der D iversität Seit 2004 wurde das Kopftuch für die deutsche Politik und Öffentlichkeit zum Ausgangspunkt einer breiteren Debatte über die ›Integration‹ muslimischer ImmigrantInnen in Deutschland. Der Bericht zum Inte­ grationsplan der Bundesregierung befand muslimische Gemeinschaften als ›nicht integriert‹, teils auch aus Mangel an politischer Einheit und Repräsentation. Gleichzeitig haben allerdings diese Gemeinschaften damit begonnen, sich zu organisieren. In den vergangenen Jahren gab es eine starke Zunahme an muslimischen Gruppen in Deutschland. MuslimInnen werden längst nicht mehr allein durch lang etablierte Organisationen vertreten wie etwa den Türkischen Bund Berlin-Brandenburg oder die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş. Vielmehr engagieren sich nun viele kleinere Jugendorganisationen wie Juma (Freitag), Muslimische Stimmen und die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD), um ihre spezifisch muslimische Identität als Teil ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Öffentlichkeit auszudrücken. Auf individueller Ebene gab es einen Generationenwechsel, bei dem junge MuslimInnen mit oder ohne Kopftuch

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zunehmend in Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und in der Arbeitswelt zu finden sind. Bei der Artikulation dessen, was es bedeutet, gleichzeitig deutsch und muslimisch zu sein, spielt das Kopftuch eine unterschiedlich große Rolle. Um zu verstehen, wie deutsche MuslimInnen das Kopftuch interpretieren, betten wir ihre Argumente in breitere Debatten über ›Integration‹ und Zugehörigkeit ein. Nina Mühe, Anthropologin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, veröffentlichte 2010 den Bericht für die Open Society Foundation mit dem Titel »At Home in Europe: Muslims in Berlin«. Mühe, die selbst deutsche Muslimin ist, beschreibt darin einen Prozess der Identitätsstiftung: Als ›deutsch‹ wahrgenommen zu werden, ermögliche, selbst eine Identität als Deutsche bzw. Deutscher zu entwickeln. In ihren Interviews mit MuslimInnen in Berlin fand Mühe heraus, dass zwar 40 Prozent der interviewten MuslimInnen sagten, sie gehörten zu Deutschland, aber nur 25 Prozent definierten sich als Deutsche. Ein sogar noch geringerer Prozentsatz (11 %) glaubte, dass auch andere sie als deutsch wahrnehmen würden (2010, 60). Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus (2009) führt aus, dass Aktivistinnen islamischer Organisationen und Gemeinschaften in öffentlichen Diskussionen eher selten als Repräsentantinnen muslimischer Frauen angesehen werden, während Kritikerinnen des Islam und männliche Funktionäre den Diskurs dominieren. Dabei erscheint es den jungen muslimischen Frauen, die sich in den Debatten über Zugehörigkeit stärker engagieren und sich immer mehr Gehör verschaffen, durchaus möglich, deutsch zu sein und ein Kopftuch zu tragen. Eine Plattform für Frauen, die sich aktiv an den Kopftuchdebatten beteiligen, findet sich auf der Webseite der DIK. So nutzte zum Beispiel Ayten Kılıçarslan als erste weibliche Vorsitzende von DITIB, einer großen türkischen religiösen Organisation mit starken Verbindungen in die Türkei, die Webseite der DIK, um darzulegen, dass deutsche PolitikerInnen und FeministInnen eine falsche Vorstellung von der Bedeutung des Kopftuchs haben: »Es ist daher fatal, eine bestimmte Symbolik aus einem religiös motivierten Bekleidungsstil abzuleiten, insbesondere wenn dadurch Menschenrechte – hier Frauenrechte – verletzt oder sogar abgesprochen werden. Theologisch ist das Kopftuch kein religiöses Symbol. Zu einem politischen Symbol wird es erst durch die Verbote und der [sic] in sich selbst nicht stimmigen Begründungen gegen das Kopftuch gemacht. Keine Frau, die das Kopftuch freiwillig trägt, sieht darin ein

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Symbol ihrer Unterdrückung. Die Politik sollte sich vom sogenannten ›Kopftuchzwang‹ (Kopftuchverbot als Zwang) distanzieren und Kopftuch tragende Frauen aus dem säkularen Blickwinkel als Individuen betrachten, statt sie aus der Öffentlichkeit und damit auch aus der Gesellschaft auszuschließen.« (DIK, 27. April 2009)

In ähnlichem Sinne sagte auch Hasibe Özaslan, die Projektleiterin des Interkulturellen Rates, in einem Interview auf der Seite der DIK, dass die Kopftuchdebatten muslimischen Frauen in Deutschland stark geschadet hätten: »Die Reduzierung ihrer Identität auf ein Bekleidungsstück wird der Rolle muslimischer Frauen in Deutschland nicht gerecht. Es geht viel mehr darum, was muslimische Frau [sic] ›im Kopf‹ haben und leisten können als darum, was sie ›auf dem Kopf tragen‹.« (DIK, 6. August 2012) Prominente Musliminnen wie Kılıçarslan und Özaslan versuchen, vielfältigere Perspektiven muslimischer Frauen in die Diskussionen um das Kopftuch einzubringen, indem sie versuchen, der deutschen Gesellschaft Interpretationshilfen zu geben. In den deutschen Medien wird diese Interpretationsrolle meist Frauen zugestanden, die dem Islam und dem Kopftuch gegenüber kritisch eingestellt sind, wie etwa Necla Kelek, und nur selten solchen Frauen, die tatsächlich ein Kopftuch tragen oder sich für das Recht darauf einsetzen. Die DIK bringt Repräsentanten des deutschen Staates und der Muslime zusammen, ihre Website bietet sich deshalb an als Plattform für Argumente gegen die vorherrschende Interpretation des Kopftuchs und der Zugehörigkeit zu Deutschland. Indem sich dort Frauen zu Wort melden können, die ein Kopftuch tragen, versucht die DIK mit ihrer Webseite, auf die Vielfalt an Definitionen der Zugehörigkeit zur deutschen nationalen Identität hinzuweisen.20 Eine weitere Interviewpartnerin war Naika Foroutan, Politikwissenschaftlerin in Berlin. Sie versucht in ihrer Forschung die Frage nach der Zugehörigkeit aus einer unabhängigen Position zu beantworten. Foroutan kommt aus einem deutsch-iranischen Elternhaus und hat ihre Kindheit im Iran verbracht. Ihr Interesse gilt Fragen der Immigration und in jüngerer Vergangenheit auch der Diskriminierung von MuslimInnen. Foroutan versucht Faktoren zu bestimmen, durch die hybride Identitäten und die damit verbundenen Lebensweisen definiert sind, wobei sie einen besonderen Fokus auf das Code-Switching21 zwischen zwei Sprachen legt. Sie erklärte uns, weshalb Code-Switching beweist, dass ein Individuum mehr als nur einer Kultur angehört und eine hybride Identität

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besitzt. Ihrer Meinung nach ist das in muslimischen Gemeinschaften in Deutschland momentan die Norm (Foroutan 2011). Vor dem Hintergrund, dass der deutsche Staat immer hervorgehoben hat, wie wichtig das Erlernen der deutschen Sprache ist, um vollständig in die deutsche Gesellschaft ›integriert‹ werden zu können, kann Foroutans Blick auf das Code-Switching zwischen zwei Sprachen (z. B. Deutsch und Farsi) als Bruch in der Konstruktion homogener Identitäten durch verpflichtende Sprachkurse für ImmigrantInnen angesehen werden. Für Foroutan ist das Code-Switching ein Zeichen der Zugehörigkeit zu einer »hybriden Identität«, dies findet von behördlicher Seite in Deutschland bislang wenig Beachtung (Foroutan und Schäfer 2009). Foroutan wurde zu einer scharfen Kritikerin von Thilo Sarrazin und diskutierte öffentlich mit ihm in der bekannten und von der Kritik gelobten TV-Sendung »Beckmann«. Laut Foroutan versucht Sarrazin ein Modell des ›Deutschseins‹ zu schaffen, aus dem MuslimInnen ausgeschlossen sind. In ihrem Artikel mit dem Titel »Wer ist wir?« reflektiert und analysiert sie ihre Erfahrungen der Sendung, um zu verdeutlichen, was es bedeutet, gleichzeitig Muslimin und Deutsche zu sein: »Wen habe ich da eigentlich gemeint, als ich immer wieder ›wir‹ sagte? Noch vor drei Wochen war mein ›Wir‹ ein deutsches ›Wir‹. Eines, in dem ganz selbstverständlich mehrere Referenzsysteme mitschwangen, auch das iranische Herkunfts-Wir meines Vaters. Jetzt war mein ›Wir‹ plötzlich ein migrantisches, ein muslimisches, in dem mein Deutschsein vollkommen ausgeblendet schien.« (Die Zeit, 23. September 2010) Foroutans Meinung nach wird deutschen MuslimInnen durch Sarrazins Argumente etwas weggenommen und ihr Gefühl der Zugehörigkeit unterhöhlt, selbst wenn viele Prominente in Deutschland Sarrazin für seine Äußerungen kritisierten. Ähnlich wie Foroutan argumentierte auch die bekannte Journalistin Hilal Sezgin, dass Sarrazins Fixierung auf MuslimInnen in Deutschland problematisch sei. In ihrem Artikel »Deutschland schafft mich ab« antwortet sie auf Sarrazins Diskurs mit dem Argument, dass niemand es für nötig hält, zwischen deutschen ProtestantInnen und deutschen KatholikInnen zu unterscheiden. Entsprechend hinterfragt sie die Gründe für eine Differenzierung zwischen muslimischer und nicht muslimischer Identität in Deutschland. Sie nannte diesen Prozess »Muslimifizierung« und führte ironisierend aus: »Ich ›bin‹ schließlich Muslimin. Obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, ›bin‹ ich muslimische Migrantin. Ich frage mich, ab wann da etwas schiefgegangen ist und wie man es

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wieder hinbiegen kann.« (Die Zeit, 3. September 2010) Sezgin protestiert dagegen, als ›Muslimin‹ gekennzeichnet zu werden, und findet es problematisch, Menschen auf ihren religiösen Hintergrund zu reduzieren. Menschen wie Sezgin besitzen diverse Identitäten und viele von ihnen wurden in Deutschland geboren. Die Aussagen von Foroutan und Sezgin zeigen, dass sich viele MuslimInnen als Reaktion auf die Sarrazin-Debatte in Deutschland bemüht haben, das nationale Narrativ der Zugehörigkeit zu verändern. Diese Reaktionen wenden sich gegen die »Muslimifizierung« und stärken die Idee hybrider deutsch-muslimischer Identitäten. In der Reaktion auf Sarrazins problematischen Verweis auf die »Kopftuchmädchen« als Beweis fehlgeschlagener ›Integrationsprozesse‹ in Deutschland wurde auch die Rolle von Gender-Aspekten bei der Konstruktion deutsch-muslimischer Identitäten thematisiert. Die Hauptfrage dabei lautete: »Was bedeutet es, ein Kopftuch zu tragen?« Die bekannte Journalistin und Professorin für Islamwissenschaften Katajun Amirpur versucht diese Frage in ihrem Artikel »Muslimisierung der Muslime« zu beantworten: »Was bedeutet Muslimen dann aber das Kopftuch, das spätestens an dieser Stelle immer als Beweis für die mangelnde Integrationsbereitschaft von Muslimen angeführt wird?« Mit ihrer Antwort bezieht sie sich auf die These der Soziologin Nilüfer Göle: »Oft ist das Anlegen des Kopftuchs nur Ausdruck der Suche nach der eigenen Identität. Religion sei ganz schlicht für viele Muslime eine Form der persönlichen Sinnstiftung in der Fremde.« (taz, 25. Januar 2011) Wie Katajun Amirpur in diesem Zitat ausführt, hat die Verwirrung über die Bedeutung des Kopftuchs in vielerlei Hinsicht zu einer sozialen Last geführt, mit der sich viele muslimische Frauen auseinandersetzen müssen. Im Rahmen ihrer Argumentation versucht Amirpur auch die Rolle des Kopftuchs für ein deutsches Publikum zu interpretieren. Aber anders als bei InterpretInnen wie Necla Kelek versucht sie dies auf eine Weise, die Kopftuch tragenden Frauen in Deutschland einen Weg zur Zugehörigkeit aufzeigen soll. Die soziale Last der unterstellten Bedeutung des Kopftuchs liegt manchmal auch auf den Schultern von Frauen ohne Kopftuch, die dann häufig gefragt werden: »Warum tragen Sie kein Kopftuch?«, als ob das Kopftuchtragen eine Voraussetzung muslimischer Identität in Deutschland sei. Bei Naika Foroutan, Hilal Sezgin und Katajun Amirpur handelt es sich um Frauen, die sich selbst als Musliminnen sehen und als In-

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tellektuelle in der deutschen Gesellschaft öffentlich anerkannt sind, sie selbst tragen kein Kopftuch. Um mehr über die Perspektive junger Frauen mit Kopftuch zu erfahren, haben wir zwei Interviews durchgeführt. Eine Gesprächspartnerin war Soraya Hassoun, zu dem Zeitpunkt Studentin des Gender-StudiesMasterstudiengangs der Humboldt-Universität. Außerdem sprachen wir mit Hüda Sağ, Studentin an der Universität Bielefeld. Yurdakul traf sich in ihrem Universitätsbüro mit Soraya Hassoun. Sie trug ein weißes Kopftuch, das an einer Seite mit Spitze und Pailletten verziert ist und über die Schulter reicht. Hassoun, die als Kind eines deutsch-libanesischen Elternpaares aufwuchs und mit einem Libanesen verheiratet ist, sieht sich selbst als Deutsche. Sie wurde in einem Umfeld deutscher und christlicher Kultur von ihrer deutschen Mutter aufgezogen, die Christin ist. In dem am 22. Juni 2011 geführten Interview sagte Hassoun, dass sie sich ausgeschlossen fühlt, weil sie nicht als Deutsche wahrgenommen wird: »Ich fühle mich deutsch, aber ausgegrenzt, weil ich Kopftuch trage. Religion hat nichts zu tun mit meiner eigenen Nationalität. Ich kann genauso deutsch sein wie eine Christin. Aber die anderen sehen es nicht so. Wenn Du nicht Hans-Peter heißt, dann bist Du nicht deutsch.« (Interview mit Soraya Hassoun, 22. Juni 2011, Berlin) Obwohl sie sagt »Ich fühle mich deutsch« klingt bei Hassoun die These von Mühe durch, dass die Identifikation durch andere auch die eigene Identifikation beeinflusse. Zusätzlich impliziert die Verwendung des Namens »Hans-Peter« anstelle etwa des Namens »Beate-Christina«, dass sie Deutschsein auch mit Männlichkeit assoziiert. Hassoun ist aktives Mitglied der muslimischen Gruppe Muslimische Stimmen, die mithilfe sozialer Medien versucht, Aufmerksamkeit für MuslimInnen betreffende Fragen und Ereignisse in Deutschland zu erzeugen. Als eine ihrer größten Sorgen formuliert sie im Interview, ob sie nach Studienabschluss Arbeit finden wird, obwohl sie ein Kopftuch trägt. Der Ausschluss, den sie empfindet, könnte noch schwerwiegender werden, wenn sie auch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen würde: »Als Köchin, Putzfrau, billige Arbeitskraft … akzeptieren sie Kopftuch …, aber nicht als Lehrerin. Das ist eine Lüge, dass die Schule neutral bleiben muss. Warum muss ich als Köchin arbeiten, warum kann ich nicht als Lehrerin [arbeiten]?« (Interview mit Soraya Hassoun, 22. Juni 2011) Bei Hassoun findet sich damit das Argument von Merve Kavakçı-Islam bestätigt, dass eine Kopftuch tragende Frau im türkischen Parlament auffällt,

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während eine Kopftuch tragende Putzfrau unsichtbar gemacht wird. Solche Klassenunterschiede im Bezug auf das Kopftuch prägen ganz offensichtlich auch deutsche Diskurse und Erfahrungen. Hüda Sağ, die in Deutschland geboren und dort von ihren türkischen Eltern großgezogen wurde, berichtet von ähnlichen Erfahrungen. Sie wollte gerne Lehrerin werden, musste ihren Traum jedoch aufgeben, weil eine muslimische Frau mit Kopftuch in einigen Bundesländern nicht als Lehrerin arbeiten kann.22 Jetzt möchte sie im akademischen Betrieb bleiben und Professorin werden. Sağ argumentiert, dass ImmigrantInnen von Deutschen nicht nur ›toleriert‹ werden sollten. Stattdessen möchte sie sich politisch beteiligen können, mit ihrem Kopftuch sozial anerkannt werden und in der deutschen Gesellschaft die gleichen Chancen haben. Sie hat bereits an verschiedenen Forschungsprojekten und Gruppen mitgewirkt, zum Beispiel dem Aktionsbündnis Muslimische Frauen, einer Organisation mit dem Ziel, muslimischen Frauen eine Stimme zu geben und sie zu aktiver Partizipation an politischen Prozessen zu ermutigen. Im Telefoninterview mit Yurdakul am 16. Juni 2011 sagte Sağ, dass das Deutschsein in der deutschen Gesellschaft aktuell einen Bedeutungswandel erfahre: »Deutschsein ist keine biologische Abstammung mehr. Wir sind immer plural, immer heterogen […] Für mich ist Deutschsein nicht verbunden mit deutschem Blut oder christlich Sein. Leider kann ich nicht einfach wie alle anderen sagen, dass ich deutsch bin, weil ich Muslimin bin. Aber Deutschsein ist ein Teil meiner Identität; und Muslima sein und Deutschsein sind für mich kein Widerspruch.« (Telefoninterview mit Hüda Sağ, 16. Juni 2011)

Sağ bringt das Argument der weiter oben zitierten JournalistInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen zu seinem logischen Schluss: Indem sie als muslimische Frau mit starken Verbindungen in die deutsche Gesellschaft an Debatten aktiv partizipiert, praktiziert sie eine sich entwickelnde deutsche muslimische Identität. Das dominante Narrativ der Zugehörigkeit mag die Existenz dieser Frauen als deutsche Musliminnen nicht anerkennen, aber ihre Alltagspraxis zeigt, dass ein sehr viel kosmopolitischeres Verständnis von Zugehörigkeit möglich ist. Diese Zugehörigkeit ist dann nicht mehr in der Homogenität einer vermeintlich gemeinsamen Kultur verwurzelt: Für Sağ ist es kein Widerspruch mehr, Muslimin und Deutsche zu sein.

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Sağ ist nicht die Einzige, die sich so äußert. Der deutschtürkische Autor Zafer Şenocak spricht sich eloquent für die Möglichkeit einer solchen Art von Diversität aus: »Denn seitdem ich Deutscher bin, kümmere ich mich viel stärker um mein türkisches Potenzial und habe aufgehört, darin einen Widerspruch zu sehen. […] Der Hang zum Monokulturalismus, der immer wieder in dem platten Spruch ›Multikulti ist gescheitert‹ gipfelt, verhindert inzwischen die Zukunftsfähigkeit Deutschlands.« (Şenocak 2011, 91)

Als Mitglieder der deutschen Gesellschaft definieren Soraya Hassoun, Hüda Sağ und Zafer Şenocak die Diversität als neues deutsches nationales Narrativ (O’Brien 2009). Dieses nationale Narrativ wird jedoch nicht nur von Menschen konstruiert, die nach Deutschland immigriert sind. Die eher auf Diversität denn auf Homogenität beruhende Version des deutschen nationalen Narrativs wird vielmehr auch von Deutschen verwendet, die selbst durch den Immigrationsprozess transformiert wurden. In einem persönlichen Gespräch erzählt die Kopftuch tragende Anthropologin Nina Mühe, dass sie sich auf den Straßen Berlins am wohlsten fühle, weil sich dort die unterschiedlichsten Menschen mischen und miteinander umgehen. Innerhalb dieser sichtbaren Diversität fühle sie sich sicher und von anderen Menschen akzeptiert. In einigen Gebieten Berlins, die schon als »Weiße Ghettos« bezeichnet wurden (Kanak Attak 2001), fühle sie sich hingegen nicht willkommen.23 Für Mühe geht es dabei nicht nur um das Kopftuch; es geht um die Akzeptanz von Unterschieden. Welcher Stellenwert dieser Unterschiedlichkeit eingeräumt wird, ist immer wieder Anlass zu Konflikten der Zugehörigkeit im deutschen nationalen Narrativ.

A k tualisierung gegenüber dem englischspr achigen B and »The H e adscarve D ebates  – C onflict of N ational B elonging « (2014) Die Entscheidung zum Kopftuch von 2004 wurde vom Bundesverfassungsgericht mit dem Beschluss 1 BvR 471/10 und 1 BvR 1181/10 vom 27. Januar 2015 geändert. In einer Pressemitteilung wurde angekündigt, dass »ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen

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mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht vereinbar ist.« (Bundesverfassungsgericht 2015) Auslöser für diesen Beschluss war die Beschwerde zweier muslimischer Frauen in NordrheinWestfalen. Die praktischen Konsequenzen dieser gerichtlichen Entscheidung in den einzelnen Bundesländern sind noch nicht absehbar. Allerdings kündigte das Land Berlin bereits an, sein Neutralitätsgesetz nicht ändern zu wollen, so dass Lehrerinnen mit Kopftuch der Schuldienst weiter verwehrt bliebe (Kneist 2015). Zufälligerweise erschien zeitgleich mit der gerichtlichen Entscheidung zum Kopftuch 2015 die Autobiografie von Fereshta Ludin »Enthüllung der Fereshta Ludin« (2015). Das Kopftuch wird in den nächsten Jahren ein wichtiges Diskussionsthema für Deutschland bleiben.

6. Die Politik des Kopftuchs Nationale Zugehörigkeit neu denken

In seinem Buch Die Identität schreibt Milan Kundera: »Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, sie immer bei sich zu haben ist vielleicht die notwendige Voraussetzung dafür, die Integrität seines Ichs zu wahren, wie man so sagt.« (Kundera 2004, 8) Auf die gleiche Weise prägen nationale Narrative ein kollektives Gedächtnis, welches das nationale Selbst perpetuiert, und schaffen ein Gefühl von Ganzheit mit vielen inneren Widersprüchen. Wenn politische AkteurInnen sich an Debatten beteiligen, in denen nur bestimmte Teile der Bevölkerung als zugehörig zu einem Nationalstaat gelten, werden sie damit aktiv, das nationale Narrativ neu zu betrachten, zu bekräftigen, neu zu formulieren und zeitweise zu transformieren. Zuweilen scheinen einige Elemente eines nationalen Narrativs in Vergessenheit geraten, um dann erneut aufzutauchen, in veränderter Form oder in einem anderen Kontext, belebt durch neue politische AkteurInnen, die bestehende Elemente kreativ neu zusammensetzen. Damit beleben politische AkteurInnen die Bedeutung nationaler Zugehörigkeit immer wieder neu. Nationale Narrative überdauern meist eher unterschwellig und werden von politischen AkteurInnen nur expliziert, wenn sie die nationale Zugehörigkeit als bedroht empfinden (Eder 2006). In den in diesem Buch untersuchten Ländern repräsentierte das Kopftuch zeitweise eine solche Bedrohung. Am Kopftuch lässt sich deshalb ideal untersuchen, wie sich politische AkteurInnen auf bestehende nationale Narrative beziehen, um Zugehörigkeit zu definieren. Indem es nationale Narrative hinterfragt, erzeugt das Kopftuch als Symbol des Andersseins Konflikte bezüglich der Definitionen nationaler Zugehörigkeit. Diese Konflikte enthüllen die nach wie vor bestehende Bedeutung alter Zugehörigkeitsnarrative, während sie gleichzeitig die Parameter für Inklusion und Exklusion in zeitgenössischen Nationalstaaten skizzieren.

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In allen vier von uns betrachteten Ländern hat eine große Bandbreite an politischen AkteurInnen unterschiedlichste, dem Kopftuch zugeschriebene Bedeutungen in die Öffentlichkeit getragen. Auf vielen institutionellen und organisatorischen Ebenen wurden diese Interpretationen diskutiert, so in den Medien und in den Parlamenten sowie in Nichtregierungsorganisationen, rechtlichen Institutionen und Aktivisten-Organisationen. Wir betrachten die nationalen Narrative der einzelnen Länder als um einen Kern herum zirkulierend, der sich beim Nach- und Weitererzählen wandeln kann, das Spektrum reicht von kleineren Veränderungen bis zur Neuerfindung eines komplett anderen Narrativs. Mit diesem Ansatz waren wir in der Lage, zu erforschen, bis zu welchem Grad die Interpretationen narrativer Elemente bekräftigt oder zugunsten eines veränderten Narrativs neu ausgelegt oder vollständig zurückgewiesen werden. Aus dieser Analyse lernten wir, dass sich das Verständnis der Staatsbürgerschaft und der nationalen Identität in Europa und der Türkei durch ein sich herausbildendes Narrativ verändert. Letztlich beschwören die Debatten darüber, ob in den hier diskutierten Ländern eine Inklusion von Frauen mit Kopftuch möglich ist, Veränderungen der nationalen Narrative herauf, die die Zugehörigkeit in diesen europäischen Nationalstaaten sowie in der Türkei prägen, jenem Nationalstaat, der Osten und Westen trennt. Die Kapitel des Buches veranschaulichen, wie JournalistInnen, politische AkteurInnen und AktivistInnen durch die (Neu-)Formulierung nationaler Narrative Grenzen der Inklusion und Exklusion ziehen. Scharf formulierte Argumente für Exklusion traten in den Vordergrund, als der französische Conseil d’Etat die Entscheidung einer untergeordneten Gerichtsinstanz bestätigte, einer Burka tragenden Frau die französische Staatsangehörigkeit zu versagen, weil die Vollverschleierung französischen Werten nicht entspreche (Mullally 2011). Auch in türkischen Zeitungen und Fernsehkanälen wurde offensiv die gängige säkulare Auffassung verbreitet, dass Frauen mit Kopftuch zum Iran oder Saudi-Arabien gehören und deshalb auch dort leben sollten (30. April 2006, Habertürk). In den Niederlanden wurde im Parlament und in den Medien der Vorschlag des rechtspopulistischen Politikers Geert Wilders diskutiert, eine »Kopflumpensteuer« von Frauen zu erheben, die ein Kopftuch tragen; Wilders erklärte, dass Frauen mit Kopftuch Abgaben wegen der Verschmutzung des öffentlichen Raums zahlen sollten. In Deutschland wurden »Kopftuchmädchen« mit einem Neologismus als »Integrationsverweigerer« dar-

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gestellt. In all diesen Beispielen werden Frauen mit Kopftuch als nicht zum etablierten Nationalstaat zugehörig dargestellt, ob es sich nun um Länder mit einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft oder um Einwanderungsländer handelt. Zugleich beanspruchten in den Medien präsente Kopftuch tragende Frauen explizit ihre Zugehörigkeit zu einer Nation, indem sie sich auf etablierte, die nationalen Narrative der einzelnen Länder prägende, diskursive Elemente beriefen. In der französischen Berichterstattung zum Kopftuchverbot in Grund- und Oberschulen von 2004 wurden junge Kopftuch tragende Frauen dabei gezeigt, wie sie ihre staatsbürgerlichen Rechte in Form öffentlicher Proteste wahrnahmen. Die einflussreichste Zeitung des Landes, Le Monde, interviewte junge Frauen, die mit den Worten egalité und liberté die Parolen der Französischen Revolution auf ihre Wangen geschrieben hatten, während sie Kopftücher in den Farben der französischen Trikolore trugen. Auch in der Türkei wurden Frauen mit Kopftuch aktiv und führten während der Parlamentswahl 2011 eine Kampagne durch, mit der sie die herrschende Partei offensiv dazu aufforderten, Kopftuch tragende Kandidatinnen für das Parlament aufzustellen. Obwohl weder säkularistische noch religiöse Männer ihre Kampagne unterstützten, schafften sie es, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu lenken. Sie können deshalb beanspruchen, an einem neu entstehenden türkischen Nationalnarrativ mitgewirkt zu haben. In den Niederlanden rief eine Vereinigung junger Musliminnen eine Anzeigenkampagne ins Leben: Auf Plakaten mit dem Motto »Echt Nederlands« (Echt niederländisch) zeigten junge muslimische Frauen »typisch« niederländische Aktivitäten wie Tee trinken und Hering essen, um direkt und offensiv kontroverse, antimuslimische Äußerungen des rechten Politikers Geert Wilders zu kontern. In Deutschland besuchte eine Gruppe muslimischer Frauen mit und ohne Kopftuch mit dem Namen Stadtteilmütter das Konzentrationslager Auschwitz, um durch diese Geste eine Verbindung zur Vergangenheit des Landes herzustellen, in dem sie leben. Direkt nach dem Besuch stellten sie einen Dokumentarfilm und eine Broschüre zur nationalen Zugehörigkeit in Deutschland her, die Kopftuch tragende Frauen inkludiert. Diese beispielhaften Versuche von Frauen, den auf Ausschluss angelegten Definitionen nationaler Zugehörigkeit zu begegnen, erzielten eine so umfassende mediale Aufmerksamkeit, dass Narrative der nationalen Zugehörigkeit letztlich neu imaginiert und artikuliert werden konnten.

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A nwendung des analy tischen R ahmens auf andere L änder und F älle Unser analytischer Ansatz zu den Kopftuchdebatten in Frankreich, Türkei, Niederlande und Deutschland kann sowohl auf Kopftuchdebatten in weiteren Regionen als auch auf weitere Problemfelder angewendet werden, die Konflikte der Zugehörigkeit erzeugen. Unser Ausgangspunkt bestand darin, über den Fokus einer wahrgenommenen Krise hinauszugehen: Anstatt mögliche Risse durch Religiosität oder Immigration in den Bereichen Säkularismus, Demokratie oder Geschlechtergerechtigkeit zu bewerten, haben wir die Möglichkeiten analysiert, anhand der Kopftuchdebatten die Bedeutung der nationalen Zugehörigkeit neu zu ergründen. Aus diesem Blickwinkel wurden Kleidungsstücke wie das Kopftuch zu einem Metonym, einem Sinnbild der Frage nach der Rolle der Religion im öffentlichen Raum; ein Bekleidungsstil dient somit als Grundlage für die Herausforderung bestehender nationaler Narrative. Wir sind der Auffassung, dass nationale Debatten auch in einer Welt relevant bleiben, in der supranationale Regierungsstrukturen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Deshalb haben wir uns auf nationale Debatten konzentriert, um Konflikte innerhalb von Diskursen zur nationalen Zugehörigkeit zu analysieren. Der in diesem Buch verwendete analytische Rahmen kann gewinnbringend zur Untersuchung derselben Problemstellung in unterschiedlichen Ländern angewendet werden. Von Frankreich, der Türkei, den Niederlanden und Deutschland bis hin zu Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten, drei englischsprachigen Ländern, denen wir uns im Folgenden kurz zuwenden. Für jedes dieser Länder führten wir für den Zeitraum von 2004 bis 2011 eine Analyse großer, überregionaler Zeitungen durch.1 Dieser länderübergreifende Vergleich verdeutlicht, wie unterschiedliche historische Kontexte und politische Strukturen zu spezifischen Konflikten der nationalen Zugehörigkeit geführt haben. Gegenwärtig geben fünf Prozent der britischen Bevölkerung eine muslimische Religionszugehörigkeit an (Office for National Statistics 2013). In Großbritannien wurde das multikulturelle nationale Narrativ durch die Geschichte des Kolonialismus beeinflusst, wobei die früheren kolonialen Untertanen nunmehr dort leben, wo einst das Herz des Empire schlug. Die britische Kolonialherrschaft gründete in weiten Teilen darauf, die »heimischen«, das Privatleben betreffenden kulturellen und rechtlichen Gebräuche unangetastet zu lassen. Dieser Ansatz führte zu

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einem britischen Multikulturalismus, demzufolge Gemeinschaften von ImmigrantInnen erhebliche kulturelle Rechte zugestanden wurden, als die EinwohnerInnen früherer Kolonien »nach Hause« kamen. Steven Vertovec (1996) und andere argumentieren, dass der Multikulturalismus dazu beigetragen habe, dass Gemeinschaften von ImmigrantInnen sich in »Enklaven« zusammengeschlossen hätten. Durch staatlich sanktionierte Regeln und Bestimmungen wurden diese Gemeinschaften und ihre »Kulturen« auf ihre Essenz reduziert und homogenisiert (1996). Andere WissenschaftlerInnen stärken eher die These, dass die Integration und Partizipation verschiedener ImmigrantInnengruppen eine Form multikultureller Anerkennung voraussetzt. Hieraus entwickelte sich die Vorstellung des »ausgereiften Multikulturalismus«, um anzuerkennen, dass es für eine multikulturelle Politik und Praxis nötig ist, sowohl die guten wie auch die schlechten Seiten des Gemeinschaftslebens wahrzunehmen (Phillips 2007; siehe auch Modood 2005; Parekh 2000). Vor dem Hintergrund andauernder Konflikte aufgrund von rassifizierten, aber auch ethnischen und religiösen Differenzen lag der Fokus der öffentlichen Diskussion in Großbritannien in jüngerer Zeit weniger auf dem Multikulturalismus als auf der Frage der sozialen Kohäsion (Anthias und Kofmann 2005; Crowley und Hickman 2008). Mit diesem Perspektivenwechsel wurde eher die Konformität mit spezifisch britischen Praktiken und Werten als die Anerkennung gruppenbasierter Unterschiede zum Orientierungspunkt britischer Integrationspolitik (Dustin und Phillips 2008). Abweichend von der binären Opposition zwischen Multikulturalismus und sozialer Kohäsion prägt Steven Vertovec in seinem späteren Werk den Begriff der »Super-Diversität«, um die wachsende Komplexität der britischen Bevölkerung zu beschreiben, wobei er sich auf die Ursprungsländer, die Migrationsroute und den rechtlichen Status bezieht. Jene, die meinen, die Integration von ImmigrantInnen hänge von einer Stärkung der sozialen Kohäsion über alle Unterschiede hinweg ab, möchten damit eher die Ähnlichkeiten als die Differenzen betonen. Demgegenüber vertritt Vertovec (2007) die Auffassung, dass kulturelle Differenzierung und umfassende Partizipation in einer Gesellschaft durchaus kompatibel seien. Obwohl britische PolitikerInnen und JournalistInnen diese »Super-Diversität« zweifellos vor Augen haben dürften, wenn sie die Problematik Kopftuch tragender Frauen diskutieren, sind sie jedoch nicht immer in der Lage, sich dessen bewusst zu bleiben, dass neue ImmigrantInnen vielfältige und komplexe Definitionen der Zugehörigkeit zu Großbritannien mitbringen.

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Historisch betrachtet spiegelten die britischen Regelungen zum Kopftuch den Multikulturalismus wider. Seit einem entsprechenden Gerichtsverfahren von 1998 gilt das Kopftuch im Allgemeinen als akzeptierter Teil von Schuluniformen, obwohl die Details der Umsetzung den einzelnen Schulen überlassen bleiben. Von den Schulen wird erwartet, dass sie dem Antidiskriminierungsgesetz (British Race Relations Act) und der Menschenrechtsgesetzgebung (Human Rights Act) entsprechend agieren (Kilic 2008). Auch bei der Metropolitan Police gibt es spezielle UniformKopftücher für muslimische Streifenpolizistinnen, was verdeutlicht, wie ein multikulturelles Nationalnarrativ die Beziehung zwischen staatlicher Autorität und religiöser Symbolik beeinflusst (BBC News, 24. April 2001). Der Fall von Shabina Begum und die Debatte um Jack Straw verdeutlichen jedoch, dass Kleidungsstücke wie der Jilbab (ein langes Kleidungsstück, das über der Kleidung von Frauen getragen wird) und der Niqab viel konfliktträchtiger sind (BBC News, 2. März 2005). Im Jahr 2003 trug die 16-jährige Shabina Begum einen Jilbab in der Schule. Die Schule sah die Gefahr, dass das Kleidungsstück die größtenteils muslimische SchülerInnenschaft spalten könnte (hier wird mit dem Druck der Peer-Gruppe argumentiert, der auch eine wichtige Begründung für das französische Kopftuchverbot war), und versuchte, Begum das Tragen des Kleidungsstücks zu verbieten (Kilic 2008, 445). Der darauf folgende Prozess dauerte drei Jahre und endete 2006 mit einer Entscheidung des Berufungsgerichts zugunsten der Schule (House of Lords 20062). Im selben Jahr löste der Außenminister Jack Straw eine hitzige öffentliche Debatte aus, als er öffentlich sein Unbehagen über den Niqab äußerte (Daily Mail, 7. Oktober 2006). In Anlehnung an die deutschen Debatten erklärte Straw, das Kopftuch sei eine »sichtbare Demonstration der Separation, welche weiße und asiatische Gemeinschaften dazu bringt, ›parallele Leben‹ zu führen« (Kilic 2008). Der Gesichtsschleier sollte in Großbritannien verboten werden. Der Gerichtsfall Begum und die Straw-Diskussionen lassen erkennen, dass britische Formen des Multikulturalismus im letzten Jahrzehnt zunehmend unter Druck geraten sind, da die Debatten immer stärker die soziale Kohäsion und assimilatorische Formen der Integration betonen. Obwohl eine Politik der sozialen Kohäsion die Gleichberechtigung der BürgerInnen stärken soll, unabhängig von Rasse, Schicht und Ethnie, fokussieren öffentliche Debatten häufig vor allem die Frage, wie Muslim­ Innen aus ihren Ghettos geholt werden können (siehe z. B. Thompson im Telegraph, 1. März 2009).

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Wie auch in anderen Ländern beteiligen sich MuslimInnen in Großbritannien aktiv an solchen Debatten. Bezüglich der Frage, ob der Vollschleier an öffentlichen Schulen erlaubt sein sollte, forderten einige muslimische politische AkteurInnen in Großbritannien ein Verbot des Niqab. Dr. Taj Hargey, Imam und Vorsitzender des Muslim Educational Centre of Oxford, hatte besonders die soziale Kohäsion im Blick, als er erklärte »muslimische Kinder werden einer Gehirnwäsche unterzogen, so dass sie denken, sie müssten sich von der Mainstream-Gesellschaft segregieren und separieren« (nach Telegraph, 2. Oktober 2010). Andere, wie beispielsweise Baronin Uddin als Mitglied des House of Lords für die Labour-Partei, erhoben Einspruch gegen die antimuslimischen Untertöne der Straw-Debatte und sprachen sich im Sinne des Multikulturalismus für eine Anerkennung muslimischer Differenz aus. Als Begründung verweist Uddin auf französische Debatten über Stigmatisierung, die in einem Zusammenhang mit Radikalisierungsprozessen stehe: »Wir haben jene angegriffen, die unsere größten Verbündeten für die Herausforderungen des Terrorismus und der Radikalisierung sein könnten.« Sie warnte, dass die Debatte sich katastrophal auf die muslimische Gemeinschaft ausgewirkt hätte und ein »Gefühl der Verletzlichkeit und Dämonisierung muslimischer Frauen« erzeugt hätte (nach Independent, 17. Oktober 2006). Auf diese Weise beteiligten sich MuslimInnen wie auch nicht muslimische AkteurInnen an der Definition, wer zu Großbritannien gehöre, indem sie bei der Debatte um die Rolle des Kopftuchs in der britischen Gesellschaft den Multikulturalismus und die soziale Kohäsion einander gegenüberstellten. Das nationale Narrativ in Kanada basiert noch stärker auf dem Multikulturalismus als in Großbritannien. Anders als in den Ländern, auf die wir uns im Hauptteil dieses Buches konzentrieren, gab es in Kanada nie die Selbstdefinition als homogene Nation. Stattdessen basiert Kanadas Nationalnarrativ der Zugehörigkeit auf der Diversität, wobei der Multikulturalismus die Möglichkeit bot, mit den fortbestehenden Spannungen zwischen den ursprünglich frankophonen und ursprünglich anglophonen SiedlerInnen umzugehen. Die weiterhin bestehende große Armut der indigenen Völker und die sie betreffenden strukturellen Benachteiligungen untergraben jedoch zugleich den rhetorischen Multikulturalismus, der auf Straßenfesten und kulinarischen Festen (food fairs) zur Schau gestellt wird. Bei der rechtlichen und politischen Reglementierung des Kopftuchs wird in Kanada ein multikultureller Ansatz mit einem an die Niederlande erinnernden Ansatz der Neutralität in Religionsfragen kombiniert. Und

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anders als in den in diesem Buch analysierten Ländern werden Trägerinnen von Burka oder Niqab durch den Diskurs des Multikulturalismus verteidigt, selbst von Menschen, die ein persönliches Unbehagen empfinden, wenn sie Frauen in solcher Kleidung sehen. Bei der Diskussion des Niqabs schrieb Kolumnistin Sheema Khan: »Hassen Sie den Niqab, so sehr Sie wollen. Aber ihn zu verbieten entspricht nicht den kanadischen Werten« (nach Globe and Mail, 14. Dezember 2012). Eine ganze Reihe weiterer KolumnistInnen schloss sich Khans Verteidigung des Multikulturalismus als einem wesentlichen Wert Kanadas an. Norman Spector schrieb: »Wenn der Niqab uns Unbehagen bereitet, ist das unser Problem, nicht ihres« (nach Globe and Mail, 23. Oktober 2006). Ein weiterer Kolumnist erklärte: »Ein Schleier ist nur ein Schleier; nackte Brüste sind nur nackte Brüste. Wenn eins von beidem Ihnen Unbehagen bereitet, Pech gehabt. Das ist es, worum es in einer multikulturellen Gesellschaft geht.« (Nach John Ibbitson, Globe and Mail, 25. Oktober 2006) Schon seit mehr als einem Jahrhundert leben Muslime in Kanada, aber in den vergangenen Jahrzehnten ist die muslimische Bevölkerung stetig gewachsen und machte 2010 geschätzte 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung aus (mit einem geschätzten Anstieg auf 6,6 % bis 2030, vgl. Pew Research Center 2011b). Trotz weiterbestehender öffentlicher Unterstützung ist der kanadische Multikulturalismus durch diesen Zuwachs unter Druck geraten. Seit 2006 arbeitet die damals gewählte konservative Regierung daran, das nationale Narrativ Kanadas umzuschreiben, um das multikulturelle Erbe des Landes zu demontieren. Zu diesem Zweck problematisierten die Konservativen die Integration neuer ImmigrantInnen, besonders solcher aus Ländern mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung, auch wenn sie gleichzeitig mit Erfolg um die Stimmen etablierter Einwanderergemeinschaften warben (vgl. Marwah und Triadafilopoulos 2013).3 Wie auch in anderen Ländern wurde die wahrgenommene Geschlechterungleichheit unter MuslimInnen dabei zu einem Kristallisationspunkt der laufenden Politik der Nationenbildung, wobei der Multikulturalismus in einem Spannungsfeld mit der Gleichheit der Geschlechter gesehen wurde. So argumentierte beispielsweise der Gründer der kleinen, aber lautstarken, säkularen muslimischen Organisation Muslim Canadian Congress (MCC), Tarek Fatah, Burka und Niqab seien »ein sehr klares Zeichen dafür, dass Frauen der Besitz von Männern sind, und das wird Nordamerika und Europa aufgedrängt. Die meisten muslimischen Männer haben den Niqab und die Burka satt.« (Nach Globe and Mail, 10. März 2010) Die

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einflussreiche Kolumnistin Margaret Wente der Zeitung Globe and Mail bezog sich auf Äußerungen dieser Art, um zu erklären, dass »meine vorurteilsfreie Toleranz mich verlässt, wenn ich vollständig verhüllte Frauen sehe. In jeder Kultur, in der dies die Norm ist, sind Frauen unterdrückt.« (Nach Globe and Mail, 18. März 2006) Nach Wente überschreiten Niqab und Burka die Grenzen des kanadischen Multikulturalismus und sollten verboten werden. Tatsächlich hat die konservative Regierung 2011 Niqab tragenden Frauen verboten, den Staatsbürgerschaftseid abzulegen. Dieser politische Akt war hauptsächlich symbolischer Natur, er führte aber trotzdem zu einem tief sitzenden Gefühl des Unbehagens unter kanadischen MuslimInnen (Globe and Mail, 12. Dezember 2011). Trotz dieser Bemühungen der konservativen Regierung wird die kanadische Debatte über die Zugehörigkeit weiterhin durch ein nationales Narrativ des Multikulturalismus geprägt. Zum Teil geht dies auf den Gegensatz zwischen Quebec, das sich einer multikulturellen Philosophie verweigert, und dem Rest Kanadas zurück. Anlässlich eines extrem restriktiven Verbotsvorschlags zum Niqab durch die Provinzregierung von Quebec bzw. durch Jean Charest, den Premierminister der Provinz, schrieb denn auch die Chefredaktion der Zeitung Globe and Mail: »Quebec ist sicher groß und widerstandsfähig genug, um einige religiöse Abweichler auszuhalten […] Mr. Charest sagte, er handele, um ›unsere Werte‹ zu verteidigen. Aber einer ›unserer Werte‹ besteht sicher darin, das Recht zu besitzen, von ›unseren Werten‹ abzuweichen.« (Nach Globe and Mail, 26. März 2010)

Dieses Zitat illustriert, wie die wiederholten Versuche aus Quebec, das Tragen des Kopftuchs und nun auch des Niqabs einzuschränken, die Definition der Zugehörigkeit zu Kanada beeinflussen, weil so der Unterschied zwischen dem Rest Kanadas und der frankophonen Minderheitennation Quebec deutlich wird (siehe auch Juteau 2003). Im August 2013 sorgten die Differenzen zwischen der Provinz Quebec und dem Rest des Landes abermals für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass die Minderheitenregierung der Parti Québécois eine »Charta der Werte Quebecs« vorbereitete, die den säkularen Charakter der Gesellschaft betonen und Angestellten des öffentlichen Dienstes (einschließlich Krankenhäuser, Schulen, Kindertagesstätten und Universitäten) das Tragen auffälliger religiöser Symbole verbieten sollte. Umfragen legten nahe, dass die Mehrheit der frankophonen Bevölkerung Quebecs eine solche

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Charta begrüßen würde, während die übrigen Kanadier eine derartige Einschränkung der Religionsfreiheit weitgehend mit Entsetzen aufnahmen (vgl. Peritz 2013). Die Reaktionen der englischsprachigen Medien außerhalb Quebecs zeigen – wie bereits in früheren Diskussionen über die Unterschiede zwischen der Provinz und dem Rest Kanadas  –, dass Quebec als unfähig gilt, Multikulturalismus zu praktizieren, während das übrige Kanada genau dies tue. Überdies soll die Zugehörigkeit zu Kanada nicht nur im Multikulturalismus, sondern auch im Pluralismus verankert sein – die kanadischen Werte erlauben es, von ihnen abzuweichen und trotzdem zu Kanada zu gehören. Trotz der Aversion, die der Niqab in Kanada genau wie in anderen Ländern hervorrief, haben solche Darstellungen ein Eintreten für die Religionsfreiheit gestärkt. Die Vereinigten Staaten sind wie Kanada ein Einwanderungsland. Allerdings war im Unterschied zu Kanada der Multikulturalismus historisch betrachtet kein vorherrschendes Element im nationalen Narrativ der Zugehörigkeit. Vielmehr generiert die Idee eines »melting pot«, in dem Kulturen, Ethnien und Religionen miteinander verschmelzen, in Verbindung mit einer starken Gewichtung von »persönlicher Freiheit« das amerikanische Nationalnarrativ. Obwohl es in weiten Teilen nur einem Klischee entspricht, spiegelt die Idee des Schmelztiegels die stark assimilatorische Tendenz in der amerikanischen Gesellschaft wider. Dieser assimilatorische Ansatz ist allerdings letztlich »nicht gegen Differenz, sondern gegen Segregation, Ghettoisierung und Marginalisierung« gerichtet (Brubaker 2001, 543, Hervorhebung im Original; siehe auch DeWind und Kasinitz 1997; Zolberg und Long 1999). Dieser Assimilationstendenz kann wiederum mit dem Konzept der persönlichen Freiheit begegnet werden. MuslimInnen machten 2010 1,7 Prozent der Bevölkerung der Vereinigten Staaten aus. Sie sind schon seit Langem in den USA präsent und bilden eine in sich sehr vielfältige Gruppe, wobei Afroamerikaner die Mehrheit ausmachen (Pew 2010). Innerhalb der Vereinigten Staaten ist das Tragen des Kopftuchs weitestgehend durch die Religionsfreiheit geschützt (Elver 2012). Bezüglich der Frage, ob öffentliche Bekundungen des islamischen Glaubens in Form spezifischer Kleidungsstücke für Frauen eine tolerierbare Differenz darstellen, fokussieren die US-Debatten allerdings eher das Ausland. Die sozialen und emotionalen Auswirkungen der Ereignisse vom 11. September, der Terrorismusdiskurs der Bush-Regierung und die militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan führten zu einer Neuausrichtung des nationalen Narrativs durch eine

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Gegenüberstellung von »AmerikanerInnen« und »MuslimInnen«, wobei das Muslimische mittlerweile für das »Fremde« steht. Wie auch in anderen Ländern spielt die Geschlechtergleichstellung im Rahmen dieser Artikulation des nationalen Narrativs eine Schlüsselrolle. Die Invasion Afghanistans wurde gerechtfertigt durch den Wunsch, »braune Frauen vor braunen Männern zu retten« (Spivak 1994). Bei ihrer Radioansprache anlässlich des Thanksgiving-Festes 2001 argumentierte Laura Bush, dass »der Kampf gegen den Terrorismus auch ein Kampf für die Rechte und die Würde der Frauen ist« (17. November 2001; AbuLughod 2002). Neun Jahre später erklärte eine Kommandeurin einer in Afghanistan kämpfenden Einheit der Marines, weshalb die Anwesenheit von Kämpferinnen wichtig sei: »Wenn [unsere Teilnahme an Kampfhandlungen] bedeutet, dass Frauen eines Tages keine Burka mehr tragen müssen, großartig!« (Nach NYT, 3. November 2010) Solche Zitate verweisen auf ein nationales Narrativ, in dem AmerikanerInnen die RetterInnen der Verletzlichen sind, wobei sich eine besondere Vorstellung von vergeschlechtlichter Ritterlichkeit mit einem speziellen Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit als individuelle Freiheit verknüpft. Im Fall der USA konzentrierte sich die mediale Debatte zu Kopftuch und Burka größtenteils auf Invasionsplätze in Übersee. Wenn sich Zeitungsdiskussionen den Problemen innerhalb der Vereinigten Staaten zuwandten, wurden die USA oft als multiethnische, tolerante Nation präsentiert, in der die Präsenz von Kopftüchern keine Bedrohung für die amerikanische nationale Identität darstelle, sondern eher die amerikanische Fähigkeit widerspiegele, aus Differenzen eine Kohäsion zu bilden. Dieses Bild der amerikanischen Aufgeschlossenheit und Toleranz bestärkten JournalistInnen durch eine positive Kontrastierung im Vergleich zu europäischen Ländern, denen negative Urteile und Stereotype zugeschrieben wurden. Andere Berichte ergänzten das Bild unterdrückter muslimischer Frauen im Ausland um Musliminnen in den Vereinigten Staaten, die von wütenden Brüdern geschlagen wurden, weil sie für die Arbeit ihre Burka abgelegt hatten (NYT, 27. Dezember 2010). Wenn man den Blickwinkel amerikanischer MuslimInnen einnimmt, scheint die Zugehörigkeit muslimischer Frauen, wie auch in anderen in diesem Buch diskutierten Ländern, sehr viel stärker durch strukturelle Diskriminierung als durch diese Art familiärer Dynamiken bedroht zu sein. Ein Bericht des Pew Research Center aus dem Jahr 2011 (2011b) ergab, dass Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zum Islam die

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größte Angst der Muslime in den USA ist. Angesichts der konkreten Fälle von Diskriminierung am Arbeitsmarkt, die auch medial diskutiert wurden, ist diese Angst offensichtlich berechtigt. So schrieb beispielsweise die New York Times über den Fall der aus Casablanca in Marokko stammenden 26-jährigen Imane Boudlal, die ihren Arbeitsplatz im kalifornischen Disneyland verlor, als sie sich entschied, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen (NYT, 24. September 2010). Im Jahre 2012 verklagte Boudlal Disneyland wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz. Die Medien schenkten diesem Fall große Aufmerksamkeit, die Berichterstattung zeichnete das Bild einer jungen muslimischen Frau, die gegenüber dem uramerikanischen Disney-Konzern den amerikanischen Diskurs des Schutzes individueller Rechte vollends beherrschte. Es gibt also eine erkennbare Spannung im amerikanischen Nationalnarrativ innerhalb und außerhalb des Landes – mit Narrativen der amerikanischen Heimat, die gut geeignet sind, muslimische Frauen in Zugehörigkeitsnarrative zu integrieren, während die Geschichten über MuslimInnen im Ausland eher ein Bild des Islam zeichnen, das in völligem Widerspruch zu amerikanischen Werten steht. Zusammengefasst verdeutlichen diese kurzen Analysen der Mediendebatte über das Tragen des Kopftuchs in drei englischsprachigen Ländern, wie diese Debatten mithilfe des in diesem Buch entwickelten Rahmens analysiert werden können. In allen genannten Ländern zeigt die Analyse der Kopftuchdebatten als Konflikt der Zugehörigkeit, wie solche Debatten zur (Re-)Artikulierung nationaler Narrative führen können. Zusätzlich können Forschende Debatten über Ehrenmorde, Beschneidungen, rituelles Schächten, Polygamie (bei MuslimInnen und MormonInnen) sowie die gleichgeschlechtliche Ehe als Konflikte der nationalen Zugehörigkeit analysieren. Jede dieser Diskussionen dreht sich um spezifische Probleme der körperlichen Unversehrtheit, Moral, Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit. In den daraus resultierenden Diskussionen sehen wir, wie sich Konturen der nationalen Zugehörigkeit verschieben. Unsere These ist nicht, dass die Kopftuchdebatten in verschiedenen Ländern dieselben substanziellen Fragen aufwerfen (z. B. geht es bei den in diesem Buch diskutierten Kopftuchdebatten um die Geschlechtergerechtigkeit, Säkularismus, die Moderne, Toleranz und demokratische Prinzipien). Vielmehr greifen all diese Debatten unterschiedliche, spezifische Problemstellungen auf, durch die etablierte nationale Narrative in Frage gestellt werden. Durch ihre Analyse sehen wir, wie sie sich zu Konflikten der Zugehörigkeit entwickeln, aber auch Möglichkeiten eröffnen, nationale Narrative zu (re-)artikulieren.

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Ü berdenken der nationalen Z ugehörigkeit und des Tr ansnationalismus In allen in diesem Buch diskutierten Ländern sind Themen wie das Tragen eines Kopftuches zu einem Metonym der Differenz geworden, die das etablierte nationale Narrativ bedroht. Statt allgemeine Formen der Integrationspolitik oder Fragen des Säkularismus in freiheitlichen Demokratien zu untersuchen, haben wir gezeigt, dass die Analyse eines einzelnen, konkreten Konflikts verdeutlichen kann, wie wahrgenommene Bedrohungen auf die fortwährende Produktion nationaler Narrative der Zugehörigkeit einwirken. Obgleich wir durch die Analyse medialer und parlamentarischer Debatten wichtige diskursive Elemente eines nationalen Narrativs nachzeichnen, können wir nicht bewerten, welche dieser Elemente besonders prägend für Menschen im alltäglichen Leben und in alltäglichen Begegnungen sind. Wenn Frauen in Internetforen darüber berichten, wie sie auf der Straße angeschrien werden, dass sie kein Kopftuch tragen sollen, lässt dies darauf schließen, dass die Konflikte der Zugehörigkeit durchaus im Alltagsleben verhandelt werden. Während der Recherche zu diesem Buch erzählten uns türkische, deutsche und niederländische Frauen mit Kopftuch immer wieder von ihren Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt. Auch diese Geschichten zeigen, welche Bedeutung der Interaktionsebene zukommt, auf der diese Konflikte der nationalen Zugehörigkeit bearbeitet werden. Diese Geschichten sind ebenso wegweisend für zukünftige Forschung. Erstens wäre es nützlich, die ethnografischen und interaktiven Ebenen zu beleuchten, auf denen Zugehörigkeit produziert wird. Dies würde den Blick von Zeitungen, Parlamenten und Gerichten abwenden, um in den Mittelpunkt zu rücken, wie nationale Narrative die Zugehörigkeit mit Bedeutung beladen, wenn Menschen im öffentlichen Raum interagieren. Hierzu bedarf es einer Analyse dessen, wie Formen der Inklusion und Exklusion in alltäglichen Interaktionen erfahren werden. Im von Amanda Wise und Selvaraj Velayutham (2009) herausgegebenen Werk zur Alltagspraxis des Multikulturalismus finden sich Nachweise dafür, dass solche Begegnungen zu Momenten avancieren, in denen kulturelle Unterschiede verhandelt und spezifische ethnische Grenzen und Rassengrenzen kreiert werden. Ein solcher Ansatz kann auf ethnografische Arbeiten erweitert werden, die erkunden, wie Konflikte der Zugehörigkeit auf der Interaktionsebene zur Produktion nationaler Narrative führen. Wie Liisa

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Malki (1992) in ihrer Analyse der diskursiven Produktion der nationalen Identität von Hutu im Exil darlegt, wirkt sich der physische Aufenthaltsort von geflüchteten Hutus, segregiert in Lagern oder eingebettet in lokale Gemeinschaften, grundlegend auf ihre Narrative der Zugehörigkeit aus (siehe auch Akhil Gupta und Sharma Aradhana 2007 zu allgemeinen Konzepten der Untersuchung von Ethnografien des Staates, die sich in Ethnografien nationaler Narrative wandeln können). Forschungen über die ortsspezifischen Erfahrungen Kopftuch tragender Frauen könnten die alltägliche Konstruktion nationaler Zugehörigkeit illustrieren. Zweitens behandeln wir die Zugehörigkeit in diesem Buch im weitesten Sinne metaphorisch und nicht auf der Ebene gemachter Erfahrungen. Entsprechend bleibt Raum für ethnografische Forschungen mit einem Fokus auf der Partizipation als Ausdruck der Zugehörigkeit. In gewissem Sinne ist die vorliegende Analyse von einem Trend in Einwanderungsländern beeinflusst, sich in Integrationsdebatten auf die Frage der Kultur zu konzentrieren. Die Verschiebung weg von der Analyse des sozioökonomischen Status von ImmigrantInnen führte dazu, dass Fragen wie die des Kopftuchs vor dem Hintergrund von Überzeugungen und Werten diskutiert werden und nicht mit Blick auf ihre materiellen Auswirkungen (siehe aber Yurdakul und Fournier 2006). Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Diskriminierung am Arbeitsmarkt und die sozioökonomischen Auswirkungen der Kopftuchdiskurse einen tiefgreifenden Einfluss auf muslimische Frauen und damit auch auf die muslimischen Gemeinschaften in den betroffenen Ländern haben. Es ist sicher lohnenswert zu untersuchen, ob auch andere Frauen Situationen wie Nora el Jebli in den Niederlanden erlebt haben, die vermutete, dass sie nicht als Buchhalterin angestellt wurde, weil sie zur Vertragsunterzeichnung mit einem Kopftuch erschien. Das entspricht auch Annelies Moors’ Analyse des in den Niederlanden vorgeschlagenen »Burkaverbots«, nach der ein Verbot diese Frauen davon ausschließe, grundlegende Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und an der Gesellschaft teilzuhaben (2011). Bis heute gibt es nur wenige Arbeiten, die abbilden, wie sich diese exkludierenden Politiken auf die Möglichkeit muslimischer Frauen mit Kopftuch oder Niqab auswirke, ihre Zugehörigkeit in unterschiedlichen Bereichen des öffentlichen Raums auszuüben. Vergleichbar wenig untersucht sind die Auswirkungen religiöser Praxis auf die Partizipation im öffentlichen Raum (Spielhaus 2011; Brubaker 2013). Carl-Ulrik Schierup, Peo Hansen und Stephen Castles (2006) analysieren die Verknüpfungen zwischen der Integration von Immigran-

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tInnen und der aktuellen Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates. Wie sie betonen, liege der Fokus einer solchen Untersuchung, wie sich religiöse Praxis auf die verschiedenen Formen der Partizipation auswirken, auf den Prozessen der Exklusion und Inklusion innerhalb des breiteren Konzepts der Staatsbürgerschaft und der sozialen Wohlfahrt. Obwohl die Partizipation (von Frauen) am Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle spielt, müssen wir aufpassen, das Konzept der Staatsbürgerschaft nicht einzig auf diesen Aspekt zu reduzieren (Schierup et al. 2006, 16–17). Stattdessen sollte erforscht werden, wie Kopftuch tragende Frauen an formalen politischen Prozessen und anderen Aspekten des Alltagslebens partizipieren, die ihre Erfahrungen von Exklusion und Inklusion direkt prägen. Abschließend soll noch angemerkt werden, dass unsere Argumentation in weiten Teilen darauf ausgerichtet war, Spezifika der nationalen Narrative in den jeweilig untersuchten Ländern aufzuzeigen, inklusive der drei in diesem abschließenden Kapitel kurz analysierten Länder. Unsere Daten lassen aber klar darauf schließen, dass es in diesen Debatten starke transnationale Trends gibt, da es in den untersuchten Ländern immer wieder um Themen der Geschlechtergerechtigkeit, des Liberalismus, des Multikulturalismus, des Säkularismus und der demokratischen Partizipation geht. Während wir veranschaulicht haben, wie diesen Themen in ihren nationalen Kontexten spezifische Bedeutungen zugeschrieben werden, bleibt doch die Frage bestehen, wie diese Konzepte über nationale Grenzen hinweg reflektiert und behandelt werden. Ein Beispiel: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sprach 2004 Leyla Şahin das Recht ab, an einer türkischen Universität ein Kopftuch zu tragen. Eine Untersuchung, wie sich diese Entscheidung auf die öffentliche Debatte in unterschiedlichen Ländern auswirkt, kann verdeutlichen, welchen Einfluss supranationale Diskurse und Praktiken auf nationale Konflikte der Zugehörigkeit haben. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Produktion nationaler Narrative erfolgt nicht isoliert. Eher gibt es transnationale Kanäle in Form von Menschen, Medien und Gesetzen, die Einfluss darauf haben, wie diese Konflikte länderübergreifend initiiert und interpretiert werden. Ein Aspekt dieser globalen Kanäle könnte Olivier Roys (2004) Konzeptualisierung des »globalisierten Islam« in der Form einer Umma sein, einer globalen muslimischen Gemeinschaft. In ihrer Betrachtung geteilter diskursiver Formationen argumentiert Nilüfer Göle (2011), dass in westeuropäischen Staaten ein transnationales Bild des Islam vorherrsche, das vor dem Hintergrund des Kopftuchs und dem Anspruch auf Zugehö-

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rigkeit »femininer Islam« genannt werden könne. Entsprechend sind wir der Auffassung, dass zukünftige Forschung zu der Integration und Identität von MuslimInnen auch die transnationale Dimension einbeziehen und sich auf Diskursbewegungen und -praktiken innerhalb und über Nationalstaaten hinaus konzentrieren sollte. Anstatt sich aber in Argumenten über den Niedergang des Nationalstaats oder die schwindende Bedeutung des Nationalen in Konflikten der Zugehörigkeit zu verfangen, sollte eine solche Forschung zu einem Dialog zwischen all diesen Ebenen führen. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass wir uns in der Analyse der Kopftuchdebatten zwar auf die Nationalstaaten konzentrieren, zugleich aber zeigen, dass die nationale Zugehörigkeit in einem globalisierten Kontext konstruiert wird. Prägend sind Befürchtungen, die sich schon vor, insbesondere aber nach dem 11. September auf die Rolle der Religion im öffentlichen Raum beziehen. Seyla Benhabib argumentiert in ihrer Analyse des französischen Kopftuchverbots in Schulen 2004, dass die »Kopftuch-Affäre« (l’affaire du foulard) mittlerweile für alle Dilemmata der nationalen Identität stehe, die sich im Zeitalter der Globalisierung und des Multikulturalismus ergeben. Sie fasste diese Dilemmata in der folgenden Frage zusammen: »Wie ist es möglich, vor dem Hintergrund der Integration Frankreichs in die Europäische Union einerseits und dem Druck des Multikulturalismus aufgrund der Präsenz von aus muslimischen Ländern stammenden ImmigrantInnen der zweiten und dritten Generation auf französischem Boden andererseits die französischen Traditionen der laïcité, der republikanischen Gleichheit und der demokratischen Staatsbürgerschaft beizubehalten?« (Nach Benhabib 2006, 71)

Diese Dilemmata prägen in verschiedenen Variationen die Kopftuchdebatten in allen vier in diesem Buch analysierten Ländern. Transnationale Verbindungen, globale Bewegungen, Diversität der Bevölkerung und multikulturelle Strategien deuten nicht bloß auf Ähnlichkeiten, sondern auf länderübergreifende Konvergenzen hin. Durch die detaillierte Analyse der universal erscheinenden Aspekte wie Geschlechtergerechtigkeit, der religiösen Neutralität und liberalen, demokratischen oder republikanischer Werten, die immer wieder eine Rolle in den Kopftuchdebatten spielen, werden die Besonderheiten der nationalen Narrative deutlich. Die Debatten, wie etwa um das Tragen des Kopftuchs, machen auf neue Herausforderungen für Nationalstaaten aufmerksam und reproduzieren nationale Narrative durch Konflikte der Zugehörigkeit.

Methodologischer Anhang

In den Debatten über das Kopftuch artikulieren muslimische und nicht muslimische AkteurInnen wie JournalistInnen, PolitikerInnen und AktivistInnen der Zivilgesellschaft nationale Narrative. Dieser Anhang enthält eine detaillierte Übersicht der von uns gewählten Methoden zur Recherche, Datenerhebung und -analyse, auf deren Grundlage wir diese Zusammenhänge darlegen. In vielen Studien zur Bildung nationaler Identitäten dienen politische und journalistische Texte als Fundus einer soziologischen und politischen Analyse (Joppke 2009; Koopmans und Statham 2010). In Anlehnung an solch eine Diskursanalyse haben wir Artikel aus jeweils drei (Frankreich und Türkei) bzw. vier Zeitungen (Deutschland und Niederlande) gesammelt, die das politische Spektrum in den einzelnen Ländern abbilden. Diese Zeitungstexte wurden dann um parlamentarische Dokumente ergänzt, einschließlich transkribierter Parlamentsdebatten, Regierungsberichte und Gesetzesvorschläge bzw. verabschiedeter Gesetze.1 Das Gefühl nationaler Zugehörigkeit ist eng an die kontinuierliche Ausgestaltung des Nationalstaats gebunden, in denen PolitikerInnen und JournalistInnen eine Schlüsselrolle spielen. Jedoch sind dies nicht die einzigen AkteurInnen in diesem Bereich (Bowen 2008; Klausen 2006; Laurence 2011). Aus diesem Grund haben wir auch alternative Diskurse im Internet sowie Gespräche mit wichtigen InterviewpartnerInnen berücksichtigt, die den Diskurs einer inklusiv verstandenen Zugehörigkeit vorantreiben. Auf diese Weise waren wir in der Lage, die institutionalisierten Machtverhältnisse in den einzelnen Ländern nachzuzeichnen, einschließlich der Frage, wer sich in Kopftuchdebatten beteiligt, wer die Definitionsmacht über Zugehörigkeit besitzt und wie das Kopftuch in Diskurse der Inklusion und Exklusion eingebettet ist.

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Wir stehen Techniken der Objektifizierung kritisch gegenüber, beispielsweise Methoden, durch die Menschen als Muslime kategorisiert werden, ohne dass Kriterien für eine Definition herangezogen würden (Spielhaus 2012). Entsprechend konzentrieren wir uns zwar auf Nationalstaaten, sind aber sehr skeptisch bezüglich des methodologischen Nationalismus, einem reduktionistischen methodologischen Ansatz, durch den transnationale Verbindungen unsichtbar gemacht werden. Beim methodologischen Nationalismus wird der Nationalstaat als einziger Referenzpunkt für soziale und politische Prozesse angenommen, weshalb diese Prozesse dann auch nicht auf ihre Kohärenz über Ländergrenzen hinweg untersucht werden (Wimmer und Glick Schiller 2002). Um diese beiden Fallstricke zu vermeiden (die Homogenisierung sozialer Gruppen in eine einzige Kategorie einerseits und den methodologischen Nationalismus andererseits), ergründen wir in einer länderübergreifenden Analyse, wie das Kopftuch in nationalen Narrativen unter dem Aspekt der Zugehörigkeit unterschiedlich interpretiert wird. Die Medienberichterstattung wurde nicht nur unter quantitativen Gesichtspunkten analysiert. Zwar können Häufigkeiten in der Medienberichterstattung wichtige Indikatoren dafür darstellen, wie hitzig eine Debatte geführt wird. Der Schwerpunkt unserer Analyse liegt aber nicht darauf, wie oft in den Medien über das Kopftuch diskutiert wurde, sondern darauf, welche Einstellung diese Berichte formulieren. Burawoy betont für die Extended Case Method, dass die Theorie erweitert werden kann, indem Sonderfälle integriert werden, und dass mithilfe dieser unüblichen Fälle neue Theorien gebildet werden können (2000). Mit Bezug auf Burawoys analytischen Ansatz besteht unser Ziel darin, bestehende Theorien zur nationalen Zugehörigkeit zu erweitern und die Kopftuchdebatten dafür exemplarisch zu nutzen. Entsprechend der Extended Case Method verlassen wir uns nicht auf eine induktive Analyse der Daten. Vielmehr identifizieren wir zentrale Elemente in der historischen Entwicklung der nationalen Narrative der einzelnen Länder und analysieren dann, auf welche Weise in den Debatten Bezug auf sie genommen wurde. Hier beziehen wir uns auf die Unterscheidung von Rudolf de Cillia et al. zwischen dem, was sie in ihrer Analyse von Alltagsdefinitionen nationaler Identitäten als »konstruktive, perpetuierende, transformierende und destruktive Makrostrategien des Diskurses« bezeichnen (1999: 157; siehe auch Wodak, de Cillia und Reisigl 2009). Besondere Aufmerksamkeit widmen wir Diskursen, die nationale Zugehö-

Methodologischer Anhang

rigkeit aus einer radikal anderen Sicht beleuchten, um das Potenzial für radikalere Veränderungen auszuloten. Solche Diskurse können der Kritik an vorherrschenden Darstellungen des nationalen Narrativs dienen, indem zum Beispiel festgestellt wird, dass Exklusion undemokratisch ist. Alternativ vermitteln sie ein neues Bild davon, worum es bei diesen Debatten geht. Beispielsweise legen sie offen, dass die Kopftuchdebatten von sozioökonomischen Problemen ablenken, unter denen Minderheiten zu leiden haben. Solche Diskurse flackern in den Medien häufig nur kurz auf. Wir sind solchen Spuren mithilfe von Internetrecherchen weiter gefolgt und haben, wenn möglich, Interviews mit zentralen AkteurInnen dieser Diskurse geführt. Oft werden alternative Diskurse durch Kopftuch tragende Frauen oder durch muslimische Frauen ohne Kopftuch vorangetrieben, die sich aktiv in die Politik des Kopftuchs einbringen. Der politische Aktivismus dieser Frauen verdeutlicht, dass es möglich ist, im Kontext länderspezifischer Nationalnarrative alternative Formen der nationalen Zugehörigkeit zu artikulieren. Häufig verkörpern diese Frauen die Grenzen der Zugehörigkeit und können dadurch der nationalen Zugehörigkeit neue Bedeutung verleihen (Şenocak 2011). Die Daten wurden länderspezifisch erhoben und vergleichend analysiert. Dabei wurde der soziopolitische und historische Kontext der einzelnen Länder berücksichtigt, um darstellen zu können, wie Konflikte der Zugehörigkeit an die Oberfläche nationaler Narrative dringen. Dieser kontextuelle Fokus hat uns dabei geholfen, spezifische Eigenheiten in den einzelnen Ländern zu erkennen, beispielsweise in der jeweiligen Migrationsgeschichte und den Einwanderungsbewegungen muslimischer ImmigrantInnen, in politischen Institutionen und in der Ausrichtung der Medien, aber auch sprachlicher Natur. Angesichts der soziopolitischen und historischen Verschiedenheit unterscheidet sich das Material etwas, das wir für die einzelnen Länder gesammelt haben. In jedem Land wurden drei bis vier Zeitungen analysiert, die liberale und konservative Ansichten zu den Kopftuch-, Burka- und Niqabdebatten wiedergaben. Die Zeitungsdaten wurden um Parlamentsdebatten ergänzt, die im gleichen Zeitraum geführt wurden. In einigen Ländern wurden zusätzlich zu den Parlamentsdebatten auch politische Berichte untersucht (in Frankreich, Deutschland und in den Niederlanden) sowie in Deutschland die Publikationen einer regierungsseitig initiierten Islam-Konferenz. Die für die einzelnen Länder erfassten Daten deckten etwas unterschiedliche Zeiträume ab: Sie begannen zu unter-

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schiedlichen Zeiten, endeten aber alle zum Zeitpunkt der Fertigstellung des ersten Entwurfs dieses Buches (allerdings wurden die Daten selektiv bis zur letzten Bearbeitung 2013 aktualisiert). Die Datenerhebung für Frankreich begann mit der frühesten Online-Verfügbarkeit der Zeitung Le Figaro im Jahr 1996, um auch die Jahre vor dem Kopftuchverbot von 2004 abzudecken. Anschließend konzentrierten wir uns intensiv auf das Leitmedium Le Monde ab 2003, dem Zeitpunkt, zu dem Sarkozy die Debatte neu anfachte, die letztlich zum Kopftuchverbot an französischen Schulen führte. Für die Türkei war 2002 das wichtigste Jahr, weil damals die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) an die Macht gelangte. Die niederländischen Daten wurden für den Zeitraum ab 2004 erfasst, als die Debatte zur Integration von ImmigrantInnen ihren Höhepunkt erreichte. Für Deutschland stellt 2004 ebenfalls einen bedeutenden Anfangspunkt dar, weil in diesem Jahr der Fall von Fereshta Ludin vor das Bundesverfassungsgericht kam. Indem wir diese unterschiedlichen Zeiträume berücksichtigt haben, in denen Kopftuch, Niqab oder Burka jeweils eine wichtige Rolle im Bereich der nationalen politischen Organisation spielten, waren wir in der Lage, Konflikte der Zugehörigkeit in nationalen Narrativen zu erfassen, statt uns durch objektivistische, aber letztlich willkürliche Regeln der Methodologie einzuschränken, die uns zur Erfassung künstlich angeglichener Daten gezwungen hätte.

Ü berblick über die D aten nach L ändern Frankreich Für unsere Analyse der französischen Kopftuchdebatte zogen wir die Zeitungen Le Monde und Le Figaro heran. Für unsere Analyse des Burkaverbots ergänzten wir diese Auswahl noch um die Zeitung Libération. Diese drei Zeitungen repräsentieren unterschiedliche politische Ansichten. In der allgemein eher links ausgerichteten Le Monde wird versucht, ein möglichst breites Meinungsspektrum abzubilden, wobei zu den vielfältigen AutorInnen und Informationsquellen auch Intellektuelle, PhilosophInnen, Personen des öffentlichen Lebens und PolitikerInnen zählen. Le Figaro ist eine weniger anspruchsvolle, politisch eher rechts stehende Zeitung. Die Libération steht für die Linke im politischen Spektrum und enthielt häufig die detailliertesten Analysen. Die Zeitungen Le Monde und

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Le Figaro haben eine geschätzte tägliche Auflage von mehr als 300.000, während die Libération eine Auflage von 134.000 hat. Alle diese Zeitungen verfügen über Online-Ausgaben, die zumeist Mitte der 90er Jahre ins Leben gerufen wurden. Als Suchplattform verwendeten wir Factiva, um alle Artikel aus den dort hinterlegten Archiven erfassen zu können. Die mediale Debatte zum Kopftuch begann in Frankreich viel früher als in anderen Ländern. Sie reicht zurück bis 1989, als drei Schülerinnen in Creil ihrer Oberschule verwiesen wurden, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch abzunehmen. Um auch diese frühen Diskussionen um das Kopftuch beurteilen zu können, haben wir Zeitungsdaten aus Le Figaro von 1996 an (dem frühesten über Factiva erhältlichen Jahrgang) bis September 2009 erfasst. Diese Hintergrundinformationen ermöglichten es uns, die Wurzeln der aktuellen Debatten zu erkennen. Wir untersuchten die Nachrichten an allen Wochentagen und verwendeten die Suchbegriffe voile islamique (islamischer Schleier) oder foulard islamique (islamisches Kopftuch), wodurch wir auf eine Gesamtzahl von 607 Artikeln für den genannten Zeitraum kamen. Auf der Grundlage der Lektüre bestehender Forschungsarbeiten zu den französischen Kopftuchdebatten und unserem Verständnis dieser Debatten nach Einsicht der Zeitung Le Figaro wendeten wir uns der Le Monde als Leitmedium und Primärquelle unserer Zeitungsanalyse zu. Wir begannen mit der Sammlung von Artikeln aus Le Monde ab April 2003, als Nicolas Sarkozy unbeabsichtigt den Kopftuchstreit dieses Jahres anstieß. In dieser ersten Runde wurden Daten bis zum 3. November 2009 erfasst. Um mit der Datenmenge umgehen zu können, schränkten wir unsere Suche durch die hinzugenommenen Suchbegriffe femme (Frau) und fille (Mädchen) weiter ein. Die weiteren Suchbegriffe waren voile integral oder foulard islamique oder voile islamique bzw. burqa oder burka. Für diesen ersten Zeitraum konnten wir insgesamt 404 Artikel sammeln. Für eine Analyse der Burka- oder Niqabdebatten haben wir 1003 Artikel aus den drei Zeitungen für den Zeitraum zwischen 1. Juni 2009 bis 1. Juni 2010 herausgefiltert, in denen die Begriffe burka, burqa oder voile integrale verwendet wurden (315 Artikel in Le Monde, 413 Artikel in Le Figaro und 274 Artikel in Libération). Um die Datenmenge besser handhaben zu können und unserem Interesse an der Gender-Dimension der Debatten gerecht zu werden, analysierten wir die Artikel, in denen auch Bezug auf die Begriffe femme (Frau) oder fille (Mädchen) genommen wurde (291 Artikel in Le Monde, 385 Artikel in Le Figaro und 245 Artikel in Libération).

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Dadurch wurde jedoch die Gesamtzahl der Artikel nur geringfügig reduziert (auf 945), was darauf hinweist, dass Genderfragen tatsächlich zu einem Kernaspekt dieser Debatten geworden sind. Um auch die offiziellen politischen Diskussionen abzubilden, haben wir auch die wichtigsten Berichte der Stasi-Kommission (unter Vorsitz von Bernard Stasi) und der Gerin-Kommission (unter Vorsitz von André Gerin) untersucht. In Frankreich haben wir keine muslimischen Frauen interviewt. Stattdessen suchten wir im Internet nach muslimischen Frauengruppen bzw. nach Frauengruppen, die sich für die Rechte muslimischer Frauen einsetzen. Wir wollten ihre Forderungen bezüglich Kopftuch und Burka erurieren, allerdings fanden wir heraus, dass es nur sehr wenige solcher Gruppen gibt. Die französischen Daten wurden mit der Hilfe des französisch muttersprachlichen Forschungsassistenten Inder Marwah erhoben und analysiert, der zum damaligen Zeitpunkt Doktorand des Fachbereichs für Politikwissenschaften der University of Toronto war. Wir baten ihn, anhand der Datensammlung eine Chronologie der Kopftuchdebatte in Frankreich nachzuzeichnen und sie um detaillierte Anmerkungen zu den bedeutendsten Ereignissen zu erweitern, unter anderem zum sogenannten Stasi-Gesetz und zur Rede von Sarkozy vor der UOIF (Union des organisations islamiques de France, Union islamischer Organisationen Frankreichs) im Jahr 2003. Diese Daten wurden mithilfe einer eher offenen, induktiven Kodierung strukturiert, um Hauptthemen in der Berichterstattung identifizieren zu können. Anschließend wurden die Zeitungsartikel entsprechend der Kategorien kodiert, die historisch betrachtet das nationale Narrativ Frankreichs ausmachten. Dank der induktiven Kodierung konnten wir die Daten durcharbeiten, ohne uns durch vorab festgelegte Kategorien einzuschränken, und so die Entwicklung historischer Ereignisse nachvollziehen. Dadurch konnten wir die Daten aus der Vogelperspektive betrachten. Im nächsten Kodierungszyklus wurde das induktive Kodieren mit deduktivem Kodieren kombiniert, dieses Mal mit festgelegten Kategorien vor Augen, wodurch wir die Veränderung bestehender Kategorien in den einzelnen nationalen Narrativen identifizieren konnten. Diese Kombination aus induktivem und deduktivem Kodieren erlaubte es uns zu erkennen, ob sich in den einzelnen nationalen Narrativen neue Kategorien entwickelt hatten. Außerdem konnten alle HauptakteurInnen (Personen wie auch Organisationen) bestimmt werden, die in den Debatten vertreten waren. Zusätzlich haben wir die wichtigsten an der Debatte

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beteiligten muslimischen AkteurInnen bestimmt, um zu sehen, ob ihre Forderungen als partikularistisch und nur auf ihre Gemeinschaft bezogen dargestellt werden oder ob ihre Partizipation an den französischen Debatten für die Integration französischer MuslimInnen steht. Hierbei kamen wir zu dem Ergebnis, dass sie generell das Spektrum an Argumenten und Meinungen repräsentierten, das auch bei nicht muslimischen AkteurInnen zu finden ist.

Türkei Die türkischen Zeitungsdaten wurden aus den drei großen, überregionalen Zeitungen Hürriyet, Zaman und Cumhuriyet erhoben. Diese Zeitungen wurden ausgewählt, um das politische Spektrum vom liberalen Mainstream (Hürriyet) über religiös (Zaman) bis klar links orientiert (Cumhuriyet) abzubilden. Diese Artikel wurden mithilfe der Suchbegriffe başörtüsü und türban gesammelt. Bei beiden Begriffen handelt es sich um Bezeichnungen für das Kopftuch, wobei der erste als politisch neutral betrachtet werden kann, während der zweite Begriff das Kopftuch als politische Stellungnahme versteht. Mit Blick auf spezifischere Formen der Berichterstattung zu bestimmten Ereignissen haben wir die religiös orientierten Zeitungen Yeni Şafak und Vakit untersucht, aber auch andere große Tageszeitungen wie die liberal und am Mainstream orientierten Zeitungen Milliyet und Radikal. Hürriyet und Zaman sind die Zeitungen in der Türkei mit der größten Auflage. Die Auflage der Hürriyet liegt geschätzt bei ca. einer halben Million, die der Zaman bei 800.000. Die Cumhuriyet hat im Vergleich zu diesen beiden Zeitungen eine bedeutend kleinere Auflage, sie liegt bei geschätzten 50.000. Die Sammlung der Zeitungsdaten aus der Hürriyet und der Zaman begann mit dem Jahr 2002, als die AKP erstmalig die Wahlen gewann, und endete nach den Parlamentswahlen im Juli 2011, als die AKP zum dritten Mal die Regierung stellte. Die Daten aus der Cumhuriyet sind auf das Jahr 2008 konzentriert, als führende PolitikerInnen der AKP versuchten, das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten durch eine Verfassungsänderung aufzuheben. Aufgrund des für die Türkei verfügbaren hohen Datenvolumens wurden nur die Donnerstagsausgaben der jeweiligen Zeitungen untersucht. Auf diese Weise wurden ungefähr 3000 Zeitungsartikel für die Türkei analysiert.

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Während der Erhebung der Daten aus den einzelnen Zeitungen sahen wir uns in der Türkei mit einem schnelleren soziopolitischen Wandel konfrontiert als in den anderen Ländern. Dieser schnelle Wandel spiegelte sich auch in den Medien und ihren Diskursen wider. Im Zeitraum der Erhebung und der Analyse der Daten gab es beim Besitzer der Hürriyet, Aydın Doğan, einen dramatischen Wandel der ursprünglich kritischen Linie gegenüber der AKP: Innerhalb nur weniger Monate verschwand 2009 die kritische Einstellung der Hürriyet gegenüber dem Kopftuch. Wir konnten beobachten, dass zahlreiche Gerichtsverfahren gegen JournalistInnen vieler Medienunternehmen angestrengt wurden, die die AKP und speziell den Premierminister kritisiert hatten. Diese Bedrohung der Meinungsfreiheit in den Medien führte dazu, dass die türkischen Zeitungsdaten speziell nach 2009 als nicht vollständig transparent zu bewerten sind (Kurban und Sözeri 2013). Im Vergleich zu anderen Ländern wie Deutschland wurde die massive Einflussnahme der Regierung auf die türkischen Medien auch direkt in den Zeitungsdaten erkennbar. Zum Ausgleich wurden für diesen späteren Zeitraum auch andere Datenquellen berücksichtigt, die dem Einfluss der Regierung gegenüber unabhängig sind, zum Beispiel bianet.org oder Nachrichten auf Facebook oder Twitter. Wir sammelten auch parlamentarische Daten aus den Parlamentsdebatten während zweier Legislaturperioden der AKP von 2002 bis 2010, wobei speziell zwei Fragen besondere Beachtung fanden: Leyla Şahins Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 1998 und der Versuch von 2008, das Kopftuchverbot an Hochschulen aufzuheben. Die relevanten Parlamentsdebatten wurden für die 22. (19. November 2002 bis 3. Juni 2007) und 23. (4. August 2007 bis 12. Juni 2011) Legislaturperiode untersucht, was auch der ersten und zweiten Amtszeit der AKP-Regierung entspricht. Die türkischen Zeitungs- und Parlamentsdaten wurden aus den entsprechenden Quellen mit der Hilfe unserer ForschungsassistentInnen heruntergeladen, die türkische MuttersprachlerInnen sind: Selin Çağatay, damals Doktorandin am Institut für Gender Studies an der Central European University in Budapest, und Özlem Kaya, damals Doktorandin am Atatürk Institut für Moderne Türkische Geschichte an der Universität Boğaziçi. Aus den gesammelten Daten wurde eine Chronologie der Kopftuchdebatte in der Türkei erstellt, die um detaillierte Anmerkungen zu den bedeutendsten Ereignissen ergänzt wurde, zum Beispiel zum Fall

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von Leyla Şahin, der versuchten Verfassungsänderung von 2008 und anderen. Nach der Zuordnung dieser Daten stellten wir sicher, dass die Kodierung den Fällen der übrigen Länder entsprach (unter Verwendung induktiver und deduktiver Kodierung). Besondere Beachtung fanden außerdem die Kategorien, die historisch betrachtet das türkische nationale Narrativ geprägt haben. Die Interviewdaten erhob Gökçe Yurdakul (gemeinsam mit der Forschungsassistentin Özlem Kaya) in Istanbul und Ankara in persönlichen Interviews mit offenen Fragen. Interviewt wurden die Journalistin und Dokumentarfilmerin Ayşe Böhürler, Zeynep Göknil Şanal und Berrin Sönmez, beide Mitglieder in der Başkent Frauenplattform, sowie Atilla Yayla, Professor für Politikwissenschaften an der neuen privaten Polytechnischen Hochschule in Balat, Istanbul. Diese InterviewpartnerInnen wurden entsprechend ihrer prominenten Stellung in der medialen Debatte ausgewählt. Da sie ohnehin Personen des öffentlichen Lebens sind, baten sie weder um Vertraulichkeit noch um Anonymisierung, weshalb wir sie nicht mit Pseudonymen benennen. Die Interviews dauerten jeweils ca. zwei Stunden und wurden in den Büroräumen der GesprächspartnerInnen durchgeführt.

Die Niederlande Untersuchungsgegenstand waren vier überregionale Zeitungen der Niederlande, die zusammen die ganze Bandbreite an politischen und klassenspezifischen Positionen in der öffentlichen Debatte der Niederlande abbilden. Für den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2004 und dem 15. Februar 2011 wurden alle Artikel, Nachrichten und Meinungsbeiträge zum Kopftuch, zur Burka und zum Niqab gesammelt (und bis 2013 selektiv aktualisiert), für einen Zeitraum also, in dem die Kulturalisierung der Integrationsdebatte bereits ein fait accompli war. Die anspruchsvollste der untersuchten Zeitungen, das NRC Handelsblad, veröffentlichte in diesem Zeitraum 172 Artikel, der weniger anspruchsvolle De Telegraaf 132, die für religiöse Fragen interessanteste Zeitung Trouw 177 und die eher links und sozialdemokratisch orientierte Zeitung De Volkskrant 131 Artikel. Zusätzlich haben wir eine gezielte Recherche zum Fall des Don Bosco College durchgeführt (dem letzten Aufflammen der Kopftuchkontroverse während des Verfassens dieses Buches). Zwischen Januar 2011 und April 2012 wurden 15 Artikel aus der Zeitung NRC, 16 Artikel aus De Tele-

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graaf, 35 Artikel aus der Zeitung Trouw und 21 Artikel aus De Volkskrant gesammelt. Darüber hinaus wurden 120 Dokumente zu Parlamentsdebatten, parlamentarischen Anfragen und andere, an das Parlament gerichtete Dokumente erfasst, alle für den Zeitraum zwischen Januar 1995 (dem ersten in Online-Archiven verfügbaren Jahrgang) und dem 12. Mai 2011. Abschließend recherchierten wir noch in der Datenbank der Gleichbehandlungskommission ETC und konnten so die Anzahl der Entscheidungen in Kopftuch- und Burkafällen erheben, aber auch das Verhältnis von positiven zu negativen Beschlüssen untersuchen (die überwältigende Mehrheit der Entscheidungen der ETC fiel zugunsten von Kopftuch oder Niqab tragenden Frauen aus). Anhand der gesammelten Daten wurde eine Chronologie der Kopftuchdebatte in den Niederlanden erstellt. Ergänzt wurde sie um detaillierte Anmerkungen zu den bedeutendsten Ereignissen, beispielsweise die Stellungnahmen der Parlamentarierin Ayaan Hirsi Ali, bevor sie 2006 die Niederlande verließ, und der 2009 von Geert Wilders gemachte Vorschlag zur Einführung einer »Kopflumpensteuer«. Nach der Zuordnung der Daten wurden die Zeitungsdaten ausgedruckt und zunächst induktiv kodiert, um Hauptthemen erkennen zu können. Darauf folgte das deduktive Kodieren auf der Grundlage der Kategorien, die aus historischer Sicht das nationale Narrativ der Niederlande begründeten. Die niederländischen Zeitungs- und Parlamentsdaten wurden mit der Hilfe eines niederländischen Muttersprachlers, dem Forschungsassistenten Lars Nick­ olson, erfasst und analysiert, der selbst als Politikforscher im Bereich der Integration von ImmigrantInnen in den Niederlanden tätig ist. Die Interviewdaten in den Niederlanden wurden von Anna Korteweg erhoben. Sie interviewte drei niederländische Musliminnen, die sich im Bereich der Kopftuch-Politik engagieren – Leyla Çakir von Al Nisa (einer Interessenorganisation für niederländische Musliminnen), Nora el Jebli von der niederländischen Polder Moslima Headscarf Brigade und Fatima Elatik, eine Kopftuch tragende Politikerin der Arbeitspartei und Bezirksbürgermeisterin in Amsterdam. Wie auch im Fall der Türkei sind die interviewten Frauen Personen des öffentlichen Lebens, die mit uns sprachen, ohne Vertraulichkeit oder Anonymität zu verlangen. Die Interviews dauerten zwischen einer und anderthalb Stunden. Das Interview mit Elatik fand in ihren Büroräumen statt, die anderen beiden Interviews wurden an öffentlichen Orten geführt. Die Interviews wurden analog zu den anderen Daten analysiert.

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Deutschland Die deutschen Zeitungsdaten wurden aus vier Hauptquellen zusammengetragen: die tageszeitung (taz), Süddeutsche Zeitung (SZ), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und Bild. Wie auch in den anderen Ländern wurden diese Zeitungen ausgewählt, um das gesamte politische Spektrum der deutschen Medienlandschaft abzubilden. Die SZ spricht eine linksliberale LeserInnenschaft an, bei der FAZ handelt es sich um eine Zeitung konservativer Prägung und die taz ist eine links orientierte Zeitung, die die Perspektive der Partei Die Grünen widerspiegelt. Unter diesen anspruchsvolleren Zeitungen hat die SZ mit 1,1 Millionen täglichen Exemplaren die höchste Auflage. Die FAZ hat eine geschätzte Auflage von fast 400.000, während die taz mit ca. 60.000 die kleinste Auflage der drei Zeitungen hat. Schließlich wurden die drei anspruchsvollen Zeitungen noch um die Boulevardzeitung Bild ergänzt, weil es sich mit täglich 3 Millionen verkauften Exemplaren um die Zeitung mit der höchsten Auflage handelt. Unsere deutschen Zeitungsdaten decken den Zeitraum von 2004 bis 2011 ab (und wurden selektiv bis 2013 aktualisiert). Den Anfang markiert der Fall Fereshta Ludins vor dem Bundesverfassungsgericht, als Suchbegriff wurde das Wort Kopftuch verwendet. Wir haben 393 Artikel in der Frankfurter Allgemeinen, 415 in der taz und 104 in der Süddeutschen Zeitung erfasst. Aus der Bild wurden Daten ab 2006 berücksichtigt, da das Online-Archiv keine früheren Daten enthielt. Insgesamt wurden 169 zwischen 2006 und 2010 veröffentlichte Artikel erfasst. Da diese Zeitungen regional veröffentlicht und landesweit vertrieben werden (die FAZ wird z. B. in Frankfurt veröffentlicht, die SZ in München und taz und Bild haben ihren Sitz in Berlin) findet sich in allen Blättern eine Kombination aus einem regionalen Schwerpunkt und einem landesweiten Blickwinkel. Die regionalen Unterschiede in der Medienberichterstattung spiegeln dabei die föderale Struktur wieder, mit all den dazugehörigen politischen und kulturellen Unterschieden innerhalb Deutschlands. Darüber hinaus haben wir uns auch der Deutschen Islam Konferenz (DIK) gewidmet, um die Regierungsperspektive in der Kopftuchdebatte ebenfalls abzubilden. Die DIK trat erstmals im Jahr 2006 zusammen (und in der ursprünglichen Form zum letzten Mal 2013) und diente der damaligen Regierungskoalition aus CDU und SPD als Integrationsplattform. Die Konferenz wurde bis 2013 jährlich vom deutschen Innenministerium organisiert. Teilgenommen haben RegierungsvertreterInnen,

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aber auch Fachleute, einzelne muslimische BürgerInnen und RepräsentantInnen muslimischer Organisationen, die vom Innenministerium eingeladen wurden. Auf der Webseite der DIK wurden sowohl offizielle Berichte als auch Beiträge der einzelnen TeilnehmerInnen der DIK veröffentlicht. Von dieser Webseite wurde das gesamte Material zum Kopftuch aus dem Zeitraum von 2008 bis 2013 gesammelt. Darüber hinaus haben wir auch Daten zu Bundestagsdebatten über das Tragen des Kopftuchs erhoben. Abgesehen vom Fall Fereshta Ludin wurde diese Frage nicht intensiv diskutiert (siehe auch Joppke 2007). Die deutschen Daten wurden aus den entsprechenden Online-Archiven der Zeitungen und der DIK heruntergeladen. Behilflich waren hier die Forschungsassistentinnen Natalie Lohmann, damals Doktorandin an der Berlin Graduate School of Social Sciences der Humboldt-Universität und mit der Datensammlung betraut, sowie Paulina Garcia del Moral, Doktorandin der Soziologie an der University of Toronto, die neben der Sammlung von Daten auch die Datenbank aktualisierte und vorläufige Datenanalysen durchführte. Wenn in den Zeitungsberichten oder Parlamentsdebatten die Suchbegriffe »Kopftuch« und/oder »Burka« enthalten waren, wurden die Daten in einem Word-Dokument gespeichert. Wie auch in den anderen Fällen wurde aus den gesammelten Daten eine Chronologie der Kopftuchdebatte in Deutschland erstellt, ergänzt um detaillierte Anmerkungen zu den wichtigsten Ereignissen, wie zum Beispiel der Gerichtsverhandlung von Fereshta Ludin, der Sarrazin-Debatte, dem Mord an Marwa el-Sherbini und anderen. Nach dieser Zuordnung wurden die Daten erst entsprechend der auch in den anderen Fällen verwendeten induktiven, offenen Kodierungsmethode kodiert. Beim anschließenden deduktiven Kodieren wurde das Material dann entsprechend der Kategorien kodiert, die aus historischer Sicht das deutsche nationale Narrativ prägen. Yurdakul interviewte drei Frauen, um ihre Gedanken zu Konflikten der Zugehörigkeit in Erfahrung zu bringen, die sich in den deutschen Debatten über das Tragen des Kopftuchs ablesen lassen. Diese Frauen wurden ausgewählt, weil sie sich in den Kopftuchdebatten sowie zu ähnlichen Fragen, die MuslimInnen in Deutschland betreffen, engagiert zu Wort meldeten. Als Personen des öffentlichen Lebens bestanden auch sie nicht auf einer Anonymisierung. Die iranisch-deutsche Wissenschaftlerin Dr. Naika Foroutan ist Organisatorin der Jungen Islam Konferenz und Leiterin des Projekts HEYMAT, in dem die hybriden Identitäten und Strategien der Zugehörigkeit junger MuslimInnen in Europa erkundet

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werden. Sie hat in der medialen Debatte um Sarrazin aktiv gegen ihn argumentiert. Soraya Hassoun ist eine Kopftuch tragende Studentin aus libanesisch-deutschem Elternhaus, die ihre Masterarbeit zum islamischen Feminismus in Deutschland verfasst. Sie arbeitete aktiv an den Muslimischen Stimmen mit, einem Internetforum für muslimische Frauen in Deutschland. Und zuletzt ist da noch Hüda Sağ, eine Kopftuch tragende Muslimin türkischer Herkunft, die an der Universität Bielefeld studiert. Sie war 2011 Teilnehmerin der Jungen Islam Konferenz in Berlin. Durch die Interviews mit diesen Frauen erhielten wir einen Einblick in das Leben muslimischer Frauen, die sich aktiv in die muslimischen Gemeinschaften in Deutschland einbringen. Jedes Interview dauerte zwischen einer und zwei Stunden, durchgeführt wurden sie in der Humboldt-Universität. Das Interview mit Hüda Sağ erfolgte telefonisch. Der Plan, auch Fereshta Ludin zu interviewen, konnte nicht umgesetzt werden.

A bschlussbemerkungen zu den D atenquellen Zusätzlich zu den im Hauptteil des Buches behandelten vier Ländern wurden auch die Kopftuchdebatten in Großbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten analysiert, um unseren analytischen Rahmen auch auf Länder bzw. Fälle anzuwenden, bei denen eine signifikant andere Form der Einwanderungs- und Integrationspolitik zum Tragen kommt. In Großbritannien wurden die Zeitungen Daily Telegraph und The Guardian, in Kanada die Zeitungen Globe and Mail und Toronto Star und in den Vereinigten Staaten die New York Times untersucht. Für die Sammlung und Analyse von Daten wurden dieselben Methoden angewendet wie für die anderen Länder, allerdings in kleinerem Umfang. Das Ergebnis dieser Kurzanalyse findet sich im Abschlusskapitel. Die Zeitungsdaten in Großbritannien wurden von Bingül Durbaş, einem Doktoranden an der University of Sussex, gesammelt; die Zeitungsdaten aus Kanada und den Vereinigten Staaten wurden von Angelica Rao im Zeitraum von 2011 bis 2012 gesammelt, zu dieser Zeit Masterstudentin im Fachbereich Soziologie an der University of Toronto. Für alle vier in diesem Buch behandelten Länder wurden auch länderübergreifende Zeitungsdaten oder aber Berichte zu Kopftuchdebatten in anderen Ländern gesammelt. So haben wir beispielsweise in deutschen Zeitungen erschienene Artikel über die Kopftuchdebatte in der Türkei ge-

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sammelt und umgekehrt. In französischen Diskussionen wurde wiederholt auf den Fall von Leyla Şahin aufmerksam gemacht, es wurden aber auch die Defizite des niederländischen Multikulturalismus besprochen, die französische VertreterInnen der Commission Stasi in den niederländischen Ansätzen zum Kopftuch zu erkennen meinten. In der Türkei gab es eine ausführliche Berichterstattung zu den europäischen Debatten, mit Bezügen zum Fall von Leyla Şahin vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch zum französischen Säkularismus bei den Debatten um Kopftuch, Burka oder Niqab. Diese Berichte dienten als Bezugspunkte für den türkischen Säkularismus. Deutsche Zeitungen berichteten ironischerweise über die Aufhebung des Kopftuchverbots an türkischen Universitäten als Prozess der Demokratisierung, während das Kopftuch für Lehrerinnen an deutschen Schulen verboten wurde. Die Niederländer waren entsetzt darüber, dass das französische Kopftuchverbot in Schulen unter Verweis auf das »fehlgeschlagene multikulturelle Experiment« in den Niederlanden gerechtfertigt wurde. In Zeitungsberichten wurden jene niederländischen Politiker heftig kritisiert, die mit RepräsentantInnen der Commission Stasi gesprochen hatten, als diese zu Besuch in den Niederlanden waren. Die Sammlung solcher länderübergreifender Daten erleichterte es uns, die Perspektive der Medien bei den Kopftuchdebatten in den einzelnen Ländern nachzuvollziehen und mögliche Auswirkungen von Verbindungen zwischen den Ländern zu registrieren, wie sie in unserem Abschlusskapitel besprochen wurden. Zugleich ließ sich durch diese Daten die Bedeutung der Nation in diesen Konflikten der Zugehörigkeit bestätigen.

Anmerkungen K apitel 1 1 | Es gibt viele Arten von Kopftüchern, die jeweils viele Namen haben und unterschiedlichen Stils sein können. Im Rahmen dieses Buches verwenden wir die in den diskutierten Ländern geläufigsten Bezeichnungen. Ein Kopftuch bedeckt mindestens das Haar einer Frau, es kann aber auch den Hals, die Schultern, sowie das Gesicht und sogar die Augen bedecken. Für eine detaillierte Analyse der kulturellen und politischen Bedeutung verschiedener Kopftücher und Stile siehe Tarlo (2010) sowie Moors und Tarlo (2013). 2 | Vgl. hierzu beispielsweise die Äußerungen des britischen Labor Party-Abgeordneten Trevor Phillips, zitiert in Joppke 2009, 83 sowie des deutschen Sozialdemokraten Erhardt Körting, zitiert in Yurdakul und Korteweg 2013. 3 | Einem niederländischen Zeitungsbericht zufolge fragte eine Lehrerin ein Mädchen, das normalerweise immer ein Kopftuch in der Schule trug, warum sie zum Schulball am Abend zuvor ohne Kopftuch gekommen war. Das Mädchen antwortete: »Frau Lehrerin, morgens habe ich einfach keine Zeit, mir die Haare zu machen.« 4 | Deutschland besaß im Vergleich zu den Niederlanden oder Großbritannien nur für einen kurzen Zeitraum – circa von 1890 bis 1918 – Kolonien.

K apitel 2 1 | Die Übersetzungen aus dem Französischen ins Englische wurden von Inder Marwah, Emily Laxer oder Anna Korteweg, die vom Englischen ins Deutsche von Sungur Bentuerk oder Felix Kurz angefertigt. 2 | Dabei ist zu beachten, dass sich der Conseil constitutionnel beispielsweise vom US-amerikanischen Supreme Court unterscheidet. Die RichterInnen werden von politischen Amtsträgern und auf befristete Zeit ernannt; bis vor Kurzem diente der Conseil vor allem als Beratungsinstanz der Regierung.

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3 | Bis zu dem Verbot trugen nur 14 Prozent aller muslimischen Frauen in Frankreich ein Kopftuch – also weniger als ein Drittel der Musliminnen, die sich als aktiv religiös bezeichneten (Scott 2007, 3). Nur schätzungsweise 2.000 Frauen trugen den Niqab (die Burka wird kaum getragen), als das Verbot von Gesichtsbedeckungen debattiert wurde. 4 | news.bbc.co.uk/2/hi/europe/6192864.stm, letzter Zugriff 15.08.2012. 5 | »La Présidente – maître Gisèle Halimi«, www.choisirlacausedesfemmes.org/ qui-sommes-nous/la-presidente.html, letzter Zugriff 08.05.2012. 6 | Im Jahr 2003 führte NPNS eine Reihe von Demonstrationen in Frankreich durch, um auf die Probleme eingewanderter Frauen und Mädchen in den Banlieues aufmerksam zu machen. An der Abschlussdemonstration in Paris nahmen 30.000 Menschen teil. Premierminister Raffarin empfing die Organisation, ließ ihr am Nationalfeiertag des 14. Juli Anerkennung zuteilwerden und hörte sich ihre Forderungen an. Dazu zählten die Veröffentlichung eines Leitfadens für Respekt, der an Schulen und in Wohnsiedlungen verteilt werden sollte; die Einrichtung von Frauenhäusern, von Pilotprojekten im Internet, die Frauen eine Stimme geben sollten, von Ausbildungsprogrammen für Frauen und die Schaffung von Orten für weibliche Opfer von Gewalt auf Polizeistationen. 7 | Hammarberg 2011. In einem Blogbeitrag erklärte Hammarberg: »Die Diskussionen über die Burka und den Niqab lenken von viel tiefer gehenden Problemen interkultureller Spannungen und Klüfte ab. Anstatt diesen unseligen Diskurs zu fördern, sollten Politiker und Regierungen entschiedener gegen Hassverbrechen und die Diskriminierung von Minderheiten vorgehen«. 8 | »Trappes: A aucun moment je n’ai porté atteinte à un des policiers« [Trappes: Ich habe zu keinem Zeitpunkt PolizistInnen angegriffen], Le Monde, 24. Juli 2013. Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/societe/article/2013/07/24/trappes-a-aucun-mo​ ment-je-n-aiporte-atteinte-a-un-des-policiers_3452674_3224.html, letzter Zugriff 01.12.2013. 9 | Das stammt aus einem Beitrag von Jacques Guillemain auf der Debattenseite von Le Monde, die unterschiedliche Perspektiven auf ein gegebenes Thema dokumentiert. 10 | Der Journalist von Le Monde zitiert hier direkt aus dem Vorschlag für eine Untersuchungskommission zur Burka. 11 | Siehe hierzu z. B. folgendes Video: http://www.dailymotion.com/video/xc3jrf_ video-ilham-moussaid-25-ans-et-voil_news, letzter Zugriff 14.03.2011. 12 | »L’affaire Baby Loup en quatre questions « [Die Baby Loup-Affäre in vier Fragen], Le Monde, 27. November 2013. Siehe http://www.lemonde.fr/societe/article/​ 2013/11/27/l-affaire-baby-loup-en-quatre-questions_3520954_3224.html, letzter Zugriff 02.12.2013.

Anmerkungen

13 | Stéphanie Le Bars: »Baby Loup: la bataille politico-judiairesur le voile s’amplifie« [Baby Loup, der politisch-juristische Kampf um das Kopftuch wird verstärkt], Le Monde, 17. Oktober 2013. Siehe http://www.lemonde.fr/societe/article/2013/10/16/babyloup-la-bataille-politico-judiciaire-s-amplifie_3496504_3224.html, letzter Zugriff 26.10.2015. Abedennour Binar: »La laïcité ne doit pas devenir un tabou« [Die Laïcité sollte nicht zu einem Tabu werden], Le Monde, 23. Oktober 2013. Siehe http:// www.lemonde.fr/idees/article/2013/10/22/la-laicite-ne-doit-pas-devenir-un-ta​ bou_3500799_3232.html, letzter Zugriff 26.10.2015. 14 | Diese Schilderung der Unruhen in Trappes und ihrer Nachwirkungen basiert auf Berichten, die im Zeitraum zwischen dem 19. und dem 26. Juli 2013 in Le Monde erschienen sind. Die verschiedenen Berichte zu den Geschehnissen und verwandten Themen wurden täglich veröffentlicht. Die Artikel werden mit den Namen der AutorInnen aufgeführt. 15 | »Trappes: A aucun moment je n’ai porté atteinte à un des policiers« [Trappes: Ich habe zu keinem Zeitpunkt PolizistInnen angegriffen], Le Monde, 24. Juli 2013. Siehe http://abonnes.lemonde.fr/societe/article/2013/07/24/trappes-a-aucunmoment-je-n-aiporte-atteinte-a-un-des-policiers_3452674_3224.html, letzter Zugriff 01.12.2013. 16 | »Femme voilée de Trappes: 3 mois de prison avec sursis pour le mari« [Verschleierte Frau von Trappes: 3 Monate Haft auf Bewährung für den Ehemann], Le Monde, 8. November 2013. Siehe http://www.lemonde.fr/societe/article/2013/​ 11/08/femme-voilee-de-trappes-3-mois-de-prison-avec-sursis-pour-le-mari_​ 3510465_3224.html, letzter Zugriff 01.12.2013. 17 | Hugues Lagrange: »Il faut reconnaître la diversité religieuse« [Wir müssen die religiöse Diversität anerkennen], Le Monde, 25. Juli 2013. Siehe http://abonnes. lemonde.fr/idees/article/2013/07/25/il-faut-reconnaitre-la-diversite-religieu​ se_3453843_3232.html, letzter Zugriff: 01.12.2013. Jacques Maillard: »Le voile révèle les failles du pacte républicain« [Der Schleier enthüllt das Scheitern des Gesetzes des Republikanismus], Le Monde, 23. Juli 2013. Siehe http://abonnes. lemonde.fr/idees/ar ticle/2013/07/23/le-voile-revele-les-failles-du-pacte-re​ publicain_3452498_3232.html, letzter Zugriff 01.12.2013. 18 | »Integrating minorities: The war of the headscarves«, The Economist, 5. Februar 2004, http://www.economist.com/node/2404691, letzter Zugriff 02.07.2013. 19 | »Trappes, un jeune blessé à l’oeil, six arrestations« [Trappes: Ein Jugendlicher wurde am Auge verletzt, sechs Verhaftungen], Le Monde, 19. Juli 2013. Siehe http:// www.lemonde.fr/societe/article/2013/07/19/rassemblement-violent-devant-lecommissariat-de-trappes_3450392_3224.html, letzter Zugriff 26.10.2015.

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K apitel 3 1 | Diese Akten werden seit 2011 aus dem Osmanischen ins heutige Türkisch übersetzt und sollen in den nächsten Jahren digital zugänglich werden. 2 | Die Geschichte ihrer Hinrichtung wird auch von anderen JournalistInnen und AutorInnen wie Cihan Aktaş und Çetin Altan erzählt. Da die Archive der Unabhängigkeitsgerichte aber noch nicht öffentlich zugänglich sind, steht eine eingehende historische Analyse dieser Exekution noch aus. Alle Übersetzungen aus dem Türkischen stammen von Selin Cağatay and Gökce Yurdakul. 3 | Wir sprechen bewusst von einigen SäkularistInnen, um die Heterogenität säkular eingestellter Menschen in der Türkei zu betonen. Wie im Text erwähnt, verstehen sich manche von ihnen als AtheistInnen und lehnen Religion folglich strikt ab, während andere praktizierende MuslimInnen sind, aber die Präsenz des Islam in der öffentlichen Sphäre ablehnen. 4 | Religiöse und ethnische Minderheiten, etwa JüdInnen und KurdInnen, sowie alle Andersdenkenden gelten dabei als nicht wirklich »türkisch«. JüdInnen werden auf religiöser Grundlage ausgeschlossen – da sie nicht muslimisch sind –, KurdInnen auf ethnischer Grundlage – sie gelten als Menschen, die nicht bereit sind, sich zu assimilieren. Im türkischen Kontext schließt der Säkularismus somit bestimmte Menschen vom Zugang zur staatlichen Sphäre auf der Basis von Religion und Ethnizität aus, die sich in manchen Fällen überschneiden (etwa im Falle alevitischer und sunnitischer KurdInnen). 5 | Dieser inklusive Diskurs der AKP zielt indessen nur auf die Einbeziehung bestimmter Gruppen in das sunnitisch-muslimische Gemeinwesen der Türkei. Die Bemühungen, die Rechte der Aleviten zu stärken, sind zum Beispiel äußerst begrenzt geblieben (näher hierzu: Zırh 2012). Auch das griechisch-orthodoxe Seminar von Chalki ist trotz internationaler Interventionen bis heute geschlossen. Seine Schließung erfolgte 1971 auf Grundlage eines Gesetzes, das die religiöse und militärische Ausbildung unter Kontrolle des Staates stellte (Today’s Zaman, 30.06.2009). 6 | In einer Twitter-Nachricht stellte der international bekannte Komponist Say die islamische Darstellung des Paradieses in Frage. Auf eine Klage hin wurde er wegen »öffentlicher Beleidigung religiöser Werte, die ein Teil der Nation pflegt«, zu zehn Monaten Haft verurteilt (Hürriyet, 15.04.2013). 7 | Neben der Aufhebung des Kopftuchverbots befasst sich dieses Paket mit der Diskriminierung von Minderheiten, indem es namentlich der kurdischen Minderheit einige Rechte gewährt. Die Rechte anderer Minderheiten, wie die der Aleviten, werden hingegen weiter ignoriert, auch die Wiedereröffnung des 1971 geschlossenen griechisch-orthodoxen Seminars von Chalki blieb aus.

Anmerkungen

8 | Als multiethnisches und multikonfessionelles Reich, das sich von Südosteuropa bis Nordafrika erstreckte, wurde das Osmanische Reich von einem Sultan regiert, der zugleich als Kalif – als Oberhaupt der islamischen Umma – fungierte. 9 | Die İmam-Hatip-Schulen werden vom Staat betrieben, die Imame sind Staatsbedienstete. 10 | Dies waren die wesentlichen Grundprinzipien, denen Kemal Atatürk bei der Gründung des türkischen Staates folgte. 11 | Obwohl die Unabhängigkeitsgerichte von 1921 bis 1927 in der Zahl verringert und schließlich abgeschafft wurden (Aybars 1975), blieb die Mentalität einer Verteidigung der Regierung und der kemalistischen Prinzipien bestehen. Nicht nur Opposition gegen die Republik wurde bestraft, auch jegliche Abweichung von den homogenen nationalen Narrativen geriet ins Visier. 12 | Der Staatsstreich war eine Reaktion auf den politischen Konflikt mit der Linken wie der Rechten, der gewaltsame Formen bis hin zu Massakern annahm (Bahçelievler, Ankara; Kahramanmaraş; Taksim-Platz, Istanbul). Infolge der landesweiten politischen Instabilität verkündete General Kenan Evren am 12. September 1980 die Machtübernahme des Militärs. 13 | Sowohl religiöse Frauen wie Männer lehnten die universitären Vorschriften über ihre religiösen und politischen Überzeugungen ab; viele zogen es deshalb vor, im Ausland zu studieren oder aus der Universität auszuscheiden. 14 | Die geistlichen Schulen wurden von dieser Bestimmung ausgenommen. 15 | Turgut Özal war zunächst Ministerpräsident und dann bis 1993 Präsident der Türkei. Er war dafür bekannt, in religiösen, internationalen und finanziellen Fragen »gegen den Strom« zu schwimmen. Mit seinem Eintreten für Freiheiten auf allen Ebenen – einschließlich der Aufhebung des Kopftuchverbots – hat Özal die türkische Politik und Ökonomie einschneidend verändert. 16 | Unter Turgut Özals Führung regte die Mutterlandspartei wichtige Debatten in der türkischen Politik an, die thematisch von neoliberaler Wirtschaftspolitik bis zu Menschenrechten reichten. 17 | Leyla Şahin war nicht die einzige Studentin, die vor den EGMR zog. 18 | Mehmet Ali Şahin, ehemals stellvertretender Ministerpräsident, offenbarte die ambivalente Einstellung der AKP zum Kopftuch in einem Interview mit Milliyet (24.05.2006). Eine soziologische Untersuchung dieser Ambivalenz unternimmt Cağatay (2009). 19 | Näher hierzu: www.tbmm.gov.tr/tutanak/donem23/yil2/bas/b059m.htm und www.tbmm.gov.tr/tutanak/donem23/yil2/bas/b062m.htm, letzter Zugriff 04.01.2016.

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20 | Die ersten drei Artikel der Verfassung behandeln die Einheit der Türkischen Republik. Demnach ist diese ein säkularer und demokratischer Staat, dessen geografische Grenzen 1923 festgelegt wurden, dessen Sprache Türkisch ist und dessen Flagge einen Halbmond und einen Stern auf rotem Hintergrund zeigt. 21 | Da die Proteste anhalten, während wir an diesem Buch arbeiten, lässt sich noch nicht sagen, ob das in ihnen entstehende Narrativ eine Alternative zu dem proreligiösen und dem prosäkularen bietet. 22 | Zeitungen wie Hürriyet und Milliyet zeigten sich gegenüber der AKP-Regierung kritisch. Aydın Doğan und die von ihm beschäftigten JournalistInnen haben sich in beiden Zeitungen kritisch zur Partei geäußert. 2009 wurden Unternehmen in seinem Besitz mit Steuerbußgeldern in Höhe von rund 2,53 Milliarden US-Dollar belangt. Um sie vollständig zu begleichen, musste Doğan mehrere Unternehmen verkaufen, darunter seine Zeitungen. 2010 ging er in den Ruhestand. 23 | Schon in seinem früheren Urteil von 1998 erklärte das Gericht: »Die souveräne und effektive Macht des Staates beruht nicht auf religiösen Prinzipien, sondern auf Wissenschaft und Vernunft. […] Das Kopftuch aufgrund religiöser Überzeugungen zuzulassen, verstößt gegen das Prinzip des Säkularismus, indem es eine Bestimmung auf dem Feld des öffentlichen Rechts auf religiöse Prinzipien gründet. […] In einem säkularen Staat kann das Rechtssystem keine religiösen Erfordernisse gutheißen. […] Unabhängig von ihrem Status sollten Menschen, die an den Universitäten partizipieren – welche dazu verpflichtet sind, im Rahmen des Prinzips des Säkularismus der türkischen Verfassung zu arbeiten –, sich nicht nach religiösen Vorschriften richten.« (Urteil des Verfassungsgerichts über das Kopftuch von 1998) 24 | Dieses Zitat ist eine fehlerhafte Übersetzung aus dem Türkischen ins Englische. Die richtige Übersetzung lautet »Rechtstaat« (rule of law) und nicht »rechtmäßiger Sozialstaat« (social state of law). 25 | Näher hierzu: www.tbmm.gov.tr/tutanak/donem22/yil3/bas/b005m.htm, letzter Zugriff 04.01.2016. 26 | Normalerweise wird der Begriff der Ehre von AKP-PolitikerInnen in Kopftuchdebatten kaum verwendet; es ist folglich schwierig, in den Wahlkämpfen und politischen Diskussionen, die über die Jahre hinweg stattgefunden haben, andere Fälle einer solchen Verknüpfung zu finden. Unter nationalistischen PolitikerInnen in der Türkei ist der Begriff der Ehre hingegen gebräuchlich. Insofern ließe sich argumentieren, dass Arınç in diesem speziellen Fall Ehre und Kopftuch auf einer Wahlkampfkundgebung verband, um die WählerInnen der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi) in Kahramanmaraş anzusprechen. (Wir danken Gökhan Tuncer für diesen Hinweis.)

Anmerkungen

27 | Der Zeitraum, in dem diese Diskussionen stattfanden, war die 22. Legislaturperiode (14.11.2002–03.06.2007). 28 | In derselben Sitzung wurde Abdullah Gül gefragt, ob er es in Betracht ziehe oder nicht, die Klage seiner Frau Hayrünnisa Gül vor dem EGMR gegen die Türkei zurückziehen (die dieselben Gründe hatte wie die Klage von Leyla Şahin). Obwohl Abdullah Gül das Recht seiner Frau verteidigte, als Bürgerin den EGMR anzurufen, zog diese später ohne Angabe von Gründen ihre Klage zurück. 29 | Durchgeführt wurde diese Umfrage vom MetroPOLL-Zentrum für Strategische und Sozialforschung (Stratejik ve Sosyal Araştırmalar Merkezi). 30 | Gegenwärtig ist Abtreibung in der Türkei bis zur zehnten Schwangerschaftswoche, in besonderen Fällen auch darüber hinaus legal. 31  |  »The headscarf debates in Europe and Turkey«, www.hurriyetdailynews.com/theheadscarf-debates-in-europe-and-turkey.aspx?pageID=238&nID=74125&News​ CatID=396, letzter Zugriff 03.01.2016.

K apitel 4 1 | Vgl. http://www.mensenrechten.nl/publicaties/oordelen/1997-149, letzter Zugriff 30.12.2015. 2 | Inzwischen (Stand Oktober 2012) wurde die Arbeit der CGB vom Niederländischen Institut für Menschenrechte (College voor de Rechten van de Mens) übernommen, das in Kopftuchfällen dasselbe Mandat hat wie die CGB. 3 | Zur Etymologie dieses Ausspruchs vgl. http://weblogs.nrc.nl/woordhoek/​20​08/​ 10/01/doe-maar-gewoon-dan-doe-je-al-gek-genoeg/, letzter Zugriff 30.12.2015. Alle Übersetzungen aus dem Niederländischen stammen von Anna Korteweg. 4 | Vgl. https://wijblijvenhier.nl/4254/sollicitante-om-hoofddoek-bij-de-aldi-gewei​ gerd, letzter Zugriff 30.12.2015. 5 | Vgl. ebd. 6 | Theo van Gogh wurde von einem jungen niederländisch-muslimischen Mann ermordet, der sich durch den Film Submission, den van Gogh in Zusammenarbeit mit Ayaan Hirsi Ali erstellt hatte, tief gekränkt sah. In dem Film sind Frauen zu sehen, auf deren nackte Körper Koranverse geschrieben sind. Zur weitergehenden Analyse vgl. Korteweg 2006b. 7 | Vgl. https://zoek.officielebekendmakingen.nl/h-33229.pdf, letzter Zugriff 30.12.2015.

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K apitel 5 1 | Während wir an diesem Buch arbeiteten, war ein weiterer Fall beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Vgl. näher dazu die Aktualisierung am Ende dieses Beitrags sowie Dernbach 2011. 2 | Wir setzen den Begriff Integration in halbe Anführungszeichen, um deutlich zu machen, dass er von PolitikerInnen verwendet wird, nicht von uns. Zudem finden wir seinen gegenwärtigen Gebrauch problematisch. Vgl. dazu auch Spielhaus, 2012a. 3 | Nach Ansicht mancher Historiker und politischer Beobachter hatte Bismarck es versäumt, die gesamte Kulturnation in einem neuen Nationalstaat zusammenzufassen – ein Diskurs, den die Nazis aufgriffen und zur Rechtfertigung der Besatzung und des »Anschlusses« von Österreich und dem westlichen Teil der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich nutzten. 4 | Dies wurde so weit getrieben, dass es sehr schwierig sein kann, Analysen über »Rasse« im heutigen deutschen Kontext zu publizieren. Vgl. Chin/Fehrenbach/ Eley/Grossmann 2009. 5 | Kohls Rede vor der israelischen Knesset vom 24. Januar 1984 ist nicht im Internet dokumentiert; zur Wendung »Gnade der späten Geburt« vgl. http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-13519977.html, letzter Zugriff 30.12.2015. 6 | Wie Ostdeutschland gesehen und bezeichnet wurde, war auch eine Frage der politischen Orientierung: Während linke Medien die Existenz eines ostdeutschen Staates zumeist akzeptierten und die offizielle Bezeichnung Deutsche Demokratische Republik (DDR) verwendeten, sprach die konservative Presse von der »Zone« oder setzte den offiziellen Namen in Anführungszeichen. 7 | Nach umfangreichen Anwerbeabkommen mit Ländern wie Italien, der Türkei, Jugoslawien und Marokko sprachen die deutschen Behörden entsprechend zahlreiche Einladungen aus. Näher dazu: Herbert 1990 und Yurdakul 2009. 8 | 2014 entfiel diese Optionspflicht: In Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder können als Erwachsene die doppelte Staatsangehörigkeit behalten. Alle Information dazu finden sich unter www.bundesregierung.de/Webs/Breg/ DE/Bundesregierung/BeauftragtefuerIntegration/Staatsangehoerigkeit/_node. html, letzter Zugriff 30.12.2015. 9 | Und vermutlich war es das noch nie, wie wir bereits argumentiert haben; vgl. auch Mushaben 2005. 10 | Die AMJ, die zahlreiche Anhänger hat, erlangte diesen Status 2013. Sie behauptet, keine politischen Verbindungen zu islamischen Bewegungen zu haben. Eine ausführliche rechtliche Erläuterung findet sich unter www.lto.de/recht/

Anmerkungen

hintergruende/h/diskussion-um-anerkennung-der-islam-und-das-grundgesetz, letzter Zugriff 30.12.2015. 11 | Danach war die DIK in einer zweiten und dritten Phase in veränderter Form weiter tätig. 12 | Wie in Kapitel 3 erwähnt, sind die AlevitInnen eine religiöse Minderheit in der Türkei. 13 | Im Unterschied zum Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts (den die Ahmadiyya Muslim Jamaat 2013 in Hessen erlangte) schließt der Hamburger Vertrag nicht das Recht auf Besteuerung der Mitglieder ein. Wird einer religiösen Organisation dieser Status zugesprochen, darf sie von ihren Mitgliedern Steuern erheben, die sie für soziale Einrichtungen wie etwa Bildungsinstitutionen oder Seniorenheime verwenden kann. 14 | Das Online-Archiv der Bild entstand erst 2006. 15 | Ähnlich hierzu ging die italienische Regierung im Fall Lautsi mit der Begründung, Kruzifixe seien religiös neutrale kulturelle Symbole, gegen das ursprünglich ablehnende Urteil des EGMR in Revision. Auf diesen Einspruch hin erklärte der EMRG dann auch, Kruzifixe dürften in den Klassenzimmern bleiben, da sie »im Wesentlichen passive Symbole« seien (Guardian, 18.03.2011; vgl. auch Michl 2010). Dieses Urteil, das den italienischen Rechtsstreit beendete, gefiel auch vielen CSU-Politikern in Bayern, die weiterhin Kruzifixe in den Schulen sehen wollten. 16 | Der Aufruf vom 1. Dezember 2003 ist nachlesbar unter www.bpb.de/politik/ innenpolitik/konfliktstoff-kopftuch/63284/offener-brief-position, letzter Zugriff 30.12.2015. 17 | Die Unterüberschrift dieses Abschnitts stammt von Ferree 2012. 18 | Interview mit Gökce Yurdakul in Deutsche Welle: www.dw.de/turkish-germanwomans-playboy-cover-stirs-controversy/a-15021188-1, letzter Zugriff 30.12.2015. 19 | In ihrem Buch »Stolen Honor: Stigmatizing Muslim Men in Berlin« argumentiert die Anthropologin Katherine P. Ewing, ›Leitkultur‹ liege jenseits einer Bedrohung von Homogenität. Tatsächlich werden muslimische Männer gewöhnlich als Gefährdung der deutschen Verfassung wahrgenommen, womit diese Bevölkerungsminderheit außerhalb des deutschen Gemeinwesens verortet wird. Unter Rekurs auf Habermas’ Begriff des Verfassungspatriotismus argumentiert Ewing, im Rahmen einer auf diesen gestützten Debatte sei die Stigmatisierung muslimischer Männer paradox, da Menschen nicht kraft eines ethnischen oder religiösen Hintergrunds, sondern durch ihre Verfassungstreue Teil eines Gemeinwesens würden. Wir danken Ewing dafür, dass sie uns während eines Workshops in Paris auf das Verhältnis von ›Leitkultur‹ und Verfassungspatriotismus aufmerksam gemacht hat. Ausführlicher dazu: Ewing 2008.

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20 | Was auf der DIK-Konferenz selbst diskutiert wurde, unterschied sich allerdings deutlich von den Inhalten der Website: Sie richtete den Blick stärker auf Integrations- und Sicherheitsfragen, während die Website dazu dienen sollte, den vielfältigen Perspektiven muslimischer Frauen Gehör zu verschaffen. 21 | Code-switching bedeutet, beim Reden oder Schreiben zwischen zwei oder noch mehr Sprachen zu wechseln, um aus unterschiedlichen Kontexten zu schöpfen. Viele bi- und multilinguale Menschen in Deutschland wechseln auf diese Weise zwischen ihrer Muttersprache und dem Deutschen. Umgangssprachlich bezeichnet man dies als Kanaksprak. 22 | Eine Auseinandersetzung damit, wie sich bei der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt Geschlecht und Religion verschränken, bietet Ast und Spielhaus 2012. 23 | Vgl. hierzu auch das Interview mit G. Yurdakul, »Germans Need to Come Out of Their White Ghettos«, Hürriyet Daily News, 12.05.2012.

K apitel 6 1 | Für Großbritannien wurden 107 Zeitungsartikel aus dem Guardian, 94 aus dem Independent und 76 aus dem Daily Telegraph gesammelt (für den Zeitraum von 2004 bis 2011, ohne LeserInnenbriefe). Für die Vereinigten Staaten und Kanada wurden die großen Leitmedien untersucht. Wir haben 140 Artikel aus der New York Times und 214 Artikel aus der Globe and Mail gesammelt und analysiert. Der Zeitraum der Veröffentlichungen lag zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 31. Dezember 2011 (hierbei wurden LeserInnenbriefe berücksichtigt). 2 | Vgl. www.publications.parliament.uk/pa/ld200506/ldjudgmt/jd060322/beg​ um-1.htm, letzter Zugriff 04.01.2016. 3 | www.theglobeandmail.com/globe-debate/how-quebecs-charter-turned-thetories-into-ethnic-chamions/article15649296, letzter Zugriff 02.12.2013.

M e thodologischer A nhang 1 | Der gesamte Korpus an untersuchten Texten kann bei den Autorinnen eingesehen werden. Sollten einzelne Internettexte über die angegebenen Quellen nicht mehr erreichbar sein, können auch diese bei den Autorinnen eingesehen werden.

Literatur

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