Schund und Schönheit : Populäre Kultur um 1900 3412158003

Um 1900 formten sich Züge der modernen Massenkultur aus, die bis in die Gegenwart wirken. Die neue Populärkultur war Abs

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Schund und Schönheit : Populäre Kultur um 1900
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Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hg.) Schund und Schönheit

alltag & kultur Band 8

Herausgegeben vom Institut für Europäische Ethnologie und von der Landesstelle für Berlin-Brandenburgische Volkskunde der Humboldt-Universität zu Berlin durch Wolfgang Kaschuba, Rolf Lindner, Peter Niedermüller und Leonore Scholze-Irrlitz

Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hg.)

Schund und Schönheit Populäre Kultur um 1900

$ Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schund und Schönheit: populäre Kultur um 1900 / Kaspar Maase und Wolfgang Kaschuba (Hg.). Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 2001 (Alltag & Kultur ; Bd. 8) ISBN 3-412-15800-3

© 2001 by Böhlau Verlag GmbH & Cie Köln, Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Telefon: 0221/91390-0 Fax: 0221/91390-11 E-mail: [email protected] Alle Rechte Vorbehalten Umschlaggestaltung: M&S Hawemann, Berlin Satz und Layout: Annette Dörner, Berlin Druck und Buchbindearbeiten: MVR-Druck, Brühl Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 3-412-15800-3

Inhalt

Zu diesem Band

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Kaspar Maase Einleitung: Schund und Schönheit. Ordnungen des Vergnügens um 1900

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Hermann Bausinger Populäre Kultur zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg

29

Karin Walter Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium

46

Corinna Müller Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter

62

Heide Schlüpmann Die „Optik des Lebens“. Film als Triviales, Kino als Körperkunst

92

Joachim Fiebach Anmerkungen zu Körperlichkeit und Entkörperlichung in den darstellenden Künsten

106

Sabine Giesbrecht-Schutte Zum Stand der Unterhaltungsmusik um 1900

114

Fred Ritzel Synkopen-Tänze. Uber Importe populärer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg

161

Hartwig Gebhardt „Halb kriminalistisch, halb erotisch“: Presse für die „niederen Instinkte“. Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte

184

Gisela Wilkending Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur und die Jugendschriftenbewegung um 1900

218

Mirjam Storim „Einer, der besser ist, als sein Ruf“. Kolportageroman und Kol­ portagebuchhandel um 1900 und die Haltung der Buchbranche

252

Jörg Schönert Zu den sozio-kulturellen Praktiken im Umgang mit Literatur(en) von 1770 bis 1930

283

Kaspar Maase Krisenbewußtsein und Reformorientierung. Zum Deutungs­ horizont der Gegner der modernen Populärkünste 1880-1918

290

Gudrun M. König Im Bann der Dinge. Geschmackserziehung und Geschlechterpolitik

343

Diethart Kerbs Kunsterziehungsbewegung und Kulturreform

378

Helmut Hanwig Zu den Strategien der Symbolisierung und Symbolverweigerung - mit einem Hinweis auf Oskar Seinigs „Gedanken über das Mittel“ (1920)

398

Autorinnen und Autoren

408

Abbildungsnachweise

412

Personenregister

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Zu diesem Band

Die mit diesem Buch vorgelegte Sammlung von Forschungsbeiträgen ist hervor­ gegangen aus einem Projekt, das die Auseinandersetzungen um „Schmutz und Schund“ im deutschen Kaiserreich untersuchte und das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurde. Daraus erwuchs das Interesse, die Entfaltung und Thematisierung populärer Kultur um 1900 in ihrer Breite und Differenziertheit einmal vergleichend zu diskutieren. Die Werner Reimers-Stif­ tung in Bad Homburg hat freundlicherweise die Kosten für ein wissenschaftli­ ches Kolloquium zum Thema übernommen; es fand im April 1999 in ihrem Haus in Bad Homburg statt und wurde auch von der DFG bezuschußt. Dort konnten die Themen und Beiträge intensiv diskutiert werden, die jetzt hier vereinigt sind. Wir sind sehr froh, daß wir auch einige der Kommentare zu verschiedenen Themenblöcken aufnehmen konnten; die Texte von Joachim Fiebach, Helmut Hartwig und Jörg Schönert wurden für die Veröffentlichung nur leicht überar­ beitet, weil ihr unmittelbarer Bezug auf andere Artikel zur Vernetzung und Verdichtung der thematischen Linien beiträgt. Kommentare von Ute Daniel und Jürgen Reulecke gaben wichtige Anregungen, die in die Druckfassung der Bei­ träge eingegangen sind. Dank schulden wir auch den weiteren Teilnehmern des Kolloquiums, die wesentliche Gesichtspunkte und Fragen in die Diskussion einbrachten: Wolfgang Brückner, Chup Friemert, Dietrich Mühlberg und Her­ bert Wolf. Die Aufsätze von Hartwig Gebhardt und Corinna Müller wurden zusätz­ lich in den Band aufgenommen, um Felder auszuleuchten, die im Bild der po­ pulären Kultur um 1900 keinesfalls fehlen dürfen. Dennoch bleiben natürlich Lücken; Variete und Tingeltangel etwa, der Schausport und die Tanzveranstal­ tungen wären für ein wirklich umfassendes Panorama historischer „Volksver­ gnügung“ noch zu untersuchen. Vielleicht gibt der Band dazu und zu weiteren Studien Anregung und Anstoß.

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Zu diesem Band

Zu danken haben wir der DFG für einen Druckkostenzuschuß sowie allen, die an der Herstellung des Bandes beteiligt waren, insbesondere Annette Dörner, Alexandra Kaiser und Christian Tünnemann. Eingeladen zum Kolloquium war auch unser Züricher Freund und Kollege Rudolf Schenda. Gesundheitliche Probleme verhinderten damals seine Teilnah­ me. Im Oktober 2000 ist er, unmittelbar nach seinem siebzigsten Geburtstag, verstorben. Der volkskundlichen Erforschung populärer Kultur und ihrer Ge­ schichte hat Rudolf Schenda Wege gewiesen, die bei weitem noch nicht aus­ geschritten sind. Seine Kritik an bornierter Herablassung gegenüber den klei­ nen Leuten und den „kleinen Traditionen“, sein wissenschaftliches und persön­ liches Engagement für weltoffene Toleranz und soziale Demokratie werden der deutschsprachigen Kulturforschung fehlen. Wir widmen diesen Band seiner Erinnerung. Tübingen und Berlin im März 2001

Kaspar Maase, Wolfgang Kaschuba

Einleitung: Schund und Schönheit Ordnungen des Vergnügens um 1900 Kaspar Maase

Historisierung der Populärkultur Gibt es ein Menschenrecht auf Unterhaltung? Einen allgemeinen Anspruch auf Genuss des Schönen? Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts hätten derarti­ ge Gedanken verständliches Kopfschütteln hervorgerufen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes jedoch lassen vermuten, daß man um 1900 damit ernster genommen worden wäre. In dieser Hinsicht, so scheint es, steht uns am Beginn des 21. Jahrhunderts das Kaiserreich näher als die meisten Perioden, die ihm folgten. Mehr noch: Die populäre Unterhaltung vor dem Ersten Weltkrieg wirft die Frage auf, ob nicht bereits damals Kulturdiagnosen zutrafen, in denen später dann das ausgehende 20. Jahrhundert sich erkannte. Die großen National-, Gewerbe- und Weltausstellungen im Gefolge der Londoner Weltausstellung von 1851, die vor keiner Inszenierung von Vergangenheit und Exotik zurückschreck­ ten- „Disneyfizierung“ avant la lettre? Der Aufbau von Vergnügungsparks nach dem Modell „Klein-Venedig“, mit Gondeln und Mandolinen, Italianitä und Eisbein (bzw. dessen jeweiligen nationalen Pendants) in vielen Metropolen der westlichen Welt - kulturelle Globalisierung auf dem Marsch? Boxkämpfe und Radrennen, Flugtage und Paraden, über deren Pracht und Katastrophen Mas­ senmedien umgehend informierten - vielleicht schon eine „Gesellschaft des Spektakels“ (G. Debord)?1 Die Nachfrage nach „Gassenhauern“, „Schundlite­ ratur“ und Kino, nach „Kitsch“ und „Nippes“ - Indikator für eine „Erlebnis­ orientierung“ (G. Schulze), die den Alltag gezielt ästhetisierte? Doch das späte 19. Jahrhundert stand den kulturellen Umwälzungen kei­ neswegs begriffslos gegenüber. Eher scheint das Gegenteil zuzutreffen. Die Deu-1 1

Für das Paris des späten 19. Jahrhunderts vertritt Vanessa Schwanz die These, dort habe sich eine „Massenkultur“ herausgebildet, gekennzeichnet durch die gemeinsame Neigung, Alltags­ ereignisse als Spektakel und Erlebnis wahrzunehmen. Das ließe sich zweifellos auch für deut­ sche Großstädte um 1900 plausibel machen. Vgl. Vanessa R. Schwanz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siecle Paris. Berkeley 1998.

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tungsmuster, denen Sozialwissenschaft und Kulturpolitik im 20. Jahrhundert folgten, gehen allesamt zurück auf Paradigmen, die bereits um 1900 mehr oder minder prägnant ausgearbeitet waren. „Masse“ und „Geschäftsinteresse“ als Kürzel für die sozialen Kräfte, deren Zusammenspiel Bildung und Kultur niederwalzen werde; die Faszination durch „sex and crime“ als jener Punkt der menschlichen Triebausstattung, von dem aus die Kulturindustrie alle Sozial­ moral aushebeln werde; „Schmutz und Schund“ als Gefährdung der Jugend, deren Schutz höher rangiere als individuelle Freiheitsrechte; aber auch: Massen­ konsum symbolisch-ästhetischer Güter als Chance zu durchgreifender Hebung der Geschmacks- und Kulturniveaus - das sind einige der Denkansätze, die bis heute fortwirken. Die vorletzte Jahrhundertwende also als Geburtsdatum der massendemo­ kratischen Mediengesellschaft, die sich laut Postman unaufhaltsam „zu Tode amüsiert“ ? Als erster Gipfelpunkt einer populären Vergnügungskultur, deren Anziehungskraft und Entwicklungsdynamik zu Beginn des dritten Millenniums ungebrochen sind? Unter dem farbigen Wechsel der Moden und Innovationen eine anhaltende Erfolgsgeschichte, das Zusammenspiel basaler Muster kultu­ reller Moderne, die aus dem 19. Jahrhundert erwuchsen und seither im Kern die selben blieben? Unverändert die Rezepte, die schon um 1900 „zogen“: Sen­ sation und Sentimentalität, Sexualität und Gewalt, Serienprinzip und spekta­ kuläre Überbietung sinnlicher Effekte, volkstümelnde Regression plus exoti­ scher Reizimport vom gesamten Globus? Erfolgsformeln, gelernt in der erbar­ mungslosen Schule des Massenmarktes und geschlechts- und altersspezifisch zugeschnitten auf den vom Industriekapitalismus geformten Anspruch „Ma­ ximierung der Erlebnisse pro Zeit- und Geldeinheit“ ? Ein Modell mithin, in dessen Zentrum die wechselseitige Steigerung von Angebot und Erwartung steht, prinzipiell grenzenlos und derart Strukturen langer Dauer mit Verschleiß und Beschleunigung verknüpfend? Das wäre noch keine besonders originelle These, doch ist damit ein Hori­ zont anregender Fragen eröffnet. Zudem erscheint eine solide begründete Historisierung der Populärkultur durchaus wünschenswert in einer Gesellschaft, die unter dem Schlagwort der Postmoderne (und nicht zuletzt im Medium eines ästhetisierend-gefühligen Historismus) die Geschichtsvergessenheit kultiviert. Im Alltagswissen wie in der gängigen Kulturkritik dominiert eine Vorstellung vom Leben im 20. Jahrhundert als historisch unvergleichlich, als Ergebnis ei­ nes Bruchs mit allem Vorhergegangenen. Hier wirkt der Mythos einer Selbst­ schöpfung auf dem unbeschriebenen Blatt der Moderne - und bald werden auch um das 20. Jahrhundert die Nebel der „Vergangenheit“ aufsteigen. Historisierung der Populärkultur, das wäre ein umfassendes Forschungspro­ gramm. Bisher allerdings hat die Forschung den angedeuteten Gesamtprozeß

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noch kaum im Blick. Im Gegenteil: Die Literaturbasis des relativ am weitesten gespannten Überblicksartikels2 sowie die Tatsache, daß selbst in den - kulturelle Grundprozesse nachdrücklich einbeziehenden - Darstellungen des Kaiserreichs von Nipperdey und Wehler die Umbrüche der Populärkultur allenfalls margi­ nal und lückenhaft behandelt werden, verweisen auf erhebliche Forschungs­ defizite. Für viele Genres der kommerziellen Künste muß man von einer „ver­ heerenden dokumentarischen Situation“3 sprechen: Nicht einmal die wichtig­ sten Materialien sind erschlossen. Im internationalen Vergleich erweist sich die Geschichte der modernen Vergnügungen in Deutschland, wie Dagmar Kift for­ muliert hat, als „vernachlässigtes Thema“.4 Wenn der vorliegende Band Anstöße gäbe, Lücken zu schließen, dann wäre das zweifellos im Sinne der Autorinnen. Doch geht es zunächst um bescheide­ nere Ziele, um die Frage, inwiefern die Periode um 1900 einen Knoten- oder Umschlagpunkt in der Entwicklung der modernen Populärkultur bildete. Und angesichts des Forschungsstandes können die einleitenden Überlegungen dazu auch nur begründete Thesen, kein gesichertes Wissen formulieren.

„Schund“: Kommerzielle Massenkünste als soziale Herausforderung Zunächst ist zu erläutern, was für diesen Band die Chiffre „um 1900“ meint. Scheinexakt in Jahreszahlen gefaßt, geht es um die Periode von 1869 bis 1914. In den 1860ern hatten mehrere große deutsche Staaten ihre Gewerbeordnun­ gen reformiert, 1868/69 schließlich auch der Norddeutsche Bund.5 Von nun an bildete die Möglichkeit, daß auch Berufsfremde und nicht einschlägig Ausge­ bildete Unternehmen eröffneten, eine wesentliche Voraussetzung für die Dy­ namisierung der Kulturwarenproduktion. Exemplarisch ist das von Mirjam Storim dargestellte Aufblühen des Kolportagebuchhandels, der sich völlig zu Recht als „Volksbuchhandel“ und „Pionier der Kultur“ verstand. Für die 1890er nimmt man an, daß zwei Drittel der literarischen Produktion in Deutschland per Kolportage vertrieben wurden.6 2

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Georg Jäger: Medien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichtc. Band IV: 1870-1918. München 1991, S. 473-500. Günter Kosch/Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850 bis 1960. Stuttgart 1993, S. VI. Dagmar Kift (Hg.): Kirmes - Kneipe - Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850-1914). Paderborn 1992, S. VII. Die folgenden Ausführungen beziehen sich im strengen Sinne nur auf das Gebiet des Deut­ schen Reichs. Karl Baumbach: Der Kolportagebuchhandel und seine Widersacher. Berlin 1894, S. 22. Die

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Der ökonomische Aufschwung der Gründerzeit war in vieler Hinsicht Grundlage für die Ausdehnung des Kulturwarenkonsums, nicht zuletzt in den unterbürgerlichen Schichten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnen hier praktisch alle Parameter, von Löhnen und Freizeit bis zur Verbilligung und Vielfalt der Angebote, deutlich und anhaltend zu steigen. Der Verweis auf die Gewerbefreiheit soll die Rolle der Produzenten unterstreichen, der Unterneh­ mer wie der Autoren, Grafiker und anderer, die sich in scharfem Konkurrenz­ kampf daran machten, den Appetit auf Kunst im Kleinbürgertum, in der Ar­ beiterschaft und den städtischen Unterschichten anzuregen, zu befriedigen und mit preiswerten Verlockungen immer weiter zu steigern. Mit den im weitesten Sinn „Kreativen“ hat sich die Forschung allerdings noch kaum befaßt. Nicht nur ökonomisches Wachstum, Industrialisierung und Urbanisierung, die technischen Fortschritte in der Kulturwarenproduktion und bescheidene Verbesserungen in der Lage der abhängig Beschäftigten förderten seit den 1860ern die Ausweitung des Kulturmarktes. Die Durchsetzung des Volksschul­ besuchs, auch durch Eindämmung der Kinderarbeit, qualifiziertere Lehrer und bessere Lernbedingungen vor allem in den Städten bildeten einen weiteren Basistrend. Bei den sozioökonomischen Rahmenbedingungen wie in der globalen Sta­ tistik der Kulturproduktiori (die allerdings noch sehr lückenhaft ist) geht es bis zum Kriegsausbruch 1914 - mit konjunkturellen Schwankungen - anhaltend nach oben. Doch geben die hier versammelten Studien Anhaltspunkte für eine feinere Unterscheidung von Entwicklungsphasen. Sie folgten daraus, wie der zunehmende Gebrauch kommerzieller Populärkultur wahrgenommen, inter­ pretiert und sozial beantwortet wurde. Unverkennbar ist: Die Veränderung von Alltagsleben, Wissensordnungen und kulturellen Hierarchien durch den Aufstieg der Populärkultur hat nicht nur in den Augen des Historikers Züge einer „Kulturrevolution“, die aufs Engste mit Demokratisierungsprozessen verflochten war7 - sie wurde vor dem Ersten Weltkrieg von den Trägern der alten Ordnung als bedrohliche Herausforderung erfahren. Bedrohlich erschienen der Verlust der - sei‘s paternalistischen, sei's autoritären - Kontrolle über die „geistige Nahrung des Volkes“ und ein An­ spruchswachstum, dem man soziale Sprengkraft zuschrieb. Der Berliner Schriftsteller Otto von Leixner gründete im Februar 1891 ei­ nen „Verein für Volkslitteratur“, der zur Förderung der „geistigen Gesundheit der Volksgenossen“ „gute, wahrhaft sittliche und zugleich unterhaltende Wer-

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Formulierung ist nicht eindeutig, bezieht sich aber vermutlich auf die verkauften Exemplare, nicht auf die Erlöse, die bei den populären Druckwaren pro Stück sehr viel geringer waren; so urteilt auch Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991, S. 243. Vgl. Eric J. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875-1914. Frankfurt/M. 1995, S. 296-304.

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ke“ verbreiten sollte. In einer Programmschrift stellte Leixner ausführlich dar, wieso die gegenwärtige Lektüre der Unterschichten, im wesentlichen „Zeitun­ gen und die durch Colportage verbreiteten Schriften“, reformbedürftig sei.8 Um die Gefahr richtig zu beurteilen, die von den massenhaft gelesenen „SchundRomanen“ ausgehe, müsse man sich zunächst ein Bild machen von den „Stim­ mungen ..., die heute breite Schichten des Volkes beherrschen und sich von Tag zu Tag weiter verbreiten.“ Vornehmlich in den Städten seien „zerstörende Kräfte überall thätig“, sie züchteten Unzufriedenheit und „hetzfen] gegen den beste­ henden Staat“. Den Menschen aus dem Volk jedoch, an die die Demagogen sich wendeten, „fehlt die Fähigkeit des Urtheils, sie nehmen alles begierig auf, was ihren Leidenschaften entspricht“, und so verbreiteten sich „Gottesleugnung“ und „Materialismus der untersten Gattung“.9 In diesem Zusammenhang schien Leixner die populäre Literatur so verderb­ lich. Sie schildere „die höheren Stände als hart, genußsüchtig, verderbt“ und schüre „das Verlangen nach einer Lage, die allen Genuß gestattet, der sich erkäufen läßt.“ Die Heroisierung des Verbrechers ,,vergifte[t] das Gefühl für Recht und Unrecht“, sie erziehe geradezu Nachahmer. Die geschlechtliche Einbil­ dungskraft werde auf eine Weise gereizt, die wie Gift wirke. Doch selbst jene Romane, die von diesen Tendenzen frei seien, wirkten eindeutig schädlich auf die Leser aus dem Volk. „Die tolle Phantastik... verwirrt das Gemüth, macht es unempfänglich für die Eindrücke guter Bücher und pflanzt in die Geister durch­ aus falsche Vorstellungen vom Leben.“10 11 In einem dramatischen Appell erin­ nerte Leixner die „Mitglieder der gebildeteren und wohlhabenderen Schichten“ daran, „daß wir in innerem Kriegszustände leben. (...) Eine Woge der Vernich­ tung, geschwellt durch wilde Leidenschaften, braust heran.“ Deswegen müsse man endlich einsehen, „daß der Kampf gegen die schlechte Literatur heute ei­ nen Theil der sozialen Reform bildet“" Leixners Initiative ist in mehrfacher Hinsicht symptomatisch für die Reak­ tion auf die kommerzielle Populärkultur. Das betrifft schon den Zeitpunkt. 1890 liefen die Sozialistengesetze aus, und um dieses Datum herum verdichtete sich die Beschäftigung von Staat, Kirchen und Bürgertum mit der Massenliteratur. Die Einordnung in die „soziale Frage“ oder genauer: die Parallelisierung des Aufstiegs der populären Künste mit dem Aufstieg der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften bestimmte die Wahrnehmung und motivierte Regulierungs­ versuche von der Zensur der Kolportage bis zur Einrichtung von Volks- und Otto von Leixner: Zur Reform unserer Volkslitteratur. Hg. im Auftrage des Vereins für Volkslitteratur. Berlin [1891], S. 30, 9, 20. 9 Ebd., S. 20-23. 10 Ebd., S. 24, 26, 28. 11 Ebd., S. 29, 28 (Hervorh. im Orig.).

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Schulbibliotheken. Auch die zunehmende Thematisierung der preiswerten Ver­ gnügungen unter dem Gesichtspunkt von Jugendschutz und Jugendpflege spei­ ste sich wesentlich aus dieser Quelle; der Jugendliche, um dessen geistig-mora­ lische Entwicklung man sich sorgte, war zunächst einmal der Arbeiterjugend­ liche, dessen Wendung zur Sozialdemokratie man verhindern wollte.12 Der Vorwurf der „Verrohung“ gegen die populären Künste sprach ebenfalls die diffusen Ängste der Etablierten vor dem „Pöbel“ an, der von Leidenschaf­ ten und Trieben beherrscht werde. Die zivilisatorischen Kräfte der Vernunft, Selbstkontrolle und Rechtsordnung würden konterkariert von Darstellungen, die auf den Reiz von Sinnlichkeit, Gewalt, Verbrechen, uneingeschränktem Genuß spekulierten. Doch „Verrohung“ thematisierte noch eine weitere Erfah­ rung. Die zunehmend öffentlich präsente kommerzielle Populärkultur und die Formen ihrer Aneignung verweigerten sich den Normen bürgerlicher Kul­ tiviertheit - das Kursieren zerlesener Groschenhefte mit den ständig beklagten „schreienden Titelbildern“ ebenso wie derb-humoristische Postkarten, Mutoskope mit frivol betitelten Bilderserien in den Innenstädten, auf die Straße tönende Musikautomaten und Grammophone, zu denen Halbwüchsige die neuesten Gassenhauer sangen, und das buntscheckige Publikum der billigen „Kientopps“, das rauchte, aß und trank, schmuste und das Leinwandgeschehen lautstark kommentierte. Da kam eine andere Kultur auf, die das Bürgertum und die Bildungspro­ fessionen offensichtlich nicht mehr zur Anerkennung des geltenden Kanons und der legitimen Verhaltensregeln bewegen konnten. Die „Verrohung“ zeigte ei­ nen erheblichen Verlust hegemonialer Kraft an, und sie beunruhigte im Blick auf die eigenen Kinder. Würde man, gegen die Anziehungskraft von „Schmutz und Schund“, den eigenen Nachwuchs zur entsagungsvollen Aneignung des kul­ turellen Kapitals bewegen können, von dessen Einsatz doch die Sicherung des Status und der erhoffte soziale Aufstieg entscheidend abhingen?13 Bei Leixner und vielen anderen, die zur „Belehrung und Unterhaltung der bildungsbedürftigen niederen Volksschichten“ „gesunde geistige Nahrung in der Form erheiternder und sittlich hebender Unterhaltung“14 verbreiten wollten, wird jedoch noch eine tiefergehende Irritation sichtbar. Es ging um mehr als die Sorge, populäre Lieferungsromane verbreiteten Klassenhass, Sozialneid und Ver­ achtung der Gesetzlichkeit. Was die politischen Botschaften betraf, so verwie­ 12 Vgl. Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen. München 1983; Derek S. Linton: „Who has the youth, has the future“. The campaign to save young workers in imperial Germany. Cam­ bridge 1991. 13 Diesen Gesichtspunkt entwickelt überzeugend für vergleichbare Entwicklungen in den USA Nicola Beisel: Imperiled Innocents. Anthony Comstock and Family Reproduction in Victorian America. Princeton 1997. 14 Art. „Volksliteratur“. In: Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. 16. Bd. Leipzig 1890, S. 269.

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sen die Kolportageverleger darauf, daß es nie an Bekenntnissen zu Religion, Herrscherhaus und Vaterlandsliebe fehle; am Schluss werde die bedrohte Moral­ ordnung stets drastisch wiederhergestellt und ihre Verbindlichkeit bekräftigt. Die eigentliche Herausforderung, den Eindruck gewinnt man immer wieder, lag in der von Leixner so genannten „tollen Phantastik“, die falsche Vorstellung vom Leben erwecke. Hier klingt ein weiterer zentraler Kritikpunkt an: die „Überreizung der Phantasie“. Dahinter stand eine Auffassung von „gesunder“ Geistesnahrung für das Volk, die weit in die Vormoderne zurückreicht. Mit Erich Schön kann man vielleicht vom Paradigma einer „exemplarischen“ Lektüre sprechen. In der volkserzieherischen Sicht dominierte das stofflich-inhaltliche Interesse am po­ pulären Lesestoff. Auch künstlerische, fiktionale Darstellungen wurden befragt nach ihrer Übertragbarkeit auf das Leben der Rezipienten, nach ihrer „Lehre“ oder „Moral“ für deren Verhalten in der Wirklichkeit. Dem Werk wurde auf jeden Fall eine „als,Lehre“ unmittelbar angegebene oder doch grundsätzlich be­ grifflich aussprechbare handlungslenkende Nutzanwendung“15 abverlangt. Die Norm der exemplarischen Lektüre wurde im Bürgertum im Lauf des 18. Jahr­ hunderts überwunden - in Richtung auf eine unverbindliche Unterhaltungs­ rezeption, die das „Erfreuen“ vom „Nützen“ ablöste, wie in Richtung auf die idealistische Ästhetik der autonomen Kunst, der nur „interesseloses Wohlge­ fallen“ (Kant) angemessen sei. In einer merkwürdigen Ungleichzeitigkeit blieb das Modell des Exemplarischen jedoch gültig für die bürgerliche Modellierung des Verhältnisses von Kunst und „Volk“. Aufklärer wie Konservative gingen seit dem 18. Jahrhundert davon aus, daß die „ungebildeten Volksschichten“ einzig zur exemplarischen Lektüre fähig seien. Alle Projekte, die dieses Publikum mit „guter“ Kunst und „nützlicher“ Unterhaltung versorgen wollten, bewerteten deshalb die Werke nach deren moralischer und lebenspraktischer „Lehre“. Nur was nach diesem Maßstab „gesund“ war, taugte zur „Volksliteratur“ und „Volksunterhaltung“. Der Er­ folg der kommerziellen Populärkultur stellte nun das volkserzieherische Para­ digma gleich doppelt in Frage. Die neuen Anbieter entzogen sich erstens der Verantwortung, die das exemplarische Modell allen auferlegte, die „Geistes­ nahrung für das ungebildete Volk“ verbreiteten. Sie wollten weder erbauen noch belehren, sondern alle Wünsche des Publikums herauskitzeln, die sich irgend­ wie profitbringend bedienen ließen. Der Aufstieg der modernen Massenkünste konfrontierte zweitens mit der Einsicht, daß das volkserzieherische Modell sich in einem Konkurrenzkampf 15 Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitäts­ wandel um 1800. Stuttgart 1987, S. 41.

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befand, den es nicht gewinnen konnte. Ja, gemessen an der Vorstellung der Bildungsschichten, ihr Konzept „volkstümlicher Kultur“ sei das einzig legiti­ me und jede Koexistenz mit dem „Schundkapital“ undenkbar, hatten sie eigent­ lich schon verloren. Die geistige Versorgung des „ungebildeten Volkes“ war keine pädagogische Unternehmung mehr, sondern eine unternehmerische; über sie entschied das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, die „Gebildeten“ waren aus dem Spiel - so lautete die erschreckende Botschaft. Eine dramatische Einschätzung drängte sich auch deshalb auf, weil in den Unterschichten selber (in den städtischen zumindest) die exemplarische Lek­ türe ihre Vorrangstellung verlor. Neben und zunehmend vor sie traten Re­ zeptionsweisen, die in etwa dem entsprachen, was im Bürgertum schon länger praktiziert wurde. Dominant wurden Unterhaltungslektüren, die changierten zwischen empfindsamem Genuß der eigenen Gefühlserregung und Sich-Verlieren in Abenteuern und Traumwelten, zwischen einem für das eigene Leben relevanten Probehandeln in ästhetischer Identifizierung und souveränem Ver­ gnügen an der Abwandlung von Genre-Mustern. Derartige Lektüren konnten an verschiedenen Materialien praktiziert werden; der Unterschied zwischen „Wirklichkeit“ und „Erfindung“ wurde relativiert. Gerichtsreportagen und Skandalmeldungen der Presse, aber auch Reiseberichte oder Sportereignisse ver­ mochte das breite Publikum nun ebenso unterhaltend zu genießen wie eine Er­ zählung im Familienblatt oder das neueste Abenteuer des „Weltdetektivs“. „Tolle Phantastik“, für Leixner unvereinbar mit realistischer (sprich: beschei­ dener) Daseinsführung, wurde zum symbolischen Lebensmittel der Unter­ schichten - die gar nicht daran dachten, deswegen ihren Anspruch auf irdische Teilhabe und Mitsprache leiser anzumelden. Auch von dieser Seite her erwies sich das exemplarische Modell der Volkserziehung als überholt. Dieser Paradigmenwechsel, die nicht mehr rückholbare Verselbständigung des Publikums der kommerziellen Massenkultuf und die damit vollzogene Marginalisierung volkserzieherischer Bemühungen, schließlich die Infragestellung des vom Bürgertum hochgehaltenen Kulturkanons - das war die Herausforde­ rung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie macht Breite und Verbissenheit der Regulierungsversuche verständlich, die um 1890 in eine neue Phase traten. Sie lässt auch nachvollziehen, wieso gerade Volksschullehrer und andere volks­ erzieherische Berufsgruppen die Aktivisten des „Schundkampfes“ stellten. Das von Hartwig Gebhardt ans Licht gebrachte Material weist auf einen weiteren Konflikt hin, der Wahrnehmung und Beantwortung der modernen Massenkultur seit 1900 anhaltend und folgenreich prägte: die Erotisierung der medialen Umwelt. Es ist hier nicht der Ort für die notwendige komplexe Ana­ lyse; doch zumindest auf einen wichtigen Aspekt sei hingewiesen. Ein wach­ sender Teil der Kritiker „öffentlicher Unsittlichkeit“ hatte ein biopolitisches An­

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liegen: Empfängnisverhütung und Abtreibung, Geschlechtskrankheiten und Zeugung „erblich geschädigten“ Nachwuchses sollten eingedämmt werden, um Deutschlands „Volkskraft“ zu stärken. Man befürchtete, schon die Thematisierung von Sexualität, ganz zu schweigen von erotischen Darstellungen, fördere die Onanie („Selbstschwächung“); dahinter stand häufig die Sorge, Deutsch­ land werde sich beim Völkerkampf um den „Platz an der Sonne“ als zu schwach erweisen. Ungeachtet der Motive im einzelnen scheinen zwei Dinge festzustehen. Er­ stens: In den verschiedensten Medien, in allen Preislagen und auf allen Niveaus der Gestaltung wurden Themen der Sexualität häufiger und expliziter behan­ delt - auf humoristischen Postkarten und in frivolen Schlagern, in Tingeltan­ gelnummern und Witzblättern, in teuren „Kulturgeschichten“ zu diversen As­ pekten der Erotik und in der Skandalberichterstattung aller Zeitungen, in der Kunst von Naturalismus und Dekadenz ebenso wie in schwülen Salongemälden und Feuilletonromanen. Verbilligte Reproduktionstechniken und globalisierte Kommunikation vergrößerten das (illegale, nicht öffentlich sichtbare) Angebot an Pornographie aller Preislagen; zugleich wurde noch einmal heftig gestritten, wie zwischen künstlerischer und erotisch-spekulativer Darstellung menschli­ cher Nacktheit zu unterscheiden sei. Seit den 1890ern jedenfalls scheint in den Medien und der städtischen Öf­ fentlichkeit das „Thema Nr. Eins“ zunehmend präsent gewesen zu sein - und parallel dazu (das ist das zweite und ein ganzes Stück weit unabhängige Fak­ tum) wuchsen Sensibilität und Widerstand. Administrativ ließ sich das Problem nicht lösen - auch schärfere Gesetze konnten nichts daran ändern, daß sich unterhalb der Schwelle des Justiziablen die Normen der öffentlichen Thematisierung von Sexualität und erotischer Darstellung verschoben. Die Kritik machte dafür vor allem „skrupellose Spekulation auf die niedrigsten Triebe“ verantwortlich; kommerzielle Populärkultur wurde geradezu stigmatisiert als Zerstörer der Sittlichkeit. Vor allem zwei Wahrnehmungsmuster prägten sich ein. Fast allen Erwach­ senen schien es absolut einsichtig, daß die massenkulturelle Darstellung sexu­ eller Reize und Themen die Jugend gefährde; es wurde selbstverständlich, Po­ pulärkunst als Gefährdung der Jugend zu betrachten. Zweitens: Vor allem un­ ter kirchlichen Aktivisten und in den Bildungsschichten festigte sich die Über­ zeugung, der Staat sei gegenüber „Schmutz und Schund“ machtlos - nur „Selbst­ hilfe“ könne noch eine Wende herbeiführen. Die breite, hoch emotionalisierte Auseinandersetzung um die „öffentliche Unsittlichkeit“, insbesondere um die „unsittliche Literatur“, steigerte sich nach 1900 noch. Sie bereitete den Boden für die soziale Bewegung des „Schund­ kampfes“, der 1907/08 in Gang kam. Das neue Medium des Films, in puncto

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Reichweite, Internationalität, Diffusionstempo und Kraft zur sozialen Themen­ setzung vielleicht die erste moderne Massenkunst im strikten Sinn, lieferte der Auseinandersetzung zusätzlichen Brennstoff. Der Beitrag von Corinna Müller verdeutlicht jedoch: Kritik am wachsenden Einfluß der Populärkünste ergab sich keineswegs nur aus der Absicht, politisch, moralisch und ästhetisch den Status quo zu verteidigen. Im Gegenteil: Fortschrittshoffnungen und Reformimpulse waren wesentliche Triebkräfte der Auseinandersetzung mit der neuen massen­ kulturellen Konstellation. Während des Weltkriegs radikalisierte sich der Schundkampf noch. Zugleich wurden in diesen Jahren die propagandistischen und stimmungspolitischen Potentiale der Massenkünste auch von Teilen der Eliten erkannt und aufgegrif­ fen, die der Entwicklung bisher eher distanziert gegenübergestanden hatten. Der Krieg brachte einen Umschlag in der sozialen Thematisierung der Massenkultur. Hier lief die in den 1860ern begonnene Entwicklung aus, und eine veränderte Konstellation entstand. Die Jahre 1914-1918 sind daher in diesem Band ausge­ klammert.

„Schönheit“: Ästhetisierung des Alltags als Epochentrend Bislang wurde hier die Einheit der Periode „um 1900“ bestimmt als Durchset­ zung der modernen Massenkünste im zweifachen Sinn. Zum einen (das wird im Band eher vorausgesetzt als mit Daten ausgeführt) weiteten sich Produkti­ on und Rezeption in solchem Maße aus, daß am Vorabend des Weltkriegs die Mehrheit der Deutschen derartige Waren und Angebote mit einer gewissen Häufigkeit und Vertrautheit nutzte. Ein differenziertes, professionelles, strekkenweise schon seriell produzierendes, mit bewährten Erfolgsrezepten und innovativer Phantasie arbeitendes Netz von Kultur- und Vergnügungsunter­ nehmen lieferte die Angebote. Mit einer gewissen Berechtigung könnte man sagen: Die Grundstruktur moderner populärer Künste und Vergnügungen war ausgebildet und begann Gewohnheit zu werden. Durch alle Revolutionen der Medientechnik hindurch haben sich seither Funktionen und Nutzungsweisen als recht stabil erwiesen, die damals zumindest ansatzweise ausgebildet wurden. Zum anderen wurde ein ganzer Zyklus der sozialen Thematisierung durch­ laufen. An seinem Ende um 1914 stand eine ausgeprägte Diskrepanz, die den heutigen Betrachter außerordentlich irritieren kann. Holzschnitthaft verein­ facht: Populäre Künste und Vergnügungen waren für die Mehrheit (auch im Bürgertum und Kleinbürgertum) ein gesuchter, befriedigender bis beglücken­ der Teil der Lebensführung geworden - doch war kaum eine Stimme zu hören, die das begrüßte oder auch nur rechtfertigte. Fürsprache war selten, defensiv

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ünd ohne eigene Maßstäbe; zugunsten der neuen Massenkultur wurden kaum mehr als ihre Harmlosigkeit und eine gewisse sozialsedative Funktion ins Feld geführt. Wahrscheinlich das erfolgreichste Argument der Filmwirtschaft für das neue Medium war, daß es den Unterschicht-Alkoholismus zurückdränge. Wir kennen die mündliche Kommunikation über die populären Künste nicht; sie würde das Bild gewiss etwas aufhellen. Aus Presse, Predigt, Schule, Universi­ tät, Volksbildung müssen wir schließen: Zum Wissen aller Schichten gehörte, daß die neuen Massenkünste kulturell minderwertig waren, ein soziales Pro­ blem darstellten, die Jugend moralisch gefährdeten und skrupellosen Unterneh­ mern die Taschen füllten. Die Veralltäglichung der Populärkultur zeigte ein ausgeprägtes Stadt-LandGefälle. Zwar blieb die Provinz nicht unberührt, und schon gar nicht handelte es sich um eine rein metropolitane Entwicklung. Die Angst vor „Schmutz und Schund“ gedieh auch dort, wo man die Dinge nur als Gerücht vom hauptstäd­ tischen Sündenpfuhl kannte. Daß der vorliegende Band die Großstadt-Perspek­ tive bevorzugt, scheint dennoch sinnvoll. Hier bündelten sich die Umbrüche; hier wird die ganze Breite der Veränderungen in Angebot und Wahrnehmung erkennbar, die einander wechselseitig verstärkten. Hier zeigt sich der Aufstieg der Massenkünste als Teil einer umfassenden kulturhistorischen Entwicklung, die man sich vor Augen führen muss, um die damaligen Antworten zu verste­ hen. Was sich um 1900 als ebenso umstritten wie unaufhaltsam erwies, war ein Abschnitt in jenem Epochentrend der kulturellen Moderne, den man - zunächst einmal deskriptiv - „Verschönerung des Alltags“ nennen könnte. Was ist damit gemeint? In aller Kürze und umgangssprachlich formuliert: Es geht um Bedürfnis und Gewohnheit, die Gegenstände und Tätigkeiten des gewöhnlichen Lebensvollzugs „schön“ einzurichten - sinnlich reizvoll und emotional ansprechend, geladen mit symbolischen Botschaften, die dem Da­ sein eine weitere Dimension verleihen. Die Dinge des täglichen Gebrauchs (Kleidung, Haushaltsgüter, die persönliche Erscheinung, Schmuck) können mehr oder minder „schön“ sein, und man kann die Künste mehr oder weniger intensiv heranziehen, um die Summe der Schönheitserfahrung zu vergrößern. Seit dem 18. Jahrhundert ist in der säkularisierten bürgerlichen Lebenswelt die Ausweitung von Schönheitserfahrungen unverkennbar; im 19. Jahrhundert verstärkte sich der Trend und zeigte sich auch im Kleinbürgertum. Im letzten Drittel, also der hier fokussierten Periode, begannen die städtischen Unter­ schichten, mit der Veralltäglichung des Schönen Ernst zu machen; nach 1900 war sie - mittels Massenkünsten wie Massenkonsum - zumindest in beschei­ denem Umfang Norm geworden. Pfingsten 1902 hielt Heinrich Wolgast, Volksschulrektor und engagierter Vorkämpfer ästhetischer Erziehung, auf der Deutschen Lehrerversammlung

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einen Vortrag, in dem er genau diese Entwicklung ansprach - und die Schwie­ rigkeiten, die sie den von der idealistischen Ästhetik Geprägten bereitete. „Gehen Sie in die Tanzlokale und Musikhallen, in die Theater und Museen, sehen Sie sich die Wohnung und die Kleidung selbst der Armen an, und Sie werden finden, daß sich überall ein unwi­ derstehlicher Drang nach Freude kundgibt. Gehen wir dieser Freude auf den Grund, so finden wir, oft zu unserem Entsetzen, die Freude an der Kunst. Aber in welcher Zerrgestalt! Der geschmack­ lose Flitter der Kleidung, der traurige Oeldruck an der Zimmerwand, die Musik des Bierkonzerts und Tingeltangels, das Schauerdrama und der Schauerroman — das alles empfindet die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes als Kunst! Was uns Ekel bereitet, wird als Lust empfunden. Dieser Unterschied im Empfinden teilt unser Volk in zwei Nationen, die sich nie verstehen werden.“16

Wenn hier von Verschönerung des Alltags die Rede ist, dann geht es gerade um jene Genres und Rezeptionsweisen, die im Prozess der Dichotomisierung von ernster und trivialer, hoher und niederer Kunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abgewertet wurden - und die zugleich ihren Siegeszug durch das Bürgertum und sozial angrenzende Schichten antraten. Man suchte an den Din­ gen rezeptiv-sinnliche Freude, in Vergnügungen aktiv-sinnliche und emotionale Steigerung, die aus dem Gewöhnlichen heraushob, und in den Künsten Unter­ haltung. Unterhaltung wird hier, im Anschluss an Hans-Otto Hügel,17 verstan­ den als eine ästhetische Aneignungsweise, die auf Teilhabe an sinnlich vermit­ telten Bedeutungsgehalten gerichtet ist, ohne der unbedingt konzentrierten Hingabe an das Werk verpflichtet zu sein, die zur Erfahrung „großer Kunst“ führt. Unterhaltung mischt Ernst und Unernst, Konzentration und Beiläufig­ keit, Suche nach Bestätigung und Irritierbarkeit durch Unbekanntes. Und po­ puläre Künste kann man geradezu definieren als Künste, die uneingeschränkt Genuß vermitteln bei unterhaltender Rezeption. Das gilt für die „galante“ und „schlechte“ Lektüre, die Räuberromane und Schauerdramen, die Musenalmanache und lyrischen Blütenlesen, die im 18. Jahrhundert das bürgerliche Publikum (zunächst vor allem das weibliche) er­ oberten und von der anspruchsvollen Kritik und den Gegnern der „Lesewut“ erbittert verfolgt wurden. Es gilt um 1800 für das deutschsprachige Musiktheater, das geradezu „als Prototyp eines publikumswirksamen Massenvergnügens an­ zusprechen“ ist.18 Und es gilt am Ende des 19. Jahrhunderts für die ganze Palette der populären Genres, die nun ohne den Ausnahmecharakter des Festlichen, Einmaligen, Aufwendigen für den Alltag städtischer Unterschichten zugäng­ lich werden: Lieferungs- und Zeitungsromane, Groschenhefte, Familienblatt16 Heinrich Wolgast: Die Bedeutung der Kunst für die Erziehung. Leipzig 1903, S. 4. 17 Hans-Otto Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie. In: montage/av2, 1993, S. 119-141. 18 Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhun­ dert. Stuttgart 1995, S. 463; ebenso Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen 1998.

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efzählungen, Witzblatthumor, Sammlungen von Gedichten, Liedern, Couplets, Anekdoten für bestimmte Anlässe oder einfach als Material für einen unter­ haltsamen Abend; „klassische“ und Schlagermelodien aus Musikautomat und Grammophon, von Militärorchestern und Leierkastenmännern, von Kapellen im Ausflugslokal und Tanzsaal; die bunte Mischung der Programme in ortsfe­ sten Zirkussen, Singspielhallen und Tingeltangeln; das Kino im Kiez, Panora­ men und Bildfolgenbetrachtungsautomaten (Mutoskope, Kalloskope usw.) in der Innenstadt; Illustrationen und Reproduktionen in Zeitschriften, Bilderbö­ gen und Haussegen, farbige Drucke für die Wohnung, Glanz- und Sammelbilder, Ansichtskarten und Fleißkärtchen; Vorstadt- und „Volks“theater; Werbung auf Plakaten und im Film, in der Presse und durch gestaltete Schaufenster; ständi­ ge Vergnügungsparks („Rummel“).19 Es ist unmöglich, den ganzen Umfang der durch Massenkünste in den eige­ nen vier Wänden oder „im Milieu“ zugänglichen Angebote darzustellen. Er­ wähnt sei noch einmal, daß auch ein wachsender Teil der publizistischen Stoffe „unterhaltsam“ präsentiert und unterhaltend rezipiert wurde. Schließlich wäre auf Schausport und Sensationsveranstaltungen (Flugtage, Autorennen) hinzu­ weisen, die in vieler Hinsicht Massenkünste darstellten; mit der Kennerschaft des Publikums entwickelten sich Anspruch und Urteilsfähigkeit für die spezi­ fische Schönheit des beim Fußball oder Boxen Gezeigten. Um 1900 gewann „Verschönerung des Alltags“ eine neue Dimension, dar­ auf machte nicht nur Wolgast aufmerksam. Die massive Kritik an den populä­ ren Künsten und die vielen Warnungen vor der ästhetischen Verbildung der Mas­ sen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mehrzahl der bürgerlichen, bildungsorientierten Betrachter sich diesen Fragen aus einer Grundhaltung des Fortschrittsoptimismus zuwandte. Das wird am deutlichsten in den Bemühun­ gen zur ästhetischen Erziehung des „Volkes“ - eher traditionell über die Schu­ len konzipiert oder höchst innovativ als Idee, die zu Konsumentinnen werden­ den „Massen“ und ihre zunehmend durch preiswerte Industriegüter geprägte Lebenswelt mittels „Erziehung durch Sachen“ auf ungeahnte kulturelle Höhen zu heben. Die Beiträge von Diethart Kerbs, Gudrun König und Helmut Hart­ wig gehen darauf ein. Gegenüber den Massenkünsten schlugen die eingeschliffene Disposition der Vergnügungskritik und ideologische Kontrollreflexe durch; auch hier jedoch lieferte den Maßstab für Ablehnung und Empörung häufig die Erwartung, die neuen Medien für eine Volksbildungsoffensive zu nutzen. Das galt für die von Corinna Müller dargestellten Kinoreformer wie für die Selbstverständlichkeit, 19 Einen Eindruck von Vielfalt und Anziehungskraft vermittelt: Lisa Kosok/Mathilde Jamin (Hg.): Viel Vergnügen. Öffentliche Lustbarkeiten im Ruhrgebiet der Jahrhundertwende. Essen 1992.

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mit der man Bildpostkarten als Instrument der Geschmackserziehung20 betrach­ tete (Karin Walter). Es kennzeichnete den Schundkampf der Jugendschriften­ ausschüsse wie die ästhetischen Reformideen des „Kunstwart“-Kreises (Gisela Wilkending, Kaspar Maase). Mit der Hoffnung auf eine tiefgreifende Kultivie­ rung der Massen verknüpften sich zwar differente bis unvereinbare Gesell­ schaftskonzepte - aber solche Hoffnung verband doch die angeführten Grup­ pen mit den leider in diesem Band nicht näher untersuchten Meinungsführern der Arbeiterbewegung. Deren Abwehr der kommerziellen Künste und Vergnü­ gungen hatte zweifellos politische Gründe; viele Produkte empfahlen derart massiv Chauvinismus und Militarismus, Schicksalsergebenheit und Selbstbe­ scheidung, daß die Empörung klassenbewusster Arbeiter durchaus nachvoll­ ziehbar ist (wenngleich sie auch eine misogyne Komponente hatte). Doch die prinzipielle Ablehnung speiste sich aus dem Selbstverständnis der Sozialdemo­ kratie als Kulturbewegung, die dem arbeitenden Volk die Schätze der kano­ nisierten Kultur erschließen werde. Die mit „Fortschrittsoptimismus“ vielleicht etwas flach charakterisierte Grundhaltung der wilhelminischen Bildungsschichten markierte den wesent­ lichen Unterschied zu allen folgenden Kapiteln der Auseinandersetzung mit der Populärkultur. Die manchmal hysterisch klingende Sprache, die völkischen und germanomythischen, antiliberalen und antisemitischen Töne, die Stimmung „kultureller Verzweiflung“ (Fritz Stern) waren eingebettet in ein „Grundver­ trauen“ in Sekurität und Entwicklungsfähigkeit der damaligen deutschen Ge­ sellschaft.21 Man darf es durchaus ernst nehmen, wenn radikale Kulturpes­ simisten und Kulturkritiker wie Nordau, Lagarde und Langbehn davon aus­ gingen, die diagnostizierte Erkrankung der Gesellschaft sei gerade aufgrund ihrer Warnungen und mit ihren Rezepten heilbar. Etwa ab 1910 wird ein Genera­ tionswandel deutlich; nun klang manches schriller, und eine apokalyptische Tendenz trat hervor.22 Doch erst Krieg und Nachkrieg schufen einen Kontext, in dem radikale Überlegungen, soziokulturelle Fremdheiten und Ressentiments sich zur explosiven Mixtur von Revanchedenken, Rassismus und Republik­ feindschaft verbanden.

20 Zu den volks- und geschmacksbildnerischen Hoffnungen, die sich mit dem Werbemedium der Sammelbilder verbanden, vgl. Detlef Lorenz: Reklamekunst um 1900. Künstlerlexikon für Sammelbilder. Berlin 2000. 21 Darauf hat jüngst noch einmal Georg Bollenbeck mit der Formel vom „ausgleichenden Klima des wilhelminischen Obrigkeitsstaates“ hingewiesen. Vgl. Ders.: Tradition Avantgarde Reak­ tion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945. Frankfurt/M. 1999, S. 184193. 22 Klaus Vondung: Deutsche Apokalypse 1914. In: Ders. (Hg.): Das wilhelminische Bildungs­ bürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976, S. 153-171.

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Populärkultur - jenseits von Klasse und Stand Bisher bestätigt diese einleitende Skizze die gängige Auffassung, wonach die populären Künste und ihre Durchsetzung als Unterschichtphänomen zu ver­ stehen seien. Doch fast alle Beiträge geben Hinweise, daß die Entwicklung sehr viel komplexer war. Man könnte sich versucht fühlen, den mit guten Gründen als elitistisch-denunziatorisch verworfenen Begriff der „Massenkultur“ zu re­ habilitieren. Mit einem klassenkulturellen Phänomen haben wir es jedenfalls nicht zu tun. Die populäre Kultur trennte keinesfalls die Arbeiterschaft vom Bürgertum, und die in einigen Aufsätzen zitierten Invektiven gegen „Massen“verhalten sollten definitiv bourgeoise Kulturmuster brandmarken. Das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts und der Kontinent von Un­ terhaltung und Vergnügung - die Geschichte dieser Beziehung ist beinahe gänz­ lich noch zu schreiben. Was wir davon wissen, stammt weit überwiegend aus der Feder der künstlerischen Avantgarde und der radikalen Kulturkritik, aus sehr parteilichen Quellen mithin. Eine der wenigen Ausnahmen ist Alberto Martinos Monographie zur Leihbibliothek als zentraler Institution bürgerlicher literarischer Kultur;23 die dort meistgelesenen Titel sind heute fast alle unbe­ kannt. Das macht klar: Solange die Bücher und Lieferungsromane, die Singspiele und Possen, die Anekdotensammlungen und der Wandschmuck, die Klavier­ stücke und Varietenummern, mit denen die Mehrheit der deutschen (Besitz-) Bürger ihren Alltag verschönerte, nicht analysiert sind, so lange man nicht weiß, wie sie die Themen der Zeit behandelten und wie sie ästhetisch funktionierten, so lange steht jede Aussage über Unterhaltung und Vergnügung im Bürgertum auf schwankendem Boden. Mit dieser Einschränkung kann man drei Thesen formulieren. Erstens: Wenn wir „populär“ bestimmen durch die den Zeitgenossen bewußte Differenz zur „ernsten“ oder hohen Kultur und durch die Beliebtheit bei großen Teilen der entsprechenden sozialen Gruppe, dann gehörte Populärkultur seit dem späte­ ren 18. Jahrhundert zur bürgerlichen Lebensweise. Selbstverständlich ist hier zu differenzieren; für das Bildungsbürgertum gilt das so pauschal sicher nicht, und wie Berufs-, Ausbildungs- und Vermögenslagen die Auswahl aus dem An­ gebot beeinflußten, ist noch zu erforschen. Daß das Unterhaltende, Erfreuen­ de, Vergnügliche nach bürgerlichem Verständnis Bildendes, Belehrendes und Nützliches nicht ausschloß, ist ganz wesentlich; doch machen Hermann Bau­ singer und Sabine Giesbrecht-Schutte deutlich, daß sich im Lauf des 19. Jahr­ hunderts Mischungsverhältnisse und Rezeptionsmuster eindeutig veränderten 23 Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (17561914). Wiesbaden 1990.

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im Sinne einer „Trivialisierung“. Nach 1900 gingen Schubert-Melodien und ein Schlager aus der internationalen Musikindustrie im Milieu solider Bürgerlich­ keit problemlos zusammen. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv auftretende intellek­ tuelle Kritik an „Materialismus“, „Oberflächlichkeit“ und „Vergnügungssucht“ des bürgerlichen Kulturpublikums hatte wohl einen realen Kern. Hobsbawm weist für England hin auf die von Veblen klassisch beschriebene „leisure dass“, auf die Rolle der Generationen, die das Vermögen nicht mehr aufbauten, son­ dern davon angenehm und mit demonstrativem Konsum lebten.24 Ob und wie die Ausweitung und zunehmend repräsentative Inszenierung einer bürgerlichen Kultur der Unterhaltung und Vergnügung zusammenhing mit sinkender Funk­ tionalität eines durch „innerweltliche Askese“ (Max Weber), Nüchternheit und strenge Triebkontrolle gekennzeichneten bürgerlichen Habitus, wäre zu unter­ suchen. Jedenfalls zeichnen sich hier - differenziert entsprechend innerbür­ gerlicher Schichtung - im Verhältnis zur Populärkultur für unterbürgerliche Publika parallele und konvergierende Linien ab. Zweitens: Um 1900 nimmt deren Berührung und Durchdringung ein sol­ ches Ausmaß an, daß nun Vorstellungen von Polarität oder Zweiteilung weni­ ger angemessen erscheinen als das Bild einer modernen Populärkultur. Sie wurde praktiziert zwischen den Extremen „vulgärer“ subproletarischer und „distin­ guierter“ großbürgerlicher Unterhaltung - mit fließenden Übergängen, starker Anziehungskraft gerade der Extreme über die Schichtgrenzen hinweg und ge­ prägt von Genres, die ihre spezifischen Gratifikationen auf allen Etagen der Gesellschaftspyramide, jeweils anders „gerahmt“, entfalteten. Die modische Filmbegeisterung im Bürgertum entzündete sich an Streifen, von denen die Mehrzahl auch im Vorstadt-Kientopp lief; Asta Nielsen und Henny Porten waren Stars, deren Gemeinde alle Klassengrenzen überschritt. Bei der Aneignung der Modetänze vom amerikanischen Kontinent stellte die elegante, stets auf den neuesten Schrei bedachte städtische „Gesellschaft“ die Avantgarde; bei den Tanzbegeisterten in „Zilles Milieu“ kamen die Importe nur teilweise, meist vereinfacht und handfester interpretiert, an. Doch die Ent­ wicklungsrichtung war dieselbe, und sie entsprang, wie Fred Ritzel zeigt, einer in Sekurität eingebetteten Einstellung, für die das transatlantische Neue, das Internationale, a priori reizvoll war; es zu erproben, entsprach schlicht dem Fortschritt. Eine wesentliche „Umschlagstelle“ für musikalische und tänzeri­ sche Moden der Nachkriegs-Massenkultur, vom Operettenlied bis zum gefühl24 Hobsbawm (wie Anm. 7), S. 209-215. Für Deutschland sehr anregend sind Hinweise auf den Stellenwert des „Sich-Amüsierens“ in der bürgerlichen Erfahrungs- und Konversationskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; vgl. Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, insbes. S. 270-290.

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vollen Schlager, vom Charleston bis zum Jazz, bildeten bürgerliche Gruppen des späten Kaiserreichs. Gemeinsamkeiten populärer Künste „oben“ und „unten“, unerwartete Überschneidungen und Überblendungen zeigten sich um 1900 beim Umgang mit Körper und Sinnlichkeit. Da wäre noch einmal zu erinnern an den kom­ merziellen Erotikboom. Auch der satirische „Simplicissimus“ geizte nicht mit Frivolitäten in Wort und Bild, und die lieferten wiederholt den Vorwand für Ver­ bote. Die „pikanten Bildserien“, die dort per Inserat angeboten wurden, waren für zahlungskräftige Herren bestimmt, ebenso die erwähnten, reich illustrier­ ten „Kulturgeschichtsdarstellungen“. Die neuen Tänze, ob in enger Berührung getanzt wie der Tango oder eher selbstbezogen wie die amerikanischen „Wackel­ tänze“, betonten die erotische, geschlechtliche Dimension der sich bewegen­ den Körper25 - also genau das, was man zeitgenössisch, bis hin zum Verbot, den „Schiebetänzen“ der Unterschichten ankreidete. Wir bewegen uns hier, das kann gar nicht klar genug betont werden, auf dem Terrain der Zuschreibungen, der symbolisch-metaphorischen Ordnungen der Sozialwelt und des Vergnügens. Dieser Band sagt definitiv nicht: Eine wesent­ lich sinnenfeindliche und körpervergessene bürgerliche Kultur näherte sich über die populären Künste um 1900 einer wesentlich sinnlich-spontanen und körper­ bezogenen Unterschichtkultur an. Diese Behauptung hätte ebensowenig mit der historischen Wirklichkeit zu tun wie die gegenteilige These. „Oben vs. unten“ ist eine basale Metapher der westlichen Kultur, die in der bürgerlichen Gesell­ schaft soziale, topographische, körperliche und geistige Dimensionen in einem Spiel der Analogisierungen, Transpositionen und verdeckten Begehrensakte verbindet.26 In diesem Sinn allerdings fallen um 1900, auf der Ebene der Diskurse und Symbolisierungen, der als relevant behandelten künstlerischen Genres und Darstellungsweisen, die Parallelen, Übernahmen und Überblendungen zwischen „oben“ und „unten“ ins Auge. Damit ist nicht gesagt, das sei historisch neu gewesen, wohl aber, daß es für die Entwicklung der modernen Populärkultur bedeutsam wurde. Was Wolfgang Kaschuba im Blick auf die Entwicklung vorin­ dustrieller „Volkskultur“ im 19. Jahrhundert als deren Potenz zur „inneren Modernisierung“ herausgearbeitet hat,27 wäre auch im Blick auf Gauklerkünste und Jahrmarktsensation, Tierhatz und körperbetonte Wettkämpfe zu prüfen.

25 Wie körperlich-sinnliche Bezüge und Erfahrungen in der „bürgerlichen“ Unterhaltungsmusik des 19. Jahrhunderts Schritt um Schritt nach vorne traten, ist eindrucksvoll dargestellt bei Pe­ ter Wicke: Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik. Leipzig 1998. 26 Grundlegend dazu Peter Stallybrass/Allon White: The Poetics and Politics of Transgression. Ithaca, N.Y., 1986. 27 Vgl. Wolfgang Kaschuba: Ritual und Fest. Das Volk auf der Straße. In: Richard van Dülmen (Hg.): Dynamik der Tradition. Frankfurt/M. 1992, S. 240-267, Zit. S. 242.

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Die Beiträge von Heide Schlüpmann und Joachim Fiebach beleuchten die darstellenden Künste. „Unten“, im Kino, wie „oben“, im etablierten und avant­ gardistischen Theater, hatte „Körperkunst“ Konjunktur.28 Sinnliche Überwäl­ tigung durch Ausstattung, Massenszenen, Effekte und Lichteinsatz im Theater Max Reinhardts begeisterten ein großes bürgerliches Publikum und wurden kennzeichnend für das Populäre - angefeindet von den Gralshütern des klassi­ schen Kanons. Viele von Reinhardts Kunstmitteln entsprachen wesentlichen Mitteln des frühen Films, und Reinhardt engagierte sich auch bald als Kino­ regisseur. Andere Traditionen, „vulgär-populäre“ Körperlichkeit und Körper­ kunst, dienten der Avantgarde zur Provokation bürgerlicher Erwartungen. Und schließlich ist, wie Fiebach zeigt, von allem auch das Gegenteil zu finden; um 1900 wurden für die darstellenden Künste einflussreiche Konzepte der Entkör­ perlichung, der Auflösung des Sinnlichen durch Technik und Beschleunigung, entworfen. Damit sind wir endgültig beim dritten Aspekt der Beziehungen zwischen „bürgerlicher Kultur“, modernen kommerziellen Künsten und Unterschichten. Neben der Ausgrenzung der neuen Populärkultur, die sich - getragen von ei­ ner inkorporierten, zur zweiten Natur gewordenen Distinktion - in körperli­ chem Ekel und offener Aggression äußerte, standen Faszination, Begehren, Aneignung des angeblich Rohen, Primitiven, Sinnlichen. Das galt auf der indi­ viduellen Ebene, für den Besuch von Angehörigen der Oberschichten auf dem Rummel oder beim Sechstagerennen, für geschlossene Vorstellungen früher pornographischer Filme oder „Herrenabende“, auf deren Höhepunkt die „Wir­ tin an der Lahn“ zelebriert wurde.29 Es galt auf der Ebene kulturpolemischer und ästhetischer Diskurse für die intellektuelle Faszination durch das Kino; bis heute einflußreich ist Walter Serners Preis der Schaulust, deren triebstarkes Be­ gehren die neue Kunst zu befriedigen habe.30 Die anti-intellektualistische Stim­ mung in den Bildungsschichten, Angst vor „Verkopfung“ der Kultur und Ver­ lust ihrer Wurzeln im „Volkstümlichen“, konnte ebenso zur „vulgären“ Populär28 Es wäre reizvoll und erhellend, die Beziehungen zum zeitgenössischen Tanz zu untersuchen. „Schönheitstanz“ (Olga Desmond) und Serpentintanz (Loi'e Füller), Ausdruckstanz (Mary Wigman) und Reformtanz (Emile Jaques-Dalcroze) bewegten und faszinierten allesamt als Körperkunst Gruppen des bürgerlichen Publikums. Einige Entwicklungen waren verknüpft mit Film und Variete, andere mit Reformbewegungen insbesondere zur Körperkultur. Nackt­ heit changierte in ihrer Bedeutung zwischen Erotik und Natürlichkeit. Wie verhielt sich diese Körperkunst zur kommerziellen Populärkultur? 29 Hugo E. Luedecke: Das deutsche Herrentischlied. In: Das Geschlechtsleben des deutschen Volkes in der Gegenwart. Folkloristische Studien und Erhebungen [Beiwerke zum Studium der Anthropophyteia, Bd. IV]. Leipzig 1911, S. 155-209; Der erotische Vierzeiler höher gebildeter deutscher Städter. Die Wirtin an der Lahn. Eine Studie von Dr. Hellmut und Dr. Alengo. In: ebd., S. 210-237. 30 Walter Serner: Kino und Schaulust (1913). Abgedruckt in: Fritz Güttinger (Hg.): Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm. Frankfurt/M. 1984, S. 189-193.

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kültur führen wie forcierte Antibürgerlichkeit. Hartwig Gebhardt erwähnt, daß sich George Grosz seiner Faszination durch die Sensationspresse rühmte;31 und die führenden Köpfe des „Kunstwart“ empfahlen die Körperkünste von Zir­ kus und Varieté. Der Reiz von Tango und frühem Jazz für vergnügungshungrige Oberschicht­ gruppen lag nicht nur darin, daß hier „der letzte Schrei aus Amerika“ lockte; beiden Musikrichtungen eignete die Aura des Verruchten. Der Tango kam, so hieß es, aus den Bordellen von Buenos Aires, Ragtime und Jazz aus den Rotlicht­ vierteln von New Orleans. Der Reiz von Unterwelt, käuflicher Sexualität und „primitivrassischer“ Potenz sorgte dafür, daß die Importe aus dem „Unten“ zunächst „oben“ Anklang fanden - und dann zu Standards westeuropäischer Populärkultur wurden (aber auch ihre Spuren in der zeitgenössischen E-Mu­ sik hinterließen). Es ließen sich noch viele Beispiele dieser Art anführen. Unter der Chiffre „Vorstadt“ haben jüngst Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner noch ein­ mal den Beitrag des „Populären“ - in all seinen Brechungen und projektiven Aufladungen durch die Wahrnehmung kultureller Eliten - zur Entwicklung der klassischen Moderne um 1900 betont.32 Ihre Beispiele beziehen sich allerdings weniger auf die Lebensweise der nach Respektabilität strebenden Mehrheit der Lohnabhängigen als auf sub- und randkulturelle Milieus der multiethnischen Metropole Wien. Dieser Gesichtspunkt liegt jenseits des Fragenhorizonts, den der vorliegende Band ausschreitet. Er gehört jedoch zu dem Bündel von Befun­ den und Argumenten, die eine Neujustierung des Blicks auf die Populärkultur um 1900 als Phänomen jenseits von Klasse und Stand nahelegen, und insofern weist er in dieselbe Richtung.

Affinitäten über das Jahrhundert der Extreme hinweg? Das Kaiserreich bildet, so wird behauptet, abgesehen vom Nationalsozialismus die am besten historiographisch erschlossene Phase der deutschen Geschichte. Das mag an der zeitlichen Nähe liegen; vielleicht äußert sich darin jedoch auch eine tieferliegende Affinität zwischen zwei Gesellschaften, die sich ähneln in ihrer Mischung aus fortschrittsgewissem Sekuritätsgefühl und Verunsicherung durch Modernitätsfolgen. Die Gemeinsamkeit tritt besonders klar hervor im 31 Seine Autobiographie führt eine reiche Auswahl von „Schund“ als wichtige Anregung des Gymnasiasten an. George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Hamburg 1955, S. 22-26. 32 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner: Die Anarchie der Vorstadt. Das Andere Wien um 1900. Frankfurt/M. 1999.

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Vergleich mit dem „Jahrhundert der Extreme“ (Hobsbawm), das die Perioden um 1900 und um 2000 sozusagen einrahmen. Man könnte sich immerhin fra­ gen, ob das Lebensgefühl nach dem (vorläufigen?) Ende der Systemkonkurrenz vielleicht in der letzten „nicht extremen“ Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ei­ nen besonders geeigneten Spiegel findet. Und die populäre Kultur - nicht zu­ letzt die des gesellschaftstragenden Bürgertums - bietet sich für einen sys­ tematischeren Vergleich an, gerade weil ihre Geschichte bisher so wenig Auf­ merksamkeit gefunden hat. Nun weisen einige Beiträge (Bausinger, Schönert, Maase) darauf hin, daß Ko­ sellecks Konzept der die Moderne formierenden „Sattelzeit“ von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch für den hier behandelten Gegenstand erkenntnisfördernd wäre. In dieser Periode wurden anscheinend Unterhaltung und Vergnügung von Belehrungs- und Repräsentationsverpflichtungen freige­ stellt und in neuer Größenordnung als Marktsegment etabliert; die Produktion wurde - unter Modernisierung bewährter Attraktionsmodelle - innovativ pro­ fessionalisiert. Insofern macht es durchaus Sinn, die Entwicklung zur Populär­ kultur der Gegenwart besser zu verstehen, indem man sie mit den Impulsen aus der Sattelzeit vergleicht und nach durchgehenden Linien langer Dauer fragt.33 Innerhalb dieser Epoche von nunmehr schon 250 Jahren moderner populä­ rer Künste jedoch bildeten die vier bis fünf Dezennien um 1900, vor allem die letzten zwanzig Jahre davon, wohl die bedeutendste Umbruchphase; hier be­ gann in vieler Hinsicht unsere Gegenwart.

33 Schon Rudolf Schendas klassische Studie zur Geschichte der populären Lesestoffe setzte mit gutem Grund 1770 ein (Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970).

Populäre Kultur zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg Hermann Bausinger

Kaspar Maase leitet sein 300-Seiten-Buch über den Aufstieg der Massenkultur mit der Bemerkung ein, es sei verwegen, deren Geschichte „auf derart begrenz­ tem Raum darzustellen“.1 Vor diesem Hintergrund muß kaum eigens betont werden, daß es sich hier, bei diesem Aufsatz, nur um eine Skizze handeln kann, in der weder die chronologische Entwicklung der populären Kultur nachge­ zeichnet noch die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen umfassend beschrieben wird. Ich will einige Tendenzen andeuten, die mir für das Verständnis der Mas­ senkultur wichtig erscheinen, und ich will vor allem einige Probleme aufgrei­ fen, die sich beim Versuch ergeben, die Massenkultur genauer zu verorten und zu definieren. Das erste Problem betrifft die zeitliche Festlegung. Es gibt gute Gründe, die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg als Startperiode für die Massenkultur zu betrachten: „ein neues System kommerzieller Populär­ künste“ - mit dem Film als neuer und ungemein erfolgreicher Gattung - traf auf „ein neues Publikum mit Freizeiterwartungen, die von städtischem Leben und moderner Lohnarbeit geprägt wurden“.12 Die Unterhaltung wurde einge­ bunden in eine nach Profitaspekten geplante und arbeitende Produktionsma­ schinerie; Massenkultur also als Ausdruck und Ergebnis der „Kulturindustrie“. Es ist ein beliebtes, oft auch im schlechten Sinne „akademisches“ Spiel, Termi­ nierungen in Frage zu stellen, und natürlich lassen sich für komplexe Erschei­ nungsformen der Kultur immer verschiedene Quellbereiche und Anfänge fin­ den - ganz abgesehen davon, daß Wörter nie für eine einzige begriffliche Vor­ stellung reserviert werden können. Robert Muchembled sieht beispielsweise in Frankreich um die Mitte des 17. Jahrhunderts alle Voraussetzungen gegeben für die Entstehung einer Massenkultur, leicht distanzierend als „Massen“-Kultur geschrieben. Er versteht darunter „die Trivialisierung der herrschenden Ideo1 2

Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 - 1970. Frankfurt/Main 1997, S. 13. Kaspar Maase: Zur Vorgeschichte der Massenkultur im 19. Jahrhundert. Ms. Tübingen 1995, S. 20.

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logie“, während die Volkskultur in den vorausgehenden Jahrhunderten nach sei­ ner Auffassung einen eigenen, widerspenstigen Charakter hatte, der später weit­ gehend verloren ging.3 Die von Muchembled entwickelte Opposition von ei­ genständiger Volks- und oktroyierter „Massen“-Kultur ist problematisch; je­ denfalls aber führen von seinem Begriff der „Massen“-Kultur nur sehr dünne Verbindungslinien zu dem, was später unter Massenkultur verstanden wird. Wenn im folgenden der zeitliche Fokus etwas erweitert wird, so soll damit der tiefgreifende Einschnitt während der ein Jahrhundert zurückliegenden Epo­ che nicht bestritten werden. Es geht eher darum, die damals sichtbar werdenden Züge in einen größeren Zusammenhang zu stellen, ihnen damit allerdings et­ was vom Anschein des Eruptiv-Revolutionären zu nehmen. Zunächst drängt sich die Frage auf, ob in den Anfängen des 20. Jahrhunderts tatsächlich schon die Charakteristika ausgebildet waren, die für den Begriff Massenkultur prä­ gend sind. Die Mediatisierung, die Herrschaft der Apparatur war noch nicht so weit fortgeschritten; das ist ablesbar an der Praxis des Kinos, wo Pianisten als musikalische Begleiter und gelegentlich auch Kommentatoren den Ablauf der Bilder ergänzten. Die Mechanismen der Serienfertigung und des product styling waren noch sehr unvollkommen, die Werbung hatte einen quasi hand­ werklichen Anstrich. Als Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ die Kulturindustrie und mit ihr die Massenkultur unerbittlich kritisierten, hatten sie die von Amerika ausgehende Entwicklung der 30er Jah­ re vor Augen, in welcher der Fordismus mit seinem Prinzip der Standardisierung auch den weitaus größten Teil der Kulturwarenproduktion erfaßte.4 Diese wei­ tergehende Industrialisierung der Kultur, in der Standardisierung nicht nur die Produkte, sondern zunehmend auch deren Propagierung und Bewertung be­ traf, wurde in Deutschland zunächst eingefärbt und auch umgebogen durch die staatskapitalistische Formierung und Uniformierung der Kultur in der Zeit des Nationalsozialismus und setzte sich erst einige Jahre nach dem Ende des Zwei­ ten Weltkriegs wirklich durch - als Teil und im Gefolge des Wirtschaftswun­ ders. Unter diesem Aspekt wäre es also diskutabel, die Entstehung der „eigent­ lichen“ Massenkultur erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu terminieren, oder aber - und das wäre wohl die richtigere Folgerung - von der Vorstellung abzurücken, daß eine so komplexe kulturelle Konfiguration in einem einzelnen, zeitlich begrenzbaren Schub entsteht beziehungsweise zu sich selbst kommt.

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Robert Muchembled: Kultur des Volks - Kultur der Eliten. Stuttgart 1982, S. 277 ff. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1944. Vgl. Douglas Kellner: Kulturindustrie und Massenkommunikation. Die Kritische Theorie und ihre Folgen. In: Wolfgang Bonß/Axel Honneth (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Frankfurt/Main 1982, S. 482-515, hier S. 489.

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Wichtiger als dieser Ausgriff nach vorn, zur Gegenwart hin, erscheinen mir einige Überlegungen zur allmählichen Herausbildung der Massenkultur im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Diese Überlegungen richten sich nicht frontal gegen den Terminierungsvorschlag von Kaspar Maase, der sehr vorsichtig for­ muliert, es spreche „vieles dafür, die endgültige Etablierung der eigentlich mo­ dernen Massenkultur im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg anzusetzen“,5 und der selbst immer wieder auf Vorstufen und Vorläufer der modernen Massen­ kultur zu sprechen kommt. Wichtig erscheint mir diese historische Ausweitung deshalb, weil das Stichwort Ware in der Diskussion um Kulturindustrie und Massenkultur eine allzu prominente Rolle spielt - Massenkultur wird mit der „Kommodifikation“ der ästhetischen Produktion nicht nur in Verbindung ge­ bracht, sondern häufig kurzgeschlossen. Massenkultur entsteht durch die Ein­ beziehung der Massen in den kulturellen Warenmarkt, der damit einer vor­ behaltloseren Ökonomisierung unterworfen wird - aber der kulturelle Waren­ markt als solcher ist älter und hängt mit der Emanzipation des Bürgertums zusammen. Reinhard Wittmann hat dies auf dem Gebiet des Buchmarkts aus­ führlich dargestellt: „für die Entstehung einer modernen ,Kulturwarenindus­ trie', eines fortschrittlichen kulturellen Kommunikationssystems wurden die Grundlagen gelegt, als sich die feudal-ständische Gesellschaft in eine bürgerli­ che zu wandeln begann: Buchhandel, Schriftstellertum und Lesepublikum ver­ änderten ihr Erscheinungsbild in ständiger Wechselwirkung, jeweils auf die Ent­ wicklung der beiden anderen Faktoren reagierend und sie vorantreibend“.6 Der literarische Markt befreit die Autoren aus der direkten Abhängigkeit von Auf­ traggebern und Mäzenen, schafft aber neue, indirekte Abhängigkeiten, indem er die Orientierung an verkaufsförderlichen inhaltlichen und ästhetischen Nor­ men nahelegt oder gar erzwingt. Das gilt bis hinein in die Gipfelregionen der literarischen Produktion. An einem literarischen Streit, der in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ausgetragen wurde, läßt sich dies verdeutlichen. Gottfried August Bürger trat entschieden für „Popularität“ der Dichtung ein; er suchte sie zu erreichen, in­ dem er sich an Volksliedern und überhaupt an der vermeintlichen Kultur des Volkes orientierte.7 Schiller wandte sich gegen diese Tendenz der Popularisie­ rung. Er sah einen „Kulturunterschied zwischen der Auswahl einer Nation und der Masse derselben“, und er unterstellte Bürger in einer anonymen Rezensi­ on, daß er in erster Linie diese „Masse“ bedienen wolle, während er selbst die 5 6 7

Maase, Vergnügen (wie Anm. 1), S. 20. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991, S. 111. Gottfried August Bürger: Herzensausguß über Volkspoesie. In: Sämtliche Werke. Band 6. Berlin o. I., S. 5 - 10; Ders.: Vorrede zur ersten Ausgabe der Gedichte (1778). In: Sämtliche Werke. Band 2. S. 4.

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Kluft zwischen „Auswahl“ und „Masse“ durch größte Kunst zu überbrücken versuchte.8 Für Schiller ging die Rechnung auf, wenn auch mit starker Unter­ stützung der nationalen Ideologie, die in seinen Werken enthalten war oder doch hineingelegt werden konnte. Es war eine Rechnung: Literarhistoriker vertre­ ten mit überzeugenden Argumenten die Meinung, daß Schiller und ebenso Goethe bestrebt waren, das „Klassische“ zu einem absatzfördernden Marken­ zeichen zu machen.9 Auf dieser materiellen Ebene verfolgten sie also das glei­ che Ziel wie Bürger, wählten jedoch andere Mittel, die sicherlich nicht nur öko­ nomischem Kalkül geschuldet, davon aber nicht unabhängig waren. Das Auf­ zeigen der „nicht wahrnehmbaren Einführung der Warenstruktur in die dem Kunstwerk eigene Form und in den ihm eigenen Inhalt“, von Fredric Jameson als besondere Stärke der Kritik der Kulturindustrie hervorgehoben,10 ist 11 also in Ansätzen bereits früher vorhanden. Dabei existiert ein Kontinuum von - paradox ausgedrückt - elitären Popu­ larisierungskonzepten (Goethe und Schiller) über eine missionarisch verstan­ dene Anpassung ans Populäre (Bürger) bis hin zur trivialen Erfolgsschrift­ stellerei. Die verschiedenen Geschmacksebenen konstituieren zunächst keine einheitlichen und in sich geschlossenen Publika; auf dem Theater beispielswei­ se war Kotzebue stärker gefragt als die Klassiker - auch vom Theaterdirektor Goethe. Die stetige Zunahme der Trivialliteratur ruft allerdings eine entschie­ denere Abwehrhaltung hervor, und im Verlauf des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer klareren Trennung zwischen „legitimer“ und nicht legitimer Literatur, wobei die Trennlinie aber verschieden gezogen wird. In der Jahrhundertmitte greift Eichendorff die Literatur der „Knalleffekte“ an, bei der sich „fortwäh­ rend ein ekelhaft zärtliches Verhältnis und Liebäugeln zwischen Dichterpöbel und Lesepöbel“ erzeuge.11 Diese Äußerung steht nicht allein; es hat den An­ schein, daß sich in Deutschland eine besonders rigide Unterscheidung zwischen einer Literatur ersten und einer Literatur zweiten Ranges entwickelte. Diese Unterscheidung wurde nur selten in Frage gestellt, und die Attacken gegen die Friedrich Schiller: (Anonyme) Rezension zu Bürgers Gedichten. In: Sämtliche Werke. Band 5. München 1959, S. 970 - 985, hier S. 973; vgl. Helga Geyer-Ryan; Der andere Roman. Versuch über die verdrängte Ästhetik des Populären. Wilhelmshaven 1983, S. 91 - 98. 9 Klaus L. Berghahn: Volkstümlichkeit ohne Volk. In: Reinhold Grimm/Jost Hermand (Hg.): Popularität und Trivialität. Frankfurt/Main 1974, S. 51 - 75, hier S. 54; Manfred Naumann: Das Dilemma der „Rezeptionsästhetik“. In: Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze. Leip­ zig 1984, S. 171 - 190, hier S. 172. 10 Fredric Jameson: Verdinglichung und Utopie der Massenkultur. In: Christa Bürger u. a. (Hg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt/Main 1982, S. 108 - 141, hier S. 112. 11 Joseph von Eichendorff: Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Neudruck 1970, S. 97; vgl. Ursula Fritzen-Wolf: Trivialisierung des Erzählens: Claurens „Mimili“ als Epochen­ phänomen. Diss. 1996, S. 12.

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Unterhaltungsliteratur haben zweifellos die späteren Angriffe gegen die Massen­ kultur vorbereitet. Eine frühe Ausnahme bildet Robert E. Prutz' Abhandlung „Ueber die Unterhaltungsliteratur“, deren Geringschätzung er für töricht hält, weil der Bildungsstand den unteren Schichten gar nicht den Zugang zur „hö­ heren“ Literatur ermöglicht. Es wäre aber falsch, aus solchen Äußerungen - aggressiveren wie von Ei­ chendorff und abwägenden wie von Prutz - darauf zu schließen, daß die gegen­ sätzlichen Geschmacksorientierungen soziologisch eindeutig zuzuordnen wa­ ren. Was Herbert J. Gans „cultural straddling“ nannte, die Tatsache, daß jeder­ mann gelegentlich ausgreift auf eine höhere oder tiefere Lage der Kultur als die ihm oder ihr eigentlich angemessene,12 erhielt im 19. Jahrhundert besonderes Gewicht. Kultur spielt für die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft eine wichtige Rolle; und während die bürgerliche Kultur zunächst getragen war vom Bewußtsein der Generalisierbarkeit, der Verbindlichkeit für alle (die standes­ übergreifenden Proklamationen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, bei­ spielsweise in den Anfängen der Vereinsbewegung, lassen das deutlich erken­ nen), wird sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker zum Abgren­ zungsmedium. Weil die Versuche politischer Einflußnahme vielfach scheiter­ ten, wuchs dem kulturellen Kapital besonderes Gewicht zu. Das setzte eine an­ erkannte Währung, setzte einen Kanon der Werke und Werte in den verschie­ denen Kunstbereichen voraus, der gepflegt und demonstrativ zur Schau gestellt wurde. Aber die bürgerliche Kultur wurde von Anfang an von ihren eigenen Trägern unterwandert - soll heißen: Die strengen Maßstäbe wurden nicht im­ mer durchgehalten. Das klingt nicht nur nach doppelter Moral, es war doppel­ te Moral. In die ästhetischen Normen der bürgerlichen Kultur waren morali­ sche Prinzipien tief eingeschrieben; ihr Pathos aber wurde konterkariert durch zahlreiche Ausweichmanöver. Für eine detaillierte Aufschlüsselung dieses Prozesses fehlt mir nicht nur der Platz, sondern auch der Überblick. Aber es sollen wenigstens ein paar Konkre­ tisierungen angeführt werden. Einen ersten Hinweis geben die Lektüreprä­ ferenzen, wie sie Rudolf Schenda und andere eruiert und dargestellt haben. Schenda zeigt, daß „die Lieblingsstoffe des .Volkes'“ - und darunter ist „das gehobene und mittlere Bürgertum zu verstehen“ - lange Zeit die Ritter-, Räu­ ber- und Geisterromane waren13 und daß später sentimentale und Abenteuer­ romane anderer Art an ihre Seite traten, daß dagegen die „gehobene“ Literatur mit ganz wenigen Ausnahmen sehr viel weniger gekauft und gelesen wurde. 12 Herbert J. Gans: Populär Culture and High Culture. An Analysis and an Evaluation of Taste. New York 1974. 13 Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770 - 1910. Frankfurt/Main 1970, S. 468 f.

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Prutz führte das Bedürfnis nach anspruchsloser Unterhaltung darauf zurück, daß ein großer Teil der Bürger an sehr mechanische, wenn auch nicht mehr vorwiegend körperliche Arbeiten gebunden war, so daß nur Neugier und Lan­ geweile die literarischen Neigungen bestimmten.14 Aber auch diejenigen, die von gleichförmigen Arbeiten freigestellt waren, unterschritten immer wieder das im öffentlichen Diskurs präsentierte bürgerliche Anspruchsniveau. Kontakte mit den Angehörigen der Unterschicht spielten dabei eine gewis­ se Rolle. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts schildert Wilhelm Hauff, wie Bediente in die Leihbücherei geschickt werden, um dort triviale Romane für die Herrschaft auszuleihen. Einer der Bedienten wird vom Bibliothekar gefragt, ob er denn die entliehenen Bücher auch mitlese. Die Antwort: „Nachher, wenn die Frau Gräfin einen Band durch hat, lesen wir ihn auch im Bedientenzimmer“.15 Bücher wie Heinrich Claurens „Mimili“ verdankten ihren Erfolg dem Umstand, daß sie zwar oft kritisiert, aber trotzdem und teilweise auch deshalb von Ange­ hörigen aller Schichten nachgefragt und gelesen wurden. Die Kritik spießte meist nicht die unsägliche Sentimentalität der Erzählung auf, sondern ihre „Lüstern­ heit“ - was die Steigerung der Nachfrage erklärt und was das Übergewicht der Moral in der Diskussion und Beurteilung künstlerischer Produkte belegt.16 Was Hauff schildert, weist auf die schichtübergreifende Symbiose im fa­ miliären Umkreis hin, deren Wirkung nicht unterschätzt werden darf. Hauff amüsiert sich noch ganz überwiegend über die Heucheleien adliger Herrschaf­ ten; aber in veränderter Form spielt das Zusammenwirken von Herrschaft und Dienstpersonal auch in den bürgerlichen Familien eine Rolle. Dienstboten in den vornehmeren Bürgerhäusern übernahmen Pflege und Erziehung der Kin­ der nicht in gleichem Umfang wie früher ein Teil der Ammen in Adelsfamilien (dem stand die bürgerliche Idee von Mutterschaft und Mütterlichkeit entgegen); aber auch sie nahmen Einfluß auf die Denkweise der Heranwachsenden. In bürgerlichen Lebenserinnerungen tauchen immer wieder entsprechende Hin­ weise auf. Leopold Schmidt hat eine größere Anzahl zusammengestellt mit dem Blick auf die Verbreitung populärer Lieder. Ein Beispiel sei herausgegriffen: Der spätere Romancier Oskar A. H. Schmitz verbrachte seine Kindheit um 1880 in Homburg vor der Höhe. Er lauschte abends und an Feiertagen den „Mädchen in der Küche“, und er schildert den nachhaltigen Eindruck, den die „tieftrauri14 Robert E. Prutz: Ueber die Unterhaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen. In: Kleine Schriften zur Politik und Literatur. 2. Band. Merseburg 1847, S. 166 - 212, hier S. 170 f. ; vgl. Schenda (wie Anm. 13), S. 459 f. 15 Wilhelm Hauff: Die Bücher und die Leseweh. In: Rudolf Krauß (Hg.): Wilhelm Hauffs sämt­ liche Werke in sechs Teilen. Sechster Teil. Leipzig o. J., S. 63 - 79, hier S. 69. 16 Vgl. Hermann Bausinger: Zu Kontinuität und Geschichtlichkeit trivialer Literatur. In: Eckehard Catholy/Winfried Hellmann (Hg.): Festschrift für Klaus Ziegler. Tübingen 1968, S. 385410, hier S. 400 f.

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gen Lieder“ auf ihn machten: „In diesen Liedern kamen Worte vor, die ich wohl kannte, aber mit denen ich keine bestimmten Vorstellungen verband, wie mit den alltäglichen, und die mich daher sehr erregten, Worte wie: Tod, Krieg, Herz, Blut. Auch hierbei stiegen mir bisweilen Tränen auf, aber die Gefühle, die da hervorbrechen wollten, waren so furchtbar, daß ich es nicht dazu kommen ließ, mir die Ohren zuhielt, davonlief oder in erzwungener Lustigkeit laut lärmte“.17 Solche Belege zeigen, wie sich neben den ausgeprägten Teilkulturen eine über­ greifende triviale Geschmacksorientierung herausbildet, in der ähnliche Domi­ nanten wirksam sind wie in der späteren Massenkultur: starke Emotionen und ausgeprägte Sentimentalität, aber auch aggressive Handlungen, grelle Stimmun­ gen und präsente Körperlichkeit. Die meisten derartigen autobiographischen Berichte beziehen sich auf die Kindheit, in der die Bereitschaft und Offenheit für starke Gefühlstöne beson­ ders groß waren. Aber das heißt nicht, daß sich die Erwachsenen vollständig davon verabschiedet hätten. Für viele, zumal die wohlhabenderen Bürger (die männliche Form ist hier mit Bedacht gewählt) gab es eine Art geheimer oder halb geheimer Kellerkultur. Die Überforderung durch eine strikte Gesellschafts­ und Familienmoral ließ sie Auswege aus der Reglementierung und Kontrolle suchen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gab es „Giftschränke“, in denen nicht nur Alkoholisches, sondern auch Erotica und andere Formen der Triviallitera­ tur versteckt waren, und Bordellbesuche waren nicht nur ein Initialritual aka­ demischer Verbindungen, sondern auch sonst eine beliebte Abwechslung ge­ genüber dem pasteurisierten Eheleben. All das war gleichzeitig verpönt als Ver­ stoß gegen die guten Sitten und geduldet als Ausdruck einer verbreiteten Kom­ plementärnorm. Diese gewissermaßen subkutane Entwicklung war für die Genese der Mas­ senkultur vermutlich wichtiger als die deutlicher zutage tretenden Prozesse ge­ sellschaftlicher Neustrukturierung, die aber selbstverständlich auch beachtet werden müssen. Mit dem Vereinswesen entstand eine neue, im Prinzip offene, aus den alten ständischen Schranken gelöste Form der Geselligkeit. Die Über­ windung sozialer Gegensätze und Trennungen war ein wichtiges Moment der Vereinsideologie. Vor allem in den Festreden und Fest-Berichten wird hervor­ gehoben, daß alle Schichten der Bewohnerschaft einbezogen sind;18 und es wird auch betont, daß sich beispielsweise bei Sängertreffen und Turnfesten sehr rasch die Anrede Du zwischen Menschen ganz verschiedener (regionaler und sozia17 Leopold Schmidt: Ein Lied aus jungen Tagen. In: Ders.: Volksgesang und Volkslied. Proben und Probleme. Berlin 1970, S. 445 - 458, hier S. 447 f. 18 Hermann Bausinger: „Ein Abwerfen der großen Last...“. Gedanken zur städtischen Festkultur. In: Paul Hugger (Hg.): Stadt und Fest. Unterägeri, Stuttgart 1987, S. 251 - 267, hier S. 262 264.

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ler) Herkunft durchsetzte.19 Dies war nicht nur eine belanglose Geste; es ist kein Zufall, daß die demokratisch-egalitären Forderungen von 1848 zu beachtlichen Teilen aus Vereinen kamen. Es darf also wohl auch angenommen werden, daß sich in den Vereinen relativ einheitliche Geschmacksorientierungen entwickel­ ten. Sie waren einerseits geprägt vom Streben nach Höherem, wie es die Statu­ ten vorschrieben; andererseits aber ist den oft sehr präzise geführten Vereins­ protokollen zu entnehmen, daß sich auch andere Bedürfnisse zu Wort melde­ ten. Die regelmäßigen Vereinsfeiern demonstrierten nicht nur die Fortschritte in dem durch die Statuten festgelegten Ressort, sondern hatten fast immer auch Programmpunkte allgemein unterhaltender Art. In dem bereits zitierten Essay Hauffs über „Die Bücher und die Lesewelt“ spricht der Bibliothekar einer Leihbücherei über den sehr verschiedenartigen Publikumsgeschmack; er sei „oft so sonderbar als der Geschmack an Speisen“. Aber, so fährt er fort, „in einem Punkte stimmen sie alle überein: sie wollen gut speisen“, und das heißt: „Sie wollen unterhalten sein“. Er fügt einschränkend hinzu: „natürlich, jeder auf seine Weise“,20 aber in der Folge macht er deutlich, daß die Ansprüche und die An­ spruchsniveaus gar nicht so weit auseinander liegen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird der Begriff Unterhaltung im kultur­ kritischen Diskurs immer häufiger mit negativen Vorzeichen versehen. Dies ist teilweise eine direkte Reaktion auf die Ausbreitung eines frei verfügbaren Unter­ haltungsangebots. In dieses Angebot werden die alten Formen der Gaukler­ künste aufgenommen, die seit Jahrhunderten bei Messen und Jahrmärkten eine Rolle gespielt hatten, aber auch Elemente der Volkskultur, die aus ihrem tradi­ tionellen Rahmen gelöst werden. In einem Wiener Volksstück von 1869 kün­ digt eine der Schauspielerinnen an, daß sie als spanische Tänzerin auftreten will; darauf sagt ihr Partner höhnisch: „Ha ha ha! als englische Reiterin hab’ ich Dich kennen g’lernt - ich hab’ Dich ins Tirolische übersetzt, und jetzt gehst ins Böh­ mische als spanische Tänzerin! So eine Vereinigung von verschiedensten Na­ tionalitäten in ein’ Körper bringt nit bald wer z’samm!"21 Das ist der Ausver­ kauf der Tradition; sie wird in veränderter Form und in beliebiger Umgebung einem großstädtischen Publikum vorgesetzt, von dem ein Beobachter damals schon bemerkt, es sei auf ständiger „Parforce-Jagd nach Abwechslung“.22 Be­ griffe wie Volkslied, Gassenhauer, Theaterlied, Couplet und bald auch schon Schlager purzeln durcheinander; die Konturen verschiedener Gattungen ver­ mischen sich im Zeichen des auf Buntheit ausgerichteten Unterhaltungsbedarfs. 19 Otto Elben: Der volksthümliche deutsche Männergesang, seine Geschichte, seine gesellschaft­ liche und nationale Bedeutung. Tübingen 1855, S. 107. 20 Hauff (wie Anm. 15), S. 66. 21 Friedrich Kaiser: Was ein Weib kann. Volksstück mit Gesang in drei Acten. Wien 1869. 22 Friedrich Schlögl: Vom Wiener Volkstheater. Wien o. J. (1883), S. 99.

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Dies gilt auch dann, wenn man einschränkend feststellt, daß jene durcheinan­ der geratenen Begriffe im Alltagsgebrauch nie trennscharf waren. Die Hybridisierung der Gattungen setzt sich nicht nur in der populären Musik durch (hier ist sie nur besonders leicht erkennbar), sondern in allen kul­ turellen Bereichen - ja man kann sagen, daß das Ordnungsgefüge der Kultur insgesamt und für alle, auch für die bürgerlichen Schichten, durcheinander ge­ riet. Kaspar Maase formuliert in diesem Sinn: „Die überwiegend triviale, nicht selten .gewöhnliche' und auch unappetitliche Vergnügung zwi­ schen Salonmusik und Boulevardtheater, Kneipritual und Herrengesellschaft, Kasino und Variete zählt bis heute ... zu den bestgehüteten bürgerlichen Familiengeheimnissen; auch die historische Forschung hat den Mantel des Vergessens bisher kaum gelüftet.“23

Immerhin hat Angelika Linke anhand von Tagebuchnotizen, Briefen und Er­ innerungen nachgezeichnet, wie das Amüsement in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Leitmotiv bürgerlicher Geselligkeit wird: „Die Rede­ weise vom Sich-amüsiert-Haben wird zum Signalwort bürgerlichen Lebensge­ fühls“.24 Es ist eine modische, schlagwortartig verkürzende und inflationär ge­ brauchte Redeweise; aber sie ist keineswegs nichtssagend. Sie deutet eine neue Orientierung an. Die Fähigkeit, sich zu amüsieren, kann „der kulturellen Ab­ sicherung .nach unten“ gegenüber einem auch in seinen emotionalen Möglich­ keiten als .einfach“ vorgestellten Volk dienen“,25 ist also Mittel und Ausdruck der Distinktion. Gleichzeitig aber dürfte die Legitimierung des Amüsements die Türen zu den einfacheren Formen der Unterhaltung, zum Vergnügen der Massen geöffnet haben. Der junge Theodor Fontane traf auf seiner Englandreise in den 40er Jahren mit dem ebenfalls noch ganz jungen Wirtschaftsjournalisten Julius Faucher zu­ sammen, der lange Zeit in London den „Morning Star“ redigierte. Sie kamen Fontane erzählt das in seiner Autobiographie - auch auf das Thema „Kunst­ dichtung und Volkslied“ zu sprechen. Faucher zitierte ein Soldatenlied („Und wenn der große Friedrich kommt/ Und klopft bloß auf die Hosen/ Reißt aus die ganze Reichsarmee/ Panduren und Franzosen...") und vertrat die Meinung, dieser „Gassenhauer“ werde alle Grenadierlieder berühmter Dichter - er nennt Gleim - „um etliche Menschenalter überdauern“. Und er schließt emphatisch: „Volk, Volk; alles andre ist Unsinn“.26 Fontane erwähnt diese Szene auch in einem 1886 an Moritz Lazarus gerichteten Brief, in dem er diesen um seine 23 Maase, Vorgeschichte (wie Anm. 2), S. 6. 24 Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 288. 25 Ebd., S. 290. 26 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. In: Ders.: Werke, Schriften und Briefe. Abt. III, Band 4: Autobiographisches. München 1973, S. 215 f.

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Unterstützung für eine von ihm selbst als kurios betrachtete Initiative bittet. Ich muß, um diese Initiative zu charakterisieren, etwas weiter ausholen: Im Jahr 1884 hatte Karl Millöcker seine Operette „Gasparone“ zur Aufführung gebracht, in der es zum Text „Er soll dein Herr sein“ eine sehr eingängige Walzermelodie gibt. Bald danach tauchte in Berlin eine Textparodie zu dieser Melodie auf: Mutter, der Mann mit dem Koks ist da! Stille doch, Junge, ick weeß et ja! Haste denn Jeld? Ick hab keen Jeld. Wer hat denn den Mann mit den Koks bestellt?27

Der Text stammte wahrscheinlich von Otto Mylius; jedenfalls verarbeitete ihn dieser zu einem Couplet, das im Mittelpunkt der Gesangsposse „Der Mann mit dem Coaks oder Das weinende Berlin“ stand, die im April 1886 Premiere hat­ te. Da Mylius arm war, hatte Agnes Mylius (die Frau oder die Tochter?) eine Eingabe an die Schillerstiftung gerichtet, die zunächst abgelehnt worden war. Fontane schilderte daraufhin in der nächsten Sitzung „den Ruhm der Verfas­ serschaft“ des Couplets „im Gegensatz zu dem Zehnpfennigelend des humori­ stischen und täglich tausendfältig zitierten Dichters so lebhaft“, daß die Ableh­ nung zurückgenommen wurde - und Fontane fordert nun Lazarus auf, aus der ihm unterstehenden „Extrakasse“ möglichst einen noch höheren Betrag als den genehmigten an Mylius zu zahlen.28 Am Ende seines Briefs nimmt Fontane noch einmal Stellung zu „diesem mo­ dernsten Gassenhauer“. Seine Prognose: „Er wird zwar nicht hundert Jahre leben, auch nicht hundert Tage; aber es ist doch immer was, ei­ ner Millionenstadt auf vier Wochen hin ein bestimmtes Wort oder Lied in den Mund gelegt zu haben.“

Dies war eine Fehleinschätzung - das Lied ist noch immer bekannt. Beide Zeug­ nisse aber, das Gespräch in London wie das Berliner Engagement für Mylius, zeigen jedenfalls Fontanes lockeren Umgang mit den Kategorien der Kunst oder richtiger gesagt: seine kritische Haltung gegenüber der Zementierung von literarischen und allgemein künstlerischen Wertordnungen. Natürlich gab es die Etagen künstlerischer Wertschätzung nach wie vor; aber es gab leicht begehba­ re Verbindungen dazwischen und auch neu eingezogene Zwischenetagen. In einem bestimmten Milieu, vor allem in den stürmisch wachsenden Großstäd­ ten, läßt man sich durch die herkömmlichen kanonischen Festlegungen nicht mehr fesseln, und man hängt Kultur insgesamt etwas tiefer. Die große Oper gibt es zwar nach wie vor; aber nach der Zahl der Aufführungen und in der populä­ ren Wirkung tritt jetzt die Operette in den Vordergrund, und ähnliche Ent27 Vgl. Lukas Richter: Der Berliner Gassenhauer. Leipzig o. J. (1970), S. 354 - 357. 28 Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abt. IV, Band 3: Briefe 1879 - 1889. München 1973, Nr. 435.

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Wicklungen zeichnen sich auf dem Gebiet der Literatur (mit der immer noch zunehmenden Verbreitung von Unterhaltungsromanen, aber auch mit neuen Formaten wie der Familienzeitschrift) und in der bildenden Kunst (mit seriel­ len Produktionen) ab. Wenn die Analogie zu Operette nicht zu artifiziell klän­ ge, könnte man sagen, daß der Trend von Kultur zu Culturetta ging. Die mas­ sive Stoßkraft dieser Entwicklung ist dabei darin begründet, daß kulturelle Pro­ dukte in dieser weniger anspruchsvollen Form und in ihrer massenhaften, durch technische Mittel gesteigerten Verbreitung höchst profitable Wirtschaftszwei­ ge entstehen ließen - die kleine Kultur garantierte nun einmal (mit einer mo­ dernen Analogie verdeutlicht) höhere „Einschaltquoten“ als die gehobene. Dies heißt aber keineswegs, daß die Entwicklung allgemein akzeptiert war. Die positiv gestimmte liberale Haltung, die in Fontanes Bemerkungen zum Aus­ druck kommt, war eher die Ausnahme - auch Fontane hielt sie nicht immer und in allen Bereichen durch. Den meisten Wortführern des kulturpolitischen Dis­ kurses erschienen die neuen Tendenzen fragwürdig. Sie registrierten vor allem die Auflösung der traditionellen kulturellen Einheiten und Schwerpunkte in einem wenig gegliederten, schwer greifbaren Durcheinander. Ihre Haltung war kritisch; rigide Distanzierung und bevormundende Lenkung standen nebenein­ ander und gingen oft ineinander über. Arnold Schönberg prangerte das „Unterhaltungsdelirium“ seiner Zeit an und pochte auf die „Rechte einer Minderheit“. Solche Äußerungen aus den Reihen der ästhetischen Avantgarde - in der Musik möglicherweise dezidierter als in der bildenden Kunst und der Literatur - sind kaum überraschend; wo Künstler eine eigene neue Sprache suchten, mußte die auf einfache, vielfach im Dis­ countverfahren bereitgestellte Muster zurückgreifende Massenproduktion pro­ blematisch erscheinen. Aber die Rechte einer Minderheit wurden auch dort geltend gemacht, wo nicht etwa die freie Kreativität künstlerischer Produktion verteidigt wurde, sondern das Privileg ungestörten Kunstgenusses - ungestört von Angehörigen sozialer Gruppen, die vorher zu den entsprechenden Schau­ plätzen nicht nur keinen Zugang fanden, sondern in aller Regel auch gar kei­ nen Zugang wollten. In einem Teil der Orte künstlerischer Darbietungen wird die Schwelle - über den Eintrittspreis und über die gesellschaftliche „Rahmung“ des Kunstereignisses - höher angesetzt, und außerdem entstehen neue Weihe­ stätten, die der schmalen gesellschaftlichen Führungsschicht eine Handhabe zur Distinktion bieten. Bayreuth bildet dafür ein gutes Beispiel. Übrigens hat Theo­ dor Fontane sich auch hier den Usancen der besseren Gesellschaft verweigert: In ausführlichen Briefen an seine Frau schildert er, wie er sich gerade noch recht­ zeitig durch die dichten Reihen im Festspielhaus drängte - dem Ausgang zu, ins Freie, wo er sich ironische Gedanken macht über diejenigen, die sich der stun­ denlangen Tortur der Aufführung aussetzen.

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Diese ironische Attitüde richtete sich gegen die Kreise, die ihren durch die moderne Entwicklung überholten Führungsanspruch gerade auch auf dem Feld der öffentlichen Kultur zu verteidigen suchten, also beispielsweise gegen Adli­ ge, ebensosehr aber gegen blasierte Aufsteiger und Neureiche, welche „die Gesellschaft“ - gemeint war damit die „bessere Gesellschaft“ - zu ihrem Nach­ teil veränderten. Dieser Zusammenhang wird deutlich in der zur Jahrhundert­ wende hin immer heftiger geführten Diskussion um das „Massenreisen“. Fon­ tane, der ein letztesmal als Kronzeuge aufgerufen werden mag, verwendet die­ sen Ausdruck. Er rechnet das Massenreisen zu den „Eigentümlichkeiten“ sei­ ner Zeit, und er skizziert ein Zeitbild, das in der Tourismusgeschichte immer wieder zitiert wird: „Alle Welt reist. So gewiß in alten Tagen eine Wetterunterhaltung war, so gewiß ist jetzt eine Reise­ unterhaltung. ,Wo waren Sie in diesem Sommer?1, heißt es von Oktober bis Weihnachten. ,Wohin werden Sie sich im Sommer wenden?1, heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen be­ trachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. Um dieses Zwölftels willen wird gelebt, für dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; (...) elf Monate muß man leben, den zwölften will man leben.“2’

Das ist eine durchaus moderne Charakterisierung der Reiselust. Das Merkwür­ dige ist, daß sie 1877 niedergeschrieben wurde und daß bei Fontane wie bei anderen kritischen Beobachtern immer wieder von Reisen „en mässe“ die Rede ist. Teilweise mag dies mit der absolut gesehen sehr geringfügigen, aber eben doch spürbaren Steigerung der Reisetätigkeit Zusammenhängen; maßgeblich waren aber wohl vor allem Statusängste und Abgrenzungstendenzen: Was vor­ her eindeutig exklusiv war, sollte nicht ohne weiteres in den Strudel allgemei­ ner Angebote geraten. Die Diskussion um die Veränderungen im Tourismus bietet ein Indiz dafür, daß das Negativetikett Masse gar nicht immer auf tatsächliche große und un­ förmige Massierungen der Bevölkerung und erst recht nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung gemünzt wurde.29 30 Es kann vielmehr überall dort auftauchen, wo in den gesellschaftlichen Hierarchien Verschiebungen eingetreten waren und wo sich traditionelle Kulturzusammenhänge auflösten - bezeichnenderweise ist die Wendung gegen die Massenkultur in vielen Fällen eine Wendung gegen neue Formen der Jugendkultur. Distanzierung und betonte Ausgrenzung war aber nur eine Form der Aus­ einandersetzung mit den veränderten Verhältnissen. Mindestens von gleichem 29 Theodor Fontane: Unterwegs und wieder daheim; zit. n.: Hans-Werner Prahl/Albrecht Stein­ ecke: Der Millionen-Urlaub. Neuwied 1979, S. 151. 30 Vgl. Hermann Bausinger: Bürgerliches Massenreisen um die Jahrhundertwende. In: Ueli Gyr (Hg.): Soll und Haben. Alltag und Lebensform bürgerlicher Kultur. Zürich 1995, S. 131 - 147, hier S. 139 - 144.

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Gewicht waren Momente der kulturellen Steuerung und Bevormundung. Der Aufschwung des Vereinswesens war eine Antwort auf den Zerfall der vormo­ dernen Sozialstruktur; der im Prinzip freie Zusammenschluß in Gruppen trat an die Stelle gewachsener, unausweichlicher Sozialbindungen. Aber die Verei­ ne waren von Anfang an auch die Stätten, in denen die ungebärdigen Äußerun­ gen des Volkes entschärft und kultiviert werden sollten. „Sittigung“ und „Ver­ edelung“ sind Parolen, die immer wieder in Vereinsstatuten auftauchen. In den Vereinen wurden traditionelle Kulturbestände nicht einfach fortgeführt und weitervermittelt, sondern so verändert, daß sie in einen neuen, bürgerlich be­ stimmten Rahmen gestellt werden konnten.31 Zwei Haupttendenzen der Lenkung treten dabei hervor. Das eine ist eine gewisse Puritanisierung, die sich gegen alle freieren Formen der Sexualität rich­ tet. Gesangvereine verbannten „liederliche“ Lieder - und es scheint davon eine Fülle gegeben zu haben - aus ihrem Repertoire und boten an ihrer Stelle wohl­ anständige Gesänge an, und in den lange Zeit rein männlichen Turnvereinen wurde streng darauf geachtet, daß die Begegnung mit den Ehrenjungfrauen ehrbar blieb. Die gleiche Stoßrichtung der Kritik läßt sich übrigens auch in den Verdikten über besonders beliebte Unterhaltungsliteratur nachweisen: Hervor­ gehoben werden nicht so sehr sprachliche Mängel, plumpe Handlungskon­ struktionen und die Effekte, die von Grausamkeiten wie von Sentimentalitäten ausgehen; im Mittelpunkt der Kritik steht vielmehr die tatsächliche oder ver­ meintliche erotische Offenheit. Ganz allgemein läßt sich beobachten, daß Un­ terhaltung grundsätzlich als leichte Unterhaltung betrachtet wird, und hier schwingt eine ähnliche Konnotation mit wie bei leichten Mädchen. Die zweite Tendenz, in der Ausrichtung der Vereinskultur besonders deut­ lich, aber wiederum auch in anderen Bereichen wirksam, ist die Nationalisierung. In den Vereinen breitete sich nationales Pathos fast ungehemmt aus. Die gro­ ßen Sängertreffen und Turnfeste nahmen allein schon in der überregionalen Zusammenarbeit und Zusammenkunft in gewisser Weise die nationale Einigung vorweg; aber auch das Liedgut, die Reden und Proklamationen waren sehr stark von der Idee der Nation bestimmt. Selbst den Arbeitervereinen bleibt diese Idee nicht fremd. Sie können sicher nicht in einem Atemzug mit den bürgerlichen Vereinen genannt werden; es waren Organe kollektiver Selbstfindung und Selbstvergewisserung der neuen Klasse, die zu den bürgerlichen Assoziationen im Gegensatz standen. Aber über weite Strecken war die Arbeiterbewegung darauf haben Historiker verschiedentlich hingewiesen - nicht nur sozialde­ mokratisch, sondern auch nationaldemokratisch.32 Der durch den letztlich in­ ternationalen Anspruch ausgelöste Impetus zielte zunächst einmal auf die Über31 Elben (wie Anm. 19), S. 67.

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Windung der regionalen Isolierungen, so daß nationales Pathos auch auf die Arbeiterschaft überschwappen konnte. In späteren Phasen blieb sie allerdings weitgehend immun gegen die Vereinnahmungstendenzen, was eine Ursache und dann auch eine Folge des staatlichen Kampfs gegen die Arbeiterbewegung war. Das emotionale Pathos patriotischer Bekenntnisse wurde aber auch dann noch gelegentlich aufgenommen; es gibt eine ganze Reihe von Zeugnissen dafür, daß auch Arbeiter Lieder sangen - zumal in vorgerückter Stunde -, in denen die Nation oder sogar einzelne Fürsten gepriesen wurden. Da drob'n auf der Höh’ steht die boarisch Armee. König Otto soll leben! Prinz Alfons daneben! Generäl’ und Offizier’ tapfere Bayern san mir

- dieses Lied notierte Viktor Mann um 1900 aus dem Mund eines sozialdemo­ kratischen Arbeiters.33 Ungebrochener war die Parallelität zwischen bürgerlicher und organisier­ ter proletarischer Geselligkeit, was die „Sittigung“ anlangt. Der Wille dazu war in den Arbeitervereinen möglicherweise noch entschiedener als in bürgerlichen Kreisen. Daß die Verbürgerlichungsthese nicht ohne große Einschränkungen und Differenzierungen auf die Arbeiterschaft angewandt werden darf, ist be­ kannt. Aber die Bemühungen um „Veredelung“ waren in der Arbeiterbewegung mindestens so verbissen wie in den bürgerlichen Vereinen. Mit ernsthaften, sitt­ lich einwandfreien und oft im künstlerischen Niveau durchaus beachtlichen Darbietungen suchte man den gängigen Vorurteilen von der verkommenen und dubiosem Vergnügen ausgelieferten Arbeiterschaft entgegenzutreten. Unterhal­ tendes war nicht schlechterdings verbannt; die üblichen Jahresfeiern waren bunte Abende, in denen auch das eine oder andere flotte Musikstück zur Aufführung kam. Aber das Unterhaltende war immer nur Auflockerung, komplementär, kaum denkbar ohne seriöse und nicht selten pathetische Programmpunkte. Dies war nicht anders als im Umkreis der bürgerlichen Vereine - hier wie dort ent­ faltete sich jedenfalls keine sehr ausgeprägte Kultur der Unterhaltung. Verallgemeinernd könnte man sagen, daß sich obrigkeitliche Instanzen und einflußreiche Führungsschichten darum bemühten, den angelaufenen Moder­ nisierungsprozeß und den unumgehbaren kulturellen Wandel in geordnete Bah­ nen zu lenken und dafür neue Institutionen und auch Einzäunungen zu schaf­ fen. Die neu entstandene Population der Industriearbeiter wurde in diese Be32 Werner Conze/Dieter Groh: Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Stuttgart 1966, S. 14 f. 33 Schmidt (wie Anm. 17), S. 456.

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mühung einbezogen - allerdings nur in gebremster Form, denn in einflußrei­ chen bürgerlichen Kreisen weigerte man sich vielfach, hier eine eigene durch die sozioökonomische Lage bestimmte Lebensform zu sehen. Vielfach wurden lediglich die Defizite gegenüber den bürgerlichen Formen registriert; dafür lie­ ßen sich von Riehl bis Sombart zahlreiche drastische Zeugnisse aus der zwei­ ten Hälfte des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts beibringen.34 Daß die Fabrikler einschließlich der Arbeiter und Gesellen in nur wenig ausgebauten handwerklichen Kleinbetrieben bald die größte soziale Gruppe ausmachten, änderte nichts daran, daß sie von vielen nicht eigentlich zum Volk gerechnet wurden. Mit dem Stichwort Volk ist ein wichtiger Aspekt der Auseinandersetzung mit der Massenkultur angedeutet. Trotz allen erzieherischen Maßnahmen und Anstrengungen für eine Reinigung und Verbesserung der Kultur breiter Schich­ ten gab sich kaum jemand der Illusion hin, man könne die ganze Bevölkerung zur Bewunderung und Pflege großer und hehrer Kunst führen oder verführen. Was erreichbar schien, war die Stabilisierung und Förderung der traditionellen „Volkskultur“. Volk - das war entweder ein generalisierender, am Nationalstaat orientierter Begriff, oder aber es bezog sich auf die ländliche, agrarische Bevöl­ kerung. Ungeachtet der Tatsache, ja wahrscheinlich sogar provoziert von der Tatsache, daß der Anteil der landwirtschaftlich Tätigen immer weiter zurück­ ging und daß die wachsenden Großstädte das kulturelle Gesamtprofil immer stärker veränderten, wurden in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhun­ derts die Überreste der alten bäuerlichen Kultur zur einzig legitimen Volkskultur erklärt. Damals entstanden in allen Regionen Heimatvereinigungen und volks­ kundliche Vereine, die sich für die Konservierung alter Traditionsbestände teilweise in der Form erhaltender Pflege, teilweise aber auch als Archivierung und Musealisierung - einsetzten. Sie nahmen damit einen bereits in der Roman­ tik ausgebildeten Impuls auf, der aber angesichts der inzwischen eingetretenen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen nun vollends kompensative Funk­ tionen bediente. Das Konstrukt einer ländlich geprägten, für die ganze Nation repräsentativen Volkskultur verschleierte den tatsächlichen Strukturwandel. Das Wort „volkstümlich“, von Friedrich Ludwig Jahn erfunden,35 war ab­ geleitet von Volkstum und meinte ursprünglich nationale Eigentümlichkeit und Geltung. In diesem Sinn war die Ende des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt gerückte Volkskultur volkstümlich - populär war sie nur sehr bedingt. Die von wirklichen und imaginären Traditionen her definierte Volkskultur war ein Kon­ trastprogramm zu den spezifischeren Ausprägungen der Arbeiterkultur (die 34 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. 6. Aufl. Stuttgart 1866, S. 278 - 280, passim; Werner Sombart: Das Proletariat. Frankfurt/M. 1906, S. 32, passim. 35 Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum. Leipzig 1813.

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Arbeiter wurden damit weithin aus dem „Volk“ ausgebürgert), aber vor allem auch zu den diffusen Ausformungen und Angeboten der Massenkultur. Volks­ kultur, legitime Volkskultur: Das waren keine Gassenhauer, keine Heftserien, keine Schlafzimmerbilder, keine Ansichtskarten (es sei denn solche mit pitto­ resken Trachtenmotiven). Diese Vorstellung von einer wirklichen, untadeligen Kultur des Volkes war nicht nur in konservativen Kreisen zuhause. Die heute eher peinlich berührenden Partien in Ernst Blochs Hauptwerk, in denen er tra­ ditionelle Volkstänze gegen moderne Tanzformen und gegen volksfremden Jazz ausspielt,36 zeugen davon, daß die Opposition von wahrer Volkskultur und minderwertiger Massenkultur auch in betont unbürgerlichen Gesellschafts­ entwürfen eine Rolle spielte. Durch die Volkskultur wurden bürgerliche Normen und Werte aber nicht gefährdet - schon deshalb nicht, weil diese in das Konstrukt hineingetragen wa­ ren. Volkskultur fungierte als Angebot an alle Schichten, einen zwar nicht bür­ gerlichen, aber doch bürgerlich sanktionierten Modus von Kultur zu überneh­ men. So fungierte sie als Abpolsterung von Bürgerlichkeit, als eine Art Schutz­ schicht nach unten, als Bollwerk gegen die Massenkultur.37 In der ideologischen Perspektive war die kulturelle Welt Ende des 19. Jahr­ hunderts wieder geordnet: Da war die bürgerliche Kultur mit ihren feierlichen künstlerischen Höhepunkten, mit den öffentlichen Ausprägungen, für die der Verein das wichtigste Organ war, und mit der Vertiefung des Familienlebens; und da war die Volkskultur mit ihren altertümlichen oder auf altertümlich ge­ trimmten ländlichen Traditionen. Aber in der gesellschaftlichen Realität über­ schwemmten und unterwanderten die vielfältigen Produkte der nicht-legitimierten, aber höchst vitalen Unterhaltungskultur die Schutzmauern biederer Bürger­ kultur und ihres nicht weniger biederen ländlichen Gegenentwurfs. Das war die eigentlich populäre Kultur - die „Massenkultur“, die viele in Frage stellten und an der doch fast alle Teil hatten. „Der Aufstieg der populären Künste" - so Kaspar Maase - macht Massen­ kultur „zur Normalkultur, in gewissem Sinn zur herrschenden Kultur“.38 Der Befund „Normalkultur“, der vor allem auch die quantitative Dominanz be­ schreibt, ist unbestritten. Problematischer ist die Etikettierung der Massenkultur als „herrschende Kultur“, vor allem, wenn damit die Vorstellung eines Ranking verbunden wird. Nach wie vor gibt es kulturelle Bereiche, die nach Inhalt, Form und Rahmung über der Massenkultur plaziert werden - die Feuilletons der großen Zeitungen setzen hier deutliche Akzente und konservieren ein Bild der 36 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/Main 1959, S. 458 f. 37 Hermann Bausinger: Bürgerlichkeit und Kultur. In: Jürgen Kocka (Hg.): Bürger und Bürger­ lichkeit im 19. Jahrhundert. Göttingen 1987, S. 121-142, hier S. 135-139. 38 Maase, Vergnügen (wie Anm. 1), S. 25.

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„richtigen“ Kultur. Auch wenn, nicht zuletzt über die elektronischen Medien, immer mehr massenkulturelle Einfärbungen in die höhere Kultur einwandern - sie wird nach wie vor zelebriert in den Events der keineswegs ausgestorbenen „besseren Gesellschaft“, und es erscheint mir zweifelhaft, ob dies gewisserma­ ßen nur als Nachhutgefecht aufzufassen ist. Während hier die in einem weit ge­ faßten Sinn „klassischen“ Werke und Formen die größte Rolle spielen, gibt es eine zweite Frontstellung gegen die Massenkultur von Seiten der avantgardi­ stischen Kunst. Es ist zwar unverkennbar, daß formale und inhaltliche Elemente der Massenkultur in großem Umfang gerade auch in die modernsten künstleri­ schen Produkte eingewandert sind (die Pop-Art deklariert dies ausdrücklich in ihrem Namen); aber diese Elemente werden meist verfremdet und garantieren keineswegs grundsätzlich breite Popularität. Und schließlich ist eine wachsen­ de Tendenz zu beobachten, Kunst nicht nur aus formal-ästhetischen Motiven von den Instanzen der Popularisierung und den Vorbedingungen massenhafter Verbreitung abzurücken, sondern Popularisierung und Massenkultur selbst aus Sorge um die Beeinträchtigung von Eliten zu attackieren. „Das latente Thema in der Kultur des 20. Jahrhunderts ist der Vorrang der Demokratie vor der Be­ gabung“, formulierte Peter Sloterdijk.39 Diese ungeschützte Feststellung macht kenntlich, daß die Beurteilung der Massenkultur aus gesellschaftspolitischen Perspektiven nicht herauszulösen und deshalb keineswegs einheitlich ist.

39 Vgl. Thomas Assheuer: Ich und mein Bärchen. In: Die Zeit 10/1999» S. 33 f.» hier S. 33.

Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium Karin Walter

„Im Ganzen aber zeigt die Technik der illustrirten Postkarte auch nach Zeichnung, Farbengebung und Inhalt sich auf einer Höhe, von welcher aus dieser neuesten Erscheinung auf dem Gebiete des Verkehrswesens ein bildender Einfluß auf den Volksgeschmack zuerkannt werden muß...“.1

Bezeichnend an diesem Kommentar ist das unterschwellige Erstaunen, mit dem um 1897 der plötzliche Aufschwung der illustrierten Postkarte registriert wird. Vergleichbare Aussagen finden sich um diese Zeit nahezu in jedem Zeitschriften­ typus - ob in Publikationen für Fotoliebhaber oder, wie in diesem Fall, in der Deutschen Verkehrs-Zeitung, dem Organ für die Beschäftigten der Post. Erst eine systematische Durchsicht der einzelnen Zeitschriften zeigt die Aktualität des Themas im Jahrgang 1896/1897 und läßt die Frage nach der Ursache für dieses, selbst die Zeitgenossen verblüffende Interesse an der illustrierten Post­ karte aufkommen. Denn neu war weder das Medium Postkarte noch die Tatsa­ che, daß dieses illustriert wurde. Bereits am 1. Juli 1870, also rund 25 Jahre zuvor, hatte die Norddeutsche Postverwaltung das Korrespondenzmittel eingeführt; einige Monate früher - am 1. Oktober 1869 - war dies bereits in Österreich er­ folgt. Diese Tatsache löste später erbitterte, national eingefärbte Diskussionen aus, ob nun der Deutsche Heinrich von Stephan oder der Österreicher Emanuel Hermann die Postkarte erfand. Fest steht, daß das neue Medium einem all­ gemeinen Bedürfnis nachkam, ohne viel Umstand eine kurze Nachricht zu übermitteln. Denn anders als beim Brief, dem bis dahin wichtigsten schriftli­ chen Kommunikationsmittel, waren keine umständlichen Höflichkeitsformen möglich und nötig, die das Schreiben zu einer langwierigen Angelegenheit wer­ den ließen. Als Feldpost-Korrespondenzkarte im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 bewährte sich das neue Medium bereits wenige Tage nach sei­ ner Einführung. Ohne großen Zeitverlust konnten damit selbst an der Front einfache, kurze Mitteilungen zur temporären Beruhigung der Angehörigen ge-1 1

Deutsche Verkehrs-Zeitung, 22. Jg. 1898, S. 373.

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schrieben werden. Meyers Konversationslexikon von 1890 zufolge wurden al­ lein im ersten Kriegsjahr - also in der Zeit von Juli bis Dezember 1870 - zehn Millionen Karten zwischen Armee und Heimat ausgetauscht.2 Dies kam einer gelungenen Werbekampagne gleich, denn durch die Soldaten, die unterschied­ liche soziale Schichten repräsentierten und aus den verschiedensten Regionen stammten, lernten alle Bevölkerungsschichten die Postkarten kennen. Da es sehr naheliegend war, die Empfänger der Karten nicht nur durch Worte, sondern auch durch Bilder zu informieren, ließen die ersten Illustrationen nicht lange auf sich warten. Wer nun wirklich als erster diese Idee auch in die Tat umsetzte und wie dies an versandten und erhalten gebliebenen Exemplaren dokumentiert werden kann, beschäftigte jahrelang die Forschung. Dabei stand weniger die Frage der Motivation des Illustrators im Vordergrund als die Klä­ rung seiner Nationalität, um davon nachträglich das Recht abzuleiten, das Land bzw. der Ort zu sein, indem die Idee „geboren“ wurde. Erst ein Vierteljahrhundert nach ihrer Einführung erlebte die Postkarte zwi­ schen 1895 und 1918 ihr sogenanntes „goldenes Zeitalter“. Die Gründe für diese Verzögerung wurden bislang kaum hinterfragt, denn in der Regel befassen sich Studien zur Postkarte nicht mit der Frage der sozialen Aneignung dieses visu­ ellen Massenmediums, sondern - in kunsthistorischer Tradition - mit den ab­ gebildeten Motiven. Die Fragen nach deren Entwicklung, d. h. den möglichen Vorläufern, den verwandten Drucktechniken, den entwerfenden Künstlern sowie den Herstellern rücken dabei in den Mittelpunkt des Interesses ohne Einbeziehung der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte.

Das Kommunikationsmedium Postkarte Zunächst dienten Postkarten hauptsächlich zur Übermittlung schriftlicher Nachrichten. Ihre zunehmende Beliebtheit und ihre Bewährung in der alltägli­ chen Kommunikation zeigten sich u.a. in der ständig wachsenden Beförderungs­ menge: Sie stieg von 61,9 Millionen im Jahr 1875 auf 330,3 Millionen im Jahr 1890.3 Laut statistischer Erhebung der Kaiserlichen Reichspost waren dies im­ merhin 25% der versandten schriftlichen Nachrichten; also kam auf drei Briefe eine Postkarte. Letztere war in der Regel ein unter staatlicher Aufsicht in der Reichsdruckerei produziertes Postkartenformular mit bereits eingedrucktem Wertzeichen. Auf der Karte selbst befand sich keine Abbildung. Solange Post­ karten in erster Linie als Korrespondenzmittel dienten, kümmerte sich allein 2 3

Meyers Konversationslexikon. 4. Aufl. Bd. 13. 1890, S. 281. Vgl. Herbert Ledere: Ansichten über Ansichtskarten. In: Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 2/1986, S. 5 - 65, hier S. 30.

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die Reichsdruckerei um deren Herstellung - im Jahr 1895 betrug beispielsweise der tägliche Ausstoß 900 000 Postkartenformulare.4 Der Vertrieb erfolgte über die Postschalter. Die Privatindustrie erhielt erstmals 1885 die Erlaubnis zur Herstellung von Postkarten, verbunden mit der Auflage, daß diese in Form und Festigkeit den amtlichen Exemplaren entsprechen mußten.5 Auch nach Freigabe der Herstel­ lung bestand zunächst seitens der Industrie nur bescheidenes Interesse an der Postkartenproduktion. Gradmesser dafür ist die Anzahl an illustrierten Post­ karten, die in Ausstellungen gezeigt wurden. Noch 1896 galt bereits eine Aus­ wahl von 140 verschiedenen Motiven in einer Berliner Postkartenausstellung als so ungewöhnlich, daß sie einer Erwähnung wert war. Unmittelbar darauf entwickelte sich ein unglaublicher Produktionsanstieg, denn bereits zwei Jahre später, 1898, zeigte eine Ausstellung in Leipzig 12 000 unterschiedliche Karten, und 1899 konnten dann 724 Firmen eine Produktpalette von 130 000 verschie­ denen Motiven bei einer Ausstellung in Nizza präsentieren. Die Begeisterung war nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes „grenzenlos“ geworden, deutsche Firmen exportierten die Karten nahezu weltweit, sondern kannte auch keine gesellschaftlichen Schranken mehr: Selbst die englische Königin, beeindruckt vom Angebot in Nizza, beauftragte das Anlegen einer eigenen Sammlung.6 In diesem kurzen Zeitraum zwischen 1895 und 1899 hatten sich Ansichts­ karten zu einem visuellen Massenmedium entwickelt und waren allgemein, nicht nur für Spezialisten, zu einem begehrten Sammelobjekt geworden. Auch als Kommunikationsmittel erfreute sich die Postkarte zunehmender Popularität zwischen 1895 und 1900 verdoppelte sich die von der Post jährlich transpor­ tierte Menge von 443,8 Millionen auf 954,9 Millionen, wobei bei diesen Zahlen der allgemeine Zuwachs an schriftlichen Nachrichten mitzubedenken ist. Das Gros der Ansichtskarten wurde erst gar nicht verschickt, sondern landete un­ beschrieben in den Kisten und Alben eifriger Sammler und Sammlerinnen. Das handliche einheitliche Format bot sich zum Sammeln geradezu an. In Anleh­ nung an Foto- und Sammelbilderalben kamen sogenannte Postkartenalben auf den Markt, in die sowohl Hoch- als auch Querformate eingesteckt werden konnten. Der Albeneinband in Halbleinen, Leinen oder Leder, mit geprägten und oft goldfarbenen Jugendstilornamenten verziert, gab der Sammlung einen würdigen Rahmen in der Art eines „coffee-table-books“, das immer wieder zum Blättern und Betrachten der Schätze einlud. Ein Indiz für die erhöhte Nachfra­ ge liefert die Tatsache, daß sich 1897 bereits 60 Firmen auf deren Produktion 4 5 6

Deutsche Verkehrs-Zeitung, 19. Jg. 1895, S. 159. Ebd., 18. Jg. 1894, S. 497. Ebd., 20. Jg. 1896, S. 528 f.; 22. Jg. 1898, S. 259; 23. Jg. 1899, S. 137, 304.

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spezialisiert hatten.7 Der Katalog des Einbecker Versandhauses Stukenbrock von 1912 zeigt das breite Sortiment: Die 15 angebotenen Alben reichen vom klei­ nen 12-Postkarten-Taschenalbum für 35 Pfennig bis zu Alben für alle Stufen von 100 bis zu 1000 Karten, die bei einem „Ledereinband mit echter Goldprä­ gung“ 7 Mark kosteten. Welchen Stellenwert das Postkartensammeln inzwischen erlangt hatte, zeigt sich auch darin, daß in derselben Katalogausgabe nur fünf „Photographiealben“ und acht „Poesiealben“ angeboten wurden.

Abb. 1: „Ansichts-Karten-Spiel“, Firma Spcar, Nürnberg um 1905. Die Ansichtskarten müssen um die Wette in die Alben gesteckt werden.

Ansichtskartenalben waren aber nicht nur billiger Ersatz für Fotografie- und Sammelbildersammlungen, sondern stellten auch insoweit etwas Neues dar, als die Begeisterung dafür schichtenübergreifend war und das Angebot sich nach den Finanzierungsmöglichkeiten der Konsumenten richtete. Ansichtskarten er­ füllten damit ein wesentliches Kriterium der neu aufkommenden Massenkünste, indem sie nicht mehr nur einer bestimmten Bevölkerungsschicht, sondern al­ len gleichermaßen zugänglich waren. Die Popularität des Sammelns schlug sich sogar in der Spiclkultur nieder: Um 1905 brachte die Nürnberger Firma Spear ein „Ansichts-Karten-Spiel“ auf den Markt. Jeder Mitspieler erhält ein eigenes 7

Archiv für Post und Telegraphie, 25. Jg. 1897, S. 710.

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Miniaturpostkartenalbum, auf dessen Seiten jeweils schon die Stadt und das Mo­ tiv der hier einzusteckenden Ansichtskarte vermerkt sind. Es gilt nun, möglichst schnell aus dem Wust von Miniaturpostkarten die richtigen herauszusuchen und ins eigene Album zu stecken.8

Postkartenmotive

Zunächst unterschieden sich Postkarten weder in den Motiven noch in der Technik von anderen Erzeugnissen der Luxuspapier- und Wandbildproduktion: Neu war sozusagen nur das Format. Sie waren Teil der „bunten Bilder“, der Chromolithografien, die ab etwa 1870 alle Lebensbereiche erfaßten - vom Wand­ schmuck bis zur Warenverpackung - und zu einer allgemeinen Ästhetisierung des Alltags führten. Als Bildquellen dienten die großen Gemäldegalerien der Welt, deren Bestän­ de systematisch durchfotografiert wurden: Den Anfang machte die Galerie des Louvre 1855, das Wiener Museum für Kunst und Gewerbe richtete zu diesem Zweck nach 1865 ein eigenes Atelier ein, und nach langem Zögern gab auch nach 1865 die Dresdener Galerie die Erlaubnis für Reproduktionen.9 Der Vertrieb dieser Fotografien erfolgte u. a. als „Galeriebilder im Visitenkartenformat“. Diese waren als Sammelbilder angelegt, denn sie enthielten auf der Rückseite Informationen zum abgebildeten Gemälde sowie einen werbenden Hinweis auf weitere erschienene Reproduktionen in derselben Serie. Die kunstpädagogische Bedeutung derartiger Bilder blieb nicht unerkannt, bereits 1868/69 findet sich im Berliner Städtischen Jahrbuch der Hinweis: „... Diese Reproduktionen ha­ ben einen bedeutenden Einfluß auf die künstlerische Erziehung des Volkes“.10 1 In den 1890er Jahren traten die sehr viel preiswerteren Kunstpostkarten" an die Stelle der Galeriebilder. Gemäldereproduktionen gab es nun nicht nur als schwarzweiße Fotografien, sondern auch als farbige Chromolithografien. Die Das Spiel ist ein Exponat der Ausstellung „Die Post in Kinderhand. Postspielsachen von ge­ stern bis heute“, die zwischen 1998 und 2000 in den Museen für Kommunikation in Nürnberg, Frankfurt und Hamburg zu sehen war. 9 Vgl. Christa Pieske: Bilder für jedermann. Wandbilddrucke 1848 - 1940. München 1988, S. 18f. 10 Zitiert nach: Christa Pieske: Galcriebilder im Visitenkartenformat. In: Sammler Journal, 8. Jg. 1979, S. 556 - 559, hier S. 558. 11 Zu unterscheiden von diesen in Massenauflagen erschienenen Kunstpostkarten sind die Künst­ lerpostkarten. Bei letzteren handelt es sich um eigenständige Kunstwerke, um kleine Unikate. Anstelle von Skizzenblock oder Staffelei benutzten die Künstler Postkartenformulare. Der offene Versand dieser Karten hatte einen ungewöhnlichen Reiz, denn sie boten beispielsweise unterschwellig die Möglichkeit, politische und gesellschaftskritische Meinungen ungestraft öffentlich kundzutun. Vgl. dazu Bärbel Hedinger (Hg.): Die Künstlerpostkarte. Von den An­ fängen bis zur Gegenwart. München 1992.

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Verlage achteten aus finanziellen Erwägungen auf die Verkäuflichkeit der Kar­ ten und richteten sich bei der Auswahl der reproduzierten Bilder nach dem Publikumsgeschmack. Deshalb galt eine besondere Vorliebe der zwischen 1850 und 1900 entstandenen Genremalerei. Unter den älteren Meistern finden sich die wichtigsten italienischen Renaissancekünstler wie Leonardo da Vinci, Mi­ chelangelo und Raffael ebenso wie bedeutende Maler des Barock, so beispiels­ weise Peter Paul Rubens und Anthonis van Dyck. Zu den häufig reproduzier­ ten Künstlern des 19. Jahrhunderts gehörten die Vertreter der Romantik wie Ludwig Richter und Moritz von Schwind. Besonderer Wertschätzung unter den Zeitgenossen erfreuten sich Maler wie Arnold Böcklin und Anselm Feuerbach.12 Auswahlkriterien für die reproduzierten Werke waren weniger ihre Bedeu­ tung in der kunsthistorischen Entwicklung als die ästhetischen Vorlieben brei­ ter Bevölkerungsschichten. Um den Absatz zu fördern, erschienen die Bilder oftmals in mehrteiligen Serien, wobei auf der Rückseite der Karten meist der volle Umfang der einzelnen Serie mit Namen und Bestellnummern vermerkt wurde. Zur Vermarktung dienten dieselben Werbestrategien, die sich schon bei den Sammelbildern bewährt hatten. Bei der Reproduktion von Gemälden spielte der Urheberrechtsschutz eine wesentliche Rolle. Gemälde waren durch das Reichsgesetz von 1876 bis 30 Jahre nach dem Tod des Künstlers vor unerlaubter Vervielfältigung geschützt. Das Recht auf Reproduktion mußte käuflich erworben werden. Um diese Kosten einzusparen und dennoch exklusive Kunstkarten anbieten zu können, gingen einige Postkartenverlage einen Schritt weiter, indem sie nicht nur vorhandene Bilder reproduzierten, sondern neue Werke speziell für die Vervielfälti­ gung auf Postkarten in Auftrag ga­ ben. Zu den Malern solcher Bilder ge­ hörte u.a. Arthur Thiele (1841 — 1919), dessen Name sich bezeichnen­ derweise häufig auf Kunstpostkarten wiederfindet, der aber für die Kunst­ geschichte unbedeutend blieb. Eine seiner Spezialitäten war die Darstel- Abb. 2: Arthur Thiele: „Salontiroler“. 12 Gerhard Wietek: Kunst und Postkarte. Katalog zur Sonderausstellung des Altonaer Museums. Hamburg 1970. Hier ist eine Liste häufig vertretener Künstler veröffentlicht. Ein Schlaglicht auf die Beliebtheit von Arnold Böcklin wirft beispielsweise ein Rechtsstreit um die Reproduk­ tion eines seiner Werke auf Postkarten. Demnach wurden 1898 „in kurzer Zeit“ 20 000 Karten mit Abbildungen der 1872 von Böcklin geschaffenen Reliefs an der Basler Kunsthalle, verschie­ dene Fratzengesichter darstellend, verkauft. Da der Hersteller, eine Züricher Firma, von Böcklin dafür keine Erlaubnis erhalten hatte, kam es zu einem Gerichtsverfahren. Vgl. Photographische Chronik. Beiblatt zu „Das Atelier des Photographen“, 5. Jg. 1898, S. 163.

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lung von Tieren in menschlichen Rollen. Thiele ging sogar so weit, daß er be­ kannte zeitgenössische Gemälde kopierte und dabei die Personen durch Tiere ersetzte. So nehmen z.B. Hunde die Rolle der „Salontiroler“ ein, eine Anspie­ lung auf das gleichnamige Bild von 1882, ein Werk des populärsten Münchnei Genre- und Historienmalers, Franz von Defregger. Als diese Art von Kunstpost­ karten um die Jahrhundertwende erschienen, bedurften sie keiner weiteren Er­ klärung, da die Gemälde Defreggers, nicht zuletzt gerade durch ihre häufige Re­ produktion als Kunstpostkarten, einen großen Bekanntheitsgrad besaßen. Postkarten wiederholten nicht nur bereits Bekanntes in neuer Form, son­ dern schufen auch neue Bräuche, wie das Übersenden von Glückwünschen. Während Weihnachtsgrüße bereits lange vor Einführung der Postkarte per Brief übermittelt wurden, waren Glückwünsche zu Ostern und Pfingsten eine neue Errungenschaft und eine direkte Folge der Postkartenmanie der Jahrhundert­ wende. Anknüpfend an den enormen Bedarf an Weihnachtskarten, scheint die Postkartenindustrie hier erst einen neuen Absatzmarkt kreiert zu haben. Der religiöse Bezug blieb dabei auf der Strecke, und anstelle nur vereinzelt auftre­ tender christlicher Symbole wie Kreuz und Lamm finden sich auf den Oster­ postkarten Hasen, Küken und Hühner, die angetan mit Rock, Hose, Hut und Schal in menschliche Rollen schlüpfen und alltägliche Szenen parodieren. Diese in vielen Detailstudien untersuchten Teilgebiete der Postkartenfor­ schung13 stellen aber nur einen kleinen Teil der tatsächlichen Postkartenpro­ duktion dar und waren - wie im folgenden noch zu zeigen sein wird - nicht entscheidend für die um die Jahrhundertwende grenzenlose Begeisterung für dieses Medium und die Entwicklung der Ansichtskarte zum visuellen Massen­ medium. Denn ab 1895 finden sich prozentual am häufigsten Ansichten einer Stadt, eines Straßenzuges, eines Gebäudes, einer Landschaft etc. auf Postkar­ ten. Dieser Schwerpunkt läßt sich ab Mitte der 1890er Jahre selbst im Wandel der zeitgenössischen Begriffswahl verfolgen: An die Stelle von „illustrierten Postkarten“ treten nun „Ansichtskarten“. Im selben Zeitraum steigt die Pro­ duktion sprunghaft an: 1892 fertigten nur 18 Firmen „Postkarten mit Städte­ ansichten“, 1904 waren es bereits 280.14 Die Motive sind entweder direkte Foto­ reproduktionen, oder sie basieren zumindest auf einer Fotovorlage. Ab etwa 1895 wurde die Fotografie maßgebend für die Illustrierung der Postkarten, und genau in diesen Zeitpunkt fällt ihr explosionsartiger Anstieg. Nicht die Wieder­ holung der bereits durch Kunstreproduktionen, Bilderbogen, Wandbilder und Luxuspapierfabrikate bekannten Motive löste dieses breite Interesse an Post13 Vgl. Gerhard Kaufmann: Glückwünsche auf Postkarten. Katalog zur Sonderausstellung des Altonaer Museums. Hamburg 1977. 14 Christa Pieske (Hg.): Das ABC des Luxuspapiers. Herstellung, Verarbeitung und Gebrauch 1860-1930. Berlin 1983, S. 86.

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karten aus, sondern erst die durch die Verbindung mit der Fotografie entstan­ dene völlig neue Bilderwelt: erst als Ansichtskarten ein billiges Surrogat für Fotografien wurden oder, anders formuliert, als erstmals durch die Verbreitung auf der Postkarte die Fotografie zu einem billigen, für alle verfügbaren Massen­ produkt wurde.

Herstellungstechniken Zunächst dienten Fotografien nur als Vorlagen für chromolithografische An­ sichtskarten. Die Gestaltung unterschied sich dabei nicht von denen anderer Luxuspapierprodukte, zum Teil wurden sogar dieselben Lithosteine wie zur Illustrierung von Briefpapieren verwandt. Charakteristisch für diese Art von Ansichtskarten ist die Zusammenstellung der Hauptattraktionen eines Ortes in der Regel die Ansicht von Kirche, Rathaus, Gasthaus etc. Deren Wiedergabe folgt mehr oder weniger einem Schema: Aufwendiges, meist florales Rahmen­ werk umschließt die einzelnen Bilder oder geht nahtlos in sie über. Die Ähn­ lichkeit der dargestellten Gebäude mit der Natur beschränkt sich auf grobe Details, willkürlich hinzugefügte Staffagen verändern zusätzlich den Charak­ ter: Modisch gekleidete Passanten und modernste Fahrzeuge, wie Autos, ma­ chen Dörfer zu Weltmetropolen. Nach diesen topographischen Ansichten be­ stand Mitte der 1890er Jahre eine enorme Nachfrage, und selbst die kleinste Ortschaft galt nun als darstellungswürdig. Ab 1897 verdrängten Lichtdrucke zunehmend die Chromolithografien: Die Fotografie setzte sich endgültig gegenüber der Druckgraphik durch. Der Über­ gang war zunächst fließend, denn das Publikum mußte sich erst langsam an die schwarzweißen, naturgetreueren Bilder gewöhnen. Als Verbindung beider Tech­ niken gab es Kombinationen aus buntem druckgrafischem Rahmenwerk mit dem typischen Motivkanon der Luxuspapierprodukte - wie Engel, röhrender Hirsch etc. - und darin einkopierten, kleinformatigen schwarzweißen Ortsan­ sichten in Lichtdruck. Es folgten kolorierte Lichtdruckkarten, die nur mehr ein, höchstens zwei Bilder auf einer Karte vereinten, damit auch Details in der An­ sicht erkennbar blieben. Ab 1905 konnten die Bilder formatfüllend werden, denn erst jetzt entfiel die postalische Vorschrift, daß nur die Bildseite für schriftliche Mitteilungen genutzt werden durfte. Wie sich an Lichtdruckkarten aus der Pro­ duktion des Tübinger Ansichtskartenverlages Metz zeigte, scheute man sich zu­ nächst, die Aufnahmen der „ungeschminkten Wirklichkeit“ ohne weitere Be­ arbeitung formatfüllend auf Postkarten zu reproduzieren, und besserte mittels Retuschen und Montagen nach. Zufällig mitfotografierte Passanten galten noch nicht als bildwürdig und wurden deshalb durch Staffagen ersetzt oder zumin­

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dest optisch in den Hintergrund gedrängt. Um über ein entsprechendes Reper­ toire zu verfügen, hatten die Fotografen des Verlages Metz im Jahr 1905 gezielt Menschen und Fahrzeuge in größeren Städten und Kurorten fotografiert. Erst nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich die Realität der Fotografien endgültig durch, und die Retuschen beschränkten sich nur mehr auf die Optimierung des Vorhandenen, auf die Korrektur unscharf abgebildeter Personen oder das Ein­ kopieren der für Ansichtskarten typischen Wolkcnformationcn.15 Bromsilberpapier und seine Verarbeitung in Rotationsmaschinen stellten eine weitere wichtige Technik für die Ansichtskartenproduktion dar. Die Neue Pho­ tographische Gesellschaft in Berlin (N.P.G.) führte 1894 mittels des Rotations­ druckes eine neuartige Verarbeitung von Bromsilberpapier ein, die es ermöglich­ te, innerhalb kürzester Zeit große Mengen von Negativabzügen herzustellen. An einem Arbeitstag von zehn Stunden konnten eintausend Meter Fotopapier verarbeitet werden - in Anlehnung daran prägten die Zeitgenossen den Termi­ nus „Kilometerphotographie“. Die schnelle Herstellung ermöglichte es erstmals, aktuelle Bilder im großen Stil zu reproduzieren. Tage, manchmal sogar Stun­ den nach außergewöhnlichen Ereignissen, wie Eisenbahnunglücken, Feuers­ brünsten, Naturkatastrophen wie Überflutung, Erdbeben oder auch freudige­ ren Anlässen wie Jubiläen, Denkmalsenthüllungen, Besuchen gekrönter Häupter etc. vermittelten sie, parallel zu den Zeitungsmitteilungen, einen vermeintlich authentischen, visuellen Eindruck. Ein Beispiel für ihre Leistungsfähigkeit liefer­ te die N.P.G. anläßlich des Brauteinzuges der Kronprinzessin Cecilie in Berlin im Jahr 1905: Von teuer gemieteten Fensterplätzen am Pariser Platz aus versuch­ ten die Fotografen optimale Bilder von dem Geschehen einzufangen. Die belichteten Aufnahmen schick­ ten sie sofort per Boten zur N.P.G. Bereits eine Stunde später waren die ersten Bromsilberkarten fertiggestellt und konnten an Straßenhändler aus­ geliefert werden. Der Profit rechtfer­ tigte den Aufwand, denn allein von diesem Ereignis wurden in Berlin Abb. 3: Brauteinzug der Kronprinzessin Cecilie am 3. luni 1905 in Berlin. 650 000 Karten verkauft.16

15 Vgl. Karin Walter: Ansichtskarten made in Tübingen - Der Verlag Gebr. Metz. In: Beiträge zur Volkskunde in Baden-Württemberg. Bd. 7, 1997, S. 9 - 38, hier S. 16-21. Dies.: Postkarte und Fotografie. Studien zur Massenbild-Produktion. Würzburg 1995, S. 169 - 196. 16 Das Blaue Blatt. Internationaler Anzeiger für Philatelie und Ansichtskartenwesen, 11. Jg. 1909, S. 26.

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Die Bildberichterstattung der Tageszeitungen und Zeitschriften hinkte zu die­ sem Zeitpunkt der Aktualität weit hinterher, da die Anfertigung von Holzstichen und Photo-Xylographien, den beiden damals üblichen Illustrationstechniken nach Fotovorlagen, noch sehr zeitaufwendig war. Autotypien ermöglichten zwar direkte Fotoreproduktionen in den Zeitungen, waren aber noch mit so vielen technischen Problemen behaftet, daß sie Ausnahmen blieben. So finden sich selbst in der Leipziger Illustrirten Zeitung, die als erste deutsche Illustrierte diese Technik zur fotografischen Reproduktion nutzte, zwischen 1883 und 1891 ins­ gesamt nur 180 Autotypien, obgleich im selben Zeitraum jährlich ca. 1200 Ab­ bildungen veröffentlicht wurden. In einer deutschen Tageszeitung erschien erst­ mals 1901 eine Fotografie. Bis nach dem Ersten Weltkrieg blieb dies die Aus­ nahme: Das gewöhnliche, rauhe Zeitungspapier eignete sich kaum für Bild­ reproduktionen, und die Präsentation von Fotografien war Extrabeilagen Vor­ behalten. Bis in die 1920er Jahre blieben Tageszeitungen kaum illustriert.17

Funktion von Ansichtskarten Das Massenpublikum besaß bis in die 1890er Jahre kaum Fotografien mit Stadtund Landschaftsansichten oder von aktuellen Ereignissen. Käufliche Aufnah­ men in Visit- und Kabinettformaten boten zwar ein reiches Spektrum an ver­ kleinerten Kunstblättern, Reisebildern und Porträtsammlungen, blieben jedoch aufgrund ihrer relativ hohen Preise noch dem Bürgertum Vorbehalten. Erst die billigen Ansichtskarten ermöglichten nahezu jedem den Zugang zu dieser Bilder­ welt. Durch sie erfuhr die Reproduktion von Fotografien eine neue Dimensi­ on, denn durch die maschinelle Herstellung wurden sie erstmals zu einem bil­ ligen Konsumartikel, zu einer jedermann zugänglichen Ware, und verloren damit endgültig die Aura des Besonderen. Die nun mögliche indirekte Teilnahme an Ereignissen, zu denen man real nie Zugang gehabt hätte, löste eine unglaubli­ che Begeisterung und einen reißenden Absatz aus. Bezeichnend dafür ist die bildliche Dokumentation der Israelreise des deut­ schen Kaiserpaares 1898. Laut zeitgenössischem Kommentar nutzten diverse Firmen dieses Ereignis, um „die Welt mit Postkarten aus Italien und dem Ori­ ent zu überschwemmen“ - allein am Ankunftstag des Kaiserpaars in Venedig wurden dort 60 000 Ansichtspostkarten aufgegeben. Um die große Nachfrage zu bedienen, kamen findige Geschäftsleute auf die Idee, ab Februar 1899 eine Weltreise durch alle Erdteile zu initiieren, an der jeder gegen eine Vorauszah­ 17 Vgl. Bernd Weise: Reproduktionstechnik und Medienwechsel in der Presse. In: Fotografie ge­ druckt. Beiträge einer Tagung im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Rundbrief Fotografie. Sonderheft 4, 1997, S. 5 - 11, hier S. 7.

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lung von 25 Mark indirekt teilnehmen konnte, da er dann von jedem der berei­ sten 100 Länder eine Ansichtskarte zugesandt bekam.18 Das große Interesse an derartigen Bildern erklärt sich ein Autor 1901 im Blauen Blatt, einer der Zei­ tungen für Ansichtskartensammler, folgendermaßen: „Die Ansichtskarte befriedigt namentlich den in jedem Menschen innewohnenden Hang, entfern­ te Länder und Völker kennen zu lernen. Diese Neugierde befriedigt sie aber bei weitem besser als jede andere technisch viel höher stehende Art der Reproduktion, denn sie setzt durch ihre postali­ sche Eigenschaft den Empfänger in unmittelbaren Kontakt mit dem Ort der Absendung...“.19

Als Kompensation für die meist nie gebotene Chance, die außerhalb des eige­ nen Erfahrungshorizonts liegenden Städte, Landschaften und Länder einmal selbst körperlich zu erleben, war der Besitz der Bilder eine Art Ersatzbefriedi­ gung. Jederzeit wiederholbar konnte man so in den eigenen vier Wänden, beim Durchblättern der Postkartenalben, den Wissensdurst stillen, die fremde Welt erkunden und, wenn schon nicht real, so zumindest in Träumen der Wirklich­ keit, der Enge der eigenen Wohn- und Arbeitsverhältnisse, entfliehen. Ansichts­ karten lieferten die Bilder zu den Reiseberichten der Familienblätter und ande­ rer Zeitschriften. Sie kamen in Zeiten des Kolonialismus dem Interesse an der außereuropäischen Welt und ihrer Bevölkerung entgegen — nicht von ungefähr erfreuten sich zur gleichen Zeit die von Carl Hagenbeck in Hamburg und an anderen Orten seit 1874 initiierten Völkerschauen und die Wildwest- und Ori­ entromane von Karl May großer Beliebtheit. Ansichtskarten europäischer und deutscher Städte, die weitaus öfter als exo­ tische Motive Eingang in die Postkartenalben fanden, waren nach zeitgenössi­ scher Ansicht von pädagogischem Wert, denn sie vermittelten geographische Kenntnisse, die so nicht einmal in der Schule gelehrt werden konnten.20 Ansichts­ karten folgten dabei den Wahrnehmungsmustern der Reiselitcratur, die Moti­ ve setzten die dort festgelegte Normierung der Sehenswürdigkeiten einer Stadt mit ihren für wichtig erachteten Gebäuden und Plätzen bildlich um. Die Auf­ nahmen entstanden sozusagen analog zu den Sternchen im Baedeker für beson­ dere Highlights und präsentierten wie diese den eingeschränkten Blick auf al­ les, was dem geltenden Schönheitsideal entsprach. 18 Deutsche Verkehrs-Zeitung, 22. Jg. 1898, S. 542. Es handelt sich dabei um keinen Einzelfall. Bei einem ähnlichen Angebot eines Hamburger Händlers aus dem Jahr 1904 konnte man sich beispielsweise für 9 Mark 26 Karten aus Asien, Afrika, Australien und Amerika zusenden las­ sen. Annonce im Blauen Blatt, 6. Jg. 1904, S. 282. Wie die Finanzierung einer Weltreise klingt das Angebot eines Internationalen Ansichts-Postkarten-Bureaus in Weimar aus dem Jahr 1899: Für die Zusendung von 10 Mark erhielt man 40 „künstlerisch“ ausgeführte Karten mit Ansichten von Orten, die während einer 4-6 Monate dauernden Weltreise besichtigt wurden. Deutsche Photographen Zeitung, 23. Jg. 1899, S. 15. 19 Das Blaue Blatt. Internationaler Anzeiger für Philatelie und Ansichtskartenwesen, 3. Jg. 1901, S. 1. 20 Ebd., 5.Jg. 1903, S. 1.

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Beschriebene und postalisch verschickte Ansichtskarten stammen meist von Mitgliedern des sozialen Umfeldes, von Freunden und Verwandten. Selten ent­ halten sie wichtige Informationen für den Adressaten, sondern sind - analog heutiger Urlaubskarten - Zeichen für ein „Ich-war-hier“, das gegebenenfalls die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit unterstreichen soll, die sich solches lei­ sten kann. Kritiker der Jahrhundertwende spotteten gerne darüber und vermu­ teten gar, daß Ansichtskarten überhaupt erst manche der Ausflüge motivierten. Der Markt paßte sich sehr schnell diesem Bedürfnis an, und nahezu überall wurden Karten zum Kauf angeboten. Auf gerichtlichen Wegen versuchten Pa­ pierhändler, diesem schwunghaften Handel Einhalt zu gebieten. Sahen sie doch ungleiche Wettbewerbsbedingungen darin, daß ihnen der Verkauf am Abend und an den Wochenenden polizeilich verboten war, während Wirte von Restau­ rants und Ausflugslokalen auch dann weiterhin Ansichtskarten vertreiben durf­ ten. Ein Wirt, der keine Ansichtskarten verkaufte, galt 1903 als „nicht auf der Höhe der Zeit stehend“.21 Die Verdienstspanne war nicht unerheblich; laut Angaben von 1904 verkaufte ein Wirt pro Saison 30 - 40 000 Karten und erziel­ te damit einen Reingewinn von 800 bis 1000 Mark, lukrativ genug - wie der letztlich von den Papierhändlern verlorene Rechtsstreit belegt -, um den Neid anderer heraufzubeschwören.22 Folgende statistische Angaben geben einen Eindruck von der Menge, die in den meist nur saisonal geöffneten Postämtern der Ausflugsorte anfiel: Auf dem Brocken wurden 1903 in 168 Tagen 261 000 Postkarten aufgegeben, von der Bastei in der sächsischen Schweiz 250 000, von der Wartburg 175 000, von der Schneekoppe 155 000 Ansichtskarten etc.23 Anhand dieser Zahlen läßt sich ge­ radezu eine „Hitliste“ der touristisch erschlossenen Nahziele der Jahrhun­ dertwende erstellen. Ansichtskarten spiegeln nicht nur die um die Jahrhundertwende zunehmende Mobilität und den durch die Eisenbahn und andere neue Verkehrsmittel ausgelösten Reiseverkehr wider, sondern belegen auch die Attraktivität von Ver­ gnügungseinrichtungen und anderer, zur Zerstreuung dienender Veranstal­ tungen, wie Jahrmarkt, Gewerbeschau, Kabarett, Zirkus etc. Nahezu jegliche Freizeitaktivität ließ sich damit dokumentieren. Wie kein anderes Medium be­ gleiteten Ansichtskarten den Aufbruch der technisch-medialen Kultur der Jahr­ hundertwende und blieben oft die einzigen bildlichen Zeugnisse dieser Entwick­ lung.24 So vermitteln ca. 100 verschiedene Ansichtskarten eines lokalen Groß-

21 22 23 24

Ebd., 5. Jg. 1903, S. 240. Ebd., 4. Jg. 1902, S. 161, und 6. Jg. 1904, S. 140. Ebd., 6. Jg. 1904, S. 114. Bezeichnenderweise stehen als Bildquellen für die Themen: Kirmes, Kneipe, Kino im wesent-

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ereignisses wie der Altonaer Garten­ bauausstellung anläßlich des 250jährigen Stadtjubiläums 1914 noch heute eine Vorstellung von der eigens dafür geschaffenen Parkanlage und der zu diesem Anlaß installierten Gastrono­ mie. Nur wenige Exemplare der im Altonaer Museum in Hamburg be­ findlichen Sammlung wurden ver­ Abb. 4: Altonaer Gartenbauausstellung 1914. schickt - vermutlich wurden die Kar­ ten nicht zur Korrespondenz, sondern zur Erinnerung gekauft, um sie analog der von heutigen Besuchern und Besucherinnen solcher Veranstaltungen gefer­ tigten Fotos und Videoaufzeichnungen aufzubewahren. Dem Verlangen, die eigene Lebenswelt zu dokumentieren, kamen insbeson­ dere Bromsilberkarten entgegen. Da bei dieser Technik jedes fotografische Ne­ gativ direkt, ohne Zwischenschritt über eine Druckplatte, Verwendung findet, waren erstmals Einzelanfertigungen von Fotopostkarten möglich, und jedes Haus, jedes Ereignis und jede Person galten nun als motivwürdig. Ein eigenes Hausiergewerbe widmete sich diesem Zweig: Sogenannte „Häuserphotogra­ phen“ klingelten ohne Voranmeldung an den Türen und baten die Bewohner, aus den Fenstern zu blicken - jeder Fenstergucker war ein potentieller Kunde. Mit diesen individuellen Karten des eigenen Wohnhauses konnten in der Zeit zunehmender Mobilität in der Ferne weilende Angehörige und Bekannte glei­ chermaßen über Wohnverhältnisse wie auch über das Erwachsenwerden der Kinder und das Aussehen neuer Familienmitglieder informiert werden. Waren zuvor höchstens lebensgeschichtliche Umbrüche wie Kommunion, Konfirma­ tion, Hochzeit etc. würdige Anlässe für Porträtaufnahmen gewesen, so ließ man sich nun immer und überall aufnehmen. Porträtpostkarten kosteten nur einen Bruchteil der zuvor üblichen Kabinett- und Visitkarten. Selbst auf Jahrmärk­ ten und in Kaufhäusern gab es „Porträtpostkarten zum gleich mitnehmen“, die bereits wenige Minuten nach der Aufnahme fertiggestellt waren. Den allgemeinen Preisverfall von Porträtaufnahmen hatte erstmals eine Kam­ pagne der weitverbreiteten Zeitschrift Uber Land und Meer im Oktober 1897 offensichtlich gemacht. Um die neuen Möglichkeiten des Rotationsdruckes der N.P.G. publik zu machen, wurde den Abonnenten der Zeitschrift die Verviel­ fältigung von Fotografien zu einem Sonderpreis angeboten: Das erste Dutzend Nachbestellungen kostete nur 2,50 Mark, bei jedem weiteren reduzierte sich der liehen nur Ansichtskarten zur Verfügung. Vgl. Dagmar Kift (Hg.): Kirmes, Kneipe, Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850 - 1914). Paderborn 1992.

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Preis gar auf 1,50 Mark, d.h. etwa die Hälfte des üblichen Marktpreises. Die Abonnenten machten reichlich Gebrauch von dieser Offerte und bestellten bis zum März 1898 mehr als 60 000 Kabinettbilder.25 Dieser nach dem Erscheinungsort der Zeitschrift benannte „Stuttgarter Fall“ war Mitauslöser für mehrere Gerichtsverfahren zur Klärung des Urheberschut­ zes von Fotografien. Insbesondere im Zusammenhang mit der gewinnträchtigen Herstellung und Vertreibung von Ansichtskarten interessierte die Frage, ob der Urheber allein zur Vervielfältigung der Aufnahme berechtigt sei. In Verkennung der Brisanz der Fage entschieden die Richter 1898, daß nach Paragraph 4 des Reichsgesetzes von 1876, betreffend den „Schutz der Photographien gegen unbefugte Nachbildung“, Postkarten „Werke der Industrie“ seien, auf denen Fotografien ohne Urheberschutz reproduziert werden könnten - sie erhielten damit nicht den gleichen Status wie künstlerische Werke. Bis zur Gesetzesän­ derung 1907 hatten die Fotografen somit mehr oder weniger keine Möglichkeit, ihre Aufnahmen vor einer Reproduktion auf Postkarten zu schützen oder zu­ mindest eine Entlohnung dafür zu fordern. Das daraufhin sinkende Engagement der Berufsfotografen, Zeit und Ener­ gie in gute Aufnahmen zu investieren, und der damit einhergehende Qualitäts­ verlust in der Stadt- und Eandschaftsfotografie spiegeln sich in zunehmenden Klagen wider, die sich in zeitgenössischen Publikationen häuften. Versuche seitens fotografiebegeisterter Bildungsbürger, sogenannter „Kunstphotogra­ phen“, durch Fertigung hochwertiger Künstlerkarten positiv auf eine Qualitäts­ verbesserung bei der standardisierten Massenproduktion einzuwirken, blieben ohne durchschlagenden Erfolg. So stellten beispielsweise ihre bei der fünften internationalen Photographie-Ausstellung von 1897 in der Hamburger Kunst­ halle vertriebenen und bereits innerhalb weniger Tage vergriffenen 1200 An­ sichtskarten mit Hamburger Motiven angesichts der übrigen Produktionsmen­ gen nur eine Lappalie dar. Die einzigen Leidtragenden des durch die Ansichtskarten ausgelösten Preis­ verfalls und des dadurch offensichtlich gewordenen Fehlens eines Reproduk­ tionsschutzes blieben letztlich die Berufsfotografen. Bei allen übrigen Zeitge­ nossen löste das Medium einhellige Begeisterung aus, bot es doch - so ein Kom­ mentar aus dem Jahr 1900 - neben dem Öldruck und dem illustrierten Familien­ blatt das „wichtigste Augen-Erziehungsmittel“ - ein geeignetes Instrument zur „unmittelbaren Erziehung zum Kunstschönen“.26 Fotografien mit ihrer ver­ meintlich naturgetreuen Wiedergabe räumte man dabei einen viel höheren Stel­ lenwert ein als den mehrfach als „albern“ bezeichneten Motiven der Chromo25 Allgemeine Photographen Zeitung, 4. Jg. 1897/98, S. 246. 26 Photographisches Centralblatt, 6. Jg. 1900, S. 417.

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lithografien.17 Nur erotische Postkar­ ten wurden einhellig in allen zeitge­ nössischen Zeitschriften kritisiert, wobei die genauen Beschreibungen der beanstandeten Darstellungen nicht frei von voyeuristischen An­ spielungen sind. Dabei waren diese noch weit entfernt von wirklich por­ nographischen Karten, die „unter dem Ladentisch" verkauft und, wenn überhaupt, höchstens im Briefum­ schlag verschickt wurden. Selbst das enganliegende Trikot einer Frau, die neben einem Fahrrad stehend abge­ lichtet wurde, führte zu einer Ge­ richtsverhandlung. Kritisiert wurde, daß es „sich jeder Körperlinie auf das Genaueste anschmiegt... nichts ver­ birgt, sondern die Umrisse der Ge­ stalt und alle Körperteile in ihrer auf Abb. 5: Ansichtskarte aus der Serie „Kaiserbilder“, die Adolph Engel, Berlin, 1906 verlegte. die Sinnlichkeit wirkenden Form vollständig erkennen läßt.“27 28 Angesichts der allgemeinen Begeisterung für Ansichtskarten mag es dann auch nicht verblüffen, daß selbst das Staatsoberhaupt sich intensiv mit diesem Medium auseinandersetzte. Kaiser Wilhelm II. wußte die Vorliebe für illustrierte Postkarten in der Bevölkerung geschickt zu nutzen, um seine Vorhaben publik zu machen und sich und seine Familie medienwirksam zu präsentieren. Er ließ 1898 bereits vor Abschluß der Umbaumaßnahmen an der Saalburg sechs aqua­ rellierte Ansichten des fertigen Gebäudes auf Postkarten verbreiten.29 Auch er­ schienen unzählige Kaiserkarten, mit Einverständnis Wilhelm II. oder sogar auf seine Anregung hin.30 Die Motive entsprachen in vielerlei Hinsicht denen der heutigen Regenbogenpresse: 1907 annoncierte ein Berliner Händler als Neu­ heit 12 Bromsilberkarten mit Porträts des Kaisers, die ihn zwischen dem 1. und 22. Lebensjahr zeigten, und zehn Gelegenheitskarten mit Motiven der Silber27 Deutsche Verkehrs-Zeitung, 22. Jg. 1898, S. 7, und 24. Jg. 1900, S. 337. 28 Ebd., 24. Jg. 1900, S. 416. Das Blaue Blatt. Internationaler Anzeiger für Philatelie und Ansichts­ kartenwesen, 8. Jg. 1906, S. 51 und 251; 11. Jg. 1909, S. 26 29 Deutsche Verkehrs-Zeitung, 22. Jg. 1898, S. 301. 30 Das Blaue Blatt. Internationaler Anzeiger für Philatelie und Ansichtskartenwesen, 8. Jg. 1906, S. 250.

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nen Hochzeit. Der Propagandawert derartiger Karten zählte für das Herrscher­ haus hoch genug, um selbst einige Ausrutscher zu tolerieren, wie z. B. das Por­ trät des Kaisers mit seinem Enkel, noch bevor jener überhaupt geboren wor­ den war.31

Zusammenfassung Die durch Einführung der Chromolithografie ausgelöste bunte Bilderwelt der Luxuspapierprodukte, Bilderbögen und Wandbilder hatte Fantasiebilder der Maler und Zeichner in die Stuben des Massenpublikums gebracht und eine all­ gemeine Ästhetisierung des Alltags ausgelöst. Ein entscheidender neuer Schritt vollzog sich mit der Fotografie, lieferte sie doch erstmals Abbilder der Wirk­ lichkeit. Gerade an Ansichtskarten läßt sich diese Entwicklung wie bei keinem anderen Massenmedium der Zeit nachvollziehen: Sie sind das Medium des Um­ bruchs von der oft schwülstigen Bilderwelt der Chromolithografien hin zur ver­ meintlich authentischen Wiedergabe der Wirklichkeit. Als weitverbreitetes, kommerzielles und billiges Massenmedium waren Ansichtskarten nicht nur Teil dieser Entwicklung, sondern meines Erachtens einer der entscheidenden Ver­ mittler der neuen Richtung. Durch sie gewöhnte sich das Massenpublikum an neue Sehgewohnheiten und lernte die damit verbundenen Informationen zu „lesen (( . Druckgrafische und malerische Illustrationstechniken wurden Anfang des 20. Jahrhunderts in allen Bereichen zunehmend von fotografischen Repro­ duktionstechniken abgelöst. Den Ansichtskarten folgten bald weitere Medien: Illustrationen füllten die Zeitschriften und Zeitungen, das Kino brachte die Bilder in Bewegung, und der vereinfachte Umgang mit den Fotoapparaten er­ laubte nun Knipsern, selbst private Motive aufzunehmen. Postkarten verloren damit viele ihrer Funktionen, und entsprechend schränkte sich das Motivre­ pertoire ein - die Blütezeit endete gemeinsam mit dem Ersten Weltkrieg 1918. Ansichtskarten haben seitdem in erster Linie wieder die Funktion, ein Kor­ respondenzmittel für die Übermittlung kurzer Nachrichten zu sein. __

31 Ebd., 8. Jg. 1906, S. 51 und 251; 11. Jg. 1909, S. 26.

Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter Corinna Müller

Am Anfang seiner Aufführungsgeschichte in Deutschland war der Film als neues, ungemein leistungsstarkes Medium der Anschauung gesellschaftlich akzeptiert. In der ambulanten Ära der Filmgeschichte zwischen 1895 und etwa 1905 (wobei das Datum nicht das radikale Ende dieser Ära bedeutete1) fanden Filmvorführungen zum einen als Nummer im Programm von Varietés statt, anfangs nur der noblen, großen Häuser meist einmal pro Saison. Um die Jahr­ hundertwende wurde der Film in diesen großen Varietés zur ständigen Ab­ schlußnummer der Programme, weil er sich als so zugkräftig erwies, daß das Publikum ausharrte, statt während der Schlußnummer zu gehen. Zum anderen verbreiteten reisende Schausteller den Film mit Gastspielen, die sie anläßlich von Jahrmärkten, Meßfesten oder auch ohne besonderen Anlaß abhielten, wobei sich der Film ebenfalls seit der Jahrhundertwende als der „Publikumsmagnet“ un­ ter den Schaustellungen erwies. Das Filmpublikum war entsprechend gutsitu­ iert (in den großen Varietés) oder ein „Familienpublikum“ („auf dem Jahr­ markt“) aus allen Kreisen der Bevölkerung. Das Medium selber hatte noch den Charakter eines unterhaltsamen Informationsmediums, denn die Filme, die selten länger als eine Minute dauerten, waren in der überwältigenden Mehrzahl Dokumentarfilme und zeigten Sehenswertes aus aller Welt. Der Reiz des frü­ hen Films bestand nicht in einer schlichten Wiedergabe von Bewegungsvor­ gängen, sondern darin, „müheloses Reisen“ zu ermöglichen: „Bekanntlich kann der, der eine Reise macht, etwas erzählen. Das stimmt. Es stimmt aber auch, daß das Reisen Unbequemlichkeiten mit sich bringt. Um nun diese Unbequemlichkeiten nicht mehr ausstehen zu müssen und dennoch etwas erzählen zu können, sehe man sich die lebenden Photo­ graphien im Hansa-Theater an. Aus allen Wektheilen sieht man da Vorgänge, die an Lebendigkeit und Klarheit nichts zu wünschen übrig lassen.1

1

Wanderkinos bestanden noch lange und bereisten vor allem agrarische Räume. Auch im Varie­ te wurden noch mindestens bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Film-Wochenschauen gezeigt. Vgl. hierzu und der folgenden filmhistorischen Darstellung Corinna Müller: Frühe deutsche Kinematographie. Formale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen 1907-1912. Stuttgart 1992.

Der frühe Film, das frühe Kino und seine Gegner und Befürworter

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Von Menschen, Thieren und allem nur Denkbaren belebte Gegenden erblickt man. Jetzt ist man am Strand von Ost-Divensow mit seinen schäumenden, brausenden Wellen, mit dem Ausblick auf das herrliche, ewige Meer; dann auf der Brühl’schen Terrasse in Dresden. Ein russischer National­ tanz wird dann vorgeführt; hierauf sieht man einen Menschen mit bösen Traumgestalten sich her­ umplagen. Die von Sr. Majestät Kaiser Wilhelm II. geführten Truppen ziehen vorüber. Ein ver­ wünschtes Schloß mit einer verwünschten Situation wird gezeigt und noch Vieles, Vieles mehr. — So bietet der Kinematograph Bilder aus allen Welten, aus Asien, Amerika und Europa. Aber er geht weiter, er führt uns in die Lüfte und in die Welt der Illusionen.“ (Hansa-Theater, Hamburg, April 1897; letzter Satz Dezember 1904)

Der frühe Film war in gewisser Weise ein „Bildungsmittel“ - wer also hätte ihn anfeinden sollen? Wie das Zitat verdeutlicht, wurde dem frühen Film jedoch auch der Exkurs ins Inszenierte des Spielfilms, ins Phantastische sogar, noch nicht verübelt. Der französische Illusionist Georges Melies hatte schon vor der Jahr­ hundertwende begonnen, aufwendige Trickfilme und Trick-Spielfilme herzu­ stellen, und wurde damit international so erfolgreich, daß er in einem mit allen Finessen ausgestatteten Atelier Filme im Dauerbetrieb herstellte und sogar eine Niederlassung in den USA einrichtete. Melies“ Filme zeigten z.B. eine surreale Reise zum Mond, tanzende Skelette, wie ein Mann plattgewalzt und mit Luft wieder aufgepumpt wird, wie ein Kopf hydraulisch riesig aufgepustet oder wieder zusammengesaugt wird und zuletzt zerplatzt. Die Zeit nahm solche Absurditäten, die auch nicht immer ohne Grausamkeit waren, noch gelassen hin. Es gibt keinen frühen Text, der sich über sie beschwert hätte.2 Im Gegenteil über­ trug Heinrich Mann, der den Film von seinen Variete-Besuchen her kannte, diese Kenntnis 1905 in aller Selbstverständlichkeit auf die Figur seines verbiesterten Bildungsbürgers Professor Unrat, indem er sie assoziieren ließ, die „Künstle­ rin“ Rosa Fröhlich bewege sich „mit einem kleinen Ruck, wie beim Kinemato­ graphien“.3

Filmhistorische Phasen und Zäsuren im Überblick: „Kino“ und „Langfilm“ Die Stimmung gegenüber dem neuen Medium schlug erst um, nachdem seit 1905 ständige Kinos eingerichtet wurden, zuerst nur einige wenige in den Großstäd­ ten, doch von 1906 an wurde Deutschland vom „Gründungsboom“ der Kinos 2

3

Vgl. dagegen 1912 Konrad Lange: Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Stand­ punkt. In: Robert Gaupp/Konrad Lange: Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel. München 1912 (= Dürer-Bund-Flugschrift zur Ausdruckskultur 100), S. 12-48, hier S. 19, der das im Film dargestellte „Plattwalzen und Wiederbeleben“ einer Figur heftig beanstandete. Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. München 1905; Zitat in der Fischer-Taschenbuchausgabe, Frankfurt/M. 1989, S. 101.

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überzogen, der in immer kleiner werdende Städte vordrang. 1908 hatten sogar Kleinstädte in der Provinz wie Offenburg und Osnabrück mindestens drei Kinos. In Berlin, wo allerdings ein Kino-Ausnahmezustand herrschte, gab es um 1910 ff. zwischen 300 und 400 Betriebe. Die Ursache dieses Booms war, daß sich ein billiger Second-Hand-Markt für Projektoren und Filmkopien bzw. Filmprogramme gebildet hatte, auf dem abgestoßen wurde, was sich in der ambulanten Ara an Material angesammelt hatte. Der Kinoboom hatte insofern einen dualen Charakter: Einerseits trug er der, auch im gehobenen Publikum, gewachsenen Nachfrage nach Filmvorführungen Rechnung, denn gerade un­ ter den ersten Betrieben waren etliche sehr gute und keineswegs billige (1907 gab es in Berlin schon luxuriöse Kinos, die zugleich Lesekabinette hatten und sich an ein traditionelles Kulturpublikum wendeten). Solche gut ausgestatteten und „ordentlichen“ Kinos wurden auch weiterhin eingerichtet. Zugleich aber traten kleine, schludrig eingerichtete Billigbetriebe auf (in denen es Überliefe­ rungen zufolge oft nach saurem Bier und billigen Zigarren, also ganz entsetz­ lich, stank), die mit alten Projektorenmodellen und abgespieltem Filmmaterial arbeiteten. Von diesen Kinos ging ein sehr hoher Billig-Konkurrenzdruck aus. Kinos befehdeten sich mit Dumpingpreisschlachten, grellen Leuchtreklamen über dem und „Aufreißern“ vor dem Eingang, bisweilen sogar mit Diffamie­ rungen in der Zeitung und mit Programmen, die immer länger und immer schneller ausgetauscht wurden, um die zu kleine Kundschaft immer öfter ins Kino zu locken. Außerdem war das Kino das erste Massenmedium, das sich durch Eintrittspreisvergünstigungen gezielt an Kinder wendete. Ermäßigten Eintritt für Kinder kannte die traditionelle Kultur der Theater, Musiktheater und Konzerthäuser so gut wie nicht. Und tatsächlich bestand die Hauptklientel früher Kinos auch aus Kindern und Jugendlichen, wie sogar die Kinofachpresse einräumen mußte, wenn sie einmal nicht das Image vom Kino als „Theater des Volkes“ pflegte.4 Das Kino wandelte darüber hinaus den Charakter des Mediums. Zunächst veränderte es die Programmform und die Form der Filme. Während der ambu­ lanten Ära hatten Filmvorstellungen im Variete meistens etwa zehn Minuten gedauert und eine halbe Stunde als autonome Veranstaltungen, die Filme dau­ erten etwa eine Minute oder, wie etwa einige Melies-Filme, in Ausnahmen bis zu fünf Minuten. Im Kino bürgerte sich aber relativ bald eine größere Pro4

Zum frühen Kinokonsum von Kindern und Jugendlichen vgl. Müller, Kinematographie (wie Anm. 1), S. 192-200, Fachpresse im Zitat S. 193; Gabriele Kilchenstein: Frühe Filmzensur in Deutschland. Eine vergleichende Studie zur Prüfungspraxis in Berlin und München. München 1997, S. 75-78; Kaspar Maase: Kinder als Fremde - Kinder als Feinde. Halbwüchsige, Massen­ kultur und Erwachsene im wilhelminischen Kaiserreich. In: Historische Anthropologie, 4. Jg. 1996, Heft 1,S. 93-126, hierS. 112-122.

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grammdauer von erst einer, dann meist eineinhalb bis manchmal (vor allem bei weniger guten Betrieben) sogar zwei Stunden ein. Eine so lange Dauer konnte man mit den äußerst kurzen Filme der ersten Jahre nicht mehr ausfüllen. Die Filme mußten länger werden, aber der Abwechslungsreichtum der frühen Jah­ re sollte nicht aufgeben werden. Kinoprogramme paßten sich der Gestalt von Varieteprogrammen an, boten viele verschiedene, in Genre und Stimmungslage unterschiedliche Filme in der im Durchschnitt auch beim Variete üblichen Dauer von sieben Minuten. Als Maßgabe dieser Zeit des Kurzfilmkinos galt, daß ein Film nicht länger als 300 Meter sein und mehr als 10-15 Minuten dauern sollte. Die Kinos, die jede Woche und bald sogar mehrmals in der Woche das Pro­ gramm wechselten, brauchten eine kontinuierliche und wachsende Menge von Filmen für ihre Programme. Dies erforderte eine schnelle, rationelle Filmpro­ duktion. Mit dem Kino begann daher die Ära des Spielfilms, weil sich nur die Filmart des Spielfilms in der vom Kino gewünschten Dauer schnell, rationell, planbar und zuverlässig interessant genug hersteilen ließ. Das Medium Film wandelte sich vom unterhaltenden Informationsmedium zum Unterhaltungs­ medium. Dieser Wandel im Charakter des Mediums hatte zur Folge, daß die deutsche Filmproduktion allmählich ins Hintertreffen geriet. Die deutsche Produktion war zwar nicht schwach, wie es oft heißt, denn sie hatte die Monopolstellung beim Tonbild, einer frühen Form des Tonfilms, das vor allem unter besseren Kinos weit verbreitet war, aber in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen wurde als Spielfilme. Als die deutschen Produzenten begannen, Spielfilme her­ zustellen, war der Markt besetzt, so daß sie nur langsam Fuß faßten und erst um 1910 erfolgreicher wurden. In der Kurzfilmzeit weit vorherrschend war die französische Produktion, die mit allen vertretenen Firmen zusammen zweifellos mehr als die Hälfte des deutschen Kinomarktes hielt. Dominant waren die Firmen Gaumont und noch weit mehr Pathé Frères. Pathé produzierte schon um 1908/09 allwöchentlich komplette, abwechslungsreiche Kinoprogramme aus etwa zehn bis fünfzehn Fil­ men und bot daher eine ungemein bequeme Einkaufsmöglichkeit für die Ver­ leiher. Deshalb fehlten Pathé-Filme in kaum einem Kinoprogramm; mit einem Anteil von etwa einem Viertel bis einem Drittel des Marktes hatte Pathé durchaus eine Monopolstellung. Nach außen entstand daher der Eindruck, daß die deut­ schen Kinos sich nicht nur fest in der Hand des Auslands befänden, sondern daß der Name Pathé Frères fast schon ein Synonym für den Spielfilm als sol­ chen sei. So konnte sich in Deutschland auch das Gerücht durchsetzen, Pathé Frères würden so sehr in Gewinnen schwelgen, daß sie bis zu 90 % Dividende

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ausschütteten.5 Das Kino als Massenmedium konnte wie eine perfekte Inkarna­ tion des Kapitalismus anmuten, die geradezu schwindelerregende Ausmaße hat­ te, und zudem als eine Form des internationalen Kapitalismus, der als „Parasit“ in nationale Volkswirtschaften drang. Das Gerücht zur Dividendenausschüttung von Pathé Frères basierte zwar auf einem Irrtum, der durch eine Übertragung deutscher Börsensitten auf die französische Notierung entstanden war; die betreffende Ausschüttung belief sich auf 7,2 %, was für damalige Verhältnisse nicht besonders viel war.6 Auch konn­ te es nur von Unkenntnis getragen zustande kommen, weil sein etwaiges Zu­ treffen wohl erhebliche Liquiditätsprobleme für den Konzern bedeutet hätte. Doch es ist bezeichnend für die Anfälligkeit der meisten deutschen Zeitgenos­ sen für die Vorstellung des kapitalistischen Molochs besonders in Gestalt der Unterhaltungsindustrie. Ende 1910/Anfang 1911 kam es zur entscheidenden film- und medienhis­ torischen Zäsur durch den Übergang zum langen Spielfilm. „Lang“ bedeutete noch nicht „programmfüllend“ - das wäre den an Abwechslung im Kino ge­ wöhnten Zuschauern denn doch zu eintönig gewesen -, sondern Filme von bis zu etwa einstündiger Dauer, so daß im Programm noch Platz für weitere Filme blieb. Mit dem Langfilm kam ein neues Verleihsystem auf, im Funktionsprinzip im wesentlichen das heutige. Durch dieses System wurden eine Reihe von Phä­ nomenen möglich, die das Kino nach außen hin stark aufwerteten: gezielte und „große“ Film-Werbung, festliche Film-Uraufführungen und lokale Premieren, Filmstars, die „kometenhaft“ und „über Nacht“ (sprich: durch einen, systema­ tischen Aufbau zum Star) in aller Munde waren und für Glamour und Exklu­ sivität standen. Dem ersten dieser Stars, Asta Nielsen, gab man den Slogan „Düse der Kino-Kunst“ bei, was auf den internationalen Bühnen-Superstar Eleonora Düse anspielte und den Kinostar an den Starkult des Theaters anschloß. Mit dem Langfilm entstand ein neuer Filmmarkt, der erobert werden konnte, anfangs vor allem mit dänischen Filmen, doch dann auch und nicht zuletzt von der deutschen Produktion. Außerdem kam auf der Basis des Langfilms 1913/14 ein erster Versuch auf, nach dem Vorbild des Theaters und seines Ideals der „abend­ füllenden“ dreistündigen Werkdauer auch Filme auf die gesamte Dauer eines Kinoprogramms auszudehnen. Dafür stehen italienische Monumentalfilme wie Qho vadis und Cabiria, die bis zu zwei- und dreistündige Dauer annahmen, aber auch die vorwiegend auf Deutschland konzentrierte Bewegung des „Au­ 5

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Vgl. zeitgenössisch u.a. Ernst Schultze: Der Kinematograph als Bildungsmittel. Eine kulturpo­ litische Untersuchung. Elalle 1911, S. 20; zuletzt u.a. Jürgen Spiker: Film und Kapital. Der Weg der deutschen Filmwirtschaft zum nationalsozialistischen Einheitskonzern. Berlin 1975, S. 11. Vgl. Müller, Kinematographie (wie Anm. 1), S. 282.

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torenfilms“ (Filme nach Werken oder Originalmanuskripten bekannter und pro­ fessioneller Schriftsteller). Der Versuch zum programmfüllenden Film schei­ terte zu dieser Zeit allerdings noch an der Renitenz des Publikums, das auf Abwechslung bestand, die es vom Kino gewohnt war. Erfolgreich konnte sich der programmfüllende Film erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs durch­ setzen. Von dem historischen Bild, in dem das frühe Kino sich präsentierte, wie auch von dem filmhistorischen Wandel, den das neue Medium bis zu den frühen Zwanziger Jahren durchmachte, wurden die Reaktionen auf den Film unmit­ telbar geprägt. Bei der folgenden Darstellung dieser Reaktionen soll das Schwer­ gewicht auf der ersten dieser Reaktionen, der sogenannten „Kinoreform-Be­ wegung“, liegen. Diese Strömung wurde von der filmhistorischen Forschung eher einseitig als Protest von ewiggestrigen, philiströsen Sittenwächtern gegen ein modernes Medium betrachtet.7 Näher besehen, nimmt sie sich durchaus differenzierter aus, wie sich an den Monographien der zentralen Beiträger der Diskussion zeigt. Von dieser Debatte wird im Anschluß, auf sehr viel schmalerem Raum, eine anders gelagerte Diskussion um „Filmkunst“ abgegrenzt und filmhistorisch verortet. Die vergleichsweise Kürze, mix der die zeitgenössische FilmkunstDebatte hier behandelt wird, ist trotz ihres historisch bedeutend größeren Um­ fangs und Gewichts gerechtfertigt, weil diese Debatte forschungsgeschichtlich auf mehr Interesse gestoßen ist und daher auch besser auf ihre verschiedenen Aspekte hin ausgeleuchtet wurde.8 Sie wird daher, filmhistorisch kommentiert, resümierend dargestellt.

Erste öffentliche Resonanz auf das neue Medium: Kinoreformbewegung Das frühe Kino des „Gründungsbooms“ verstieß gegen zu viele gesellschaftli­ che und kulturelle Normen und bot zu viele Angriffsflächen, um keine Prote­ ste zu provozieren. Die Kritik setzte jedoch erst mit Beginn des Jahres 1907 ein, als der Gründungsboom von Kinos Breite angenommen hatte.

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Vgl. insbesondere Helmut Kommen Früher Film und späte Folgen. Zur Geschichte der Filmund Fernseherziehung. Berlin/West 1979. Vgl. die jeweiligen Vorworte, Kapiteleinleitungen und Verortungen einzelner zeitgenössischer Debatten-Beiträger in den Textsammlungen von Ludwig Greve u.a.: „Hätte ich das Kino!“ Die Schriftsteller und der Stummfilm. Marbach 1976; Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929. Tübingen 1978; Fritz Güttinger (Hg.): Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm. Frankfurt/M. 1984; Ders. (Hg.): Der Stumm-

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Doch obwohl sich etliche Kinos der „Gründerzeit“ recht rüde und von ei­ nem kapitalistischen Geist manchesterscher Prägung beseelt darstellten, blie­ ben Reaktionen von einer breiten Öffentlichkeit auf einen industriellen, kapi­ talistischen, kunst- und kulturzerstörerischen Charakter des Kinos fast gänz­ lich aus.9 Vor allem die traditionelle Publizistik, die Schriftsteller und Kritiker, äußerten sich nur sehr selten übers Kino, und wenn, meistens positiv oder ambivalent.10 Von ihnen wurde das Kino zwar oftmals genutzt, aber noch kaum als ein Gegenstand wahrgenommen, der zu publizistischer Reflexion anhielt. Zuerst drehte sich die „Kino-Debatte“ (Anton Kaes), aufbauend auf der Be­ wegung gegen „Schund und Schmutz“ in der Literatur und personell oft eng mit ihr verbunden, um die Frage des Schutzes der Jugend vor schädlichen Ein­ flüssen des Kinos. Die früheste Initiative zur Auseinandersetzung mit dem Kino ging vom Zentrum der Bewegung gegen „Schundliteratur“ aus, dem Hambur­ ger Lehrerverein „Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens“. Am 9. Januar 1907 fand eine Sitzung des Vereins statt, die sich mit dem Kinokonsum von Kindern und Schülern und seinen möglichen schädlichen Einflüssen befaßte.11 Es wurde eine Kommission aus 13 Volksschul­ lehrern und 3 Volksschullehrerinnen eingesetzt, die sich durch Besuche von Kinos ein Bild über deren Ausstattung, Programme und die Besuchsfrequenz von Kindern und Schülern machen sollte. Die Berichte wurden zusammenge­ faßt und als Manuskript gedruckt.12 Sie bezeugen, daß im Kino eine eigene Kinder- und Jugendkultur entstanden war, daß junge Leute zuweilen sehr kom­ petente und kritische Kinogänger waren, manche über die Programme der Ki­ nos bestens orientiert und zum Teil weite Strecken zurücklegend, um bestimmte Filme zu sehen. Für Kinder und Jugendliche bot das Kino einen Freiraum jen­ seits der Überwachung durch Erwachsene,13 wobei manche Kinder allerdings auch nur von ihren Geschwistern oder Kindermädchen im Kino „entsorgt“ wurden.

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film im Zitat der Zeit. Frankfurt/M. 1984; Jörg Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film. Nach­ denken über ein neues Medium 1909-1914. Leipzig 1992. Eine der wenigen Stimmen dazu war der Kunstwart-A.ni\ie\ von Ferdinand Avenarius: Die Kinematographen-Schaustellungen. In: Der Kunstwart, 20. Jg., Nr. 11,1. Märzheft 1907, S. 670671. Vgl. Textsammlungen Anm. 8. Vgl. Hermann M. Popert: Hamburg und der Schundkampf. Zweites Buch: Filmfragen. Hamburg-Großborstel 1927, S. 132. Nach dieser Quelle auch die weiteren Angaben zu Hamburg, wenn nicht anders angegeben. Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg (Hg.): Bericht der Kommission für „Lebende Photographien“. Erstattet am 17. April 1907. Bearbei­ tet von C.H. Dannmeyer. Hamburg (Mai) 1907. Neu: Hamburg 1980. Vgl. auch Maase, Kin­ der (wie Anm. 4), der weitere Archivunterlagen auswertet. Zur kindlichen und jugendlichen „Gegenkultur“ zu einer der Erwachsenen vgl. Maase, Kin­ der (wie Anm. 4).

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Die Urteile der Hamburger Lehrer und Lehrerinnen übers Kino waren ge­ teilt, obwohl die meisten von ihnen viele der gesehenen Filme als „albern“ oder gar „widerlich“ bezeichneten. Auch der kapitalistische Kommerzgeist unter Kinobesitzern wurde angeprangert. Weiter wurde über „zitternde“ Bilder, eine schlechte und manchmal zu schnelle Projektion, lärmende mechanische Musik und schlechte Luft in Kinosälen geklagt. Ein Lehrer mußte sich nach seiner ersten Kinoexkursion, an deren Ende er vor Beschwerden taumelte, eine drei­ tägige Pause vor den nächsten Kinobesuchen gönnen. Daß andere Teilnehmer des Komitees nicht über solche Beschwerden klagten verdeutlicht, daß es zu­ mindest in den Großstädten erhebliche qualitative Unterschiede unter den Kino­ betrieben gab. (Es war in der ersten Zeit unter den Kinos sogar üblich, mit dem Einbau einer Entlüftungsanlage zu werben; generell ist die Entlüftung von Ki­ nosälen bis heute ein Problem geblieben.) Für die „Kino-Kinder“ selber war das Ambiente auch der mäßigen Kinos wohl deshalb weniger strapaziös, weil sie es im Gegensatz zu den Lehrern als Freiraum erlebten. Bezeichnend ist aber, daß die Hamburger Lehrerkommission ebenso die Vor­ züge des Films und seine Nützlichkeit auch für Kinder hervorhob. Keineswegs alle hielten das Kino pauschal für schädlich, und ein Lehrer berichtete sogar eindringlich, welche positiven Auswirkungen die Anschaulichkeit von Kino­ filmen für das Verstehen von Kausalzusammenhängen bei einem Sonderschul­ kind hatte. Er selber schwärmte von den kolorierten Filmen („Mein Auge hat geradezu geschwelgt in Farbengenüssen“) und zog das Fazit: „Der Kinematograph hat Zukunft. Er ist jetzt bereits das bei weitem vorzüglichste Repro­ duktionsmittel.“14 In der Abschlußresolution der Hamburger Lehrer schlugen sich beide Hal­ tungen nieder. So stellte die Resolution zwar die Überzeugung voraus, daß Kino­ besuch für Kinder unter den gegebenen Umständen „gefährlich“ sei, da „zur Zeit viele kinematographischc Bilder (lebende Photographien) in ihrer Ausführung mangel­ haft sind, das Häßliche, Verbildende und sittlich Gefährdende in ihnen überwiegt und viele Thea­ terräume billigen Anforderungen der Hygiene nicht genügen (...). Dem Besuch von Vorführungen dieser Art hat die Schule erzieherisch entgegenzuwirken.“

Generell hieß es jedoch auch: „Technisch und inhaltlich einwandfreie kinematographische Darstellungen können dagegen ein ausgezeichnetes Mittel der Belehrung und Unterhaltung sein.“15 Diese Zweigleisigkeit in der Einschätzung des neuen Mediums nach dem Aufkommen des Kinos war symptomatisch für diese früheste Kino-Debatte in der Kinoreformbewegung, die sich vor allem mit dem Jugendschutz befaßte, 14 Gesellschaft der Freunde (wie Anm. 12), Bericht 14, S. 34 und 35. 15 Ebd., S. 38-39.

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von Pädagogen ausging und sich im wesentlichen auch unter Pädagogen abspiel­ te. Die von Lehrern ausgehende Kinoreform-Bewegung war nicht generell ge­ gen das neue Medium eingenommen. Sie war auch nicht technikfeindlich, son­ dern begrüßte den Film als neue technische Errungenschaft, oft sogar eupho­ risch. Aber sie wollte den Film und das Kino dahin bewegen, seine aus pädago­ gischer Sicht für junge Leute problematischen Seiten zu domestizieren. Die Hamburger Lehrer gingen dieses Ziel praktisch-pragmatisch an. Man wolle sich mit Kinounternehmern und der Industrie in Verbindung setzen, „um sie zu guten, speziell für Kinder geeigneten Vorführungen in gesonderten Kin­ dervorführungen zu ermuntern.“16 In dieser Richtung einer intensiven Koope­ ration, zwar nicht mit der in Berlin konzentrierten Industrie, aber mit der lo­ kalen Kinoszene, wurde die Kinopolitik der Lehrer in Hamburg umgesetzt. Die Kinoszene teilte sich allerdings in zwei Lager von Befürwortern und Gegnern der Ziele der Lehrer und gesonderter Kindervorstellungen, weil etliche der Kinos auf die Jugend als Besucher der regulären Vorstellungen nicht verzichten woll­ ten.17 Es bildeten sich zwei lokale Kinobesitzervereinigungen, doch die Grup­ pe, die mit den Lehrern kooperierte, war von Anfang an die dominante unter den örtlichen Betrieben und wurde im Lauf der Zeit immer größer. Im Mai 1908 wurde dann eine allgemeine Regelung getroffen und eine erste Hamburger Polizeiverordnung mit Richtlinien erlassen, die u.a. den Kinobesuch aller Schulpflichtigen ohne Begleitung Erwachsener untersagte mit der Ein­ schränkung, daß die Zulassung von Ausnahmen Vorbehalten sei. Diese Ein­ schränkung bildete die juristische Grundlage gesonderter Kinovorstellungen für Kinder und Schulpflichtige. Hamburg schloß Kinder und Jugendliche also nicht generell vom Kinokonsum aus, wie es spätere Erlasse (z.B. 1912 in Köln) prak­ tizierten. In dieser Polizeiverordnung wurde außerdem eine eigene Hamburger Zen­ surverordnung erlassen.18 In Fragen der Zensur schloß sich Hamburg den Vor­ gaben der schon seit 1906 existierenden Berliner Polizeizensur an, was zur Folge hatte, daß Hamburger Verleiher Filme, die in Berlin mit einem generellen Auf­ führungsverbot belegt worden waren, nicht ankauften. Eine eigenständige Zen­ sur der in den regulären Vorstellungen für Erwachsene gezeigten Filme wurde nicht vorgenommen. Die Filme wurden nur einer Kontrolle auf ihre Eignung für Kinder unterzogen, wozu von der Polizeibehörde ein Lehrerausschuß in­ stalliert wurde, der die Filme prüfte und Empfehlungen für Kindervorstellungen aussprach. Im Gegensatz zu anderen Zensurpraxen gab es in Hamburg also 16 Zit. n. Popert, Schundkampf (wie Anm. 11), S. 152. 17 Vgl. Michael Töteberg: Filmstadt Hamburg. Von Hans Albers bis Wim Wenders, vom Abaton zu den Zeise-Kinos: Kino-Geschichte(n) einer Großstadt. Hamburg 21997, S. 25 ff. 18 Zur Hamburger Zensur vgl. Popert, Schundkampf (wie Anm. 11), S. 160 ff.

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gewissermaßen eine „Positiv-Zensur“, die sich auf Empfehlungen für Kinder­ eignung beschränkte. Die normalen Kinovorstellungen wurden von der Lehrerkommission durch Stichproben kontrolliert, ob Schulkinder ohne Begleitung Erwachsener von den Kinobesitzern eingelassen worden waren. Dabei wurden die Lehrer in all den Jahren allerdings relativ häufig fündig, weil die Strafen für „schwarze Schafe“ unter den Kinobesitzern so gering waren, daß etliche speziell der vor sich hin krebsenden kleinen Bezirkskinos Kinder trotz des Besuchsverbots ohne Beglei­ tung durch Erwachsene nicht abwiesen. Dank der Lehrerinitiative gab es in Hamburg also nicht, wie sonst zumeist üblich, eine rein repressive Politik zur Steuerung des jugendlichen Kinokon­ sums, sondern eine spezielle Kinokultur für Kinder und Jugendliche, die ihnen ohne eine Begleitung und Überwachung durch Erwachsene offenstand. Nach­ mittägliche Kindervorstellungen wurden von etlichen Kinos veranstaltet; als vorbildlich galt das Reform-Kino Paul Grünerts in der Wexstraße 5. Inhaltlich folgte die Leitlinie für die Kinder-Kinoprogramme der schon 1907 vom Lehrer­ verein formulierten Prämisse von „Belehrung und Unterhaltung“. Die Ham­ burger Lehrer empfahlen auch unterhaltende Spielfilme, „Dramen“ ebenso wie Komödien.19 Fast gleichzeitig mit den Aktivitäten der Hamburger Lehrer wurde 1907 eine zweite kinopädagogische Initiative ins Leben gerufen. Auch ihr sei Raum ge­ gönnt, weil sie ebenfalls für den zuerst durchaus kooperativen Umgang von Pädagogen mit dem neuen Medium steht, aber zugleich so ungewöhnlich „mo­ dern“ ist, daß sie fast bis heute nicht mehr ihresgleichen hatte. Diese Initiative ging von dem Volksschulrektor und Lehrer Hermann Lemke aus Storkow in der Mark Brandenburg aus, der ebenfalls seit Anfang 1907 kino­ pädagogisch aktiv war und (nach eigenen Angaben im Oktober 1907) die „Kinematographische Reform-Vereinigung“ mit Sitz in Berlin ins Leben rief, die sich als Sammelzentrum der Kinoreformkräfte verstand.20 Ursprünglich zog Lemkes Initiative weite Kreise und konnte sogar die Kinofachzeitschrift Der Kinematograph für ihre Ziele gewinnen.21 Diese seit Januar 1907 in Düsseldorf erschienene, wichtigste der frühen Kinofachzeitschriften bot von ihren ersten Ausgaben an außer Lemke auch anderen Aktiven der Kinoreform wie Hermann 19 Vgl. Herbert Birett (Hg.): Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme. Entscheidungen der Filmzensur 1911-1920 Berlin, Hamburg, München, Stuttgart. München 1980, S. 643-677. 20 Zu Lemke und dem ersten Teil des Folgenden vgl. Thomas Schorr: Die Film- und Kinore­ formbewegung und die deutsche Filmwirtschaft. Eine Analyse des Fachblatts „Der Kinema­ tograph“ (1907-1935) unter pädagogischen und publizistischen Aspekten. Diss. München 1989, S. 56 ff. (Lemkes Tätigkeiten und Ziele nach dem Bruch mit Der Kinematograph ergänzt). 21 Vgl. dazu auch die spätere Schrift des Herausgebers von Der Kinematograph, Emil Perlmann: Der Kulturwert des Kinematographen. Düsseldorf 1909.

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Häfker und Albert Hellwig ein Forum. Seit 1908 trug der Zeitungskopf schließ­ lich die Unterzeile „Publikationsorgan der Kinematographischen Reformbe­ wegung“. Diese Verbindung dauerte allerdings nur ein knappes Dreivierteljahr, weil es zum Bruch zwischen Lemke, der Zeitschrift und anderen Reformern wie vor allem Hermann Häfker kam22 (der Bruch zwischen Häfker und Lemke war durch deren unvereinbare Ansichten unausweichlich; zu Häfker weiter unten). Ähnlich wie es schon der Hamburger Lehrerverein als Ansatz formuliert hat­ te, suchte Lemke von Anfang an den Kontakt zur Filmpraxis, aber er spannte den Bogen weiter, über den reinen Lokalbezug hinaus. Dafür steht seine Initia­ tive, über das überregionale Fachorgan Der Kinematograph zu den Kinobesit­ zern wie auch zur Filmindustrie zu sprechen. Lemke verfolgte den Gedanken, über die Beeinflussung der Filmindustrie die Art der Filmherstellung mitbestim­ men zu können. Anfangs waren seine Ziele dabei noch recht weit gespannt. Es ging ihm zwar primär um Jugendschutz, doch er schloß zunächst auch noch das „ungebildete Volk“, vornehmlich die Arbeiterschaft, in seine Überlegungen zur Steuerung der Kinematographie ein. Im Unterschied zu anderen, sich später äußernden Kinoreformern, die den Ansatz, „das Volk“ mit Kindlichkeit gleich­ zusetzen, ebenfalls verfolgten, entfernte sich Lemke jedoch von dieser Simplifizierung und distanzierte sich später sogar beiläufig von seinen frühen Ideen.23 Lemke konzentrierte sich schließlich speziell auf den Einsatz und die Me­ thoden einer Funktionalisierung des Films in der Schulpraxis. Er gehörte of­ fenbar zu jener neuen Lehrergeneration und Lehrergruppe, die um und nach der Jahrhundertwende den Unterricht liberalisierte. Lemke nahm unter ihnen jedoch eine besondere Position ein, indem er sich zum Vordenker und Vorar­ beiter der Medienmoderne in Schule und Unterricht entwickelte, dem es um nicht weniger als eine Revolution des Schulunterrichts durch den Einsatz des neuen Mediums ging (nicht unähnlich dem gegenwärtigen Bund-Länder-Kom­ missions-Projekt „Systematische Einbeziehung von Medien, Informations- und Kommunikationstechnologie in Lehr- und Lernprozesse“, SEMIK). Seine Er­ fahrungen und Konzepte publizierte er seit 1907 in zahlreichen, verstreuten Auf­ sätzen und 1911 schließlich in drei Monographien,24 in der seit 1911 von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Lichtbildkunst in Schule, Wissenschaft und Volksleben und im Hausorgan des Verbandes für die Verbreitung von Volks­ bildung, Die Volksbildung, in dem er eine unregelmäßig erschienene, feste Ru22 Vgl. Schorr (wie Anm. 20), S. 80 f. 23 Vgl. Rektor H. Lemke: In eigener Sache (= Bücherschau). In: Lichtbildkunst, 3. Jg., Nr. 3, 1.3.1914, S. 94-97. 24 Durch Technik zur Schulreform. - Die kinematographische Unterrichtsstunde. - Die Kinema­ tographie der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Eine kulturgeschichtliche und industri­ elle Studie. - Alle: Leipzig 1911.

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brik „Das Kino“ installierte. Auf Betreiben Lemkes richtete der Verband für die Verbreitung von Volksbildung sogar ein eigenes Wanderkino ein und kaufte kon­ tinuierlich Filmrepertoires vor allem aus Lehrfilmen, die der Öffentlichkeit auch durch Vermietung zugänglich waren.25 Durch Lemkes Einfluß kam es dahin, daß Die Volksbildung, die sich auch als ein Kampforgan gegen Schundliteratur verstand, zumindest 1911 dem Kino gegenüber äußerst milde gestimmt war und so gut wie nichts Kritisches gegen es einzuwenden hatte. Diese Haltung gipfelte in dem aus der Fachpresse des kommerziellen Kinos nachgedruckten Aufsatz „Das Zeitalter des Films“ von Fritz Auer. Dieser Aufsatz gab allen Medien außer dem Film den Abschied, weil das Kino durch seine Billigkeit, sein Angebot und seine Benutzerfreundlichkeit den Bedürfnissen des modernen Menschen im Arbeitstag und Industriezeital­ ter am besten entsprach.26 Lemke entwickelte darüber hinaus ein neues Lehrkonzept, das mit einer rei­ nen Wissensvermittlung brach und auf Anschaulichkeit und Diskussion setz­ te. Er entwarf ein systematisches Konzept, in welchen Fällen und wie der Film - in allen Fächern - im Unterricht eingesetzt werden und umständliche verbale Erklärungen ersetzen könne.27 Von diesem Einsatz einzelner ausgewählter Fil­ me, die vor- und nachbesprochen und intensiv angesehen wurden, den er als „Schulvorstellung“ bezeichnete, unterschied er gesonderte „Schülervorstel­ lungen“. Diese sollten während der Unterrichtszeit entweder in der Schule selbst oder in einem Kino stattfinden, in das die Schüler klassenweise vom Lehrer geführt wurden. Die Vorstellungen sollten vor allem Lehrfilme enthalten, die zu Themenblöcken (etwa „aus der Lebensgeschichte des Weins“, „die sächsi­ sche Schweiz“ etc.) zusammengestellt wurden. Sie sollten vorher im Unterricht vorbereitet und während der Vorführung nur durch kurze Erklärungen beglei­

25 Vgl. (Verfasser stets) Hermann Lemke: Das Wanderkino. In: Volksbildung, Nr. 9,28.4.1911; Das Kino, ebd. sowie Nrn. 12, 9.6.1911, 24, 24.11.1911 (in dieser Rubrik druckte Lemke auch neu erworbene Programme ab). Im Hinblick auf das richtige Programmangebot konnte Lemke unangenehm werden, weil er andere als eigene Aktivitäten nicht hochschätzte. U.a. legte er sich mehrfach mit der Lichtbilderei (und ihr nahestehenden Kinoreformern) an, einer Film-VerleihGründung des Volksvereins für das katholische Deutschland in München-Gladbach (heute Mönchengladbach), die er der konfessionellen Parteilichkeit bezichtigte. Ausfällig reagierte er auch, wenn sich andernorts Bestrebungen zur Gründung von Kino-Reform-Vereinen regten, wie es seiner Ansicht nach die verdeckte Absicht der Schrift von Ernst Schultze: Der Kinematograph als Bildungsmittel (wie Anm. 5) war, um Kapital anzuwerben (vgl. Rezension in Volks­ bildung, Nr. 9,28.4.1911, S. 179; bei Schultze S. 138 f.). Zur Lichtbilderei und dem ihr verbun­ denen Film-Organ Bild und Film (erschienen 1912-1915, geschrieben vom und für das Bildungs­ bürgertum) ausführlich Helmut H. Diederichs: Anfänge deutscher Filmkritik. Stuttgart 1986. 26 In: Volksbildung, Nr. 10, 12.5.1911. Zuvor in: Der Kinematograph, Nr. 224, 12.4.1911; Licht­ bild-Bühne, Nr. 15, 15.4.1911 (es lag nur Jahrgang 1911 der Volksbildung vor). 27 Vgl. Lemke, Kinematographische Unterrichtsstunde (wie Anm. 24).

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tet werden. Bis zu diesem Punkt wurde Lemkes Konzept von allen Kinore­ formern übernommen.28 Doch Lemkes Ansätze gingen noch bedeutend weiter. Er sah nicht nur im Lehrfilm, sondern auch im Spielfilm ein „Bildungsmittel“ und vor allem eine Notwendigkeit. Sein Konzept umfaßte ebenfalls sowohl Belehrung als auch Un­ terhaltung; vor allem Humoresken sollten den Schülern ein Moment der Ent­ spannung bieten und die Schülervorstellungen auflockern. Auch gegen den Besuch regulärer Kinovorstellungen durch die Schüler hatte Lemke nichts ein­ zuwenden; er betrachtete ihn als Weiterführung des Schulunterrichts, da er sich, bezogen auf die Verständlichkeit von Filminhalten, auch um die Vermittlung filmästhetischer Aspekte bei der Darstellung von Inhalten bemühte. Hermann Lemke benutzte den Begriff „Schundfilm“ nur äußerst selten, meistens als Zi­ tat aus Schriften anderer, die er rezensierte. Im Prinzip hatte er nichts gegen das Kino, auch wenn es kommerzielles Kino war. Mit diesen Auffassungen war Her­ mann Lemke in den Schriften anderer Kinoreformer nicht mehr zu zitieren, nicht selten fehlen seine Schriften in Literaturverzeichnissen sogar vollständig. Damit jedoch nicht genug. Lemke hatte sich von Anfang an um eine Koope­ ration mit der Filmindustrie bemüht, denn er mußte ja irgendwie zu Filmen kommen, die für Unterrichtszwecke geeignet waren. Im Vorstand der „kinematographischen Reform-Vereinigung“ befanden sich neben Lemke als erstem Vorsitzenden auch Vertreter von Filmfirmen, Paul Effing, der Inhaber der deut­ schen Firma Internationale Kinematographen- und Lichteffekt GmbH,29 sowie ein Herr Possert von der französischen Firma Eclipse, wahrscheinlich der Ge­ schäftsführer von deren Berliner Deutschlandniederlassung. Mit der Zeit gelang es Lemke, diese Kontakte ausgezeichnet auszubauen. 1911 arbeitete er mit den drei größten europäischen Unternehmen zusammen, Pathe Freres, Gaumont und Eclair. Die Firmen unterstützten seine Aktivität, indem sie Lehrfilme für Schüler produzierten, und mit direktem Sponsoring von Lemkes PR-Aktivi­ tät, seiner Zeitschrift und der Organisation von „Mustervorstellungen“ dieser Lehrfilme für Lehrer und Presse in verschiedenen Städten Deutschlands. Diese Kooperation nützte beiden Seiten: Lemke erhielt Arbeitsmittel und vor allem das Filmmaterial, das seinen Zielen entsprach, und die Firmen zeigten sich von einer für die Öffentlichkeit lobenswerten Seite. Doch eine solche Kooperation 28 Das Konzept an sich wurde als vorbildlich empfunden. Zahlreiche weitere Schriften folgten ihm teils explizit (Vortrag II von Emil Borm in: Samuleit/Borm (wie Anm. 37), S. 48-55, ist eine Wiederholung von Lemkes Thesen) oder durch darauf aufbauende Überlegungen über Film­ einsatz in einzelnen Schulfächern (so etwa Seilmann: Kino und Schule [wie Anm. 30]). 29 Ironischerweise hatte diese Firma den Film produziert, der am frühesten als „Schundfilm“ Wellen schlug, Ein Volksgericht im Mittelalter (1907, Untertitel: Die Zeit des Schreckens und des Grauens), der u.a. eine Hexenverbrennung darstellte und dessen Idee von einem Grazer Theaterkritiker stammte; vgl. u.a. Avenarius (wie Anm. 9), S. 671.

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war nicht mehr das, was andere Kinoreformer gut heißen konnten. Man konn­ te schlecht gegen „Schundfilme“ wettern und zugleich mit denen Zusammen­ arbeiten, die sie - nach einer recht gängigen, etwas unpräzisen Meinung in der Kino-Reformbewegung in Bezug auf Pathé Frères - hauptsächlich produzier­ ten. Angegriffen wurde Lemkes Kooperation jedoch kaum jemals, weil sie in der Praxis in Gestalt guter Lehrfilme genau die Früchte trug, die alle Reformer forderten. Im Gegenteil mußte sogar Adolf Seilmann 1914 die Lehrfilmpro­ duktion speziell von Eclipse und Pathé Frères lobend hervorheben.30 Endgültig schieden sich die Geister Hermann Lemkes und der weiten Mehr­ zahl seiner Zeitgenossen jedoch an den Gedanken und Konzepten, die Lemke mit einem kleinen Häuflein von Mitstreitern seit 1911 in seiner Zeitschrift Licht­ bildkunst publizierte. Das Konzept der Schulreform wurde in diesen Texten radikal. Es gipfelte in dem Satz: „der Lehrer als Sprechlehrer hat abgewirtschaf­ tet“,31 der auch heute noch geeignet ist, Lehrer zu verunsichern, weil er das Konzept des Frontalunterrichts und der Lehrerautorität angreift. Hier wurde Lemkes Programm der Medienintegration in den Unterricht konsequent zu Ende geführt, indem auch eine Medienausbildung der Lehrer gefordert wurde. Denn die besten Unterrichtsmedien nützen nichts, wenn die Lehrer keine Kon­ zepte haben, um sie planvoll einzusetzen, und wenn sie ihrer Technik hilflos ge­ genüberstehen. Lemke forderte daher die Integration des Films als Unterrichts­ fach in die Lehrerseminare mit wöchentlich zwei, insgesamt achtzig Unterrichts­ stunden, die auf drei auf einander aufbauende Kurse verteilt waren. Zuerst soll­ ten alle für den Unterricht geeigneten Filme gesichtet, erklärt und methodisch in ein Unterrichtskonzept integriert werden. Im zweiten Kurs stand die Projek­ tions- und Filmtechnik und der Umgang mit ihr im Vordergrund, im dritten schließlich das Drehen und Gestalten eigener Filme.32 Dieses Programm, das die konzeptionelle Unterrichtsgestaltung in den Vor­ dergrund rückt, die Technik dagegen nur als Mittel zum Zweck sieht, den prak­ tischen Umgang mit ihr aber integriert, könnte in seinen Leitlinien aus der avan­ cierten modernen Mediendidaxe stammen. Man kann sich allerdings unschwer denken, was die Lehrerschaft (auch) seinerzeit davon hielt, selber ausgebildet werden zu sollen und ihren Unterricht - auch - am Medium zu orientieren. Ohne Lemkes Namen explizit zu nennen, schrieb Adolf Seilmann 1914: „Man­ cherlei Schriften kamen auch heraus, die schon von einer Umwandlung des ganzen Schulbetriebs infolge der Benutzung des Kinos träumten, die aber zu­ 30 Vgl. Adolf Sellmann: Kino und Schule. M.Gladbach 1914, S. 49-50. 31 Hermann Lemke: Die Schule der Zukunft. In: Lichtbildkunst, 3. Jg., Nr. 1,1.1.1914, S. 3-4, hier S. 3 (Hervorhebung im Original). 32 Vgl. Hermann Lemke: Praktische Forderungen für die Verwertung der Kinematographie im Unterricht. In: Lichtbildkunst, 3. Jg., Nr. 3, 1.2.1914, S. 55-56.

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meist einseitig und überspannt waren.“33 Man konnte und wollte Hermann Lemke zwar nicht grundsätzlich ans Leder, hielt ihn aber auch für einen Phan­ tasten. Es ist kein Zufall, daß am Beginn der Kinoreformbewegung zwei Beispiele für einen konstruktiven und sogar sehr fortschrittlichen Umgang mit dem neuen Medium stehen. Die „eigentliche“ Bewegung, die mit ihren heftigen Angriffen gegen das Kino, den „Schundfilm“ und das Film-„Drama“ von der späteren Forschung als symptomatisch für die Kinoreform verstanden wurde, setzte erst etwas später ein. Abgesehen von Pastor Walther Conradts Schrift Kirche und Kino, die schon 1910 erschien, begannen die Angriffe in Form von Monogra­ phien erst 1911/12, und auch Der Kunstwart nahm das Kino erst seit 1911/12 eingehender wahr.34 In etlichen der speziell 1912/13 erschienenen Schriften wurde das Kino zum Schreckenskabinett der Verrohung und Kriminalisierung stilisiert, wobei auch nationalistische Töne zur angeblich verderblichen Wirkung von im Kino vermittelter ausländischer Moral und Kultur auf die deutsche „Volksgesundheit“ und „Volkskraft“ angeschlagen wurden.35 Speziell diese Problematik reflektierte vor allem die Kurzfilmzeit, in der die Vorherrschaft der französischen Industrie und von Pathé Frères noch ungebrochen war. Diese intensivere Phase der Auseinandersetzung mit dem Kino wurde zwar teilweise wohl auch von Conradts des öfteren zitierter Schrift inspiriert, die wahre Horrorszenarien entwarf über die Zahl der im Kino täglich zu sehenden Morde, Selbstmorde, Verbrechen und Unsittlichkeiten (er hatte in Berliner Kinos eine Zählung der einzelnen Vergehen in Filmen durchgeführt). Vor al­ lem von dieser Schrift wurde die Diskussion einer vom Kino ausgehenden ver­ rohenden und kriminalisierenden Wirkung angeregt.36 Der weitaus entscheiden­ dere Impuls für das stark gestiegene Interesse am Kino ging jedoch davon aus, daß der lange Spielfilm aufgekommen war, obwohl dies in den Texten kaum jemals deutlich wird. Zu erkennen ist die Stoßrichtung weniger gegen den Spiel­ 33 Seilmann, Kino (wie Anm. 30), S. 49. Die Äußerung steht jedoch im Kontext mit der Würdi­ gung von Lemkes Verdiensten, so daß die Zielrichtung der Kritik unschwer deutlich wurde. 34 Während der Film im Kunstwart in den Jahren zuvor nur in Notizen beachtet wurde, erschien als erster großer Aufsatz zum Kino von Hermann Häfkcr: Zur Hebung des Kinematographenwesens. 24. Jg-, Nr. 11,1. Märzheft 1911, S. 300-304, und (nach einer weiteren Notiz) der Leit­ artikel von Willy Rath: Die Kino-Frage. 25. Jg., Nr. 23, 1. Septemberheft 1912, S. 299-303. Bis zum Kriegsbeginn erschienen neun weitere Aufsätze und Notizen, bis auf einen von 1914 alle im Jahr des „Autorenfilms“ 1913 und auf die „Filmkunst“-Debatte bezogen. 35 Vgl. hierzu ausführlich Sabine Lenk: Völkisches Gedankengut im Umfeld der Kinoreform­ bewegung. In: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Handbuch zur „Völ­ kischen Bewegung“ 1871-1918. München 1996, S. 797-805. 36 Vgl. u.a. Schulze, Kinematograph (wie Anm. 5), S. 72; Lange (wie Anm. 2), S. 25. Die Schrift selbst, Walther Conradt: Kirche und Kinematograph. Berlin 1910, war leider nicht zu beschaf­ fen.

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film oder das „Drama“ an sich als gegen den langen Spielfilm am besten an den Filmtiteln, die als Beispiele für „Schundfilme“ in den Schriften angeführt wer­ den. Einmal heißt es aber auch explizit, daß das als „Schundfilm“ besonders angegriffene „Filmdrama“ im Durchschnitt „etwa siebenmal so lang ist“37 wie ein herkömmlicher Lehrfilm oder auch eine Humoreske, denn auch Humores­ ken blieben in der ersten Zeit noch überwiegend Kurzfilme. Diese Veränderung der Wahrnehmung des Kinos durch den Langfilm hat­ te, obwohl auch das in den Schriften kaum deutlich wird, zweifellos mit der veränderten Wirkungsästhetik des Kinoprogramms zu tun. Denn erst mit dem Langfilm begann das Kino zu einem „Kino der Illusionen“ zu werden. Das Kurzfilmprogramm konnte keine „fiktive Welt“ erschaffen, in deren Illusion man „aufgehen“ und sich mit ihr „identifizieren“ konnte.38 Bestenfalls konnte es viele ganz verschiedene solcher „Illusionen“ schaffen, aber nicht ein inten­ sives, homogenes Erlebnis einer fiktiven, in sich geschlossenen Welt, wie es der Langfilm produzierte. Außerdem waren Kurzfilm„illusionen“, bedingt von der stark begrenzten Erzähl- und Darstellungszeit, nicht selten in sich brüchig und daher schwer „glaubhaft“. Sicherlich boten auch Kurzfilme viele Angriffspunkte an Darstellungen für Tabuverletzungen (sonst wäre Pastor Conradt 1910 im Kurzfilmkino nicht so fündig geworden), aber sie hatten noch keine intensiv wirksame Dramaturgie. Für Erwachsene der Zeit war das Kurzfilmkino gewis­ sermaßen - außer im Hinblick auf Kinder - noch ein „harmloses“ Vergnügen. In den Texten, die sich aufs frühe Kino beziehen, fehlt bezeichnenderweise das Argument, daß das Kino zu einer falschen Weitsicht und Realitätsvorstellung führe. In expliziter und nachdrücklicher Form kam das Argument, daß das „Filmdrama“ den Blick für die Realität verstellen würde, erst nach dem Über­ gang zum Langfilm, so von Robert Gaupp39 und Adolf Seilmann,40 wobei zu­ mindest bei Seilmann deutlich wird, daß er beim „Film-Drama“ an Langfilme dachte. 37 Paul Samuleit: Der Kinematograph als Volks- und Jugendbildungsmittel. In: Ders./Emil Borm: Der Kinematograph als Volks- und Jugendbildungsmittel. Berlin: Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung 1912, S. 1-48, hier S. 11. 38 Die Filmgeschichtsforschung unterscheidet inzwischen das „Cinema of attractions“ von einem „Cinema of narrative Integration“, was auf den amerikanischen Filmhistoriker Tom Gunning zurückgeht (Tom Gunning: The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the AvantGarde. In: Wide Angle, 8. Jg., Nr. 3/4, Herbst 1986, S. 63-70); auf historische Programm­ strukturen und ihre Wirkungsästhetik übertragen Corinna Müller: Variationen des Kinopro­ gramms. Filmform und Filmgeschichte. In: Dies./Harro Segeberg (Hg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918. München 1998, S. 43-75. 39 Vgl. Robert Gaupp: Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Standpunkt. In: Gaupp/Lange (wie Anm. 2), S. 1-12, hier S. 9. 40 Vgl. Adolf Seilmann: Der Kinematograph als Volkserzieher? Langensalza 1912, S. 26; seine

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In den Schriften der Kinoreformer schlägt sich diese veränderte Wirkungs­ ästhetik des Kinos insofern nieder, als der Kreis derjenigen, die es vor seinen schädlichen Einflüssen zu schützen galt, nun sehr entschieden um Erwachsene erweitert wurde. In den Kinoschriften nach 1911 geht es zwar auch noch, aber nicht mehr ausschließlich oder hauptsächlich um den Schutz der Jugend. Jetzt sorgte man sich auch um das „ungebildete Volk“, das zumeist in den Reihen der Arbeiterschaft gesucht wurde. Außerdem gab es noch einen weiteren Grund, erst mit dem Übergang zum Langfilm kritisch aufs Kino aufmerksam zu werden. Die Besorgnis der Kino­ reformer um die seelische Gesundheit der Jugend und des „Volks“ galt vor al­ lem erotischen, Gewalt- und Verbrechensdarstellungen. Dazu sagte Konrad Lange 1912, daß speziell „erotische Szenen sich immer mehr in sonst anständi­ ge Films drängen“41 - und er hatte, was die Erotik betraf, ganz einfach recht. Der Langfilm eroberte Deutschland mit Filmen, die als „soziale Dramen“ zum Begriff wurden, zuerst in Gestalt einer Welle von Filmen um das Thema Mädchenhandel, signalisiert durch Filmtitel, die den Ausdruck „weiße Sklavin“ enthielten. Diese Filme waren meist mehr Abenteuer- als Erotikfilme, verknüpf­ ten aber die Themen „Erotik“, „Gewalt“ und „Verbrechen“, indem sie die Dar­ stellung von Verbrechen aus mit Erotik konnotierten Motivationen schöpften. Zuweilen gab es in frühen Langfilmen aber auch recht freizügige erotische Darstellungen. So hatte in dem ersten großen Sensationserfolg eines langen Spielfilms, Abgründe (Afgrunden, DK 1910), vor allem ein „Goucho-Tanz“ Aufsehen erregt, den die Hauptdarstellerin Asta Nielsen in einer Art „Rache­ akt“ für seine Untreue um ihren, an einen Pfeiler gefesselten, Filmpartner her­ um aufführte. Das Aufsehenerregende an der Sequenz war, daß es sich bei dem Tanz um einen Bauchtanz handeln sollte, Asta Nielsen aber nicht bauchtanzen konnte und daher Hüftbewegungen vollführte, die diesen Tanz als den wohl unverhülltesten Akt in Kleidern der Filmgeschichte auf seine Urgründe zurück­ führten. Im Nachzug von Abgründe wurde Asta Nielsen auf die Darstellung provokanter Erotik (und Bauchtanz) festgelegt. 1911 wurde sie, wie erwähnt, zum Kinostar aufgebaut, was dazu führte, daß sie und ihr Rollenbild unmittel­ bar Epigoninnen fanden. So räkelte sich auch Nielsens deutsches Pendant „Lissy Nebuschka“ (ein Pseudonym) mitunter in einer Weise vor der Kamera, die man auch heute noch geneigt ist, provokant zu finden. Soweit es den Film betrifft, ist das Klischee der „prüden“ Kaiserzeit sicher­ lich übertrieben und zumindest teilweise zu revidieren. Langfilme der frühen Zehner Jahre, auch in Deutschland produzierte, waren oft ebenso lasziv oder These, daß das Kino zu falschen Weltvorstellungen führe, revidierte Seilmann im versteckten Selbstzitat 1914 ausdrücklich; vgl. Ders., Kino (wie Anm. 30), S. 6, S. 11. 41 Lange, Volksunterhaltungsmittel (wie Anm. 2), S. 22.

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sogar noch lasziver als die „Sittenfilme“ der vorübergehend von einer Filmzensur freien Zeit von 1919/20. Zwar überholte sich die Darstellung provokanter Erotik im Film schon um 1913, auch weil Asta Nielsen sich von ihrer Festlegung zu entfernen suchte, aber ebenso wie hinsichtlich von Gewaltdarstellungen waren die Vorwürfe ans Kino, auf Sensation zu setzen, speziell in der ersten Zeit der Konjunktur langer Filme keine aus der Luft gegriffenen Hirngespinste verknö­ cherter Sittenwächter. Zwischen den sittenstrengen Anschauungen und Forderungen, für die man in den Kinoreformschriften dieser Jahre etliche Beispiele lesen kann, und der Realität des Kinos klaffte eine große Lücke, woran die Existenz einer Zensur nichts ändern konnte. Darauf machte vor allem der einzige Jurist unter den Ak­ tivisten der Kinoreform aufmerksam, der promovierte Gerichtsassessor Albert Hellwig. Hellwig veröffentlichte zahlreiche Aufsätze und mehrere Monogra­ phien über Fragen zum Komplex „Kino und Justiz“.42 Obwohl Hellwig gegen­ über den Anliegen der Pädagogen und ihren Ansprüchen an eine Kinoreform aufgeschlossen war und Verständnis für sie hatte, mußte er doch immer wieder anmahnen, daß das Kino nicht von pädagogischen Leitlinien aus behandelt werden konnte.43 So gab es keine juristische Grundlage für eine, von den mei­ sten Kinoreform-Pädagogen geforderte, Handhabe gegen Kinobetreiber in Form einer Konzessionspflicht für Kinos. Auch gab es nur auf Landesebene eine juristische Möglichkeit, Besuchseinschränkungen zu erlassen, und dies auch nur auf schulpflichtige Kinder und Jugendliche bezogen. In Württemberg bestand vor 1914 sogar in dieser Hinsicht keine juristische Möglichkeit für Restriktio­ nen. Für Erwachsene (was auch 13-14jährige Jugendliche nach dem Volksschul­ abschluß betraf) war der Kinokonsum grundsätzlich uneingeschränkt statthaft. Es bestand ferner keine Handhabe, um, was einige Pädagogen gerne gese­ hen hätten, dem Kino das „Drama“ und den Spielfilm als solchen zu verbieten. Es gab nur die Möglichkeit für eine Filmzensur im Einzelfall, die auf der Grund­ lage der Gesetze Schnittauflagen einzelner Szenen bzw. im Fall, daß dies un­ möglich sei, ein Aufführungsverbot des ganzen Films sowie ein Verbot zur Auf­ führung vor Kindern erlassen konnte. Die einzige Grundlage für ein Einschrei­ ten gegen filmische Darstellungen war das Preußische Allgemeine Landrecht (§ 10, Teil II, Titel 17), in dem als Maßgabe die „Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ und die „Abwehr einer dem Publikum, besonders den

42 An Monographien in den frühen Zehner Jahren: Rechtsquellen des öffentlichen Kinematographenrechts. M.Gladbach 1913 (hieraus die weiteren allgemeinen Angaben zur filmjuristischen Situation). - Die maßgeblichen Grundsätze für Verbote von Schundfilms nach geltendem und künftigem Rechte. Sonderdruck 1913. - Kind und Kino. Langensalza 1914. 43 Hellwig, Kind und Kino (wie Anm. 42), S. 139 ff.

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jugendlichen Personen, drohenden Gefahr“ festgelegt war.44 (Außerdem griff noch § 184 des Strafgesetzbuches gegen Pornographie.45) Mit „drohenden Ge­ fahren“ waren im allgemeinen primär solche an Leib und Leben gemeint, wo­ für nicht der Zensor, sondern z.B. die Feuerpolizei zuständig war. Wohl bilde­ te dieser Passus die reichsrechtliche Grundlage für Erlasse zur Einschränkung des Kinobesuchs junger Leute, doch auf die Filmzensur wirkte er sich nur sehr begrenzt aus. Die Zensur konnte zwar Verbotsauflagen wegen sittlicher Gefähr­ dung verhängen, durfte sich dabei aber nicht davon leiten lassen, daß ein Film womöglich vor Kinderaugen gelangte, wie es der Wunsch vieler Pädagogen war, sondern mußte sich an den Maßstäben eines „Durchschnittserwachsenen“ ori­ entieren. Da dieser Begriff von den Buchstaben des Gesetzes nicht genauer bestimmt war, hatte die Filmindustrie großen Spielraum, um Zensurentschei­ dungen anzufechten. Karl Brunner, der 1911 als literarischer Sachverständiger für Jugendschutz gegen Schundliteratur sowie Theater- und Filmzensur ans Berliner Polizeiprä­ sidium berufen wurde, beklagte, daß ihm als Zensor die Hände gebunden wa­ ren und er nicht nach seinem eigenen Dafürhalten entscheiden konnte.46 In sei­ ner Praxis als Zensor mußte Brunner Filme oder Filmpassagen freigeben, die er selber wohl nicht goutierte und lieber verboten hätte, wie ihm drastisch verdeut­ licht wurde. Als Brunner einen Film wegen der Herabsetzung von schulischen Autoritätspersonen mit einem Verbot für Kinder belegte (er war ursprünglich Lehrer gewesen), verlor er eine Anfechtungsklage und mußte den Film für Kin­ der freigeben. Durch eine Herabsetzung von Autoritätspersonen, so das Urteil, sei weder eine Gefahr für die Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung noch eine dem (jugendlichen) Publikum drohende Gefahr gegeben.47 Aufgrund der Rechtslage passierten erotische Filmsequenzen wie der er­ wähnte „Goucho-Tanz“ in Abgründe und andere derartige Szenen ebenso wie Darstellungen von Morden, Verbrechen und Selbstmorden die maßgebliche Ber­ liner Zensur. Einzig in Bayern wurde das Kinopublikum auch vor solchen An­ schlägen aufs sittliche Empfinden geschützt, weil die Münchner Zensur sich generell an einer Eignung der Filme für Kinder orientierte. Das war zwar, so Hellwig, juristisch „unhaltbar“,48 in Bayern aber trotzdem Sitte.49

44 Zit. n. Hellwig, Kind und Kino (wie Anm. 42), S. 140; vgl. auch Ders., Rechtsquellen (wie Anm. 42), S. 25. 45 Vgl. Hellwig, Rechtsquellen (wie Anm. 42), S. 26. 46 Vgl. Karl Brunner: Der Kinematograph von heute - eine Volksgefahr. Berlin 1913, S. 24, passim. 47 Hellwig, Kind und Kino (wie Anm. 42), S. 139 f. 48 Ebd., S. 138. 49 Ausführlich zur preußischen und bayerischen Filmzensurpraxis Kilchenstein, Zensur (wie Anm. 4).

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Mit anderen Worten, es waren nahezu alle Anliegen und Forderungen der Kino-Reformer mit Ausnahme von Besuchsrestriktionen für Schüler nicht rech­ tens und hatten keine juristische Grundlage. Einige Kinoreformer, voran Karl Brunner, Konrad Lange und Adolf Seilmann, drängten daher auf eine Reakti­ on des Staates und Änderung der Reichsgesetze. Gefordert wurden eine reichs­ weite Regelung der Filmzensur, eine Konzessionspflicht der Kinos, um die Kon­ zession mißliebigen Kinobetreibern entziehen zu können, und das Reglement des Kinobesuchs durch Kinder und Jugendliche. Im föderalistischen Kaiserreich gab es aber auch dafür weder eine gesetzliche Basis noch politischen Spielraum. Auch zwischen den politischen Flügeln von Rechten, Liberalen und Linken herrschte kein Konsens. Zwar plädierten sowohl Rechte als auch Liberale für ein Eingreifen des Staats, aber die Sozialdemokratie lehnte ein gesetzliches Reglement, speziell der Filmzensur, ab. Sie entwarf das Modell einer Selbst­ kontrolle bei der Filmzensur, die ein Gremium aus Vertretern der Filmwirtschaft und relevanten gesellschaftlichen Gruppen ausüben sollte,50 eine Regelung also, wie sie in der Bundesrepublik und dem heutigen Deutschland in Gestalt der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) bestand und besteht. In den Vorstellungen der damaligen Sozialdemokratie wäre eine Vertretung der Kirchen unter den gesellschaftlich relevanten Gruppen allerdings unvorstellbar gewesen, und sie sah für solche Gruppen ebenfalls nur die zeitgenössisch unspezifisch struktu­ rierten „Gebildeten“ in Frage kommen. Auch im weiteren unterschied sich das film- und kulturpolitische Konzept der Sozialdemokratie nicht von anderen politischen Flügeln der Kinoreformgruppierungen, da bildungsbürgerliche Kul­ turideale parteienübergreifend Gemeingut waren.51 Auf die Forderungen eines Einschreitens und reichsweiten Kino-Reglements welcher Gestalt auch immer reagierte der Staat, wie es angesichts einer schwie­ rigen juristischen Situation im Föderalismus nicht anders zu erwarten war - im wesentlichen gar nicht. Es gab zwar manchmal Reichstagsdebatten um den Film und auch ein Dekret des preußischen Innenministers, das sich gegen den „Schundfilm“ aussprach, doch die praktische Reichweite solcher Aktionen war sehr begrenzt. Die Kinopolitik und auch die Filmzensur blieben, obschon die Berliner Zensurentscheidungen einen Orientierungsmaßstab bildeten, Länder­ und Lokalsache. Ende 1913 gab es jedoch in allen Ländern (außer Württemberg, das erst 1914 die gesetzliche Grundlage dafür schuf) Erlasse, die den Kinobesuch von Kindern und Jugendlichen reglementierten, wenn sie auch nicht einheit­ lich waren. 1914 war das Problem eines unkontrollierten Kinokonsums von

50 Vgl. Viktor Noack: Der Kino. Etwas über sein Wesen und seine Bedeutung. Gautzsch bei Leipzig 1913 (neu Hamburg 1977). 51 Zu sozialdemokratischen Kino-Positionen vgl. Schweinitz, Prolog (wie Anm. 8), S. 61-64.

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Kindern, wie Hellwig berichtete, daher so gut wie erledigt.52 Die Kinoreform­ bewegung hatte damit im Grunde erreicht, was angesichts der Rechtslage zu erreichen war, und kam 1914 publizistisch nahezu zum Stillstand. Eine „Bewegung“ als solche stellte die Kinoreform an sich nicht dar, denn sie war nicht organisiert, sondern sehr zersplittert und teilweise auch unter sich zerstritten, da die einzelnen Anschauungen beträchtlich divergierten. Die spä­ ter generell negative und mitunter pejorative Beurteilung der Kinoreformbe­ wegung lag wohl nicht zuletzt daran, daß sich die Polemiken gegen das Kino in der Zeit um 1911 bis 1913 ähnelten und daß das zeitgenössische Vokabular sich irritierend ausnahm. So liest man zum Beispiel einen Passus wie diesen, wonach durch die engen Stuhlreihen im Kino, „zudem es während der Vorführung stockdunkel zwischen den Bänken ist, die aus der Tageschronik bekannten Sexual-Attentate auf Kinder und Frauen geradezu verführerisch bequem gemacht sind. Wieviele Kinder verbringen ihre schulfreien Nachmittage statt mit gesundem Spiele in freier Luft in der schwülen Atmosphäre des ,Kientopps'. In der Praxis der Jugendgerichte kehrt der Fall im­ mer wieder, daß Kinder sich durch kleine Diebstähle oder auch durch raffinierte Preisgabe der kind­ lichen Scham die Mittel zum Besuch des ,Kientopps' zu verschaffen wußten. Die Bezeichnung ,Kinokinder' ist gerichtsnotorisch/53

So könnte dieser Text noch weiter zitiert werden. Er stammt von dem der So­ zialdemokratie nahestehenden Viktor Noack, würde sich aber kaum anders und weniger im Stil der „Bewahrpädagogik“ etwa bei Karl Brunner anhören. Un­ terschiede zeigen sich vor allem bei kapitalismuskritischen Argumenten, die bei Noack politisch motiviert waren und weit schärfer und deutlicher ausfielen als etwa bei Brunner, der dem großen Lager eines moralisch-ästhetisch motivier­ ten kulturellen Antikapitalismus angehörte. Unter den maßgeblichen publizierenden Kinoreformern gab es im wesent­ lichen nur vier, die man als „hard core“-Reformer bezeichnen könnte, die dem Unterhaltungskino jedwede Daseinsberechtigung absprachen und es am lieb­ sten verboten gesehen hätten: Karl Brunner, Adolf Sellmann, Konrad Lange und Hermann Häfker. Brunner und Lange erscheinen in der Tat als „Demagogen“, wie es Thomas Schorr in Bezug auf Brunner formuliert hat.54 Doch selbst diese beiden hatten unterschiedliche Positionen, denn nur Lange tat sich mit menschenverachtenden, rechtsreaktionären Postulaten hervor. Lange, Professor für Ästhetik und Kunst­ wissenschaft in Tübingen, war der einzige der Kinoreform-Aktivisten, der die Berechtigung des allgemeinen Menschenrechts bestritt, das es Eltern gestatte­ te, sich und ihre Kinder durch ungesunde und unvernünftige Lebensführung 52 Vgl. Hellwig, Kind und Kino (wie Anm. 42), S. 7; hier auch ausführlich zu den einzelnen Er­ lassen, S. 97-110. 53 Noack, Der Kino (wie Anm. 50), S. 3-4. 54 Schorr (wie Anm. 20), S. 95.

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zu schädigen; das „ungebildete Volk“ hätte er am liebsten in die staatlich sanktio­ nierte Unmündigkeit entlassen. Auch davor, zum Hypokrit zu werden, schreck­ te Lange nicht zurück: Als Albert Hellwig auf der Basis von Gerichtsfällen und -urteilen den Kinoreformern nachwies und vorhielt, daß ihre ständige Rede von einer kriminalisierenden Wirkung des Kinos faktisch unhaltbar sei, hielt Lange diese Aussage für noch schädlicher für die Öffentlichkeit als das Kino und sei­ ne „Schundfilme“ selber.55 An Lange gingen auch die Weltkriegsgräuel und der politische Nachkriegswandel spurlos vorüber; 1920 meldete er sich erneut mit einer Monographie zurück, deren Ideengut so menschen- und unterhaltungs­ feindlich wie ehedem geblieben war.56 Zu solchen Entgleisungen wie Lange ließ sich nicht einmal Karl Brunner hin­ reißen. Zwar machte er seinem zweifelhaften Nachruhm als „Demagoge“ der Kinoreform in der Schrift Vergiftete Geistesnahrung von 1914 alle Ehre: Dies ist diejenige Schrift aus der Kinoreform-Bewegung, in der alle zeitgenössisch virulenten Vorurteile über das Kino und seine Wirkung versammelt sind, auch all die Schauerbeispiele für das Kriminalisierungs-Phantom, die sich seinerzeit auftreiben ließen, minutiös wiedergegeben werden. In seinem früheren Buch von 1913, Der Kinematograph von heute - eine Volksgefahr, schlug Brunner durchaus sachlichere Töne an, selbst wenn er auch schon in dieser Schrift den Spielfilm radikal abqualifizierte, als „Unkunst“ abstempelte und zur „Volks­ gefahr“ stilisierte. Zu bedenken ist bei Brunners Demagogie, daß gar nicht so klar ist, inwieweit er im einzelnen tatsächlich hinter ihr stand, weil die Grenze von Überzeugung und Rhetorik undeutlich bleibt. Brunner befand sich in ei­ ner persönlich wie beruflich prekären Situation, weil er der maßgebliche Film­ zensor war und sich als solcher zu legitimieren suchen mußte. In seiner Positi­ on konnte er nach außen hin keine nachsichtige Haltung gegenüber dem Kino einnehmen, mußte sich als „scharfer“ Verfolger des „Filmschundes“ und sitten­ strenger Mann von Prinzipien darstellen, denn sonst wäre er in der Öffentlich­ keit als Filmzensor nicht glaubhaft gewesen und hätte sich besonders unter den publizierenden Zeitgenossen angreifbar gemacht. Speziell das sich in Stil und Argumentation von der ersten Schrift als bewußtes Pamphlet abhebende Buch Vergiftete Geistesnahrung hat insofern deutliche Züge der Selbst- und Amtslegi­ timation. Kein anderer Kinoreformer äußerte sich in einer so polemischen Weise. Mit seinen Publikationen gelang es Brunner auch tatsächlich, sich die Gunst und das Verständnis der anderen publizierenden Kinoreformer zu erwerben - ob­ wohl er derjenige war, der all den „Filmschund“ zuließ, den sie bekämpften.

55 Vgl. Hellwig, Kind und Kino (wie Anm. 42), S. 35. 56 Konrad Lange: Das Kino in Gegenwart und Zukunft. Stuttgart 1920.

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Der in mehreren Presseverbänden aktive, promovierte und mit einem Pro­ fessorentitel h.c. geehrte Oberlehrer Adolf Sellmann steht mit seinen beiden Mo­ nographien von 1912 und 1914 für eine Wandlung, die symptomatisch für die Kinoreformbewegung als solche ist. 1912 verdammte er das Kino in Bausch und Bogen, ließ so gut wie gar nichts Positives an ihm gelten außer seinen theore­ tisch positiven Möglichkeiten. 1914 schickte er zwar noch in einem kurzen Vorwort seiner Schrift voraus, daß „gegenüber den Auswüchsen des Kinos“57 einzuschreiten sei, führte dann aber auf 70 Seiten aus, wie der Film „eine ge­ waltige Demokratisierung des Wissens“58 herbeigeführt habe und weiter her­ beiführen könne, deren Breitenwirksamkeit noch weit über das Medium des Buchdrucks hinausreiche. Nun akzeptierte er auch den Spielfilm und hielt sei­ ne Existenz als Unterhaltung auch im Lehr-Filmprogramm sogar für notwen­ dig. 1912 hätte er diesen Gedanken noch meilenweit von sich gewiesen. Seilmanns Umdenken steht dafür, daß die Kinoreform nicht nur weitgehend ihre Ziele erreicht hatte, sondern auch von der Realität des Unterhaltungskinos und des Spielfilms eingeholt worden war. Angesichts eines Kinos, das mit sei­ nen und gerade wegen seiner Spielfilme zum größten Massenmedium der Zeit geworden war, dem auch „die besten Kreise“ zuströmten, wäre es töricht ge­ wesen, dem Spielfilm und der Kinounterhaltung noch immer die Existenzbe­ rechtigung abzusprechen. Genau das zu tun wurde einzig der Publizist Hermann Häfker nie müde, die zweifellos ruppigste und eigenwilligste Gestalt der frühen Kinoreform. Häfker ließ nie von dem Gedanken ab, daß das Kino einzig und allein als LehrKino, als Stätte zur anschaulichen Vermittlung von Wissen, Berechtigung habe.59 Das ging so weit, daß Häfker in den Wahn verfiel, den Ersten Weltkrieg zu be­ grüßen, der die Kommerzkinos und ihre ihm verhaßten Spielfilme aushungern und hinwegfegen werde, so daß das Kino endlich zum Reformkino gewandelt werden könne.60 Hinter diesem irregeleiteten Ansinnen stand jedoch ein Kon­ zept, das man wohl kaum pauschal von sich weisen würde. Denn Häfker dach­ te sich das Kino als Medium einer internationalen Demokratisierung von Bil­ dung - von ihm stammte dieser Gedanke, der dann auch bei Sellmann zu fin­ den ist. Seine Vision war, durch die Möglichkeit einer nicht an Sprache(n) ge57 Sellmann, Kino und Schule (wie Anm. 30), S. 3. 58 Ebd.,S. 17. 59 Vgl. u.a. Hermann Häfker. Kino und Kunst. M.Gladbach 1913. - Der Kino und die Gebilde­ ten. Wege zur Hebung des Kinowesens. M.Gladbach 1915. 60 Vgl. Hermann Häfker: Die Aufgaben der Kinematographie in diesem Kriege. München 1914 (= Dürer-Bund-Flugschrift zur Ausdruckskultur 128). Sowie die Artikelserie: (Der) Krieg und die Kinematographie. 4 Teile. In: Der Kunstwart, 28. Jg. Heft 5, 1. Dezemberheft 1914, S. 172174 (ungezeichnet); Heft 7, 1. Januarheft 1915, S. 21-23; Heft 14, 2. Aprilheft 1915, S. 71-73; Heft 16, 2. Maiheft 1915, S. 178-180.

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bundenen, bildhaft anschaulichen, überall verständlichen Wissensvermittlung die Völker zu emanzipieren. Aus diesem hochgesteckten Ziel heraus wurde Häfker auch zum „Theore­ tiker“ (Schorr) der Kinoreform. Er stellte seine Anschauungen auf Postamente kunsttheoretischer Thesen. Für Häfker stellte der Film fraglos eine Kunstform dar, die Kunstform der unmittelbaren Vermittlung der Schönheit natürlicher Be­ wegungen und Vorgänge.61 Häfkers theoretische Thesen sind zwar nicht halt­ bar, weil sie inkonsequent und in sich brüchig sind, aber im Kreis der Kino­ reformer hat in der damaligen Zeit niemand so avanciert gedacht: Im Ansatz entwickelte Häfker eine Materialtheorie der Kunst und nahm mit der Richtung seiner Prämissen die Gestalttheorie Rudolf Arnheims vorweg,62 als es die Ge­ stalttheorie als Wissenschaft noch gar nicht gab. Als Häfker einsehen mußte, daß seine Kriegsutopie fehlschlug und der Spiel­ film die Kinos nicht freigab, wandte er sich vom Film ab. Er schrieb noch viel, aber nie mehr über das Kino. Nach dem Krieg trat er kurzzeitig der KPD bei, hatte in den Zwanziger Jahren Kontakt zum Worpsweder Künstlerkreis und agitierte nach der „Machtübernahme“ gegen Hitler und die Nationalsozialisten. Es gelang ihm nicht, ihrer Verfolgung zu entkommen. 1939 kam Häfker im KZ Mauthausen ums Leben, angeblich durch einen „Herzschlag“.63

Filmkunst-Debatte Die Gegner und Befürworter des Kinos bestanden jedoch nicht nur aus Kino­ reformern, und das frühe Kino war auch keineswegs nur unter dem Aspekt seiner Schädlichkeit für Kinder im Gespräch. Schon um 1908 formierte sich im Düsseldorfer „Malkasten“ ein filmbegeisterter Künstlerkreis. Sein Wortführer, der Kunstmaler Gustav Melcher, trat seit 1908 mit mehreren Artikeln in Der Kinematograph an die Öffentlichkeit, in denen er über die Düsseldorfer Akti­ vitäten berichtete und den Film und seine Möglichkeiten von der Warte der bildenden Kunst aus beleuchtete.64 Wurde der Film schon hier unter der Perspektive einer neuen Kunstform be­ trachtet, so drängte sich diese Perspektive durch den Übergang zum Langfilm 61 Vgl. Häfker: Der Kino und die Gebildeten (wie Anm. 59). 62 Vgl. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Berlin 1932; neu u.a. Frankfurt/M 1979. 63 Vgl. Helmut H. Diederichs: Hermann Häfker. In: Cinegraph. Lexikon zum deutschsprachi­ gen Film. Hg. v. Hans-Michael Bock. München 1984 ff. 64 Zu Melcher und dem „Malkasten“ Dieter Schäfer: Anmerkungen zu einer Düsseldorfer Film­ geschichte - von den Anfängen bis 1945. In: Filminstitut der Landeshauptstadt Düsseldorf (Hg.): Düsseldorf kinematographisch. Beiträge zu einer Filmgeschichte. Düsseldorf 1982, S. 11-40, hier S. 25 ff.

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seit 1911 immer mehr in den Vordergrund. Mit der langen Form von Filmen näherte sich das Kino der Programmform des Theaters. Erst mit dieser Verän­ derung seiner Produktform geriet der Film massiv in Disput, wurde nun einer­ seits als Aggressor gegen die etablierte „literarische“ Kultur begriffen, anderer­ seits aber auch kulturell aufgewertet. Mit dem „Autorenfilm“ schlug die öffent­ liche Kino-Debatte 1913 schließlich vollends zur Filmkunst-Debatte um und wurde zu einem die Öffentlichkeit beherrschenden „Top-Thema“. Es ist wahr­ scheinlich nicht übertrieben zu sagen, daß allein in diesem Jahr und dem fol­ genden bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nicht nur Hunderte, sondern Tausende von Texten übers Kino publiziert wurden.65 In dieser Zeit gab es wohl kaum ein noch so peripheres Blatt, das keine Kino-Texte publiziert hätte. Erst der Erste Weltkrieg war in der Lage, das Thema „Kino“ zu marginalisieren. Durch diese Verlagerung der Kino-Diskussion zu einer die Allgemeinheit beschäftigenden Kunstdebatte wurde die Debatte um eine pädagogische Kinore­ form vollends an den Rand gedrängt. Es verhält sich sogar so, daß die Kinore­ former den Film in dieser Zeit oft ebenfalls auch unter Kunstaspekten diskutier­ ten.66 Auch personell war die Filmkunst-Debatte von der unter Pädagogen losge­ löst. Hauptsächlich wurde sie von Schriftstellern, Künstlern, Kulturschaffen­ den und Kritikern geführt, aber es nahmen auch alle anderen relevanten Grup­ pen der Bevölkerung Anteil. Im Vordergrund der Diskussion stand der Gegen­ satz „Kino und Theater“ mit dem Tenor, dem Film gegenüber dem Theater ei­ nen Kunststatus abzusprechen. Es mischten sich dabei die unterschiedlichsten Aspekte der Kritik, technikkritische ebenso wie anthroposophische, kapitalis­ muskritische und Ablehnung der Moderne, die sich in dem Vorwurf einer see­ lenlosen, geistfernen, industriell-ausbeuterischen Kulturmaschinerie bündelten. Das zentrale Argument der Diskussion war das Fehlen der Sprache und des Wortes beim stummen Film, da nur das Wort geistige Tiefe vermitteln und da­ mit einer künstlerischen Darstellung „Seele“ verleihen könne. Der Mensch im Film, der Schauspieler, werde zum technisch verzerrten, grimassierenden „Ham­ pelmann“. Durch die Visualisierung der Kommunikation böte der Film Sinn­ lichkeit statt kunstgemäßer Überhöhung. Der kunstwidrige Massencharakter trete in dem seinen Warencharakter unverhohlen materialistisch ausstellenden

65 Herbert Birett hat über 9 000 bis 1914 außerhalb der Kinofachpresse erschienene Texte über Film und Kino ermittelt, von denen die weitaus meisten aus derZeit nach 1911 bzw. von 1913/ 14 stammen (vgl. www.unibw-muenchen.de/campus/Film/birett.html). 66 Zwei markante Beispiele dafür sind die Schriften von Hermann Häfker: Kino und Kunst (wie Anm. 59), der die Kunstdebatte zwar im Titel aufnahm, aber unter ganz anderen Prämissen als den im öffentlichen Disput zirkulierenden diskutierte, und Karl Brunner: Der Kinematograph von heute (wie Anm. 46), der sich den öffentlichen Disput aneignete.

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Medium zutage.67 Auch technikfeindliche Argumente wurden erst bei dieser Debatte um den Kunstcharakter des Films relevant. Eine starke Fraktion dieser Angriffslinie stellte natürlich der literarische und Theater-Betrieb selber, Schriftsteller, Bühnenautoren, Theaterintendanten, Künstler und ihre Verbände, voran der Deutsche Bühnen-Verein und der Ver­ band der Bühnenschriftsteller.68 Auf dieser Seite waren Befürchtungen um die Verdrängung der eigenen kulturellen Diskursform und des angestammten be­ ruflichen Betätigungsfeldes durch das Kino ein zentraler Antrieb. Zwischen diesen künstlerischen Sparten waren die Reaktionen auf den Film jedoch un­ terschiedlich, da der Schriftsteller-Verband schon Ende 1912 mit der Film­ industrie zu kooperieren begann. Es wurde sogar eine eigene Gesellschaft, der „Lichtspielvertrieb des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller GmbH“ ein­ gerichtet, der die Rechte der Autoren gegenüber der Filmindustrie vertreten sollte. Ehern und streitbar war dagegen die Theater-Fraktion, die das Kino mit Flugschriften, in ihren angestammten Publikationsorganen wie etwa der Schau­ bühne und durch Eingaben an den Reichstag bekämpfte.69 Allerdings teilten auch sehr viele nicht professionell der Bühne verbundene Zeitgenossen die Beden­ ken gegen das Kino. Die Furcht um den Verlust einer erreichten geistigen Höhe der Kultur war dabei ebenso im Spiel wie auch ein Publikum um die Formen der gewohnten Kulturrezeption fürchtete, der kontemplativen, sich versenken­ den Ruhe, die es von der Hektik der schnellen Bilderkommunikation der Fil­ me wie auch des unruhigen, nonlinearen Kinoprogramms an sich bedroht sah, wenn das Kino das Theater verdrängen sollte. Im Rahmen dieser Filmkunst-Diskussion kamen jedoch schon früh ebenso Stimmen auf, relativ wenige zwar, doch solche nicht ohne Gewicht, die gegen­ über der Kinokultur vorgebrachte Kritikpunkte - gegen ihre Schnelligkeit, Massenwirksamkeit, Technizität, Visualität und Sinnlichkeit - als Adaption an die Moderne und ihren adäquaten Ausdruck ins Positive wendeten.70 Zumeist kam diese Zustimmung aus den Reihen der literarischen Avantgarde, obwohl es auch dort Aversionen gegen das Kino gab.71 Auf die kinofreundliche literari­ sche Avantgarde machte besonders das Kurzfilmkino mit seinem harschen Kon­ trast zur dramaturgisch linearen, kontemplativen Kultur nachhaltig Eindruck;72 67 Vgl. Schweinitz, Prolog (wie Anm. 8), S. 6 ff. 68 Vgl. ebd., S. 223 ff. 69 Vgl. Knut Hickethier: Schauspieler zwischen Theater und Kino in der Stummfilmzeit. In: Ders. (Hg.): Grenzgänger zwischen Theater und Kino. Schauspielerporträts aus dem Berlin der Zwan­ ziger Jahre. Berlin/West 1986, S. 11-42, hier S. 13 ff. 70 Vgl. dazu Schweinitz, Prolog (wie Anm. 8), S. 146 ff. 71 Vgl. ebd., S. 147 ff; in einer negativen Reaktion unter Verweis auf Franz Pfemfert. 72 Vgl. Harro Segeberg: Literarische Kinoästhetik. Ansichten der Kinodebatte. In: Müller/Segeberg, Modellierung (wie Anm. 38), S. 193-219.

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der Einfluß des Kurzfilmkinos reicht bis zu Bert Brecht und Sergej Eisenstein, dessen Theorie der Montage gewissermaßen Kurzfilmkino in literarischer Uber­ formung ist. Während der Zehner Jahre blieb allerdings auch für positive Stimmen eine Ambivalenz kennzeichnend, die zwischen der Akzeptanz des neuen Mediums und der, zumeist ironischen, Distanzierung von ihm schwankte.73 Die Vorbe­ halte reflektierten die tiefe Überzeugung von der geistigen Überlegenheit des Wortes und auch, nicht zuletzt, das „Scheitern“ des Autorenfilms. Die Autorenfilm-Bewegung der Jahre 1913/14 war das konstruktive Gegen­ stück zur überwiegend kritischen Filmkunst-Debatte dieser Zeit, weil sehr viele und auch sehr namhafte Schriftsteller und Künstler (Literatur-Nobelpreisträ­ ger Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Paul Lindau, Max Reinhardt, Albert Bassermann, Alexander Moissi u.v.a.) sich in ihr aktiv dem neuen Medium zuwendeten. Von einem „Scheitern“ des Autoren­ films ist nur eingeschränkt zu sprechen, obwohl manche dieser Filme Mißer­ folge wurden. Andere hingegen (wie u.a. der Hauptmann-Film Atlantis, Der Andere, Wo ist Coletti?) fanden sehr hohe Publikumsresonanz, und insgesamt brachte der Autorenfilm einen großen Prestigeerfolg für das neue Medium ein. „Gescheitert“ war die Autorenfilmbewegung vor allem für die angesehenen Literaten und Künstler, die sich an ihr beteiligt hatten, weil sie ins Sperrfeuer ihrer Kollegen gerieten. Was bis dahin gegen das Kino publiziert worden war, nahm sich noch relativ harmlos aus gegenüber den nun veröffentlichten Po­ lemiken, die auch vor persönlichen Angriffen nicht zurückschreckten. Gene­ rell wurden für den Film arbeitende Autoren bezichtigt, ums „goldene Kalb“ zu tanzen, „aufs Brot“ zu gehen und den idealistischen Anspruch der Kunst zu verhöhnen. Paul Lindau mußte sich von Siegfried Jacobsohn, dem Herausge­ ber der einflußreichen Schaubühne, den Vorwurf anhören, ein „völlig kritiklo­ ser und amusischer Mensch“74 zu sein, und der in Kinobelangen ehern traditionalistische Kurt Tucholsky schrieb ein ätzendes Spottgedicht auf Albert Bas­ sermann, als der für den Film gespielt hatte.75 Natürlich wurden auch Gerhart Hauptmann und sein Film Atlantis verrissen. Der massive Protest der publizierenden kulturellen Meinungsführer im Zu­ sammenhang speziell mit dem Autorenfilm bewirkte, daß der Film in den Zeh­ ner Jahren als eine der literarischen Kultur ebenbürtige Kunstform noch nicht anerkannt wurde. Doch das Medium als solches emanzipierte sich in den Zeh­ 73 Vgl. Heinz B. Heller: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland. Tübingen 1985. 74 Anonym (Jahresregister S.J. = Siegfried Jacobsohn): Stucken und Bassermann. In: Die Schau­ bühne, Nr. 5, 30.1.1913, S. 134-138, hierS. 138. 75 Vgl. Ignaz Wrobel (= K.T.): Kino. In: Die Schaubühne, Nr. 6, 6.2.1913, S. 181.

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ner Jahren zur gesamtgesellschaftlich akzeptierten Unterhaltungsform. Diese Akzeptanz zeigte sich etwa daran, daß der Film der Zehner Jahre zwei Film­ stars hervorbrachte, die man eher schon als „Megastars“ bezeichnen muß und die bis heute für den Aufstieg des Mediums Film in Deutschland stehen, Asta Nielsen und Henny Porten. Die „Düse der Kino-Kunst“ Asta Nielsen hob den Film als Kunstform in der öffentlichen Meinung zumindest bis auf halbe Höhe. Die beispiellos populäre Henny Porten (Kurt Pinthus schrieb 1921, sie sei be­ kannter und beliebter „als der Alte Fritz, als der olympische Goethe es je wa­ ren und sein konnten“76) war das Symbol seiner Durchsetzung zum Massen­ medium, das Symbol für den Film an sich. 1916 spielten Berliner Gassenkinder „Henny Porten“ und meinten damit den Film.77 In dieser Zeit und unter der Fahne dieser beiden Stars formierte sich ein Pu­ blikum als Filmpublikum, ohne Rücksicht auf Klassen-, Bildungs-, Geschlech­ ter- oder Altersschranken. Es vollzog damit gewissermaßen eine „friedliche Kultur-Revolution“, die die „Unterwanderung“ - oder genauer: die Ergänzung - der tradierten Kultur durch das neue, technische Medium zum Faktum machte. Es war nur eine Frage der Zeit, daß der Film mit den anderen Künsten auch im Ansehen gleichzog, und eine des äußeren Anlasses. Diesen Anlaß bot nach dem Ende des Ersten Weltkriegs der Übergang zum programmfüllenden Film. Als der Film diese Form angenommen hatte, gab Gerhart Hauptmann 1919 mit Rose Bertidt erstmals wieder eines seiner Werke zur Filmadaption frei. Die Schauspieler des Deutschen Theaters wendeten sich jetzt dauerhaft dem Film zu, einige hörten sogar auf, Theater zu spielen. Der Film wurde Gegenstand einer institutionalisierten Kritik auch in der Tagespresse und in literarischen Maga­ zinen, und 1924 veröffentlichte Bela Baläzs mit Der sichtbare Mensch eine Theo­ rie zur Autonomie der Filmkunst. Was sich in der Auseinandersetzung um den Film in der Zeit bis nach dem Ersten Weltkrieg abspielte, war eine Kompromißbildung zwischen traditioneller und moderner Kultur. Im Hintergrund dieser Kompromißbildung standen Prozesse von beträchtlicher Tragweite, die auch soziale, gesellschaftsstruktu­ rierende Komponenten hatten. Die ursprünglich von starker Abwehr geprägte Diskussion des neuen technischen Mediums vor allem in der traditionellen kulturellen Elite des Bildungsbürgertums diente auch der „Selbstversicherung einer herausgehobenen Sozialrolle. (...) Die hochkapitalistische Industrialisie­ rung bedrohte vielfach die soziale Stellung jener Schichten, die sich als kulturelle Eliten begriffen.

76 Kurt Pinthus: Henny Porten als Reichspräsident. In: Das Tagebuch, Nr. 41,15.10.1921, S. 12431247, hier S. 1244. 77 Vgl. Anonym: Wir spielen Henny Porten. In: Der Film, 1. Jg., Nr. 8, 18.3.1916.

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Um so massiver wurde, gleichsam kompensatorisch, an den identitätsstiftenden Kulturkonzepten festgehalten.“78

Im Kino fanden Industrialisierung und Kultur zur Allianz, und deshalb bedrohte es die soziale Position der tradierten gesellschaftlichen Elite wie keine zweite Erscheinung der Moderne, denn es griff massiv in die geistbestimmte Kunst und Kultur ein, veränderte sie und stellte die Werte in Frage, die den herausgehobe­ nen sozialen Status (und natürlich auch den beruflich-materiellen) des Bildungs­ bürgertums rechtfertigten. Den „Emporkömmling Kino“ nicht ernst zu neh­ men, diente dem Selbstschutz. Das Kino seinerseits konnte nicht umhin, dem kulturellen Wertbild dieser kulturell maßgeblichen Gruppe die Hand zu reichen. Es ging mit dem Wandel erst zum Langfilm und dann zum programmfüllen­ den Film mit einer äußerlichen Disziplinierung beschwichtigend auf die tradi­ tionelle Kultur zu, näherte sich - wenn auch mit betonter Vorsicht -, wie es einmal hieß, „Nietzsches erste(r) Etappe der Heiligkeit“, dem „fünf Stunden Sitzen“79 in Ehrfurcht vor dem Kunstwerk, einer Produktmonumentalität, die als Ideal Kunst und Kultur beherrschte.80 Die „Modernität“ des Kino und seine Stärke war jedoch immer gewesen, daß es sich um solche Disziplinierungen zur Ehrfurcht vor seinen Kunstwerken gerade nicht geschert hatte. Deshalb blieben seine Annäherungen an die tradi­ tionellen Kulturideale oberflächlich, denn seine wahren Erfolgsrezepte gab das Kino nicht preis, aus denen seine ultimative „Modernität“ bestand: Das Kino paßte sich der von der Hochindustrialisierung normierten und uniformierten Aufteilung von Lebenszeit in Arbeitszeit und Freizeit an, der sich die tradierte Kultur verweigerte. Das Kino gewährte jederzeit Eintritt, auch zur laufenden Vorstellung, Benutzung und Verweilen ganz nach Belieben, ein „Automaten­ büffet des Geistes“,81 das auf allen Benimmzwang verzichtete. Essen, Trinken, Rauchen gestattet, kein Toilettenzwang, keine Schweigsamkeitspflicht. Diese Kulturanarchie freizügiger Verhaltensweisen und der Befreiung von den sonst üblichen Normen im Sozialverhalten beim Kulturkonsum wurde am Kino auch und gerade im Bildungsbürgertum geschätzt. Nicht einmal bei großen Film­ premieren ließ sich der „Frack im Kino“ durchsetzen, und auch das freizügige Kommen und Gehen war dem Publikum nicht auszutreiben. Mit dem Versuch, bei Langfilmen feste Einlaßzeiten anzusetzen, scheiterte das Kino schon in den Zehner Jahren, und die meisten Kinos kann man bis heute, sogar mit einem 78 Schweinitz, Prolog (wie Anm. 8), S. 6; vgl. auch Müller, Kinematographie (wie Anm. 1),S. 200 ff. 79 Heinrich Stümcke: Kinematograph und Theater. In: Bühne und Welt, Nr. 4, April 1912, S. 8994, hier S. 92. 80 Zum Ideal der „Dauerkunst“ Müller, Kinematographie (wie Anm. 1), S. 209 ff. 81 Raoul Auernheimer (Antwort auf die Umfrage): Das Kino im Urteil bekannter Zeitgenossen. In: Der Kinematograph, Nr. 300, 25.9.1912.

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Picknickkorb ausgerüstet, bei laufender Vorstellung betreten (und auch verlassen - beim Theater eine offene Form des Protests und Beleidigung der Künstler). In der Beziehung seiner „User“-Qualitäten war das Kino die Ubergangs­ form und Brücke zwischen traditioneller Kultur und moderner technischer Medienkultur. Es vermittelte zwischen dem traditionellen Kulturereignis als einer präsentischen, gesellschaftlichen Veranstaltung mit fest umrissenen Ver­ haltensnormen für die Zuschauer und dem von gleichzeitiger Anwesenheit der Akteure und Zuschauer abgelösten, modernen Individualkonsum von Kultur im Zeichen des laisser faire und der selbstbestimmten Mediennutzung von Fern­ sehen und „Neuen Medien“. Was die Nutzung seiner vielfältigen Bequemlichkeiten und Freiheiten be­ traf, hatte das Kino von Anfang an keine Gegner. „Wir wünschen uns dieses zweidimensionale Variete, das der Kinema ist, aus der philanthropischen Prallheit eines Maroquinsessels heraus zu genießen: eine D-Zugreise durch alle Weltteile und alle Erregungen, ohne daß wir mehr nötig hätten, als uns auf die behaglichste Weise zu räkeln und, wie Laforgue sagt,,unseren geliebten Daumen zu rösten wie ein Hühnerbein* am heißen Tabak irgend­ einer exotischen Zigarette. In den Pausen könnte Thee oder Whisky gereicht werden.“82

82 Ferdinand Hardekopf: Die Karriere des Kinematographen. In: Münchner Neueste Nachrich ten, Nr. 556,28.11.1910.

Die „Optik des Lebens“ Film als Triviales, Kino als Körperkunst Heide Schlüpmann

Kunst und Kino Der Gebrauch des Begriffs Kunst im Zusammenhang mit Film und Kino berei­ tet mir immer Unbehagen. Wenn ich aber daran gehe, darzustellen, warum Film keine Kunst ist, gerate ich regelmäßig in Schwierigkeiten, weil der Begriff der Kunst selbst dann Thema wird. Schon Siegfried Kracauer wich diesem Problem aus, als er schließlich schrieb, mag Film eine Kunst sein, aber dann eben „eine Kunst, die anders ist“.1 Ich versuche hier einen Ausweg aus der Kunst-Debatte einzuschlagen, in­ dem ich zum einen die Frage „Was ist Kunst?“ beiseite lasse, um die Entwick­ lung des Kunstbegriffs in der Philosophie des 19. Jahrhunderts anzusehen - eben jener Zeit, in der Fotografie, Film und Kino entstanden. Zum anderen, indem ich statt des Kunstbegriffs schlechthin den Begriff der Körperkunst verwende. Das tue ich nicht zuletzt eingedenk der „Dialektik der Aufklärung“; dort läßt Adorno an der Kulturindustrie einzig und allein Phänomene gelten, die der Körperkunst nahestehen. „Die Spur des Besseren bewahrt Kulturindustrie in den Zügen, die sie dem Zirkus annähern, in der eigensinnig-sinnverlassenen Könnerschaft von Reitern, Akrobaten und Clowns, der .Verteidigung und Rechtfertigung körperlicher Kunst gegenüber geistiger Kunst' (Frank Wedekind).“1 2

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Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/M. 1964 (Am. Original: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York 1960). Im „Epilog“ enthält das Buch einen Abschnitt, der die Überschrift „Eine Kunst, die anders ist“ trägt (S. 389-398). Darin heißt es unter anderem: „Kunst im Film ist reaktionär“ (S. 391) und später: „Aber wenn Filme, die wirklich zeigen, was sie zeigen, Kunst sind, dann sind sie Kunst von anderer Art. Film ist, zusammen mit Fotografie, tatsächlich die einzige Kunstart, die ihr Rohmaterial zur Schau stellt. Die besondere Kunst, die sich in filmischen Filmen bewährt, muß auf die Fähigkeit ihrer Schöpfer zurückgeführt werden, im Buch der Natur zu lesen. Der Film­ künstler gleicht einem fantasievollen Leser [...]“ (S. 392). Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmen­ te. Amsterdam 1944, S. 170.

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Philosophien des kulturellen Umbruchs: Schopenhauer und Nietzsche Die Entwicklung des Kunstbegriffs in den Philosophien Schopenhauers und Nietzsches betrachten, heißt zugleich, Ansichten eines „kulturellen Umbruchs“ zu begegnen. Denn der Umbruch, der um 1900 manifest wird, bahnt sich viel früher an. Zwei Momente des Schopenhauerschen Denkens über Kunst sind im Hin­ blick auf die Entstehung des Kinos relevant: Zunächst nivelliert - oder trivialisiert - Schopenhauer den Begriff der Kunst und ihres Urhebers, des Genies. Kunst und Künstler werden zu den Geburtshelfern der reinen Anschauung, die aber auch ohne dies allen Menschen möglich ist - einer Anschauung, in der der Mensch sich von seinem Wollen, seinen Interessen losreißt. Die Künstler ver­ stehen sich auf Technik, die die reine Anschauung wiederholt, und sie erleich­ tern dank dieser Technik anderen die reine Anschauung. Schopenhauer entwirft hier ein Bild vom Künstler als einem Techniker der Wiederholung, der Repro­ duktion, der anderen die Hingabe ans Schauen erleichtert - einem Filmmacher? Sodann weist Schopenhauers Darstellung der Künste einen Bruch auf. Ne­ ben allen Künsten, die um das Phänomen der reinen Anschauung kreisen, er­ scheint am Ende eine Kunst, die damit gar nichts zu tun hat, das ist die Musik. Mit der Musik taucht ein Phänomen auf, das jenseits der idealistischen Ästhetik liegt. Hier kommt es nicht auf das Losreißen vom Willen an, ganz im Gegen­ teil: In der Musik stellt sich der Wille unmittelbar dar. Er äußert sich einmal nicht im Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft, in Streit und Kampf, sondern er stellt sich einfach dar als das, was er ist, die Welt in Wahrheit, in Wahrheit die Welt. Die Musik, die bei Schopenhauer vollständig außerhalb der idealistischen Ästhetik auftaucht, markiert die Ahnung eines möglichen Umbruchs von der Scheinhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft in eine wahre Welt, die im Dunk­ len liegt, hörbar vielleicht, aber nicht sichtbar. Diese Welt beginnt mit leiblicher Erfahrung und der Entfaltung der Gefühle und wird als eine Welt in Solidarität mit den nichtmenschlichen Lebewesen und Dingen vorgestellt. Etwas von die­ sem Dunklen repräsentiert der Kinoraum, und daher ist es verständlich, daß die bürgerliche Gesellschaft ihm vor dem Ersten Weltkrieg mit Mißtrauen und Angst begegnete. Nietzsche schließt mit der Frühschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ an Schopenhauer an. Er beginnt dort, wo Schopenhauer endete und - konservativ der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet - pessimistisch endete: bei der Frage eines kulturellen Umbruchs. Nietzsche nennt diesen Umbruch das Ende der theoretischen Kultur - das heißt, der Dominanz des wissenschaft­ lichen Erkennens und der reinen Anschauung. Philosophie, seine Philosophie,

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die diesen Umbruch will, verzichtet auf die Grundlage der wissenschaftlichen Weitsicht und läßt sich damit in das Dunkel jenseits der bürgerlichen Gesell­ schaft fallen, das „Dunkle des gelebten Augenblicks“, wie es bei Ernst Bloch später heißt - möge im Dunklen nicht nur die traumatische Vergangenheit der Unterdrückung, die in Schopenhauers Pessimismus dämmert, sondern auch die Zukunft der Befreiung liegen! Nietzsche ruft dazu auf, „die Wissenschaft un­ ter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens“? Dies Leben ist nicht klassifizierbar und ähnelt dem Leben, das die Zuschauer und Zuschauerinnen aus der massengesellschaftlichen Isolierung und Verein­ zelung ins Dunkle des Kinoraums bringt und das sie dort zusammenbringen.

Die Wissenschaft unter der Optik der Kunst... Der eben zitierte, berühmte Satz Nietzsches enthält tiefreichende Konsequen­ zen, auch und gerade für Kunst und Künstler. Sie führen über die Schopenhauersche „Trivialisierung“ der Kunst und ihre - materialistische und zugleich wahrheitsbezogene - Erneuerung in der Musik hinaus.34 Zunächst wird dem Künstler oder der künstlerischen Weitsicht eine neue Aufgabe zugeschrieben. Statt wie bisher die Hingabe des Schauens an den Vorschein von Natur in der Welt zu bilden, wird der Gegenstand der künstlerischen Weitsicht nun die wis­ senschaftliche Konstruktion der Welt. Und mit dem Objekt verändert sich das künstlerische Subjekt. Denn es kann seine Hingabe an den Schein der Natur nur erhalten, wenn es zugleich die Verneinung der Konstruktion betreibt. Fortan geht es nicht mehr um die reine Anschauung allein und deren - vom Künstler geleistete - technische Reproduktion und damit Erleichterung für Andere; es geht in der technischen Reproduktion auch um die Verneinung der Konstruk­ tion und die Vermittlung der Verneinung. In Nietzsches Wahrnehmung erhebt sich die Kunst aus einem Naturschutz­ park neben der Welt exakter Wissenschaft, und im Innersten der Kunst wächst die Verneinung der wissenschaftlichen Weitsicht, der „theoretischen“ Kultur heran. Kunst geht, wie auch immer negativ, eine Verbindung mit der Wissen­ schaft ein. Die neue „Kunst“ des Films entsteht sogar aus dieser Verbindung; 3

4

Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1. Vgl. darin die spätere Vorrede „Versuch einer Selbstkritik“, S. 11-22, hier S. 14. Vgl. zu dem mit „materialistisch und zugleich wahrheitsbezogen“ hier Gemeinten zum Bei­ spiel auch Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M. 1962, S. 72: „Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fä­ hig, die standhielte.“

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daher wird leicht übersehen, wie ihm die Negation wissenschaftlicher Weitsicht zugleich innewohnt. Die Filmtheorie der siebziger Jahre, auf dem Wege zur Me­ dienwissenschaft, hat hervorgehoben, daß die Kamera die Natur in überschau­ ender, herrschaftlicher Perspektive reproduziert. Doch ist diese Reproduktion theoretischer Konstruktion nur die Voraussetzung zu ihrer Verneinung, die der Film vollzieht. Denn in ihm vernichtet ein Bild das andere, und es bleibt kein letztes. Der Film bildet diese Verneinung schon in dem Moment, da er aus dem Labor des Wissenschaftlers in die Salons der Künstler gerät, um von ihnen be­ trachtet zu werden; es ist der Augenblick, in dem die Reihenfotografie proji­ ziert wird. Obwohl zuallererst in den Künstlersalons aufgeführt, findet der Film vor dem Ersten Weltkrieg als Kunst keine Anerkennung. Er konterkariert deren Be­ mühungen, einen Ort gegenüber der Wissenschaft zu behaupten. Jedoch ent­ rinnt die Kunst selbst nicht dem Einfluß der theoretischen Weitsicht, gerade wenn sie sich der Wissenschaft entgegensetzt. Sie wird selbst theoretisch - näm­ lich eine Schau, die sich von der Welt der Erscheinungen trennt, ähnlich wie die Schau der Ideen. Sie wird abstrakt. Auch so läßt sich Schopenhauers Gleichset­ zung des Objekts der anschauenden Kunst mit den Ideen verstehen. Nietzsche nimmt diesen Gedanken auf, sieht aber im 19. Jahrhundert die positiven Wis­ senschaften als Erben des sokratischen Theoretisierens an. In ihrer Wirklich­ keitssetzung überdauern die Ideen. Wird die Wissenschaft zum Objekt der Kunst, beginnt erst die Wendung aus dem Idealismus heraus. Die künstlerische Sicht auf die Wissenschaft vernichtet die Bedeutung der Konstruktion, um das Moment der Affektion durch die Wirklichkeit allein zur Geltung kommen zu lassen. Diese Affektion beschrieb Kant noch als die durch ein Ding an sich, die äußere Wirklichkeit; für Schopenhauer hingegen ist es schon der eigene Leib allein, zu dem wir einen unmittelbaren Zugang nicht jenseits, sondern diesseits der vorgestellten Welt haben. Nietzsche folgt Schopenhauer darin, daß er begreift, wie die reine Anschauung ihre Kraft nicht mehr aus der äußeren Welt - des Schönen, des Erhabenen - bezieht, sondern allein aus der inneren Welt des Leibes. Die reine Anschauung ist die des Traums, und die Vermittlung des Traums wird zur Aufgabe des Künstlers. Doch nicht des eigenen, besonderen Traums, vielmehr will die Kunst es al­ len erleichtern, zu den jeweils eigenen Anschauungskräften des Traums zu fin­ den. Diese Kräfte sind in der Kindheit selbstverständlich da - woran Hugo von Hofmannsthal 1921 in seinem Kino-Essay „Der Ersatz für die Träume“ erin­ nerte;5 aber im Erwachsenen der bürgerlichen Welt entstehen sie nur wieder über 5

Hugo von Hofmannsthal: Der Ersatz für die Träume. In: Das Tagebuch 2 (1921), S. 685-687. Wiederabgedruckt in: Anton Kaes (Hg.): Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929. München 1978, S. 149-152.

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die Negation der Konstruktion der Welt. Anderenfalls liefert Kunst „Ersatz“ für die verlorenen Träume. Eine solche triviale, regressive Kunst darf nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs im Kino stattfinden. Doch das Frühe Kino war alles andere als regressiv den Innenwelten ver­ haftet. Es stand mitten im Leben der städtischen Moderne und des Industrie­ zeitalters. Eine Sichtweise auf die Kunst als Kunst heißt, das Augenmerk auf die im Kunstwerk verschlossenen Träume des Künstlers zu richten - dessen eigenste Aufgabe jedoch ist, die Wiederherstellung der traumhaften Anschau­ ung anderen zu erleichtern. Deswegen verlangt die Kunst unter der Optik des Lebens angesehen zu werden. In ihren technischen - aber nicht Technik-affir­ mativen - Produkten verheißt die moderne Kunst eine Anschauung, die den Zu­ schauenden nur zuteil wird, wenn sie nichts sehen, dafür selbst die Negation der Konstruktion vollziehen und der Affektion des Leibes vertrauen. Dies scheint auch die Aufgabe, die das Kino seinem Publikum stellt - und deren Lösung es ihm in den frühen Formen eines sogenannten cinema of attractions leicht macht. - In den Augen der Kunstkenner: zu leicht. Die Affektion des Leibes lassen sie im Sinne des Schopenhauerschen Musikbegriffs noch nur als Kunst selber gelten.

Kunst, die anders ist: Musik Unter der Perspektive einer Kunst der Anschauung käme Nietzsches Aufruf, die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens, paradox bei der modernen Kunst als einer genuin hermetischen an. Die reine Anschauung des Künstlers ist verschlossen in der technischen Reproduktion der Konstruktion der Welt und ihrer Negation - würde er sie positiv vermitteln, hieße dies, seine Anschauung als Traum den anderen aufok­ troyieren. Der Bezug der Kunst zum Publikum stellt sich allein dadurch her, daß die Kunst der Perspektive des Lebens überantwortet wird. Die Sicht des Künstlers kann dann verschlossen bleiben: Sie ist unwichtig geworden. Die Tendenz zur Hermetik gilt allerdings nur, sofern der Künstler an der Anschauung festhält. Schopenhauers Musikbegriff zeigt jedoch, daß schon et­ was anderes ins Spiel kommt, eine Repräsentanz des Lebens, die anscheinend nichts mit der wissenschaftlichen, interessierten Weltanschauung und jedenfalls nichts mit der interesselosen, reinen Anschauung zu tun hat. Die reine Anschau­ ung, die sich am Ende aus den Kräften des eigenen Leibes, den Traumkräften, speist, verliert ihre Bedeutung, und stattdessen wird dieser Leib selbst und sei­ ne Artikulation in den Gebilden der Anschauung entscheidend. In der Ver­ neinung der Anschaulichkeit gelangt der Leib zur Präsenz - in Nietzsches Wor-

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ten: Das Dionysische zerbricht die Individuation. Diese aufbrechende Präsenz des Leibes transformiert die hermetische Gestalt der Kunst: Denn nun ver­ schließt sie nicht mehr die künstlerische Anschauung in sich, sondern öffnet ihr Innerstes in einer Verneinung der Anschauung, in der sich nun der Leib prä­ sentiert. Die Musik hat dieser Verneinung der Anschauung in der Präsentierung des Körpers noch einmal einen sinnlichen Körper neben dem menschlichen Leib gegeben. Damit jedoch hat sie wiederum auch Teil am Scheincharakter der Kunst. Denn die musikalische Äußerung wird von der kontrafaktischen Sehn­ sucht getrieben, es gäbe eine von der wissenschaftlichen Welt unberührte Inner­ lichkeit des Leibes: ihrer ist der „Geist der Utopie“. Dessen war sich Schopen­ hauer wohl bewußt und zog daraus den Schluß, um dieses Geistes willen auf das Faktum leiblicher Existenz überhaupt zu verzichten: den „Willen zum Le­ ben“ zu verneinen. Im sinnlichen Körper der Musik gewinnt der künstlerische Blick auf die Wis­ senschaft, die wissenschaftliche Konstruktion der Welt, noch einmal eine die Menschen verbindende Präsenz neben dieser Welt - während alle Kunst der Anschauung nur im Sich-Verschließen weiter besteht. Im Zeichen der Musik verbindet die Menschen ihre Sehnsucht nach einer unversehrten Leiblichkeit das Überleben unversehrter Leiblichkeit als Sehnsucht. Gegenüber der Herme­ tik, einem Sich-der-Gesellschaft-Entziehen der Kunst, intendierte Wagners Bayreuth eine Erneuerung der Kunst in und aus der Musik und damit auch eine erneute Öffnung, „Popularisierung“ - doch das Volk bildeten die Bürger. Ih­ nen wird die Kunst, in der das Hören den Traum erneuert, noch einmal etwas, das sie in einer gemeinsamen Fiktion als fühlende Menschen vergesellschaftet, während sie zugleich im bürgerlichen Alltag zu fühllosen Repräsentanten des Systems werden. Was machte aus der Sicht dieser kunstbeflissenen Bürger das Kino für die Massen? Es bleibt immer hinter der Kunstentwicklung der Moderne zurück. Es bleibt zurück, weil es keine Musik - Tonkörper - wird und werden kann, sondern seine Basis - wie auch immer negierte Basis - die Anschauung ist. Daß die künstlerische Anschauung sich hinter der technischen Erscheinung des Films zurückzieht, wird ihm als Kunstlosigkeit angerechnet, daß er dann nicht in der Hermetik verharrt, sondern wieder Bilder gibt, nur als Abklatsch der Anschau­ ungskunst beurteilt. Der Film erneuert aber die Anschaulichkeit nicht aus der Musik und aus keiner künstlerischen Kraft, sondern unmittelbar aus der alltägli­ chen Sehnsucht der Massen, der kunstlosen Sehnsucht der Nicht-Bürger. Für sie, die im Kino leibhaft gegenwärtige, werden die filmischen Ansichten der Welt gemacht, und sie werden als Material, an dem sich die formende Kraft des Wun-

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sches erfüllt, gegeben. Wie Adorno, die existentialistische Philosophie des 19. Jahrhunderts, Kierkegaard, aufnehmend, 1930 schrieb: „Denn das .Ästhetische' lebt den Armen nicht in den Gestalten der Kunst, sondern den konkreten Bildern ihres Wunsches und ihnen eröffnen sich die Bilder in dessen opferloser Erfüllung.“6

Kunst, die anders ist: Film Im allgemeinen wurde und wird zum Teil noch heute von Film als Kunst ge­ sprochen, deren Technik zwar schon um 1900 auf der Höhe der Moderne war, aber die sich eigentlich erst nach dem Ersten Weltkrieg und dann auch nur jen­ seits der Massenkultur entfaltete. Für die zehner Jahren gestand man dem Kino - bestenfalls - ein Vorkünstlerisches zu, ein Ungleichzeitiges, nämlich eine von Kapitalismus und Massenpropaganda noch unentstellte leibhafte Sehnsucht. Man sprach von der „Kinderstube“ des Films. Entsprechend fehlte es den Film­ machern noch an eigener künstlerischer Kraft, und sie lehnten sich an die „er­ wachsenen“ Künste und die Kunstgeschichte an. Die Vorstellung einer „popu­ lären Kunst“ setzt sich aus beiden Vorurteilen zusammen. Kracauers Bemerkung vom Film als einer „Kunst, die anders ist“ - wenn man denn von Kunst überhaupt sprechen will - verrät demgegenüber eine Perspek­ tivverschiebung. Und zwar rechtfertigt sich für ihn die Bildlichkeit des Films nicht aus der Sehnsucht derer, die nichts haben als das Leben, das sie ins Kino bringen. Für ihn ist der Film die Verwirklichung jenes Umbruchs in der Kunst, den Schopenhauer in der Positionierung der Musik als anderer Kunst neben die Künste der reinen Anschauung sowohl darstellte als auch leugnete. Verschließt sich die reine Anschauung des Künstlers in der filmischen Reproduktion, wel­ che wissenschaftliche Konstruktion der Natur und die Negation der Konstruk­ tion zugleich ist, so öffnet sich das Innerste dieses hermetischen Gebildes in dem Augenblick, da der künstlerische Blick sich zurückzieht und an seiner Statt der leiblichen Wirklichkeit - der eigenen hinter der Kamera und der Welt im „Ob­ jektiv“ - die Spur der Negation überläßt, damit sie sich in der Negation der Anschauung zur Präsenz bringt. Kracauers „physische Wirklichkeit“ ist beides: Kants Ding an sich hinter aller objektiven Welt und die Leiblichkeit des Sub­ jekts, die ihm laut Schopenhauer einen anderen Zugang zur Objektwelt bietet als die Wissenschaft. In diesem Begriff des Films als einer Kunst, die anders ist, vermeidet Kracauer den unmittelbaren Rekurs auf das Publikum und integriert doch die „Optik des Lebens“ in die Anschauungskunst des Films. Dieser be­ ginnt sich damit - anders als die Musik - als Kunst aufzulösen. 6

Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt/M. 1962, S. 252.

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Kracauer rettet den Film noch einmal vor der zwiespältigen Anerkennung als eine populäre Kunst. Diese Wertschätzung hält überdies dem Faschismus und der Kulturindustrie nicht stand. Stattdessen wird in Kracauers Theorie deut­ lich, daß der Film das Erbe der Körperkunst antritt - der Film ist eine Kör­ perkunst, die mit der gesellschaftlichen Negativität des Körpers, seiner Spaltung in Subjekt und Objekt beginnt und auf die Rettung der physischen Wirklich­ keit zielt. Der Umbruch der Kunst ist der aus der Teilhabe an der Bildung des Geistes - auch noch seiner Dekonstruktion als Fiktion - in die der Bildung des Lebens.

... die Kunst unter der Optik des Lebens Für Nietzsche ist der künstlerische Blick auf die Wissenschaft nur die eine Sei­ te des Ausgangs aus der theoretischen Kultur, die andere ist die Betrachtung der Kunst unter der Optik des Lebens. Damit setzt sich in seiner Philosophie schon die Wahrnehmung einer Veränderung der Kunst durch, die mit dem Kino ma­ nifest wird und in der sie sich nicht mehr als Kunst erhält. Im Beharren auf der Kunst als Kunst - auch einer, die anders ist - wird sie selbst Ungleichzeitiges, ist die Moderne schon immer das Veraltete; während der Film mit der Entste­ hung des Kinos den Wechsel von der Optik des Künstlers zu der des Lebens vollzogen hat und alle Kunst - so sehr sie sich auch postmodern um die Prä­ senz der Körper, um das Hineingehen ins Leben bemüht - hinterherhinkt, ein bloßer Abklatsch ist. Was aber heißt es, die Kunst unter der Optik des Lebens betrachten? Es heißt zu sehen, wie es keine von der wissenschaftlichen Weitsicht unberührte Inner­ lichkeit des Leibes mehr gibt, in der die Welt hinter den Erscheinungen unmit­ telbar erfahrbar würde. Es heißt, dort nicht zu resignieren, wo es klar wird, daß die Musik selbst schon auf die Verstellung der Leiberfahrung verweist und nicht ihr Hort ist. Nietzsche schert an dem Punkt aus dem Bayreuthkult aus, wo der ins Einverständnis mit der Bedrohung der Leiblichkeit einschwenkt, Wagner „zu Kreuze kriecht“. Nietzsches Philosophie reagiert auf eine Entwicklung der Wissenschaften, in der diese nicht nur die Sicht auf die Welt bestimmen, der die Künstler zu opponieren haben, in der die Wissenschaft nicht nur die Sinne der Wirklichkeit entfremdet, sondern in der sie den menschlichen Leib seinem Leben entfremdet. Wissenschaft selbst vollzieht einen Umbruch aus dem Rahmen der reinen Theorie - der Philosophie - heraus in den einer praktischen Konstruk­ tion der Welt, in Technologie. Sie greift in das Innere des menschlichen Leibes ein und unterwirft im Zeichen von Dynamik, Energetik, Kinetik das Leben ihrem instrumenteilen Zugriff.

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Die Perspektive des Lebens läßt am Film etwas erkennen, das allem Denken im Horizont des Verhältnisses von Wissenschaft und Kunst entgleitet. Film ist nicht nur etwas Ästhetisches, das die Wahrnehmungsfähigkeit des Zuschauers herausfordert und das in Negation der Konstruktion der Welt die leibliche Af­ fektion provoziert. Er ist auch nicht nur das negativ Ästhetische, nämlich die Präsentation von Körperlichkeit, physischer Realität in der Zurücknahme der Wahrnehmung. Film ist dann auch etwas jenseits des aller Subjektivität entblöß­ ten Ästhetischen, er ist am Ende nicht nur künstliche - über Technik und deren Negation sich herstellende - Sinnlichkeit der Welt; als kinematografische Ver­ anstaltung ist er - in gleichem Verstände - künstliches Leben.

Von der Ästhetik zur Kinetik In den Theorien des Films steht die optische Technik in ihrer Entwicklung von der Camera Obscura bis zur Filmkamera im Vordergrund. Und nicht nur die Technik; Film wird als Austausch zwischen Licht und Auge betrachtet. So wurden die Ursprünge des Films von der Renaissance bis in die Antike zurück­ verfolgt. Die wahrhaften technischen Neuerungen, die den Film im 19. Jahr­ hundert jedoch erst konstituieren, sind zum einen die chemische Fixierung der Fotografie und sodann die Bewegungstechnik, die aus der Energieforschung stammt, der Erforschung im Besonderen des „menschlichen Motors".7 Daher reicht keine ästhetische Theorie an das, was der Film ist, heran; er fordert, wenn man so will, eine „Lebenstheorie“ heraus, die dem wissenschaftlichen Zugriff auf das Leben sich widersetzt. Nur sie wird im Umbruch der Wissenschaft aus der Theorie in die Technologie der oppositionellen Praxis des Kinos gerecht. Darin liegt bis heute die Bedeutung von Bergsons „Lebensphilosophie“ für die Filmtheorie. Bedeutend ist sie aber ebenso in der Thematisierung des Lebens wie in der Wahrung einer reinen - nicht instrumentellen - Theorie. Kino opponiert der technologischen Wende der Wissenschaft, indem es die Theorie anhält, indem es im Anschauen verhält und alle menschliche Kraft darin bindet. Kino tut dies durch die Technologie der Wissenschaft hindurch, es nimmt die Technik, in die die Erforschung der inneren Zeit des Lebewesens umschlug, auf und bindet sie noch einmal in der Produktion von Anschauung. Es entzieht die menschlichen Kräfte damit dem Zugriff in doppeltem Sinne: dem objekti­ vierenden, aber auch dem subjektivierenden Zugriff, in dem wir zu Subjekten der wissenschaftlichen Praxis werden, die als Technisierung der Lebenswelt sich 7

Vgl. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity. Berkeley 1992.

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manifestiert. Das Verhalten in der Anschauung hat Siegfried Kracauer 1920, kurz nach der Explosion der Technikentwicklung im Ersten Weltkrieg, mit dem „Warten“ angesprochen.8 Das Warten ist kein Rückzug in die Philosophie - wie Bergsons „Lebensphilosophie“ -, es ist die Theorie, die nicht in Praxis um­ schlägt, sondern die in sich die Kräfte der Praxis sammelt, so daß eine gespann­ te Aufmerksamkeit nicht nur der Sinne, sondern des gesamten Leibes entsteht. Kracauer versteht später das Denken im Warten als Geschichte - Eingedenken verlorener Prozesse -, als „Vorraum-Denken“.9 Aus dem Bereich der Ästhetik in den der Kinetik entwickelt sich im 19. Jahrhundert die Kunst zum Film. Durch die Rückbindung der Bewegungstech­ nik in die der Anschauung tritt der Film jedoch als ein im Schein der Anschau­ ung Manifestes in Spannung zu einem im Dunklen Latenten. Diese Spannung ähnelt der, die Bergson zwischen der wissenschaftlichen Erfassung der Welt und der Intuition beschrieb. Wie der Gegenstand der Kunst, ihr Objekt, die wissen­ schaftliche Konstruktion der Welt wurde, so entsteht als ihr Subjekt das Leben, das aus der technologischen Erfassung herausfällt. Es kommt auf keinen Künst­ ler mehr an, die besonderen Fähigkeiten der Anschauung und der Vergegenwär­ tigung seines Leibes, auf keine Macht, sondern die Ohnmacht des Lebendigen in der wissenschaftlich-technologischen Welt produziert im Kino eine Kunst des Widerstandes. Dieser gilt auch der Kunst und den Künstlern, die dem Druck der bürgerlichen Weltordnung widerstandslos nachgegeben haben.

Kino als Körperkunst In den Philosophien des 19. Jahrhunderts kommt eine Transformation der Kunst zur Sprache, die erkennen läßt, wie der Film aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus entsteht, und wie er zugleich sich dem zuwendet, das aus dieser Gesell­ schaft herausfällt oder von ihr nicht ergriffen wird. Er öffnet sich damit auch und gerade den widerständigen Residuen anderer Formen der Vergesellschaf­ tung. Dies prägt die Anfangsjahre des Kinos. Die Erscheinung des Films in den bürgerlichen Kunstsalons ist nur Epsiode. Massenhaft findet er auf Jahrmärk­ ten und in Varietes Verbreitung. Das sind Orte, deren Anziehungskraft aus ei­ ner anderen Tradition der Vergesellschaftung als der bürgerlichen herrührt, oder aus Momenten der bürgerlichen, die im Laufe der Kapitalentwicklung ausge­ schieden werden. Die Jahrmärkte des 19. Jahrhunderts haben eine bedeutende 8

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Siegfried Kracauer: Die Wartenden. In: Frankfurter Zeitung vom 12. März 1922. Wiederab­ gedruckt in: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt/M. 1963, S. 106-119. Ders.: Geschichte - Vor den letzten Dingen. Frankfurt/M. 1973 (Am. Original: History, the Last Things before the Last. Oxford 1969). Vgl. darin z.B. S. 239.

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Vorgeschichte in der Marktkultur des späten Mittelalters, der von Michail Bachtin so genannten „Lachkultur“.10 Nach Bachtins Erkenntnissen bildete diese Kultur einen Widerstand gegen die hierarchische Ordnung mittelalterlicher Gesellschaft, sie stellte eine subversive Vergesellschaftung dar. Von Film als Kunst im Sinne eines spezifischen berufsständischen Bereichs bürgerlicher Kultur kann ich nicht sprechen - denn den Film bestimmt gerade seine Versenkung in die menschliche Gegenwart, in das „Leben“ jenseits bür­ gerlicher Ordnung. Doch spielt in der Entwicklung des Films zur Massenkultur die Tradition einer im Kanon bürgerlicher Musen gar nicht anerkannten Kunst, der Körperkunst, eine wichtige Rolle. Sie hatte ihren Ort auf Jahrmärkten, in Varietés, im Zirkus. Dem Verständnis gerade des frühen Kinos kommen wir vielleicht näher, wenn wir noch einmal von „Kunst“ im Sinne von Körperkünsten, von Artistik sprechen. Bei diesen handelt es sich um Techniken, die nicht im Dienst der Werk­ produktion stehen. Denn zum einen sind die Techniken auf den (menschlichen) Körper und seine flüchtige Erscheinung gewandt, und es geht nicht um das Un­ vergängliche, die Ewigkeit. Zum anderen entfaltet die Technik ihre Virtuosität im Hinblick auf den Eindruck, den sie im Publikum macht. Ebenso wie in den Körperkünsten dient die Technik oder dienen die Tech­ niken des Films nicht der Produktion eines Werks. Sie sind den flüchtigen Er­ scheinungen der vergänglichen Welt gewidmet und dem Eindruck im Publikum. Aus der Perspektive der Körperkunst ergriffen, bildet der Film eine Technik, die einzelne Menschen für die körperlich Welt entwickelt haben, ähnlich wie der Artist sie für seinen Körper erworben hat. Durch sie bietet sich eine kör­ perliche Welt dar - und zwar nicht nur der Körper des Menschen, sondern der Tiere, Pflanzen und Dinge ebenso. Doch anders als bei den Seiltänzerinnen, Trapezkünstlern, Clowns, treten im Film der ausstellende und der ausgestellte Körper auseinander. Auf der ei­ nen Seite ist nicht der Mensch, der den Film erfunden hat und der ihn macht, sondern sind alle möglichen Körperwelten die Artisten des Films. Auf der an­ deren Seite verstehen diese nichts von der Technik, handhaben sie nicht die Tech­ nik ihrer Ausstellung, sondern das tut eben der, der ihnen die Technik entge­ genbringt und sich aufs Publikum versteht. Der Filmmacher ähnelt darin am ehesten noch dem Tierbändiger. Im Film tritt der traditionelle Körperkünstler, der die Technik erlernt hat, nicht mehr selbst auf, er verhilft nicht dem eigenen, sondern allein den anderen Körpern mittels der erlernten Technik zu einer Ausstellung, die Eindruck auf 10 Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt/M. 1987 (Russ. Original: Tvoröestvo Fransua Rable. 1965).

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ein Publikum macht. Dadurch aber ist die Figur des Körperkünstlers entpersonalisiert und entindividualisiert, sie verwirklicht sich im Verhältnis dessen, der sich auf die Technik beeindruckender Körperausstellung versteht, zur körper­ lichen Welt, das ebenso ein Verhältnis der körperlichen Welt zu ihm ist. Dieser körperlichen, physischen Welt galt Kracauers Hingabe ans Kino - im amerikani­ schen Original steht im Untertitel der Theorie des Films „physical reality“ - und ihr wollte er den Filmmacher hingegeben wissen. Wenn Film eine Körperkunst ist, dann eine, in der die erscheinende Welt ebenso sehr Künstler ist wie die Per­ son, die sich auf die Technik der Kamera und des Projektionsapparats versteht.

Zwischenraum und Zwischenzeit Die Körperkunst des Films wird nicht durch eine identifizierbare Person, son­ dern durch Verhältnisse konstituiert: das Verhältnis zwischen dem Mann - oder der Frau - mit der Kamera und der physischen Wirklichkeit, das Verhältnis zwischen Kameramann und Projektionist, Projektionistin und Publikum. Aus diesen Verhältnissen bildet sich die Körperkunst des Films, die sich den Augen eines Publikums darbietet. Sie heben die Gleichzeitigkeit zwischen sich darstel­ lendem Körper und Zuschauer auf. Denn diese Verhältnisse bilden einen Zwi­ schenraum und eine Zwischenzeit zwischen der aufzunehmenden Wirklichkeit und der der Zuschauerinnen und Zuschauer. Wir meinen immer, daß für den Film entscheidend ist, daß das Publikum - anders als im Theater, im Zirkus, im Variete, auf dem Jahrmarkt - von der Wirklichkeit, die die Kamera einfängt, getrennt ist. Wenn wir etwas im Film sehen, ist es immer schon gewesen, sind wir an einem anderen Ort als dem des Geschehens, das wir beobachten. Doch ist dieser Aspekt vielleicht gar nicht so entscheidend. Denn aus der Perspektive der Körperkunst betrachtet, kommt es nicht auf die Wirklichkeit an, die gewe­ sen ist, sondern auf die Ausstellung ihrer Physis. Die Ausstellung nun ist nicht mit der Aufnahme beendet, sondern setzt sich in der Projektion fort, die in Gegenwart des Publikums geschieht; erst die Projektion vollendet die Körper­ kunst, indem sie sich dem Eindruck auf ein Publikum widmet. Andererseits findet in der Tat eine Ablösung der filmischen Erscheinung von der Realität statt. Der Körper des Artisten hat zweierlei Präsenz, eine ausge­ stellte, sichtbare, und eine unsichtbare. Löst sich der Artist in das Verhältnis von Kameramann und physischer Wirklichkeit auf, tritt der ausgestellte Körper in das Verhältnis von Unsichtbarem und - im Film - Sichtbarem ein. Ja, es fehlt dem sichtbaren Körper im Film die Gegenwart des unsichtbaren. Doch er bleibt nicht in dieser Isolation. Denn der filmische Körper wird begleitet von der unsichtbaren Gegenwart dessen und derer, die ihn einem Publikum zur Vor-

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führung bringen. Daher ist das Publikum im Kinoraum am Ende nicht mit ei­ ner Absenz konfrontiert, sondern begegnet dem sichtbaren Film in einem Zwi­ schenraum und einer Zwischenzeit, in denen die unsichtbare phyische Anwe­ senheit der ausstellenden Techniker an die Stelle der Wirklichkeit des Gefilm­ ten getreten ist. Im Sinne der Körperkunst gehört zu den Fähigkeiten eines guten Film­ machers, daß er ein Gespür für die unsichtbare Gegenwart des Körpers im Objektiv der Kamera hat und daß er dieses Gespür in der Projektion weiter­ gibt - an den Projektionisten weitergibt, an dem es ist, solche Wahrnehmung dem Publikum zu vermitteln. Das beginnt mit dem Gespür für Tempo und Rhythmus der Filmaufnahmen - in den Anfangsjahren wurden die Filme mit der Handkurbel gedreht und vorgeführt -, es geht aber viel weiter. Neben den Haupttechniken des Films: der Kamera, dem Schwarzweißfilm, der das Er­ scheinungsbild festhält, und dem Projektionsapparat, zu dem in Tradition der Laterna Magica der dunkle Raum gehört, haben die Artisten der neuen Körper­ kunst eine Fülle von Nebentechniken in Anspruch genommen, um das Gespür für eine unsichtbare Gegenwart dem Publikum zu vermitteln. Zu diesen Tech­ niken gehören insbesondere die der Farbgebung und die der musikalischen Be­ gleitung. Nicht nur der Ton im Frühen Kino, sondern auch die Farbe zielt - statt auf die Vervollständigung des sichtbaren Körpers - auf die Evokation eines Gefühls für den nicht sichtbaren. Zwischen der Wirklichkeit und dem Publikum existiert im Frühen Kino also nicht „ein Medium“, sondern ein Prozess der Körperausstellung, in dem sich eine Zwischenzeit und ein Zwischenraum materialisiert - zwischen Zeit und Raum der gefilmten Wirklichkeit und Zeit und Raum des Publikums. Die un­ sichtbare Wirklichkeit des Gefilmten erfährt in diesem Zwischen ihre Verwirkli­ chung als Wahrnehmung und Überlieferung durch die Filmartisten. Es handelt sich, wenn man so will, um die Geschichte, in die das Filmmaterial eingebettet ist. An den „Sekundär“-Techniken des Frühen Kinos wird daher andererseits auch deutlich, daß mit dem Film die Körperkunst sich verändert: Ihr obliegt nicht mehr nur die Technik der sichtbaren Darbietung des Körpers, sondern die darin immer unsichtbar gegenwärtige körperliche Präsenz zu vermitteln, wird ihr auf einmal zu einer eigenen Aufgabe. Dazu müssen sich die Filmartisten nicht nur auf die Technik der Körperausstellung und deren Eindruck auf das Publi­ kum verstehen, sie müssen die Wahrnehmung unsichtbarer Präsenz ausbilden und eine Fähigkeit, sie zwischenmenschlich zu tradieren. Jules-Etienne Marey entwickelte die Chronofotografie aus dem Forschungs­ interesse an der Feststellung der „inneren Zeit“ von Lebewesen. Den Körper­ künstlern scheint der Film ein ähnliches Interesse aufzudrängen. Jedoch wird dieses Interesse von ihnen aus entscheidend anderer Perspektive aufgenommen.

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Zum einen ist der Gegenstand der Filmmacher nicht das unsichtbare Innere eines natürlichen Lebewesens, sondern das Unsichtbare, das hinter der technischen Aufnahme seiner sichtbaren Oberfläche zurückbleibt; zum anderen geht es nicht um die instrumentelle Erfassung dieses Unsichtbaren, sondern um seine leben­ dige Wahrnehmung und die Vermittlung dieser Wahrnehmung. Das Ziel der Filmartisten ist nicht, eine wissenschaftliche Erkenntnis für sich und im Dienst von Industrie und Kapital zu gewinnen, sondern die Wahrnehmungs- und Er­ kenntnisfähigkeit des Publikums für jene unsichtbare Gegenwart zu berühren. Noch ein dritter Unterschied kommt hinzu: Der Blick des Wissenschaftlers auf die „innere Zeit“ gehört der äußeren Zeit an, die die gesellschaftliche Öf­ fentlichkeit prägt. Die Zwischenzeit und der Zwischenraum hingegen, in der sich die Wahrnehmung der Filmartisten vermittelt, gehören der Privatsphäre an. Auch in ihr gibt es ein widerständiges Residuum einer anderen Vergesellschaf­ tung als der bürgerlichen. Aber damit trete ich in ein neues Feld ein: der Be­ trachtung des Films nicht länger mehr unter der Perspektive einer Körperkunst, sondern einer wortlosen Sprache des Leibes und der Liebe.

Anmerkungen zu Körperlichkeit und Entkörperlichung in den darstellenden Künsten Joachim Fiebach

Mein Beitrag nimmt Heide Schlüpmanns Text in diesem Band zum Ausgangs­ punkt, um auf zwei Fragenkomplexe skizzenhaft einzugehen. Der eine betrifft das Phänomen „Kunst“, Auffassungen von dem, was denn Kunst sei. Der an­ dere hängt mit der Charakteristik des Kinos als Körperkunst und mit der be­ sonderen Bedeutung zusammen, die Körperkunst in dem historischen Kontext um 1900 meines Erachtens hatte. Zum ersten, einem sehr „weiten Feld“, kann ich hier meine Sicht nur thesen­ haft vorstellen. Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, Film als Kunst zu nehmen. Konzepte von Kunst wie etwa das Schopenhauers sind jedoch spezi­ fisch historisch im bildungs-bürgerlichen europäischen 19. Jahrhundert gewach­ sen und so begrenzt. Sie dürften schwerlich für das neue Medium Film, die neuen audiovisuellen Medien überhaupt, in denen sich seit der Jahrhundertwende Künstlerisches äußern wird, (normativer) Maßstab sein/bleiben. Allerdings läßt eine solche Feststellung offen, was denn nun „Kunst“ wäre/sein könnte. So stelle ich hier als meine Auffassung von Kunst eine Haltung aus, die ich bei Brecht am bündigsten Umrissen fand. Im Messingkauf ließ er den Dramaturgen sagen, der Künstler produziere sich, was sein Philosoph, wohl er selber, aufnimmt: Im Künstler produziere sich der Mensch. Es sei Kunst, „wenn der Mensch sich pro­ duziere“.1 Die Künstler entwickeln Geschicklichkeit. Das sei der Anfang. Das Schöne an den künstlichen Dingen sei, daß sie geschickt gemacht sind.1 2 Die Schauspielkunst z.B. könne nur als eine elementare menschliche Äuße­ rung betrachtet werden, „die ihren Zweck in sich hat“. Sie gehöre zu den ele­ mentaren gesellschaftlichen Kräften, zu „einer Lust der Menschen in Gesell­ schaft“. Darauf solle man sich erheben. Als Regieanmerkung steht bei Brecht: erheben sich “. Der Philosoph reagiert: Nun schlage er vor, daß „wir die Gelegenheit, daß wir uns erhoben haben, noch dazu ausnützen, zu gehen und unser Wasser abzuschlagen“. Der Schauspieler protestiert, nun ruiniere der Phi1 2

Bertolt Brecht: Schriften zum Theater. Bd. V. Bruchstücke zur vierten Nacht. Berlin 1964, S. 253 f. Ebd.. S. 254.

Anmerkungen zu Körperlichkeit und Entkörperlichung

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losoph alles. Der Philosoph: „Wieso? Auch hier folge ich einem Trieb, beuge mich ihm, ehre ihn. Und zugleich sorge ich dafür, daß die Feierlichkeit einen würdigen Abschluß findet im Banalen.“3 Brecht insgesamt und speziell die Messingkauf-Fragmente führen zu mei­ ner zweiten Anmerkung, zu dem, was ich als faszinierenden Kern von Schlüpmanns Beitrag sehe - Kino als Körperkunst und als Triviales, das eben, so die Assoziation, die sich aufdrängt, Körper-Kunst ist/sein kann. Bei Brecht erscheint es als das Banale, das es zu ehren gelte, eine ungeheuerliche Erniedrigung der Kunst für den Schauspieler und, würde man weiter denken, für Sichten im 19. Jahrhundert, wie sie Heide Schlüpmann erörtert. Das Banale ist jedoch zugleich das Höchst-Geschickliche, die besondere produktive Praxis des Körpers, die kräftige (dominante?) Sinnlichkeit, die solche Körper-Kunst entfalten kann, die sie, vielleicht, in ihrem Wesen ist. Die großen Clowns in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Valentin, Chaplin, sind die besten Zeugnisse, als Künstler, die aus den alten (noch) vorhandenen Schaubuden, aus dem Umfeld der Jahrmärk­ te kamen und herausragende Akteure des neuen Mediums Film wurden. Sie wa­ ren, besonders für den Brecht im ersten Drittel des Jahrhunderts, die großen Modelle für große Kunst. Damit aber auch des früheren Films, dessen Grund­ strukturen und enorme gestalterische und kommunikative Möglichkeiten Clowns, vor allem Chaplin, ausstellten. Dieser frühe Film, vor dem Weltkrieg und auch jener der zwanziger Jahre, besonders der clownesken Protagonisten, betonte die anschauliche Bewegung, die bildhafte Oberfläche, das visuelle Au­ ßen der Dinge und so vor allem den Körper als das fundamentale Phänomen, eben die Erscheinung der Menschen-Welt. Es war diese Dominanz des Sinnlich-Bildhaften, der Visualisierung, die, zu­ nächst, dem (deutschen) Bildungs-Bürgertum mit seiner obsessiven Idealisie­ rung der Innerlichkeit, der Privilegierung des Geistigen, das aus den Kinode­ batten bekannte große Unbehagen bereitete, zumindest bis in das zweite Jahr­ zehnt hinein. Die performativen künstlerischen Tätigkeiten, die die Geschick­ lichkeit des Körpers, die Anschaulichkeit der Welt, das Bildliche und daher die Oberflächen besonders ausstellten, angefangen von den Theaterrichtungen in der commedia dell’arte-Tradition wie dem Théâtre de la Foire bis zum Zirkus der Akrobaten des 19. Jahrhunderts, galten diesem Bürgertum, vielleicht genauer seinen hegemonialen Intellektuellengruppen, als Un-Kultur. Sie wurden ver­ schrieen, negiert, in die Vorstädte als „Jahrmarktsspektakel“ vertrieben. Das erklärt auch teilweise, warum sich zunächst, nach einer ersten, sehr kurzen Phase der Einbindung von Film-Attraktionen in die Nummern-Collagen teurer Va-

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Ebd., S. 258 f.

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rietés, der Film als Körper-Kunst in billigen Etablissements, nicht zuletzt in Schaubuden der Jahrmärkte, entfalten mußte und konnte. Kulturgeschichtlich sehr interessant ist, dass andere bürgerliche Gruppen seit den 1890er Jahren Äorperkunst wieder in ihren besonders abgegrenzten Dar­ stellungsräumen, dem tradierten deutschen Theater, zu privilegieren begannen, auch, teilweise betont, in der (erneuten) Anleihe bei der bis dahin ausgegrenz­ ten „Schaubuden“tradition und bald in Korrespondenz zu filmischen Gestal­ tungsweisen. In Theaterhäusern, die bisher dem literaturverpflichteten Bil­ dungstheater Vorbehalten waren, erschienen Ausstattungsstücke und revueartige Spektakel, in denen anstelle der diskursiven Sprache das Konkret-Sinnliche der Dinge (Kostümierungen, Szenographien) und die sich darin bewegenden Kör­ per als „begehrenswerte Bilder“ vorherrschten. Symptomatisch scheint 1892 der Neubau „Kleines Theater unter den Linden“ gewesen zu sein. Er vereinte das tradierte Bühnenhaus (den „Kunsttempel“) mit Räumen für elementaren, tri­ vialen Genuss wie einem Café. Im Prolog zur Eröffnung hieß es: „Hier stirbt nicht Egmont unterm Henkerbeile/ und Götz wird nicht im Schlafe umge­ bracht./ Hier wird alleine nur der Langeweile/ Mit Lied und Tänzen der Gar­ aus gemacht.“4 Seit 1904 demonstrierten Max Reinhardts Berliner Inszenierungen, fast „massenwirksam“, die neue Akzentuierung des Sinnlichen, des Bildhaften, der dynamischen visuellen Bewegung. Er brachte seit 1908/09 Pantomimen in den vormals streng der Literatur unterworfenen Bühnentempel, den das Deutsche Theater und seine 1906 errichtete Dependance Kammerspiele repräsentierten. Nicht zuletzt wegen seiner Neu-Sicht des bis dahin kulturell hegemonialen literaturfixierten deutschen Theaters reagierte die konservative Bildungselite, und auch Teile der intellektuellen Öffentlichkeit, unbehaglich. Der Kritiker Engel sah 1905 anläßlich der Inszenierung von Der Kaufmann von Venedig Gefahren. Reinhardt nehme als Regisseur die Dinge von der „malerischen Sei­ te“. Seine „Bühnenmalerei“ strebe „nach Bewegtheit und Fülle, nach Unruhe und Überfluß. Die Diener, die einen Gast anzumelden haben, springen auf sei­ ner Bühne wie Besessene ins Zimmer.“5 Die höchste Eigenart der Inszenierung sei die Darstellung, so der Kritiker Heinrich Hart. „Eine bewegtere Darstel­ lung ist mir noch nicht vorgekommen. Das war ein Rennen, Tollen, Zappeln, Stürmen von Anfang bis zum Ende. Eine Beweglichkeit, bei der alle mittaten, selbst Shylock, Porzia und der Doge.“6 1910 bemerkte Engel zu Reinhardts Deutung des König Ödipus im Zirkus Schumann: 4 5 6

In: Berliner Börsen-Courier, 24. 9. 1892, Nr. 985. In: Hugo Fetting (Hg.): Von der Freien Bühne zum Politischen Theater. Bd. 1. Berlin 1987, S. 315. Ebd.,S. 310.

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„Ich habe hier nur einzelne Bilder gegeben; sie werden genügen. Sie werden eine Ahnung geben, wie Reinhardt uns die Edelanekdote vom Schicksal des vatermordenden Oedipus vorzeigt, als et­ was in Bewegung Aufgelöstes, Windgepeitschtes, Tornadoartiges, Feuergewordenes.“7

Jacobsohn stellte zur „Faust“-Inszenierung von 1909 einfach fest, bei Reinhardt sei „die Liebe zum Wort geringer als die Liebe zum Bild“.8 9Was Körper hat, komme „hier besser weg, als was Geist ist. Reinhardt experimentiert an der .Erscheinung* des Erdgeistes und des Bösen Geistes herum Von Kritiken aus schließend, ist diese Gestaltungsweise in Parallele zu set­ zen zur diskontinuierlichen Bewegung filmischer Darstellungen. Was Jacobsohn 1908 über König Lear schrieb, ließe sich als Schilderung einer filmischen Struktur lesen, deren Hauptmerkmal besondere Blendentechniken sind: „Die Gefolg­ schaften leben ... Alles ist ein Fluß. Gruppen bilden und lösen sich. Sprechchö­ re schwellen an und ebben ab. Menschenleiber und Menschenstimmen schie­ ßen hinüber, herüber.“10 11 Julius Bab beschrieb 1912 Darstellungsmomente in Hebbels Nibelungen wie Filmschnitte: Nach bunter Fröhlichkeit der Halle von Bechlarn versetze die Drehbühne den Zuschauer mit einem Ruck „mitten zwi­ schen seine hohen Baumgänge“. Die Sonnenscheibe beginne vor einem zu sin­ ken, „und wenn am Ende Dietrich von Bern den Burgundern seine Warnung zukommen läßt, so steht er mitten im Baumgang vor dem Abendlicht; wie ein drohendes Gespenst zerstört seine riesige Erscheinung diese letzte Fröhlichkeit.“"

Allerdings: Ich sehe eine Schwierigkeit darin, die neue, spezifische Sinnlichkeit des Films, wie ich es umschreiben möchte, so massiv, ohne umfassende Erläu­ terung12 oder genauer ohne problematisierende Eingrenzung in der Vorstellung Ebd., S. 403. In: Die Schaubühne, 14/1909, S. 387. Mit dieser Stelle und den folgenden Referenzen auf „Die Schaubühne“ bin ich durch eine Belegarbeit von Ute Scharfenberg bekannt geworden. 9 In: Die Schaubühne, 15/1909, S. 414. 10 In: Die Schaubühne, 40/1908, S. 295 f. 11 In: Die Schaubühne, 3/1912, S. 70. Vgl. Joachim Fiebach: Audiovisuelle Medien, Warenhäuser und Theateravantgarde. In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): TheaterAvantgarde. Tübingen 1995, S. 15-57. 12 In der Diskussion gab Heide Schlüpmann diese Erläuterungen. Sie bezog sich auf die Art und Weise, in der der sehr frühe Stummfilm gerade in den billigen Etablissements, auf Jahrmärk­ ten, sinnlich-körperlich rezipiert wurde, in der unmittelbaren praktischen, körperlichen Re­ aktion der Zuschauer untereinander und zu dem auf den Leinwänden Gezeigten. Es war eine sehr ähnliche Haltung, wie man sie in den Aufführungen der nichtmediatisierten darstellenden oder performativen Künste in der Tradition der commedia dell'arte, der Akrobaten und Seil­ tänzer in den Schaubuden der Jahrmärkte und im Zirkus eingenommen hatte. Jedoch: Auch der spezielle Bezug auf die Art und Weise, wie man sich zu den frühen Stummfilmen verhielt, auch die erläuterte Kommunikations-/Rezeptionshaltung kann mein Unbehagen über die Cha­ rakteristik Aörperkunst angesichts der „konkreten“, z. B. der technologisch fabrizierten zwei­ dimensionalen, schon von dieser Seite her „ent-körperlichten“ Gestalt des Filmkunst“proi/«&fs“ nicht ausräumen.

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Körperkunst zu fassen. Heide Schlüpmanns Ansatz wäre in mehreren Richtun­ gen weiter zu verfolgen. Ich möchte nur auf einen Aspekt verweisen. Ist nicht gerade die Technologisierung des Kunstmachens, des Kunstprodukts und der Rezeption, die gleichsam industrielle Mediatisierung, die der Film ist, ein, viel­ leicht der Ansatzpunkt jener merkwürdigen Tendenz des „Verschwindens“, der „Entmaterialisierung“,13 daher eben der Entkörperlichung, die sich nicht nur in Konzeptionen, in den Strukturen der verschiedenen avancierten Künste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, sondern in vielen anderen sozio-kulturellen Feldern/Tätigkeiten im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigt, zumindest was die Prägung von Wahrnehmungsweisen betrifft? Sie erscheint oder wird immer wieder diskutiert als Folge und Dimension mehrerer, verschiedener Bewegun­ gen, der exponentiellen Beschleunigung von Geschwindigkeiten im Zuge der Kommunikations- und Informationsrevolution(en) und der Warenzirkulation,14 der Umwälzungen von Produktionsverfahren durch wissenschaftlich-techni­ sche Erfindungen und Entdeckungen seit der Chemisierung, Elektrifizierung15 und der Röntgenstrahlung, des Umbruchs des (physikalischen) Weltbilds seit Einstein und der Quantenphysik. Was Denken und Praktiken von Theater oder genauer, da umfassender, dar­ stellender Künste betrifft, sind diese zwei scheinbar unvereinbaren Tendenzen seit Jarry und Georg Fuchs, also seit den 1890er Jahren und kurz nach der Jahrhundertwende hervorstechende Merkmale eines grundlegenden Koordina­ tenwechsels, besonders ausgeprägt im italienischen Futurismus und dann im Bauhaus. Das vertrackte Paradox des „Verschwindens“ des massiv „faßbaren“ Körperlichen gerade in der Umorientierung auf das Außen, auf das Sinnliche, im betonten Gegensatz zur bisher hegemonial privilegierten (psychologisierten) Innerlichkeit zeigte sich bei Jarry darin, daß er das Körperliche und besonders auch das Banale ausstellte und zugleich engagiert war in der Suche nach dem Ubersinnlich-Unsichtbaren, dem „Übernatürlichen“ (Virilio), Irrrationalen, dem am Außen der Dinge und der Körper nicht Fesimachbaren, Unkörperli13 Das ist das Thema Virilios in seinen Skizzen zur Entfaltung der neuen Techniken der Fortbe­ wegung und der Information/Kommunikation, mit dem entscheidenden Beginn des Films. Siehe u.a. Paul Virilio: Esthétique de la disparition. Paris 1980. Die Geschwindigkeit, so eine seiner Beobachtungen, behandele das Sehen wie primäre Materie, Reisen sei wie Filmen. Es produ­ ziere nicht so sehr Bilder als neue Gedächtnisspuren, unwahrscheinliche (invraisemblables), übernatürliche (surnaturelles). In einem solchen Kontext könne selbst der Tod nicht mehr als etwas Totes erfahren (ressentie) werden. Er werde wie bei William Burroughs einfach ein tech­ nisches Geschehen, das schließliche Trennen des Bildstreifens von der Tonspur (S. 69 f.). 14 Vgl. u.a. Margaret Morse: An Ontology of Everyday Distraction: The Freeway, the Mall, and Television. In: Patricia Mellencamp (Hg.): Logics of Television. Bloomington 1990, S. 193-222; Joachim Fiebach: Keine Hoffnung Keine Verzweiflung. Versuche um Theatralität und Theater­ kunst. Berlin 1998, S. 85-182. 15 Vgl. u.a. Lewis Mumford: Technics and civilization. New York 1934.

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eben. Sein König Ubu war ideal als Marionettenspiel intendiert, als eine betont „ niedere“ theatrale Aktion. Blutig brutale Handlungen, das äußere Wirken der Figuren war ausgestellt; ihre gleichsam geistige Dimension, daher jede „Inner­ lichkeit“ der Figuren fehlte demonstrativ. Zur gleichen Zeit fesselte ihn die Pa­ rapsychologie. Fuchs verhöhnte die tradierte bildungsbürgerliche Fixierung auf das Inner­ lich-Seelische, die Literatur, den Logozentrismus, die Literarisierung von Thea­ ter. Der moderne Sport als Aktionsfeld der Körper als Körper, des PhysischSinnlichen, und körperlich hochtrainierte Akteure der „Tingeltangel“ waren für ihn Bezugsrahmen für ein Theater des neuen Jahrhunderts. „Sind doch den jüngeren Schauspielern jetzt schon die singenden Tänzerinnen und die Grotesken der Tingeltangel nicht selten überlegen in der Beherrschung des Körpers und aller sinnlichen Grund­ züge ihrer Kunst, so daß die Maler und Kunstfreunde es oftmals vorziehen, ihr Auge in den Singspiel­ hallen an wirklicher Kunst der Geberde und der Tracht zu ergötzen.“ Den Schauspielern seien die „sinnlichsten Kunstmittel die wichtigsten“. Sie sollten sich erinnern, daß „die Kunst des Schauspielers ihre Herkunft genommen hat vom Tanz“.1'’

Jedoch am Beispiel seines bevorzugten Modells, der hypnoseartig agierenden Variete-Tänzerin Madeleine, hob er besonders das Irrationale, das im Außen, in der physischen Erscheinung nicht Faßbare, gleichsam das Transzendente, so das, nach Virilio, „Verschwinden“ des Massiv-Körperlichen hervor. Vom italienischen Futurismus bis zur deutschen Bauhausbewegung verstärk­ ten sich diese in sich merkwürdig widersprechenden Tendenzen. In der aus­ drücklichen Rehabilitierung der bis dahin negierten ausgegrenzten Körper-Kün­ ste, besonders der Akrobaten, als den Modellen für zeitgenössische Kunst, mit der Verachtung für eine nach Innerlichkeit, dem Geistigen drängende Kultur und mit der uneingeschränkten Annahme der neuen audiovisuellen Medien und Bewegungsmaschinen, in dieser massiven Umorientierung bewegte man sich zugleich hin auf Entmaterialisierung und eine tendenzielle Ent-Körperlichung der Kunst-Erscheinungen im buchstäblichen Sinn, daher ihrer sinnlich wahr­ nehmbaren Gestalten. Die präzis agierenden Darsteller-Körper der futuristi­ schen Ballette/Dramen erschienen, wenn auch in schlechter Papp-Simulation, als Maschinen (Lokomotiven). Führende Theoretiker und Praktiker wie Depero und Prampolini kamen von ihrer Begeisterung für die seelenlose neue Maschine­ rie aus zum Spiritualistischen, zum Entwurf von Szenarien, daher Aktionen, in deren Bewegung, gleichsam Virilios Geschwindigkeit, alles Dingliche, Körperli­ che tendenziell „verschwand“.16 17

16 Georg Fuchs: Die Schaubühne der Zukunft. Berlin/Leipzig o.J. (1905), S. 63, 65 f. 17 Vgl. Joachim Fiebach: Von Craig bis Brecht. Dritte revidierte und erweiterte Ausgabe Berlin 1991, S. 161-206.

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Wenn auch in einer späteren als der uns hier interessierenden Phase ist für mich Moholy-Nagys Ansatz symptomatisch. Die Möglichkeiten der (relativ) neuen audiovisuellen Medien Grammophon, Fotografie, Film abwägend, schrieb er 1922 in Produktion - Reproduktion, Gestaltungen seien nur dann von Nut­ zen, wenn „sie neue, bisher unbekannte Relationen produzieren“. Für den Film nannte er dabei als wichtigste Aufgabe „die Gestaltung der Bewegung an sieb“. Es handele sich um „Bewegungsbeziehungen“ von Lichtprojektionen. Daß diese nicht ohne ein „selbstgeschaffenes Formspiel als Bewegungsträger“ vor sich ge­ hen könne, verstehe sich von selbst.18 Das ließ sich wie ein deutlicher Schritt zur Ent-Körperlichung entsprechender Darstellungen, genauer von Erschei­ nungsweisen künstlerischer Produkte lesen. In seinem programmatischen Aufsatz Theater, Zirkus, Variete argumentierte er 1924, die Vorherrschaft der logisch-gedanklichen Werte, des Verbalen und damit des Menschen selbst (daher des Menschenkörpers und seiner individu­ ell-sozialen Geschichte, wie ich deute) müßte gebrochen werden. Menschliche Bewegungs- und Gedankenfolgen sollten (nur) Momente eines Zusammenhangs von beherrschten „absoluten“ Ton-, Licht- (Farbe), Form- und Bewegungs­ elementen bilden bzw. werden.19 Der Entwurf eines „theaters der totalität“ räumte dann 1927 dem Theater für eine Ubergangsphase noch referentielle Funktionen im Sinne der Behand­ lung politischer und sozialer außertheatraler Vorgänge ein, und er wies damit dem Menschenkörper (Körperkunst) noch eine relativ wichtige Rolle zu. Es gäbe zwei Auffassungen dazu. Die eine wolle Theater als Aktionsraum von Ton, Licht, Farbe, Form und Bewegung, in dem der Mensch als Mitfaktor nicht nötig wäre, da es heute geeignetere Apparaturen für Darstellungen gäbe. Die (andere) breite Auffassung möchte auf den Menschen als „ein großartiges instrument“ nicht verzichten. Aber, fragte Moholy-Nagy programmatisch, wie lassen sich „bewegungs- und gedankenfolgen in den Zusammenhang von beherrschten, .absoluten' ton-, licht- (färbe), form- und bewegungselementen gleichwertig einordnen?“20 So baute er 1928 für die Inszenierung von Hoffmanns Erzählungen eine gleichsam maschinelle Umgebung, sehr durchsichtige Gestelle aus rostfreiem Stahl, die beweglich-funktionell waren. Ständig gingen Lichtbündel (Elektri­ zität) durch sie hindurch, die einen Arm, einen Kopf herausleuchteten oder viel­ leicht genauer heraus“schnitten“ (Editions- bzw. Montageverfahren der neuen Medien). So sollte wohl das Magisch-Zauberische der Geschichte als Moment einer modernen Fabrikwerkstatt erscheinen. Für Piscators Produktion Der 18 In: Krisztina Passuth: Läszlö Moholy-Nagy. Dresden 1987, S. 305 f. 19 In: Die Bühne im Bauhaus. München o. J. Neudruck Mainz 1974. 20 In: Passuth (wie Anm. 18), S. 317.

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Kaufmann von Berlin baute er 1929 metallene Bühnen-Elemente, die als Schie­ bebühnen herunter- und hochgefahren und als gleitende Bänder (horizontal) ver­ wendet werden konnten. Die Aktionen der Bühnenfiguren, daher der Menschen­ körper, erschienen bedeutungslos oder „verschwanden“, wie zeitgenössische Beobachter anmerkten,21 gleichsam unter oder in der „Massivität“ der unabläs­ sigen Bewegungen der Technologie, der Maschinerie und des Lichts, die alle Wahrnehmung auf sich als solche fixierten.

21 Fetting (wie Anm. 5), 2. Bd. S. 438-452; Günther Rühle: Theater für die Republik. 2. Bd. Ber­ lin 1988, S. 961-968.

Zum Stand der Unterhaltungsmusik um 19001 Sabine Giesbrecht-Schutte

Die Unterhaltungsmusik im deutschsprachigen Bereich ist um 1900 gezeichnet von Spuren einer über hundert Jahre währenden Entwicklung, welcher die Riva­ lität zu anderen Musikarten und der Wunsch nach Anerkennung als moderne Kunstform vielfach noch anzumerken ist. Während in der Epoche der Klassik sich noch eine universale musikalische Sprache entfaltet, die sich an alle Men­ schen richtet und trotz ihres ästhetischen und intellektuellen Anspruchs naiver Rezeption und sozialem Gebrauch nicht sperrt, zeichnet sich spätestens seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Trend zum Bruch dieser ursprünglichen Einheit ab. Musik als Unterhaltung gerät in Konflikt mit einer artifiziellen Musiksprache, die sich von Gebrauchsfunktionen möglichst fernhalten möch­ te. Der Zugang zur Kunstmusik ist Privileg der Gebildeten und wird als Bestand­ teil und Ausdruck gehobener Lebensvorstellungen betrachtet. Nachdrängende Mittelstandsschichten hingegen wollen auf die Freuden des handfesten Umgangs mit der Musik nicht verzichten und favorisieren Musikarten mit Unterhal­ tungscharakter, der jedoch in künstlerisch zu vertretende Formen eingebunden sein sollte. Damit kommt - gefördert durch den wachsenden Musikmarkt - ein Prozeß in Gang, bei dem sich die Unterhaltungsmusik als eigenständiges Gen­ re und Ausdruck sozialer Bedürfnisse großer Teile der bürgerlichen Bevölke­ rungsschichten herausbildet. Sie orientiert sich an den Interessen derjenigen, die in der Musik vorwiegend Möglichkeiten sehen, sich auf gepflegte Weise zu ver­ gnügen und in einem angenehmen sozialen Klima miteinander in Kontakt zu treten. In diesem Zusammenhang entstehen zahlreiche musikalische Formen und Gattungen, die den Wünschen nach Kommunikation und Lebensnähe entgegenkommen, dafür aber häufig auf künstlerische Anerkennung verzichten müs­ sen. Das Auseinanderdriften der Bereiche Kunst und Unterhaltung ist von Aus-1 1

Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf einer meiner früheren Arbeiten: Sabine Schutte: Untersuchungen zur Entstehung und Funktion „populärer“ Musikformen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. In: Dies. (Hg): Ich will aber gerade vom Leben singen ... Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Reinbek 1987, S. 10-57.

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einandersetzungen zwischen unterschiedlichen bürgerlichen Fraktionen beglei­ tet und als Verlust gemeinsamer humaner Ziele auch mit Erschrecken registriert worden. Um 1900 verschafft sich das Genre der „leichten“ Musik noch weitgehend ohne den Einsatz technischer Medien Gehör; der Siegeszug des „Grammo­ phons“ hat gerade begonnen, während Rundfunk (1923) und Tonfilm (etwa ab 1928) erst in den 20er Jahren Bedeutung erlangen. Das Interesse konzentriert sich auf großstädtische Vergnügungsofferten, das Publikum ist aber auch offen für ein Angebot „klassischer“ Musik, sofern es in den jeweiligen Lebensstil paßt und die Hörer nicht allzu sehr überfordert. Lediglich eine kleine gesellschaftli­ che Gruppe favorisiert eine Musikkultur mit Anspruch und bezieht ihre Iden­ tität aus dieser Beziehung. Den unterschiedlichen Gruppeninteressen entsprechend bilden sich weitere Differenzierungen des bürgerlichen Repertoires heraus: Die musikalische Avant­ garde isoliert sich nach und nach in Sezessionsbewegungen,2 während die tradier­ te klassische Musik in den Konzertsälen dominiert und ihr hohes ästhetisches und soziales Prestige festigen kann. Sie wird von interessierten Mittelstands­ schichten als symbolisches Eigentum okkupiert und einem Selektionsprozeß unterzogen, bei dem „volkstümliche“ Stücke mit Bezügen zum geselligen Le­ ben dem Sektor bürgerlicher Gebrauchs- und Unterhaltungsmusik zugeschla­ gen werden. Der ästhetische Anspruch beginnt zu bröckeln und muß gegen Kritiker verteidigt werden. Es kommt zu einer Hypostasierung der Musik als Kunst und einer Hierarchisierung verschiedener Musikarten und Rezeptions­ formen, die bereits 1854 von Eduard Hanslick mit aller Radikalität formuliert worden ist.3 Die Teilung der Musikwelt in die Bereiche U und E ist in der Praxis zwar wahrgenommen, der damit zutagetretende Verlust allgemeinverbindlicher ästhe­ tischer Maßstäbe jedoch nicht hinreichend erkannt und keineswegs immer ak­ zeptiert worden. Die gegensätzlichen Positionen sind auch erst allmählich ent­ standen, denn die unterhaltende Musik bewahrt bis zum Ausgang des 19. Jahr­ hunderts vielfach ihre ideelle und strukturelle Affinität zur traditionellen Kunst. Mit dieser zumindest angestrebten und proklamierten Nähe meldet sie ihren Anspruch auf Teilhabe am Bereich der bürgerlichen Kultur an, einem ästheti­ schen Wertesystem, dessen Legitimität unbestritten ist, da es sich darauf beru-

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Martin Thrun: Die geschichtliche Konstitution der Neue-Musik-Szene und das postmoderne Kunsthandwerk der Präsentation. In: Musikforum 81, Dezember 1994, S. 6. Der Sezession der Avantgarde wird die „Musealisierung“ der „Ansprüche einer musikalischen Konsumgesell­ schaft“ gegenübergestellt. E. H.: Vom Musikalisch-Schönen (1854). Nachdruck der 21. Auflage. Wiesbaden 1989.

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fen kann, zur Bildung und damit zum Verständnis der bürgerlichen Lebenswelt beizutragen. Dieser Anspruch wird der Unterhaltungsmusik, dem minder bewerteten Teil der Musikkultur, jedoch vehement bestritten. Kenner vom Schlage Robert Schu­ manns oder Eduard Hanslicks bemühen sich, Differenzen zu den herrschen­ den künstlerischen Normen hervorzuheben, der unreflektierten Rezeption Einhalt zu gebieten und den Zugang zu der vergeistigten Welt des autonomen Kunstwerkes nur noch um den Preis künstlerischer Vorerfahrungen und intel­ lektueller Anstrengungen zuzulassen. Die Gebrauchs- und Unterhaltungs­ funktion wird als mit der Kunst unvereinbar deklariert, die in der Wertehier­ archie an oberster Stelle steht und der „leichten“ Musik die frühere Solidarität verweigert. Diese wiederum wirft ihrer Gegnerin soziale Kälte und elitäres Verhalten vor und führt zu ihrer eigenen Verteidigung ins Feld, sie habe huma­ ne Ziele wie Gemeinschaft und Lebensfreude der Menschen im Auge. Wie ist dieser Dissoziationsprozeß zu erklären, bei dem um 1900 die Un­ terhaltungsmusik4 als eine der Kunst nur noch locker verbundene Vielfalt an Formen und Gattungen ihr Eigenleben führt? Auf eine historische Darstellung muß in diesem Rahmen weitgehend verzichtet werden. Einige wichtige Aspekte dieser Entwicklung sollen hingegen an ausgewählten Einzelbeispielen erörtert werden. Zur Konkretisierung und Eingrenzung der Thematik wird - soweit möglich - die Argumentation von Karl Storck (1873-1920) hinzugezogen, der sich als Musikschriftsteller und kritischer Beobachter seiner Zeit einen Namen gemacht hat. Seine kulturpolitischen Aufsätze5 dienen hier als zeitgenössische Quelle und argumentative Stütze. Der Darstellungsrahmen wird ferner von jenen sozialen und politischen Strö­ mungen des 19. Jahrhunderts bestimmt, welche die Existenz des Genres der „leichten“ Musik ermöglichen und fördern. So haben die Französische Revolu­ tion und die bürgerlichen Emanzipationsbewegungen mit ihren Bemühungen um Demokratisierung den Boden bereitet für ein allgemein zugängliches, öffent­ liches Musikleben und damit die Voraussetzungen geschaffen, klassische, hu­ mane, für alle Menschen gültige Ideale zu verbreiten. Wenn die gesamte Mensch­ heit an ihnen teilhaben soll, so muß der Gehalt des klassischen Ideenkunstwerkes verständlich formuliert und nicht nur privilegierten Hörern zugänglich sein. Intendiert ist also die Einheit von ästhetischem Anspruch und Verständlichkeit, 4

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Der Einbruch anglo-amerikanischer Tanz- und Jazzmusik um die Wende zum 20. Jahrhundert markiert eine qualitativ neue Phase der Unterhaltungsmusik in Deutschland, die allmählich zur Herrschaft der Popmusik führt. In den vorliegenden Ausführungen wird Wert darauf gelegt, Unterhaltungsmusik und Popmusik als historisch verschiedene Entwicklungen auch begriff­ lich voneinander zu trennen. Vgl. dazu Sabine Giesbrecht-Schutte: Art. Unterhaltungsmusik. In: Das neue Lexikon der Musik. Bd. 4. Stuttgart 1996. K. S.: Musik-Politik - Beiträge zur Reform unseres Musiklebens. Stuttgart 21911 (EA 1907).

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die allerdings nicht bei jeder Komposition zu verwirklichen ist. Wenn auch der klassische Stil zahlreiche und von vielen Menschen gern gehörte Werke, wie z.B. die späten Oratorien Haydns, Singspiele Mozarts oder die programmatischen Ouvertüren Beethovens hervorgebracht hat, so ist er doch bei weitem nicht in seiner Gesamtheit populär und den intellektuellen Möglichkeiten einer breiten Öffentlichkeit angepaßt. Viele Bürger sind vielmehr mit dem klassischen Erbe überfordert. Zur Demokratisierung des Musiklebens ist deshalb eine geeignete Auswahl und Bearbeitung des Repertoires nötig, um es für alle Menschen at­ traktiv und verständlich zu machen. Selektion und Arrangement sind erste Schritte in Richtung auf eine Musikkultur, in der das Moment der Unterhal­ tung im Interesse der Verständlichkeit bewußt toleriert wird. Die Vertrautheit mit einer Musik, die das Etikett „klassisch“ trägt, gehört zur Selbstdarstellung gebildeter und wohlhabender Bürger. Musikausübung und Musikgenuß sind selbstverständlich wahrgenommmene Privilegien und setzen freie Verfügung über finanzielle Mittel und ausreichende Freizeit voraus. Das daraus resultierende Gefühl sozialer Überlegenheit manifestiert sich unter an­ derem in Maßnahmen zur Verfeinerung der kulturellen Lebensgestaltung, zu der etwa Konzertbesuche oder das Spielen eines „guten“ Instrumentes gehö­ ren, die Pierre Bourdieu als besonders „klassifikationswirksame“ Formen ge­ sellschaftlicher Praxis bezeichnet.6 Andere Schichten des Mittelstandes vergnü­ gen sich eher beim Besuch von Platzkonzerten, besuchen ausgelassene Tanz­ veranstaltungen, zeigen Interesse an Kaffeehausmusik oder anderen Arten von Unterhaltungsmusik, die als weniger repräsentativ gelten. Mit Vorlieben dieser Art läßt sich in der gesellschaftlichen Hierarchie ein Platz an oberer Stelle nicht ohne weiteres behaupten, denn der als legitim anerkannte Geschmack ist mit dem klassischen Erbe der Kunstmusik verbunden. Allerdings ist unter diesem Aspekt die Tatsache interpretationsbedürftig, daß die Nachfrage nach dem populären Genre trotzdem steigend ist. Der Bedarf an unterhaltender Musik wird durch einen Musikmarkt befrie­ digt, der im Hinblick auf Notendruck und -vertrieb, Instrumentenbau sowie durch ein rasch anwachsendes Konzertmanagement im 19. Jahrhundert an Be­ deutung gewinnt. Dieser Markt beeinflußt die Entwicklung populärer Musik­ formen nachhaltig, seine Wirksamkeit ist jedoch in weiten Bereichen durchaus mit der Idee der Demokratisierung zu vereinbaren. Der Zwang, Musik - wie eine andere Ware auch - an möglichst viele Interessenten zu verkaufen, bringt es mit sich, sie vom Anspruch der oft schwer zu verstehenden idealistischen Bot­ schaft zu befreien, ihren Unterhaltungswert hervorzuheben und damit mehr 6

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frank­ furt/M.21988, S. 41.

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Menschen die Möglichkeit zu geben, sich auf sie einzulassen. Als Mittel zun Konsum spricht sie nicht so sehr die um Bildung bemühten Hörer als vielmeh die genußorientierten Verbraucher an. Dieser Einfluß stärkt die Entwicklun; populärer Musikarten, die ihre unterhaltende Funktion mit einem gewisser Selbstbewußtsein zur Schau stellen, nur noch oberflächliche Beziehungen zun Fundus klassischer Musik vorweisen, dafür aber von den Möglichkeiten benach­ barter Gebrauchsmusiken, wie Tanz, Lied und Marsch, intensiven Gebrauch ma­ chen. Die gesteigerte Nachfrage und der konkurrierende Markt drängen, wie zeitgenössische Kritiker beklagen, die „wertvolle“ Musik an den Rand, ermög­ lichen allerdings auch jedem Konsumenten den leichten Zugriff auf die jeweils favorisierte Richtung. Zugleich produzieren sie eine unglaubliche Vielfalt an For­ men und Gattungen, in denen Elemente der U- und E-Musik vermischt auftreten und jeder Bürger sich nach Bedarf und Vermögen bedienen kann. Zur Herausbildung populärer Musikformen, von der sich viele Bürger an­ gezogen fühlen, trägt um die Jahrhundertwende auch die politische Entwick­ lung in Deutschland bei. Der alle Deutschen beherrschende Gedanke der na­ tionalen Einheit ist ohne die emotionale Unterstützung der Musik nur eine Idee, jedoch mit einem zündenden Marsch, Lied oder Chor verliert er seinen abstrak­ ten Gehalt und wird zu einer für alle vernehmbaren Bewegung. Die sozial integrative Funktion des Singens trägt zu der folgenreichen Verwechslung von Gemeinschaft und Demokratie bei, denn die vorhandenen sozialen Schranken scheinen beim vereinten Gesang zu fallen. In diesem Sinne wird im deutschen Kaiserreich die Produktion und Verbreitung jeder Musik gefördert, mit wel­ cher sich Gemeinschaft innerlich erleben und als Einheit der Nation emotional bestätigen läßt. Bei Beethoven- oder Schillerfeiern, zu Kaisers Geburtstag, zum Sedantag oder zur Denkmalseinweihung, bei Truppenparaden, sonntäglichen Platzkonzerten oder Heldengedenkfeiern sorgen Chöre und Musikgruppen für gute Stimmung mit Hilfe einer Musik, welche das Publikum unterhalten und ihm die nationale Symbolik mit schmissigen Rhythmen und aufmunternden melodischen Wendungen vorführen soll. Der Aktivierung von Hochgefühlen dient ein Repertoire, das die nationale Solidarität zu mobilisieren vermag und sich zu diesem Zweck einer einprägsamen und verständlichen Musiksprache bedient. Die vorstehend genannten politischen und ästhetisch-sozialen Strömungen, im Rahmen derer Akzeptanz und Verbreitung der Unterhaltungsmusik ge­ wachsen sind, sollen nun detaillierter dargestellt und auf konkrete Musikbei­ spiele bezogen werden.

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Demokratisierung Im Gefolge der durch die Französische Revolution ausgelösten politischen Bewegungen verändert sich das deutsche Musikleben grundlegend. Der aristo­ kratische Einfluß tritt zurück und macht einer bürgerlichen Musikpflege Platz, die in der Fortführung aufklärerischer Ideale eine Lebensform sieht und in der Pflege klassischer Musik den Ort, an dem die Idee universeller Menschlichkeit ihren reifsten Ausdruck findet. Ludwig van Beethoven drückt den Gedanken der Humanität in seiner Neunten Sinfonie mit einem die Gattung sprengenden Chor nach den Worten Schillers aus: „Alle Menschen werden Brüder“. Der Vater Lelix Mendelssohns betrachtet den demokratischen Lortschritt in der Musik eher von praktischen Gesichtspunkten aus und äußert sich 1833 anläßlich des von seinem Sohn geleiteten Düsseldorfer Musikfestes: „... es gibt keinen Hof, keine Einmischung von oben, keinen Generalmusikdirektor, kein königliches Dies oder Jenes. Es ist ein wahres Volksfest“.7 Land- und Fabrikarbeitern soll die wohltuende Kraft der Musik zugute kom­ men. Für diese Idee setzt sich Theodor Hagen mit seinen 1845 zuerst in der Neuen Zeitschrift für Musik erschienenen Thesen ein: „Die Musik stärkt und erhebt, sie bereitet den Menschen auf das Bessere, Höhere vor, sie muß auch die Arbeiter auf ihre Emancipation vorbereiten. Das einfachste musikalische Mittel ist die Volks­ liedertafel. Sie muß also überall, wo Arbeiter sind, auf dem Lande, unter den Bauern, in den Fabriken, eingeführt werden. Hierdurch wäre der Anfang zu einer Realisirung jener schönen Idee ,die Kunst muß eine Wohltat für die Menschheit sein“ gemacht“.8

Auch Karl Storck ist der Auffassung, daß „die ganze soziale Frage keineswegs bloß eine Magenfrage ist“, sondern die „geistigen Werte“, vorab die Musik, al­ len Menschen zugänglich gemacht werden müßten.9 Wenn eine Musik diese humane Funktion haben soll, muß sie - nach Hagen - „populair“ sein, das heißt, künstlerischen Anspruch und Faßlichkeit miteinander vereinen. Dieser Spagat zwischen ,U und E‘ bestimmt die musikalische Praxis und die theoretische Diskussion bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Der Kampf der Kunst gegen eine „triviale“ oder sentimentale, allzu virtuose oder dekorative Spielmusik, die beim Publikum ankommt, ist, wie z.B. die Rezensionen Robert Schumanns in der Neuen Zeitschrift für Musik anschaulich vorführen,10 spätestens in den 40er Zit. n. Georg Knepler: Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Band II: Österreich und Deutsch­ land. Berlin 1961, S. 716. 8 T. H.: Die Civilisation in Beziehung zur Kunst mit specieller Berücksichtigung der Musik. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1846. Straubenhardt 1988, S. 148 f. 9 Der Niedergang des Volksliedes. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 50. 10 Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Reprint der Ausgabe Leip­ zig 1854. Wiesbaden 1985. - Beispiele: Rossini, der „Decorationsmaler“ (Bd.l, S. 211); Henri Herz, ein „künstlerischer Schnupfen“ (Bd. 1, S. 257); Bellinis „Weichlichkeit“ (Bd. 2, S. 145); 7

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Jahren auf seinem Höhepunkt angelangt. Die auf Wirkung, Mitvollzug oder praktischen Gebrauch zielenden Formen der Musik trifft der Bannstrahl der Entwertung. Die nach neuen Wegen suchende Kunstmusik hingegen, die sich von den Unterhaltungs-Bedürfnissen des Durchschnittspublikums entfernt, sucht die zutagetretende Distanz mit der Proklamation ästhetischer und intel­ lektueller Überlegenheit zu kompensieren. Zwischen den Fronten und daher von der Kritik ausgenommen befindet sich das klassische Reservoir, dessen allgemeine Akzeptanz daraus resultiert, daß es bis zu einem gewissen Grade auf Verständlichkeit hin angelegt ist. Die seit der Frühklassik übliche liedhafte Thematik, die Periodizität und Überschaubarkeit der musikalischen Formung, der Einbezug des Menuetts in Sinfonie und So­ nate, die Bearbeitung von Volksliedern und Tänzen tragen zur Popularität des klassischen Stils bei, der sich dadurch auszeichnet, daß in ihm volkstümliche Elemente „assimiliert“ sind.11 Der Erfolg von Händels „Messias“, Haydns „Schöpfung“ oder Schuberts „Lindenbaum“ und Webers „Freischütz“ basiert auf einer musikalischen Faktur, die den Hörer nicht ausschließt, sondern - ten­ denziell zumindest - in überschaubaren Regionen zum nachdenklichen und lustvollen Verweilen einlädt. Auch wenig gebildete Hörer danken es den Kom­ ponisten mit ihrem Interesse und ihrer Anwesenheit bei öffentlichen Konzer­ ten, z.B. bei Musikfesten, die sich vor Besuchern kaum retten können. Gute Chancen, populär zu werden, erhält jene Musik, die zum Vortrag im bürgerlichen Haus geeignet ist und nach Bedarf reproduziert werden kann. Die praktische Aneignung von Musik ist gleichbedeutend mit ihrem Bildungs- und Erziehungswert, eine bereits von den Protagonisten der Volksbildung im spä­ ten 18. Jahrhundert vertretene These, die sich auch Karl Storck uneingeschränkt zu eigen macht.12 Spielbarkeit und Sangbarkeit eines Stückes sind Voraussetzun­ gen für den Prozeß der Popularisierung und der Entstehung eines entsprechend einfachen Repertoires. In der Vokalmusik steht interessierten Bürgern der Zugang zu Chormusik­ vereinigungen offen, die sich großen Zulaufs erfreuen. Aufführungen der Badi­ schen „Matthäuspassion“, der Haydnschen „Jahreszeiten“ oder des „Elias“ von Mendelssohn erlauben das tätige Mitmachen von Laiensängerinnen und -Säng­ ern und tragen zur Verbreitung dieser Kunstwerke bei. Instrumentalkonzerte privater Musikvereine setzen ebenfalls „Dilettanten“ als Ausführende ein, die Czernys „Bankrott an Phantasie“ (Bd. 3, S. 24); Thalbergs „Virtuosenmachwerke“ (Bd. 4, S. 49); die Anzahl der „secondairen Compositionsweisen“ (Bd. 4, S. 267) ließe sich noch vervoll­ ständigen, allerdings konzediert Schumann, daß es neben „Nachtigallen“ auch „Zaunkönige“ geben müsse (Bd. 4, S. 42). 11 Charles Rosen: Der klassische Stil. Haydn. Mozart. Beethoven. Kassel 1983, S. 374. 12 Die Musik als Grundkraft deutscher Kunstkultur. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 24.

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allerdings über ein Mindestmaß an Fertigkeiten verfügen müssen. Die Konzert­ programme machen Konzessionen beim Publikumsgeschmack, und die Ver­ anstalter achten darauf, dem Bedürfnis nach Unterhaltung nachzukommen. Man mutet den Hörern das Anhören eines Werkes in seiner gesamten Länge nicht mehr zu, sondern greift auf den Vortrag einzelner Teile zurück. Sinfonie-Sätze und Opern-Chöre - z.B. der „Jägerchor“ und „So winden wir den Jungfern­ kranz“ aus Webers „Freischütz“- oder berühmte Soloarien und Ouvertüren werden aus dem Zusammenhang gelöst und zu bunten Konzertprogrammen zusammengestellt, die zahlreiche Zuhörer anziehen und oft auch weniger pro­ fessionellen Instrumentalisten die Mitwirkung ermöglichen. Der Zusammenschluß von interessierten Bürgern in Instrumentalvereini­ gungen, Kammermusikgruppen oder Orchestern ist vor allem für Provinzstädte oder ländliche Gegenden wichtig, in denen Konzerte nicht so häufig stattfin­ den oder zu teuer sind. Hier finden halbprivate oder öffentliche Aufführungen in kleinerem Rahmen statt, die künstlerischen Maßstäben oft nur unvollkom­ men entsprechen, dafür aber die Begeisterung für die Musik und das gesellige Beieinandersein fördern. Franz Liszt berichtet von kleinstädtischen „philhar­ monischen Gesellschaften“, bei denen es geradezu die Regel ist, daß ein Teil der in der Partitur vorgesehenen Instrumentalstimmen bei „musikalischen Abend­ unterhaltungen“ nicht original besetzt werden kann.13 Auch die Militärorches­ ter spielen - als Blasorchester - ihr klassisches Repertoire nicht in originaler Instrumentierung, sondern überlassen die Streicherpartien vielfach den Bläsern, was den Orchesterklang beträchtlich verändert und bisweilen auf Kritik stößt. Vorstellungen von Authentizität oder Werktreue stehen dabei nicht zur Debatte. Wilhelm Wieprecht, vielfach ausgezeichneter Organisator des preußischen Mu­ siklebens, rühmt seine überaus beliebten Transkriptionen Beethovenscher Sin­ fonien sowie die Bearbeitungen von Ouvertüren Carl Maria von Webers oder Spontinis, Mendelssohns und Meyerbeers für Militärmusik.14 Im Salon und im bürgerlichen Haus ist eine authentische Wiedergabe eben­ falls nicht angestrebt; vielmehr geht es darum, sich mit dem klassischen Reper­ toire überhaupt erst vertraut zu machen und sich im eigenen Umfeld mit den dafür zur Verfügung stehenden Kräften zu präsentieren. Das Klavier in seiner Funktion als verkleinertes Orchester spielt dabei eine entscheidende Rolle, und jede Familie, die es sich irgendwie leisten kann, schafft sich ein Instrument an. Es „steht in jedem musikalischen Hause und in sehr vielen weniger musikali-

13 Franz Liszt: Zur Stellung der Künstler (1835). In: Schriften zur Tonkunst. Leipzig 1981, S. 578, hier S. 65-70. 14 Vgl. Art. Wilhelm Wieprecht. In: Carl Freiherr von Ledebur: Tonkünstler-Lexicon Berlins von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Berlin 1861, S. 643.

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sehen prangt es wenigstens als Möbel”.15 Das Klavier ist die Basis bürgerlicher Hausmusik, bei der häufig die Kultur des Vierhändigspielens gepflegt wird, die das Vomblattspiel, weniger jedoch die technisch gekonnte Wiedergabe fördert. „Der Abend pflegte im anstoßenden Haus durch vierhändiges Abschlachten al­ tersschwacher Ouvertüren gefeiert zu werden“, so witzelt Eduard Hanslick, der sich glücklich preist, angesichts der „gemeinschädlichen Klavierspielerei“ ein „klavierfreies Haus zu bewohnen“.16 Viele Werke werden eigens für Klavier eingerichtet und bilden die Basis für ein nach den Bedürfnissen und Interessen bürgerlicher Schichten modifiziertes Repertoire. Opern oder sinfonische Werke sind als Klavierauszüge erhältlich, Sinfonien gibt es in zwei- oder vierhändigen Fassungen oder als Streichquar­ tette, und Opernliebhaber freuen sich über Potpourris und Arrangements, die eine Art Überblick über wichtige Werkteile vermitteln.Verbreitet sind Bearbei­ tungen ausgewählter Lieder, Duette oder Ensembles für den Hausgebrauch. Sinfonie- und Sonatensätze mit einprägsamer Thematik oder in überschauba­ ren Lied- und Tanzformen sind auch in vereinfachten Fassungen verfügbar, damit der bildungshungrige Bürger sie sich in den für wesentlich gehaltenen Zügen zu Gemüte führen kann. Dabei sind Transpositionen in leicht spielbare und lesbare Tonarten geradezu selbstverständlich und massive Änderungen bis in die Struktur der Originale hinein unerläßlich. Das äußere Klangbild wird durch Arrangements, z.B. für Zither, Flöte, Geige und andere Hausmusik-In­ strumente oder für Duo- oder Quartettfassungen vollständig umgewandelt. Aus Gesangsstücken lassen sich Instrumentalfassungen herstellen, ausdrucksvolle Klavier-Kantilenen, etwa aus Schumanns „Träumerei“, machen sich auch für das Cello gut, und das Verständnis für schöne Instrumentalmelodien kann durch unterlegte Texte noch gewinnen. Mag die Authentizität oder die emphatische Vorstellung vom „Werk“ damit auch verloren sein, Spieler und Sänger suchen auf diese Weise Zugang und erhalten mit Hilfe dieser popularisierenden For­ men sich die Freude am bürgerlichen Musikerbe. Die Senkung des Darstellungsniveaus wird von flankierenden Maßnahmen zur Anhebung des Allgemeinwissens begleitet. In populären Mädchen- und Jugendzeitschriften erscheinen Informationen über musikgeschichtliche Fak­ ten. So schreibt die Gartenlaube Wissenswertes über aktuelle Opernaufführun­ gen, Komponisten oder Interpreten, während die eher „fachspezifische“ Musi15 Storck: Eine musikalische Hausbibliothek. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 152. - Zur Sa­ lonmusik vgl.: Andreas Ballstaedt/Tobias Widmaier: Salonmusik. Zur Geschichte und Funk­ tion einer bürgerlichen Musikpraxis. Stuttgart 1989. 16 Eduard Hanslick: Gemeine» schädliche und gemeinschädliche Klavierspielerei (1900). In: Ders.: Aus dem Tagebuch eines Rezensenten. Gesammelte Musikkritiken» mit einem Nachwort hg. v. Peter Wapnewski. Kassel 1989, S. 232-242, hier S. 235.

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kalische Jugendpost'7 in menschlich anrührender Weise über Komponisten und ihre Werke berichtet oder lustige Geschichten über das Flötenspiel Friedrichs des Großen, eingerahmt von Spielen, Gedichten und hübschen Abbildungen, druckt. Im Ullstein-Verlag erscheint die Serie „Musik für Alle“, in deren Titel sich ein gewisser demokratischer Anspruch noch wiederspiegelt. Die Reihe enthält Klavier-Arrangements aus Opern und aktuellen Operetten sowie Tän­ ze und kleinere Werke bekannter Komponisten in Verbindung mit Informatio­ nen über das Umfeld des abgedruckten Repertoires. Veröffentlichungen dieser Art machen deutlich, daß der Wunsch, Bildung für alle zugänglich zu machen, kaum von wirtschaftlichen Überlegungen zu trennen ist, denn es geht auch darum, möglichst viele Interessenten zu bedie­ nen. Bekannte Sammelalben, wie „Sang und Klang im 19. und 20. Jahrhundert“ oder „Musikalische Edelsteine“ sind erkennbar nach dem Prinzip aufgebaut, Unterhaltungsmusik mit Kunstmusik vermischt anzubieten und dieses Gemen­ ge als Weltoffenheit und Kultur zu verkaufen. Die noch vor dem Krieg erschie­ nene siebte Ausgabe von „Sang und Klang“ präsentiert so unterschiedliche Ru­ briken wie „Klassische und Salonmusik“, „Oper“, „Operette und Tanz“ und „Lieder“. Das Spektrum der Lieder ist weit gefaßt und reicht in diesem Fall von Schuberts „Ungeduld“ bis zu Karl Kapellers „Ich hab’ amal a Räuscherl g’habt“. Im Vorwort wird die „gediegene Musik von bleibendem Wert“ hervorgehoben und angemerkt: „Wir vermieden absichtlich, den Band auf eine musikalische Richtung festzulegen, und findet da­ her in ,Sang und Klang“ jeder Geschmack seine Rechnung. Ausgeschieden ist nur von vornherein die wertlose, nichtssagende Musik“.

Ästhetische Qualität und eine als repräsentativ dargestellte Vielfalt versprechen auch andere Veröffentlichungen, wobei das Moment der Unterhaltung unter­ schiedlich ausgeprägt ist. Volksaufklärer wie Karl Storck sind geneigt, über Einbußen im ästhetischen Niveau hinwegzusehen, wenn überhaupt nur das kulturelle Interesse geweckt oder gefördert wird. Er empfiehlt, daß sich Mu­ sikliebhaber historisch informieren und mit einem Werk vertraut machen sol­ len. Lobend erwähnt er unter anderem die Einrichtung der Münchener musi­ kalischen „Volksbibliothek“ und weist auf seine eigene zweibändige Musikge­ schichte hin, die bereits in zweiter Auflage erschienen und so geschrieben sei, daß jeder allgemein gebildete Mensch sie verstehen könne.17 18 17 Musikalische Jugendpost, III. Jahrgang, Stuttgart 1888, mit Einführungen in die Opern „Czar und Zimmermann“ von Albert Lortzing, „Martha“ von Friedrich von Flotow, „Der Trompe­ ter von Säkkingen“ von Viktor Neßler u.a., sowie Ausführungen über den Fingersatz, über „einige Streiche aus Richard Wagners Kindheit“, über Haydn, Weber, Beethoven und Ritter Gluck, über Ereignisse aus dem Leben der Sängerin Pauline Lucca, aber auch ein Gedicht über „Unseres Heldenkaisers Tod“ u.a. 18 Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 158, 170, 163.

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Die allgemeine Zugänglichkeit der Musikveranstaltungen erzeugt bestimmt Formen des Umgangs der Bürger miteinander und bildet einen Rahmen für Ge selligkeit und Repräsentation. Man trifft und zeigt sich, tauscht Meinungen aus amüsiert sich und genießt den festlichen Rahmen, z.B. der vielbesuchten, äu ßerst populären Niederrheinischen Musikfeste.” Veranstaltungen dieser Ar gelten manchem Volksaufklärer als „das herrlichste Mittel der musikalischer Volkskultur“.19 20 Paul Bekker hebt in seiner Darstellung des deutschen Musik­ lebens die Chorkonzerte hervor und äußert sich engagiert darüber, daß beson­ ders die Chorvereinigungen eine „fast vorweltlich anmutende Erscheinung“ seien, da sie nicht aus einem „Erwerbsdrange“ entstanden sind und keinen ei­ gennützigen „Erwerbszweck“ verfolgen, sondern der Kunstpflege dienen.21 Musikfeste schaffen die Möglichkeit, auch junge Menschen anzusprechen und „in der wilden Brandung des Lebens die Fackel der Begeisterung für die schö­ nen Ideale der Menschheit hochzuhalten“.22 Volkstümlich, lebensnah und so­ zial integrativ ist nach Storck die Lied- und Chormusik vor allem deshalb, weil Singen am billigsten ist und die Beteiligung an Chören und Singvereinen jedem unbeschränkt offensteht. Damit möglichst viele Menschen Zugang zum Singen finden, plädiert er für eine Volksausgabe eines nur Pfennige teuren Liederbu­ ches in Anlehnung an das von Wilhelm II. initiierte kaiserliche Volksliederbuch.23 Im Rahmen der sogenannten Volkskonzerte setzt sich Storck für die För­ derung der Militärkapellen ein, die auf Straßen, Plätzen oder in der freien Na­ tur von jedermann vernommen und daher „zu einem unvergleichlichen Werk­ zeug einer herrlichen Volkskunst gemacht werden“ können. Ihre Musik sei dazu prädestiniert, „auch vorzüglich die Kunst der Armen und von den Gütern der Welt Ausgeschlossenen“ zu sein, vor allem, wenn zusätzlich einige organisato­ rische Maßnahmen getroffen werden.24 Für Konzerte innerhalb geschlossener Räume verlangt Storck von den Magistraten die unentgeltliche Überlassung von Räumen und von den Militärmusikern den Verzicht auf Gage, damit kein Ein­ tritt für die Konzerte erhoben werde und möglichst viele Menschen zuhören könnten. Wenn man schon Eintritt erhebe, dann dürften die Karten nicht teuer sein. Für die besten Plätze sei ein Preis von einer, zwei oder drei Mark ange­ messen; „daneben müssen unbedingt auch einige Reihen für Plätze zu fünfzig Pfennigen übrig bleiben“.25 Für die Veranstaltungen soll, vor allem in den klei19 Zu den Niederrheinischen Musikfesten 1855 vgl. Eduard Hanslick: Aus meinem Leben. Bd. 1. Berlin 1894, S. 260 f. 20 Storck: Zur Reform der Musikfeste. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 113. 21 Paul Bekker: Das deutsche Musikleben. Berlin 1916, S. 112 und 113. 22 Storck: Musik und höhere Schule. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 98. 23 Neubelebung der Volksmusik durch Haus und Schule. In: ebd., S. 71. 24 Militärmusik. In: ebd., S. 83 f. 25 Konzerte an kleinen Orten. In: ebd., S. 109.

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neren Orten, die von „wirklich großer Musik einfach abgeschlossen sind“,26 über den Pfarrer oder den Lehrer geworben und Schulräume oder Wirtshaussäle billig angemietet werden. Der Verfasser schlägt vor, die Konzertatmosphäre zu lokkern und das „gemütliche“ Zuhören zu erlauben, bei dem zwar nicht geraucht, wohl aber ein Schluck getrunken werden darf. Auch mit der Anzahl der Konzer­ te müsse man vorsichtig sei: Allzu viele Abonnementskonzerte seien vor allem in kleinen Ortschaften zu vermeiden. Um die Hörer nicht zu überfordern, hält Storck je zwei Veranstaltungen während der Wintersaison für ausreichend. Hinter den Bemühungen um kulturelle Förderung benachteiligter sozialer Schichten verbergen sich nicht nur demokratische Ideale, sondern auch Ver­ suche, die klassische ästhetische Einheit zu bewahren und die Hoffnung, ge­ trennte Bildungsinteressen auf einem gehobenen Niveau zusammenzuführen. Paul Bekker setzt auf die gemeinschaftsbildende Macht der Volkskonzerte und sieht in der „Instrumentalmusik großen Stils“, die einem großen Publikum zu­ gänglich ist, die Möglichkeit der sozialen Integration verschiedener gesellschaft­ licher Schichten und der Kompensation von Bildungsunterschieden: „Auch hier, wie beim Theater, gilt es, die tiefe Kluft auszugleichen, die sich aufgetan hat zwischen dem gesellschaftlichen Musikunterhaltungsspiel herrschender Bürgerkreise und der belehrenden Kunst unserer Volkskonzerte. Auch hier wird es die Aufgabe unserer Zeit sein, diese beiden einan­ der ergänzenden Schichten wieder zusammenzuschließen zu einer wahrhaften Gesellschaft. Aus der gegenseitigen Befruchtung dieser verschiedenartigen Welten - verschiedenartig nicht ihrer Natur, sondern unserm von Vorurteilen beherrschten Herkommen nach - ersteht die neue Öffentlichkeit“.27

Gesellschaftspolitische Ziele dieser Art lassen sich nur durch eine gehobene Musikkultur legitimieren. Daher besteht der Anspruch, trotz aller Konzessio­ nen beim klassischen Repertoire die Pflege der „guten“ Musik zu fördern und sich gegen die „Afterkultur“ oder „Schundliteratur“ abzugrenzen, womit Storck im Anschluß an Penkert die modischen Gassenhauer und Operettenschlager oder die „triviale“ Salonmusik meint.28 Mit der steigenden Popularität der Gas­ senhauer und Operettenmelodien wird die Diskussion über den Wert des Volks­ liedes intensiviert, das den Gegenpol zum Schlager bilden und vor allem den Schichten, bei denen eine Orientierung an der bürgerlichen Kunstmusik aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist, als ästhetisches Vorbild dienen soll. Wie Paul Bekker kritisiert auch Karl Storck die unzureichenden gesellschaftli­ chen Bedingungen für die Existenz anspruchsvoller Musik und weist vor allem den Bildungsbürgern Verantwortung für den Musikgeschmack des „vierten Standes“, der städtischen „Arbeiterbevölkerung“ zu:

26 Storck: Zur Reform der Musikfeste. In: ebd., S. 118. 27 Bekker (wie Anm. 21), S. 110. 28 Gegen die musikalische Schundliteratur. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S, 165.

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„Diese Mitwirkung der gebildeten Kreise ist aber unerläßlich. Denn das Volk sieht zu, was die Vor nehmen tun, und eifert ihnen nach. Wenn aus den Wohnungen der Pfarrer, Lehrer, Beamten nu. Kunstlieder auf die Straße klingen, wenn in den Gesangvereinen das Volkslied beiseite gelassen wird weil die durchkomponierten Lieder schwieriger und vornehmer sind, so darf man sich nicht wun dem, daß das Volk seine Weisen als verachtete aufgibt und sich verpflichtet fühlt, die blödesten neuer Gassenhauer möglichst schnell zu erlernen, da sie ja die neueste Mode darstellen“.2’

Der Mittelstand wird immer wieder an seine Privilegien und seine Verantwor­ tung für einen Ausgleich der Bildungsunterschiede erinnert und ermahnt, die Kluft zwischen den sozialen Schichten nicht zu vertiefen: „Es geht durch das ganze Volk das Streben von unten nach oben, und dieses Streben offenbart sich zumeist in der Kopie des Lebens der oberen. Unsere ganze Geschmacksverirrung auf künstlerischem Gebiete beruht nicht auf der Verlotterung der unteren Kreise, sondern auf der der oberen“.29 30

Die Konsequenz aus dieser Einschätzung besteht in der Forderung nach sozialintegrativen Bemühungen auf dem Gebiet einer gehobenen Musik und Schaf­ fung eines kulturellen Forums, wo sich Bürger aller Schichten treffen und austauschen können. Dieses Ziel faßt Paul Bekker, Musikhistoriker, Kritiker und immerhin einer der bedeutendsten Wortführer der Neuen Musik in Deutsch­ land, in seiner Schrift über das deutsche Musikleben zusammen. Er plädiert für das Bewußtsein einer „ideellen staatlichen Kulturgemeinschaft“, für die Uto­ pie eines repräsentativen gesellschaftlichen Zusammenschlusses in einer Form, „in der unsere Anschauungen von Welt und Leben, soweit sie auf gemeinschaftli­ cher Grundlage ruhen, sich zur ästhetischen Erscheinung gestalten.“31

Soziale Differenzierung Die vorstehenden Äußerungen über die gesellschaftliche Rolle der Musik las­ sen erkennen, daß es um Erziehungsideale sowie die Etablierung eines bürger­ lichen Wertesystems geht, dessen Anerkennung soziale Unebenheiten auszu­ gleichen vermag. Musik gilt als Status-Attribut, wie Theodor Fontane mit ei­ ner Szene aus dem Roman „Frau Jenny Treibei“ zeigt, einer Kommerzienrätin aus kleinen Verhältnissen, die es sich - trotz dünner Stimme - nicht nehmen läßt, ihre Gäste mit einem Lied zu beglücken und damit ihre gehobene soziale Stel­ lung demonstriert. Die schwer erarbeitete künstlerische Darbietung gehört, ebenso wie die gediegene Kleidung, das vorzügliche Essen und geschmackvol­ le Interieur, zur Repräsentation der angesehenen Familie - noblesse oblige. 29 Der Niedergang des Volksliedes. In: ebd., S. 49.- Vgl. auch: Volkslied und Gassenlied, ebd., S. 55 f. 30 Musik und höhere Schule. In: ebd., S. 93 f. 31 Bekker (wie Anm. 21), S. 119 u. S. 150, wo Musik als „Macht des sozialen Lebens“ bezeichnet wird.

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Verständlich also, wenn die Musik in die Kämpfe um soziale Rangordnungen einbezogen wird. Kinder begüterter und angesehener Eltern erhalten nach Mög­ lichkeit Gesangs- oder Instrumentalunterricht und werden darin gern von we­ niger vermögenden Mittelstandsfamilien nachgeahmt. Im Bemühen, sich an den Gewohnheiten der jeweils höheren sozialen Schicht zu orientieren, kommt es zu unkünstlerischen Darbietungen und konkurrierenden Verhaltensweisen.32 Schon das bloße Vorhandensein eines Klavieres scheint den sozialen Status ei­ ner Familie zu heben.33 34 Das gesellschaftliche Ansehen steigt mit dem Erwerb musikalischer Fertigkeiten, was zur Folge hat, daß der Musikunterrichts als un­ verzichtbarer Bestandteil einer guten Erziehung angesehen wird: „Mädchen lernen oft sehr gute Musik, allein blos um damit in Gesellschaft zu glänzen, bewundert zu werden, die Aufmerksamkeit heiratslustiger Männer zu erzeugen ... Knaben dagegen läßt man Musik lernen, theils weil es einmal, wie bei Mädchen, zu einer sogenannten guten Erziehung ge­ hört, theils und oft hauptsächlich, damit ihnen die erworbene musikalische Kenntniß ihre Carriere erleichtere.“54

Karl Storck findet, daß das Repräsentationsbedürfnis bürgerlicher Aufsteiger übertriebene Formen annimmt: „Beschließt nicht jeder Banause, seinem Töchterlein Musikunterricht geben zu lassen, weil es .ge­ bildet' werden soll?... und ebenso ist der Banause im Irrtum, wenn er in dem bißchen Klimpern ein Bildungsmittel sieht oder es für zur Bildung zugehörig hält“.

Im übrigen sei der ganze Musikbetrieb nur „Mode“ und der häusliche Vortrag, vor allem das Vierhändigspielen, nur Angeberei nach der Devise „mehr Schein als Sein“.35 Der Gebildete registriert empfindlich und häufig mit Unwillen die peinli­ che Zurschaustellung kultureller Investitionen und Kapitalien durch aufstreben­ de Mitbürger. So wehrt sich der Komponist und Musikschriftsteller Louis Ehlert gegen die hohle Exklusivität gesellschaftlicher Kreise, die vor allem vom „Grün­ derthum“ der 70er Jahre profitieren und nur durch Geld oder Macht „imponiren“ wollen, von Kultur aber nichts verstehen. Von solchen Kreisen grenzt er sich selbstbewußt ab und stellt fest: „Keine Zumutung ist unerträglicher, als einen Mann wie seines Gleichen behandeln zu müssen, weil er einige glückli­ che Börsenspekulationen gemacht hat“.36 Äußerungen dieser Art zeugen vom Selbstbewußtsein des „Geistesadels“ und von der Auffassung, daß ein durch Bil­ dung erworbenes Prestige für wichtiger gehalten wird als wirtschaftliche Pro32 33 34 35

Vgl. Storck: Das musikalische Haus. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 127. Nicolai Petrat: Hausmusik des Biedermeier. Hamburg 1986, S. 82. Wiener allgemeine Musik-Zeitung, 8. Jg. 1848, S. 198, zit. n. ebd., S. 103. Storck: Das musikalische Haus. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 127. Zur nachfolgenden Argumentation S. 128 und 132. 36 Louis Ehlert: Musik und Geselligkeit (1879). In: Ders.: Aus der Tonwelt. Essays. Berlin 1884, S. 99.

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sperität.37 Wer sich zur kulturellen Elite zählt, darf sich sogar mit den politisch Mächtigen messen - ein Beleg für diese Auffassung findet sich in populären Beet­ hoven-Darstellungen, in denen geschildert wird, wie der zum „Titan“ stilisier­ te Komponist sich weigert, dem entgegenkommenden Fürsten Platz zu machen und vor diesem als erster den Hut zu ziehen.

Kommerzialisierung Im Zuge der Integration unterhaltender Kunst in das gesellschaftliche Leben werden Wünsche nach einer Musik wach, die nicht so hohe Ansprüche an Konzentration und Vor­ bildung der Zuhörer stellt, den Konsum von Speisen, Getränken oder Tabak zuläßt und weder Kartenspiel noch angeregte Gespräche ausschließt. Das Bedürfnis nach Genuß be­ siegt in vielen Lebensbereichen den sozial motivierten Drang nach Bildung und findet seine Erfüllung durch einen Musikmarkt, der sich danach verzehrt, den Wünschen breiter Interessentenschichten mit allem, was ihm zur Verfügung steht, zu dienen. Der vermehr­ te Bedarf an eingängiger und leicht spielbarer Musik mit Unterhaltungswert ruft Kompo­ nisten, Textdichter,Verleger, Intendanten und Abb. 1: „Beethoven und Goethe in Teplitz“ alle jene Kaufleute auf den Plan, die am Ge­ schäft partizipieren möchten. Selbst angese­ hene Komponisten gehen dazu über, das zu schreiben, was man verkaufen kann. Schon Franz Liszt und Robert Schumann beklagen sich darüber, daß ihre Kol­ legen vielfach aus wirtschaftlicher Not dazu gezwungen würden, Tänze, Galoppaden oder „triviale“ Unterhaltungsstücke für den Verkauf zu schreiben. Der Markt korrumpiere die Musik als Kunst und mache ursprünglich idealistisch denkende Musiker zu Vielschreibern und ihre Musik käuflich und gemein.38

37 Klaus Vondung: Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit. In: Ders. (Hg.): Das wil­ helminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. G(5ttingen 1976, S. 20-33, hier S. 26. 38 Nähere Angaben: Schutte, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 23-25.

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Diese Position ist keine Einzelmeinung, sondern wird bis zum Ende des Jahr­ hunderts z.B. von Richard Wagner39 oder später auch von Kritikern wie Karl Storck vertreten. Diese sind beunruhigt über die Vielfalt an Stücken mit ästhe­ tisch unzureichendem Niveau, die den Markt überschwemmen, aber häufig kaum von anderen, den künstlerischen Normen eher entsprechenden Kom­ positionen zu unterscheiden sind. Das Spektrum des angebotenen Repertoires reicht von innovativen Werken über eklektizistische Nachbildungen bis hin zu prätentiösen Charakterstücken, Tänzen, populären Liedern, Chorwerken und spieltechnisch erleichterten Arrangements. Selbst für den musikalisch Gebil­ deten ist es schwierig zu entscheiden, beim Kauf welcher Noten er sich auf der Höhe des als legitim bewerteten Geschmacks befindet. Sicherheit gewähren glücklicherweise die Klassiker, die von der Deklassierung ausgenommen,40 al­ lerdings auch schon von Liebhabern in Beschlag genommen sind, die nach Aussagen gebildeter Zeitgenossen kaum die Voraussetzungen besitzen, diese Musik zu würdigen. Robert Schumann schildert ironisch so manche verun­ glückte Liebe zur Klassik und bezeichnet jene Beethoven-Freunde, die sich mit dem großen Komponisten lediglich schmücken wollen, als „Philister“. Gna­ denlos gießt er seinen Spott über geltungssüchtige Musikfreunde aus, wie z.B. in der 1835 veröffentlichten „Fastnachtsrede von Florestan“ über jenen reichen Landedelmann, der seinen prächtigen, teuren, mit Alabastersäulen, Spiegeln und seidenen Vorhängen geschmückten Musikschrank mit sämtlichen Werken Beet­ hovens ausstatten möchte, da er „diesen sehr gern habe“.41 Kunst und Geld - diese Allianz ist nicht nur für Schumann unannehmbar. Der florierende Musikmarkt jedoch sieht auch in der klassischen Musik und ihren Derivaten die Möglichkeit, auf seine Kosten zu kommen und das Presti­ ge der Epoche zu nutzen. Die Verteidiger der Kunst fühlen sich bedrängt und eröffnen den Kampf gegen die Kommerzialisierung, welcher in der von Schu­ mann herausgegebenen Neuen Zeitschrift für Musik ein bedeutsames öffentli­ ches Forum findet.

39 Richard Wagner: Publikum und Popularität. In: Das Publikum in Zeit und Raum (1878). Zit. nach: Ders.: Die Hauptschriften, hg. u. eingeleitet v. Ernst Bücken. Stuttgart 21956, S. 411-413, hier S. 412: so müssen wir das Werk, welches eben nur diese Unterhaltungssucht auszubeu­ ten beabsichtigt, als an sich gewiß jedes Wertes bar erkennen, und insofern der Kategorie des moralisch Schlechten sehr nahe angehörig bezeichnen, als es auf Nutzziehung aus den bedenk­ lichsten Eigenschaften der Menge ausgeht.“ 40 Storck: Gartenkonzerte. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 102. 41 Schumann (wie Anm. 10), S. 68.

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Demokratisierung versus Kommerzialisierung Gefragt ist vor allem Musik, die einen gewissen Anspruch mit Sang- und Spiel­ barkeit verbindet oder als Darbietungsmusik auch beim weniger anspruchsvol­ len Konzertpublikum Begeisterung hervorruft. Die Grenze zwischen origina­ len Kunstformen und ihren Bearbeitungen bzw. den von ihnen hergestellten Stilkopien ist kaum auszumachen, und unter diesem Aspekt unterscheidet sich die Qualität des „Sehnsuchts-Walzers“ von Franz Schubert (D 365) für viele Benutzer kaum von der Flut melancholischer Konkurrenzkompositionen, z.B. vom Walzer „Vergißmeinnicht“ op. 87 von Gustav Steffens. Der „König“ des Wiener Walzers, Johann Strauß, hat nicht nur eine auf Unterhaltung eingestell­ te, komponierende Verwandtschaft, sondern eine ganze Gefolgschaft von er­ folgshungrigen Mitbewerbern, die ebenfalls mit Walzern oder Polkas die Gunst des Publikums erringen wollen. Beliebt sind nicht nur Tänze, sondern auch die kleineren Charakterstücke mit phantasievollen, vielversprechenden Überschrif­ ten. Hier verschwimmen die ästhetischen Gegensätze besonders häufig, und nur ein Kenner ist in der Lage, die Imitate von den Originalen zu unterscheiden. Worin bestehen beispielsweise die Unterschiede zwischen Franz Liszts Kon­ zert-Etüde „La Campanella“ und den „Klosterglocken“ von Louis James Al­ fred Lefébure-Wély, zwischen Schumanns „Vogel als Prophet“ und Brinley Richards „Vögleins Abendlied“, Schumanns „Träumerei“ oder der mit „schmachtend“ überschriebenen „Reverie“ op. 8 von Adolf Jensen? Wer erklärt der jungen Klavierspielerin den Unterschied zwischen einem Nocturne von Frédéric Chopin und dem von Ida Prade, für dessen zarte Konstitution die Überschrift „Ein Seelenhauch" die Garantie übernimmt? Programmatische Titel regen die Einbildungskraft an und sollen wohl Fern­ weh, Sehnsucht oder andere große Gefühle erzeugen, für die auf attraktiven, bunten Covers geworben wird. Die Musikindustrie nutzt alle Mittel, um breite Publikumskreise für ihr Ge­ mischtwarenangebot zu gewinnen. Verleger, Klavierbauer, Vertreter von Kon­ zert-Agenturen oder Musikalienhändler sind ebenso wie zahlreiche Komponi­ sten und Interpreten am Vertrieb jeglicher Art von Musik interessiert, die ei­ nen großen Abnehmerkreis verspricht. Welche das ist, spielt nicht unbedingt eine Rolle. Beethovens langsamer Satz aus der „Pathétique“ für Cello und Kla­ vier oder lieber Boccherinis berühmtes Menuett für Klaviertrio, Richard Eilen­ bergs Galopp „Petersburger Schlittenfahrt“ original vierhändig oder „Ist denn kein Stuhl da für meine Hulda“, ein Arrangement auf die Mazurka „La Czarine“ von Louis Gannes, ein „Ave Maria“ auf der Grundlage von Schuberts Impromptu für Klavier oder das von Charles Gounod, arrangiert und textiert unter Zuhilfenahme des ersten Präludiums aus Johann Sebastian Bachs „Wohl-

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temperiertem Klavier“ - oder nicht viel­ leicht doch lieber eine markige Fassung des Yorkschen Marsches von Beethoven oder des Trauermarsches aus Chopins Klaviersonate b-Moll, op. 35, für Mili­ tärmusik - alles ist im Sortiment. Mit diesen Beispielen, deren Zahl sich nahezu unbegrenzt vermehren lie­ ße, soll die Bandbreite des aufgebotenen Repertoires Umrissen werden. Es ist al­ les vorhanden, der Musikliebhaber braucht nur auszuwählen. Jedoch wel­ ches Werk ist das beste, welchen Anprei­ sungen soll er Glauben schenken und nach welchen Kriterien soll er ange­ sichts des überreichen Angebotes je­ Abb. 2: Cover: Sehnsucht nach den Bergen weils entscheiden? Vielleicht ist es in ei­ nem Fall die Begeisterung für einen bestimmten Komponisten oder die Aktua­ lität eines modernen Stückes, in einem zweiten Fall die Anpreisung eines mo­ dischen Schlagers oder der günstige Preis eines Sammelalbums und in einem dritten die gediegene Aufmachung eines Geschenkbandes für klassische Mu­ sik, die ihn zum Kauf veranlassen. Kommerzialisierung und Demokratisierung des Musiklebens bedingen einander und stellen unterschiedliche Seiten der Entwicklung dar. Kritiker beklagen diese Erscheinungen als „Verflachung“ und äußern nur geringes Verständnis für das Unterhaltungsbedürfnis bürgerlicher Rezipienten.42 Auf der Suche nach den Ursachen wird dem Anwachsen der Industrie, der Verstädterung oder den unzumutbaren Wohnverhältnissen in großstädtischen Mietskasernen die Schuld gegeben, die eine praktische Musikausübung kaum zulassen und das Interesse auf außerhäusliche Untcrhaltungsangebote lenken.43 Das explosionsartige Anwachsen der Stadtbevölkerung wird als eine der Haupt­ ursachen für den „völligen Wandel aller Grundbedingungen des Daseins“ an­ gesehen. Die „gute“ Musik und ihre Randbereiche geraten in den Großstädten immer stärker in die Defensive und müssen Platz machen für zahlreiche For­ men von Unterhaltungsmusik, „wertlose Schmarren“,44 „Schundliteratur“ und schlecht gemachte „Kunstindustrie”,45 deren Verbreitung vor allem im Mit42 43 44 45

Storck: Das musikalische Haus. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), bes. S. 125 und 130. Ders.: Volkslied und Gassenlied. In: ebd., S. 53-55, S. 107 und 112. Ders.: Eine musikalische Hausbibhothek. In: ebd., S. 151. Ders.: Volkslied und Gassenlied. In: ebd., S. 60.

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telstand Storck mit Beunruhigung registriert. Die Grenzen zwischen einem qua­ lifizierten, noch vertretbaren Repertoire und unkünstlerischer, grober oder vul­ gärer Musik sind auch für ihn schwer zu ziehen. Einerseits sieht er in der Po­ pularisierung legitimer Musikformen und ihrer Verbreitung eine demokratische Perspektive, andererseits jedoch ist ihm klar, daß bestimmte öffentliche Musik­ darbietungen, z.B. die Wirtshauskonzerte, zugleich der Kommerzialisierung Tür und Tor öffnen: „Es ist der schlimmste Fehler, daß die Sommergartenkonzerte nicht als Kunstdarbietungen ange­ sehen werden, sondern zumeist als Lockmittel für Wirtschaftszwecke dienen. Ich bin der letzte, der im Glas Wein oder Bier ein Hemmnis für ernsten Musikgenuß sieht; ich für meine Person habe im Gegenteil immer gefunden, daß Dionysos und Apollo liebende Brüder sind. Aber, bei allen diesen Fragen entscheidet das Wie. Bei jenen Konzerten wenigstens, für die Eintritt erhoben wird, müßte der Wirtschaftsbetrieb in denselben Grenzen gehalten werden, wie in den sogenannten populären Konzerten im geschlossenen Raum.“46

Auch von der lieb gewordenen Vorstellung, daß man sich das musikalische Repertoire durch Singen und Instrumentalspiel selbst anzueignen hat, um sei­ nen Wert zu schätzen und es ganz zu besitzen, muß man sich allmählich verab­ schieden. Einerseits wächst die Anzahl der öffentlichen Konzerte, andererseits gibt es inzwischen das „Grammophon“, das seit der Jahrhundertwende schnell an Bedeutung zunimmt und die musikalische Eigentätigkeit als unnötig erschei­ nen läßt. Etliche, vorwiegend amerikanische Firmen verkaufen um 1900 welt­ weit bereits zweieinhalb Millionen Schallplatten; der deutsche SchallplattenUmsatz liegt 1906 bei etwa 1,5 Millionen.47 Wie andere Kulturpolitiker auch, kritisiert Storck den Einsatz des Grammophons in öffentlichen Lokalen wie im privaten Haushalt und beklagt den schlechten Einfluß der durch sie verbreite­ ten Schlager: „Solch ein Ungeheuer wird von zartfühlenden Besitzern mit Vorliebe auf dem Balkon aufgestellt und grölt diese widerwärtigen Tingeltangelmelodien mit den ekelhaften Texten in die Umwelt hinein. Die Kinderohren werden damit vergiftet, die Kinderherzen mit“.48

Kommerzialisierung fördert die Verbreitung „leichter“ Unterhaltungsmusik vor allem auf dem Lande und in kleinen Städten und nimmt so überhand, daß Ostern 1911 in Berlin ein musikpädagogischer Kongreß veranstaltet wird, der den Kampf gegen die sogenannte musikalische Schundliteratur aufnimmt. Die von dem Seminarmusiklehrer Anton Penkert vorgetragenen Thesen erregen Auf­ sehen und machen später auch in gedruckter Form Furore. Karl Storck macht sich die Einwände gegen die leichte Musik zu eigen und prangert besonders die Operetten an: 46 Ders.: Gartenkonzerte. In: ebd., S. 103. 47 Peter Czerny/Heinz P. Hofmann: Der Schlager. Ein Panorama der leichten Musik. Berlin 1968, S. 134. Weitere Informationen: Art.’’Schallplatte”. In: RiemannMusiklexikon. Sachteil. Mainz 1967. 48 Storck: Gegen die musikalische Schundliteratur. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S.167.

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»Es ist nicht mit nackten Tatsachen nachzu weisen, daß die allgemein übliche Operettenmusik durch und durch unsittlich, innerlich faul und verderbt ist. Man könnte es noch zu allererst nachweisen an den Texten. Es gibt keinen gebildeten Menschen, der sich nicht schämen müßte, an unseren gro­ ßen Schlageroperetten Freude bezeugt zu haben, wenn man ihm ganz nüchtern, Wort für Wort, die Texte vorliest. Es gibt kein anständiges weibliches Wesen, das nicht erröten müßte, diese Lieder in den Mund zu nehmen... Aber da kommt die Musik hinzu, die Musik, die in Wirklichkeit das Aller­ gemeinste von dem Ganzen ist, und nimmt für die breite Masse den Charakter des Gemeinen weg. Sie tötet durch ihre sinnliche Melodik alle geistige Überlegung, alles verstandesmäßige Abwägen.“4’

Nach weiteren Ausführungen über die offen „feilgehaltene“ musikalische Schundliteratur und ihre „oft mit schreienden Umschlägen,geschmückten“ Ver­ treter“ schlägt er als Gegenmaßnahme vor: „Erzieht die Menschen durch gute Musik, führt ihnen nur gute Musik zu, sorgt dafür, daß sie sich nur mit guter Musik beschäftigen, und alle Scheinkunst, alles falsche Gemächte wird ihnen von selber abstoßend erscheinen.“49 50

Kritik wird auch laut an den nach kommerziellen Gesichtspunkten agierenden Organisatoren des öffentlichen Musikleben, das - nach Storck - vor allem von den wirtschaftlichen Interessen der Konzertagenturen bestimmt ist. Deshalb möchte er die Konzertagenten, die überwiegend für die Großstädte zuständig und mehr Geschäftsleute als Kulturfreunde sind, durch regionale Musiklieb­ haber ersetzen. Diese sollen durch persönlichen Einsatz und Ausnutzung ihrer privaten Kontakte vor allem in Kleinstädten und auf dem Lande die Organisa­ tion eines geeigneten Konzertlebens übernehmen.51 Das „Konzertagentenwe­ sen“ habe zwar gewisse Vorteile für einzelne Künstler, jedoch die Konkurrenz der Unternehmen untereinander führe zu Auswüchsen, unter denen die aus­ übenden Künstler zu leiden hätten. Storck versteigt sich sogar zu der Formu­ lierung, es sei der schlimmste Feind des Musiklebens, und ob man nun von Wein, bzw. Spirituosen oder vom „Trödel“ mit Künstlern lebe, sei denen egal. „Wer bei dem Vermittlungsgeschäft die fetteste Provision abwirft, ist bevorzugtes Ob­ jekt“.52 Als besonders abschreckendes Beispiel des „kapitalistisch-industriellen“ Konzertwesens führt er die Konzertagentur Wolff in Berlin an, welche sich zu einer nach merkantilen Gesichtspunkten organisierten gesellschaftlichen Macht entwickelt hat, deren einseitige Ausrichtung auf finanzielle Vorteile auch Paul Bekker beklagt.53 Hermann Wolff, ursprünglich Sekretär, Geschäftsverwalter und Organisator der Konzerte Hans von Bülows, baute die erste weltumspan­ nende Konzertagentur auf und profitierte in unvorstellbarem Maße von dieser 49 50 51 52 53

Ebd., S. 166. Ebd., S. 169. Storck: Konzerte an kleinen Orten. In: ebd., S. 108. Storck: Soziale Nöte im deutschen Musikleben. In: ebd., S.174-187, hier S. 182. Bekker (wie Anm. 21), S. 210-214 und 108-111.

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Monopolstellung. Der jährliche Reingewinn der Konzertdirektion wird mit 200 000 Mark beziffert. Künstler, die ihre Engagements durch Agenturen re­ geln lassen, laufen Gefahr, daß beim anstehenden Konzert eher auf Umsatz und weniger auf die künstlerische Qualität geachtet wird. Wirtschaftsinteressen ste­ hen jedenfalls in vielen Fällen im Vordergrund, und es wird nach Wegen gesucht, wie sie sich mit der Präsentation von Kultur verbinden lassen. So bleibt es Storck nicht verborgen, daß die als „Musikhochflut“ gelobte Musikfesteuphorie des Jahres 1910 in München im wesentlichen der Förderung des Fremdenverkehrs zu verdanken ist.54 Der private Musikunterricht in großstädtischen Konservatorien, die wie Pilze aus dem Boden schießen, gerät ebenfalls in den Sog kommerzieller Inter­ essen. Einerseits erweist sich die Institution als Ort, an dem man preiswerten Unterricht verspricht und in Zeitungsanzeigen öffentlich dafür wirbt. Faktisch jedoch steht die Überlegung dahinter, mit den in der Regel kaum ausgebilde­ ten, schlecht bezahlten Lehrkräften möglichst viel Geld zu verdienen. Resigniert zieht Storck das Resume: „Nirgendwo zeigt sich der Fluch der Verbindung von Kunst und Kapitalismus verhängnisvoller, als in diesem höheren Musikunter­ richt“.55 Im Bereich der häuslichen Musik, bei der sich alles um das Klavier in der guten Stube oder im Salon schart, verurteilt Storck in besonderem Maße die von geschäftlichen Interessen nicht zu trennende Trivialisierung des Repertoires. Verleger und Komponisten seien bereit, den Wünschen mittelständischer Schichten nach einer Musik nachzukommen, die lediglich „das äußerliche Unter­ haltungsbedürfnis zu befriedigen strebt“. Unterhaltungskomponisten sind für ihn „Charlatane“, die große Mengen brillanter, sentimentaler, verlogener, auf äußeren Effekt berechneter, seichter Spielliteratur für den Markt produzieren. Überhaupt sei der ganze öffentliche „Musikbetrieb“ auf Äußerlichkeiten ge­ richtet; darin unterscheide er sich grundsätzlich nicht vom „feinen“ Salon, in dem man sich vor lauter Nippes und gedrehten Säulen nicht mehr zu wohnen traue.56

Schlager Aus Storcks Polemik geht hervor, wie sehr sich die Wahrer klassischer Bildungs­ traditionen in der Defensive fühlen. Als Hauptfeind der Kultur wird der groß54 Storck: Zur Reform der Musikfeste. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 114. 55 Ders.: Vom Elend im Musikunterricht. In: ebd., S. 147. 56 Argumentation des gesamten Absatzes nach Storck: Das musikalische Haus. In: ebd., S. 125133, bes. S. 129,125, 130, 132.

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städtische Gassenhauer und Operetten-Schlager ausgemacht, der um 1900 in seiner musikalischen Struktur durchaus noch klassisch-romantischen Fakturen verpflichtet ist. Diese Nähe macht sich die Werbung gern zunutze und preist den Schlager euphemistisch als moderne Kunst, um möglichst große Käufer­ schichten für unterhaltende Lieder, Opern- oder Operettenmelodien, Märsche, Tänze, Potpourris u.a. anzusprechen. Im Vorwort des kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Albums „Lachende Musik“ ist zu lesen: „Beim Durchblättern dieses schönen Bandes hört man Klänge aus allen Ländern. Die typischen modernen .Schlager“ wechseln ab mit neuesten französischen Walzern, dem straff-rhythmischen, amerikanischen Tanz und dem weichen, schlichten Wiener Lied. Und jedes einzelne ist uns bekannt und beliebt; denn das Volk sucht sich aus der Fülle des Gebotenen selbst das Beste heraus und er­ hebt es zu dem, was die Neuzeit mit dem Modewort .Schlager“ scharf umgrenzt hat. Der Schlager ist international. Wie die Zeit alle Entfernungen überbrückt hat, wie die Völker ihre Erzeugnisse und Waren wechselseitig austauschen, so ist auch heute die Kunst (sic!) in all ihren Formen länder­ umspannend und international geworden.“57

Der Inhalt des Bandes dokumentiert die Vorherrschaft „moderner“ Schlager und Tänze, welche als Produkte der Großstadt den geballten Zorn der Kritiker vom Schlage eines Karl Storck hervorrufen, der die städtischen Bedingungen für Produktion und Vertrieb verantwortlich macht. Selbst die Militärorchester schlagen Profit aus dieser Musik und machen „unwürdige“ Geschäfte, indem sie in Biergärten, Wirtschaften oder Cafés zum Tanz aufspielen und Potpourris oder „Saison-Schlagerware“ gegen gutes Geld vortragen. Vor allem bei sommer­ lichen Gartenkonzerten höre man auch in vornehmen Lokalen in bunter Folge Potpourris, Märsche, Tänze, Pistonsolos, Ouvertüren, meistens in Bläserar­ rangements und als „Lockmittel für Wirtschaftszwecke“. Den Soldaten sei es sogar gestattet, beim Marsch durch die Dörfer und Städte unanständige Gas­ senhauer wie „Mein Herz, das ist ein Bienenhaus“ oder „Komm Karlineken, komm“ zu grölen.58 Storck wird nicht müde, die „ungeheure Verbreitung“ der Schlager und „Modelieder“ sowie die „verderbliche Varietemusik“ in Grund und Boden zu verdammen, die sich „mit der Geschwindigkeit einer Seuche verbreiten“.59 Her57 Der vollständige Text des Vorwortes ist abgedruckt in: Schutte, Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 47 f. 58 Storck, Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 82,102,103, 75. - Die bei Storck genannten Stücke sind aus heutiger Sicht von geradezu rührender Harmlosigkeit, so z.B. Werk 124 von Hermann Josef Schneider: Das Bienenhaus. Marsch mit Benutzung eines Studentenliedes. Der angeblich an­ stößige Text heißt: „Mein Herz, das ist ein Bienenhaus, die Mädchen sind darin die Bienen. Sie fliegen ein, sie fliegen aus, g’rad wie es ist im Bienenhaus in meines Herzens Klause, tirirullera.“ - „Komm Karlineken ... wir woll’n nach (Rixdorf) Seckbach gehen, da ist’s so wunderschön“. Zu den Autoren der verschiedenen Texte und dem Komponisten der letztgenannten Polka, Eugen Philippi, der aber in einigen Ausgaben nicht genannt ist, vgl Czerny/Hofmann (wie Anm. 47), S. 61 f. 59 Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 60, 46, 63, 70.

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vorzuheben ist nochmals, daß er nicht die „Arbeiterschaft“, sondern - nach einem Seitenhieb auf die Sozialdemokratie - den gebildeten Mittelstand für diesen angeblichen Niedergang der Kultur verantwortlich macht: „Man höre sich einmal die Musik an, die in den,besseren' Restaurants allabendlich dargeboten wird; man vergleiche den Spielvorrat der Grammophone, die in den Bürgerkneipen den sonst für Kunst­ zwecke so unzugänglichen Spießern so manchen Nickel aus der Tasche locken. Oder glaubt man, daß es .Arbeiter' sind, die die Hunderttausend-Auflagen der .Schlager der Saison' ermöglichen? Die Arbeiter haben ja kein Klavier im Hause. Und aus welchen Kreisen stammt das Publikum der Operettenhäuser, des Metropoltheaters? Diese .Gebildeten' entscheiden die Sensationserfolge die­ ser Machwerke, sie machen sich zu den Trägern und Verbreitern dieser elenden Musikware, die unser Volk durchseucht. Sie sind um so mehr die Schuldigen, als ihr Beispiel Nachahmung findet, als sie durch ihre Kaufkraft die Fabrikation dieser Schundware zu einer so lohnenden Industrie machen, während die gediegene Hausmusik auf den Regalen der Verleger einstauben muß.“60

Ausführungen wie diese zeigen, daß Storcks Beunruhigung vor allem dem un­ erklärlichen Werteverlust innerhalb des Bürgertums gilt, der sich in der Aus­ breitung neuer Lebensweisen, in der Verweigerung traditioneller Bildung und Kultur - früher einmal zentrale Kategorien für das bürgerliche Selbstverständ­ nis - sowie in dem aus seiner Sicht unvernünftigen Interesse an moralisch be­ denklicher und ästhetisch minderbewerteter Musik niederschlägt. Die Autori­ tät großer Kultur wird nicht durch die Klasse der Arbeiter angezweifelt, son­ dern sozusagen im eigenen bürgerlichen Lager untergraben. Den Diskussionen über Schlager und ihre Konsumenten sollen im folgen­ den einige Kompositionen gegenübergestellt werden, die anschaulich machen, wie der inkriminierte Gegenstand im Einzelfall aussieht und im praktischen Ge­ brauch wirkt. Worin besteht um 1900 die Modernität der Unterhaltungsmusik? Warum finden Tanz- und Unterhaltungsschlager soviel Wiederhall in gutbür­ gerlichen Kreisen? Was verbindet sie mit der traditionellen Kunstmusik? Die folgenden drei Beispielen zeigen exemplarisch gängige Strukturen der Unter­ haltungsmusik und ihre Nähe zum Schlager: das Walzerlied „Daisy“ von Har­ ry Dacre (1892), das Potpourri „Berlin wackelt“ von Camillo Morena (1912) und die Operette „Das Dreimäderlhaus“, Bearbeitungen originaler Werke von Franz Schubert durch Heinrich Berte (1916).

Harry Dacre: „Daisy“ In dem nach authentischen Briefen verfaßten Roman von Marga Berck, einer Bremer Kaufmannstochter, spielt das Lied „Daisy“ eine besondere Rolle.61 Der 60 Volkslied und Gassenlied. In: ebd., S. 56. 61 Marga Berck: Sommer in Lesmona. Reinbek 1964. Der Roman berücksichtigt Briefe aus den Jahren 1893/96. Nachfolgend aufgeführte Zitate S. 33,36 und 54. - Vgl dazu Sabine Giesbrecht-

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englische Cousin Percy bringt es frisch aus London mit, wo es der „dernier cri“ ist und singt es seinen hanseatischen Freunden „von früh bis spät“ vor. Marga Berck ist begeistert: „Er sagt, dies Lied klänge jetzt aus allen Fenstern, oben von den Bussen, auf den Straßen und in den Restaurants, ganz London sänge jetzt ,Daisy“... Am zweiten Tag, als er abends ,Daisy‘ gesun­ gen und ich ihn am Klavier begleitet hatte, als alle dabei waren, sagt er plötzlich zu mir: ,Gott, mir fällt eben ein, daß du der Typ von Daisy bist, den ich mir von ihr vorgestellt hatte, wahrhaftig ge­ nau so. Ich nenne dich jetzt nur noch,Daisy“ - Alle lachten, und von dem Moment an nennt er mich nie anders als ,Daisy““.

Auch andere „süße” Songs begeistern das wohlbehütete junge Mädchen, die der junge Mann, in den sie sich verhebt hat, mit einem „bezaubernden Go” vorträgt. Außerdem unterhält er die Familie mit Strauß-Walzern und Schubert- oder Schumann-Liedern. An der Funktion von „Daisy“ läßt sich nicht nur die Popularität des Stükkes, sondern auch seine Integration in die gutbürgerliche, gebildete Familie er­ kennen, die aus ihrer Begeisterung für die dargebotene Hausmusik keinen Hehl macht und den Schlager ebenso willkommen heißt wie das Kunstlied. Kenn­ zeichnend für diese liberale Einstellung ist die Darbietung der Shakespeare-Ver­ tonung „An Silvia“ von Franz Schubert, bei welcher der englische Gast den ori­ ginalen Namen Silvia listig durch „Daisy“ ersetzt: „Wer ist Daisy (Silvia) saget an“. So konvertiert „Daisy“ zu „Silvia“, indem sie in das Gewand des Kunst­ liedes schlüpft und bewirkt, daß der anwesende Onkel Herbert ergriffen und Marga Berck, alias Daisy, zu Tränen gerührt ist. In lebendigem Vollzug entfal­ tet sich der Reiz des auf diese Weise modifizierten Schubert-Liedes und unter­ scheidet sich als Teil und Ausdruck des sozialen Lebens nicht von Harry Dacres Original; ästhetischer Bereich und gesellschaftlicher Gebrauch fallen zusammen. „Daisy“ ist ein beschwingtes Walzerlied und knüpft an traditionelle Tänze des 19. Jahrhunderts an, was der Familie die unbefangene Akzeptanz ohne wei­ teres ermöglicht. Es ist leicht zu singen und zu begleiten und bedient sich einer einfachen Harmonik und einprägsamer melodisch-rhythmischen Wendungen. Formal entspricht es dem Prototyp des Schlagers mit seiner standardisierten Abfolge von Strophe und Refrain, beide mit einer von klassischen Mustern her vertrauten, nach 4,8 und 16 Takten periodisierten Gliederung. Die typische Wal­ zerbegleitung im Dreivierteltakt mit akzentuiertem Baßton und zwei nachschla­ genden Akkorden ist durch Kompositionen von Franz Schubert oder Johann Strauß bereits bekannt und lädt zum Tanzen, Schunkeln oder Mitsingen ein.

Schutte: Daisy oder Sylvia - Kunst unter der Optik des Lebens. In: Frauen- und Männerbilder in der Musik. Festschrift für Eva Riegen Hg. v. Freia Hoffmann/Jane Bowers/Ruth Heckmann. Oldenburg 2000, S. 96-110.

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Der Text ist originell, modern und nicht ohne ironische Distanz zum Inhalt: Daisy, Stiefmütterchen, wie der Anbeter „Die Blume im Herzen“ nennt, reimt sich auf „crazy“ und wird umworben von einem ungenannten Freund, der halb von Sinnen auf das Jawort wartet. Zu der geplanten Hochzeit fährt man schließ­ lich mit dem Tandem, „a bicycle built for two“, und unter weiblicher Führung, wie das Titelblatt zeigt. Das Fahrradfahren ist im Jahre 1894 noch eine Sensa­ tion, kann aber in diesem Fall nicht als Werbung für den Frauensport, sondern als Symbol der Zweisamkeit interpretiert werden, die auch durch einen kleinen, geflügelten Amor als Zugpferd ausgedrückt ist.62 Die „einzig berechtigte“ Ausgabe von „Daisy“ informiert Interessenten über den sensationellen Erfolg des Stückes und darüber, daß man elf verschieden instrumentierte Versionen des Stückes in kleiner Hausmusikbesetzung oder für Orchester käuflich erwerben kann. Zwei weitere Lieder, darunter eine Parodie von „Daisy“, ein „kolossaler Erfolg“, werden über dem Notentext erwähnt, so daß man sie als Spieler keinesfalls übersehen kann. Der Preis beträgt eine Mark, bzw. 1,20 Mk., eine Summe, die für Ausgaben dieser Art offenbar üblich ist, die jedoch von Karl Storck für unangemessen gehalten wird: „Alle paar Wochen kommt ein Klavierstück oder Lied auf, das plötzlich .beliebt“ wird. Es ist na­ türlich ein sinnfälliger, äußerlicher, im Grunde wertloser Schmarren. Aber man hat sich das Blatt gekauft. Es kostet ,nur“ eine Mark. Vielleicht vier Notenseiten. Man hätte für denselben Preis über hundert Seiten von Mozart oder Beethoven haben können. Jenes Lied ist einem nach vierzehn Ta­ gen zuwider; hier hätte man sich einen Schatz fürs Leben gewonnen”.63

Aber wie man bei Marga Berck nachlesen kann, ist als Schatz fürs Leben nicht nur das klassische Erbe, sondern auch die Unterhaltungsmusik betrachtet wor­ den, die dem Bedürfnis nach unmittelbarem Ausdruck und entspanntem Erle­ ben besonders effektiv nachkommt.

„Berlin wackelt“ - Potpourri von Camillo Morena Unterhaltend und werbewirksam präsentiert sich auch das Potpourri „Berlin wackelt“. Das für diesen Typus kennzeichnende Prinzip der Reihung ist dem Publikum schon aus der Programmgestaltung öffentlicher Konzerte bekannt. Hier wird ebenfalls Heterogenes zu Gehör gebracht, indem z.B. einzelne Sin­ foniesätze, Ouvertüren, arrangierte Arien, Märsche, Tänze oder Hymnen in bunter Mischung miteinander kombiniert werden. Die Stücke schrumpfen zu abwechslungsreichen Kassenmagneten und tauschen, ebenso wie das Potpour62 Alle Angaben beziehen sich auf die bei Bosworth u. Co. in Leipzig hg. Ausgabe, Copyright 1892. 63 Storck: Eine musikalische Hausbibliothek. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 151 f.

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ri, ihre ursprüngliche Ganzheit, ihren Werkcharakter und ihren Originalklang gegen ihre populäre Wirkung ein. Beim Potpourri reduziert sich die Form auf die Aneinanderreihung von Kennmelodien, die z.T. noch gekürzt, d.h. auf den Refrain eines Liedes oder das charakteristische Hauptmotiv beschränkt sind. Übergänge verbinden notdürftig die Leerstellen zwischen den Themen, die harmonisch rüde über Stock und Stein gehen, um das Publikum nur schnell wieder auf bekanntes Terrain zu führen. Wie beim Spargel genießt der Hörer mit dem Potpourri nur die Themenköpfe und erspart sich den etwas schwerer verdaulichen Rest des Ganzen. Selbst cha­ rakteristische Original-Themen bleiben von Eingriffen nicht verschont und wer­ den vor allem an den Schlüssen gekürzt und im Sinne des Montageprinzips verformt. Die dem Potpourri zugrundeliegenden Werke sind damit praktisch nicht mehr existent; übrig bleiben die ihres Kontextes beraubten thematischen Fassaden. Der Beliebtheit tut das Herstellungsverfahren keinen Abbruch. Kurkapel­ len oder Salonorchester bedienen sich bis heute dieses Modells, dessen thema­ tische Substanz von Gattungen wie Oper, Operette, Tanz, Marsch und Schla­ ger entlehnt ist. In Kenntnis der Tatsache, daß das Potpourri bei öffentlichen Konzerten ungewöhnliche Zustimmung vor allem im Mittelstand erfährt, ringt sich Karl Storck bei der Bewertung dieses Genres zu einer differenzierten Sicht durch. Er plädiert für die „künstlerische Form des Potpourris“, bei der die ein­ zelnen Teile wie bei einem „Blumenstrauß" gefällig zusammengebunden, das zugrundeliegende Werk jedoch in seinen äußeren Umrissen erhalten bleibt: „Das Opernpotpourri z.B., jetzt der Schrecken jedes ästhetisch Empfindenden, könnte zu einem annehmbaren Gebilde werden, wenn die wertvollsten Teile einer Oper in der richtigen Reihenfol­ ge als geschlossene Musikstücke vorgetragen würden ... Aus Studenten-, Soldaten-, Jägerliedern lassen sich farbige Bilder des Lebens der betreffenden Stände zusammenstellen; mit Volksliedern kann man die kostbarsten Geschichten erzählen. Wenn dann noch ein Programm mit den zugehö­ rigen Texten (samt Melodie) verteilt würde, würden die Volkslieder auch wieder bekannt werden“.64

Jedoch entspricht die Praxis nicht diesen Vorstellungen, so daß Storck seinem Zorn über jene Musik Ausdruck gibt, für die „man den appetitlichen Namen .Potpourri““ erfunden hat". Für ihn handelt es sich dabei um eine „Zusammen­ flickerei einander widerstrebender Stücke eines schönen Ganzen zu einem Zerr­ bild desselben“, weshalb er diese Musik als „Schundliteratur“ geißelt, die in großem Umfang in „Albums“ gedruckt und sogar in Warenhäusern vertrieben wird, die seiner Meinung nach „zu den allerschlimmsten Machern“ gehören.65

64 Storck: Gartenkonzerte. In: ebd., S. 102 und 103. 65 Ders.: Eine musikalische 1 lausbibliothek. In: ebd., S. 150; Gegen die musikalische Schundlite­ ratur. In: ebd., S. 167.

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Die Popularität des Potpourris mag auf den Unterhaltungs- und Wiederer­ kennungswert der Kennmelodien zurückzuführen sein, aber treibende Kraft für die Verbreitung ist der Markt, auf dem sich die komprimierten Formen der Operettenschlager, Marsch- und Tanzkompositionen siegreich behaupten. Diese sind - den Ausführungen von Czerny und Hofmann zufolge66 - deshalb so erfolgreich, weil sie in doppelter Funktion bekannt werden, einerseits als ori­ ginale Bühnenschlager und andererseits in Form von Potpourris in Tanzmusik­ bearbeitung. Komponisten und Arrangeure kalkulieren, daß das Publikum jene eingängigen Melodien und Refrains, die im Theater heftig beklatscht werden, auch auf dem Tanzboden begeistert begrüßt. Der Schlußvers kann dabei mit­ gesungen und das Vergnügen zu Hause mit Hilfe der erworbenen PotpourriNoten nochmals nacherlebt werden. In Kneipen und Bierlokalen läßt sich die Erinnerung daran noch weitere Male auffrischen. Der Wandel vom Bühnenzum Tanzschlager - oder umgekehrt vom Tanz zum Couplet bzw. Schlager dokumentiert die Absicht, durch Vielseitigkeit der Verwendungsmöglichkei­ ten einen größeren Verbraucherkreis anzusprechen. Umschlagplätze für Potpourris sind unter anderem öffentliche Bälle und Tanzveranstaltungen. Nach dem Rhythmus von Walzer, Mazurka, Polka, Rhein­ länder oder einfachen Marschtänzen werden einzelne Melodien eingerichtet und zu Gruppen zusammengefaßt. Zwischen einer Original-Serie von Wiener Wal­ zern der Komponisten Strauß oder Lanner und modischen Potpourri-Bearbei­ tungen sind die Übergänge fließend. Sie konkurrieren beide um die Gunst des tanzbegeisterten Publikums, das an einem Paul Lincke-Verschnitt mit dem „Glühwürmchen“-Idyll am Schluß oder einer flotten Marsch-Serie aus Walter Kollos Revuen ebenso interessiert erscheint wie an einer Zusammenstellung populärer Themen aus der Oper „Carmen“ von Georges Bizet. Kauft sich der Ballbesucher später ein Notenheft, um die beim Tanz kennengelernte Musik noch einmal zu Hause am Klavier nachzuspielen, so wird ihn die dort vertrete­ ne Auswahl in der Regel nicht über das Renommee des jeweiligen Komponi­ sten belehren. Unterschiedslos stehen z.B. im III. Jahrgang der Serie „Musik für Alle“ eine Quadrille nach Motiven aus der Oper „Das Mädchen von Perth“ von Georges Bizet neben dem „Tata-Toto-Walzer“ von A. Banes oder neben „Vive la Boheme“, einem Galopp-Marsch von Bogumil Zepler. Auch in diesem Be­ reich ordnet sich also der jeweilige Status eines Komponisten, eines Werkes oder einer Werkgattung dem gesellschaftlichen Gebrauch unter. Einer der Spezialisten für moderne Tanzmusik und Schlagerbearbeitungen ist der 1867 geborene und seit 1901 in Berlin tätige deutsche Komponist Ca­ millo Morena. Der Name ist vermutlich ein Pseudonym. Seine Stücke werden 66 Czerny/Hofmann (wie Anm. 47), S. 192-197.

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von zahlreichen Kapellen gespielt, seine Musikalben und Potpourris, publiziert unter so zeitgemäßen Titeln wie „Töff-töff“, „Aus dem Berliner Paradies“ oder „Kabarettiche“ erfreuen sich großer Beliebtheit. „Berlin wackelt“ ist 1912 mit Hinweisen auf weitere Bearbeitungen für Orchester im Druck erschienen und besteht aus einer Montage von Liedern, Operetten-Schlagern und Tänzen von Walter Kollo, Leo Fall, Jean Gilbert, Paul Lincke und Rudolf Nelson, W. Aletter, B. Zerkowitz, Joh. Lewalter, SternyCourquin und Friedmann. Alle musikalischen Vorlagen sind auf ihren Refrain oder die für wesentlich erachtete Sentenz verkürzt und zum Tanzen geeignet. Morena hat 18 Nummern mit einer Einleitung, einem Schluß und äußerst kur­ zen, einfachen Überleitungen versehen, jedoch das gesamte Potpourri selbst­ bewußt als „Op. 123“ bezeichnet. Der Titel ist beeinflußt von dem als Num­ mer 17 abgedruckten „Wackeltanz“ von Aletter und dokumentiert, ebenso wie das Titelbild, daß hier die Tanzinteressierten angesprochen werden sollen, ob­ wohl einige Zugnummern ursprünglich nicht zum Tanzen gedacht, sondern Operettenlieder, z.B. von Walter Kollo oder Leo Fall, sind.67 Das originell gestaltete Cover lädt mit augenzwinkernder Distanz und mit dem Titel „Berlin wackelt“ werbewirksam zum Tanzvergnügen ein. „Gewakkelt“ wird im sogenannten Bärentanz, wie die Verrenkungen des kleinen Tanzbärs am unteren Rand zeigen, einem Modetanz der Vorkriegsjahre, der auch unter dem Namen Twostep bekannt ist. Zu dem marschmäßigen Grundschlag lassen sich einfache Polka- oder Geh­ schritte ausführen, weshalb er ohne be­ sondere Übung in großstädtischen Tanzsälen und Gesellschaftsräumen der Hotels getanzt werden konnte.68 Der Twostep oder Wackeltanz ist übersee­ ischer Herkunft; das Amerikanische an ihm sind Synkopierungen, die über gleichmäßig akzentuierten Polkabässen für Unruhe sorgen und aus Cakewalk und Ragtime stammen. In Morenas Pot- Abb. 3: Camillo Morena: Berlin wackelt 67 Als Eröffnung wählt Morena zwei Stücke von Walter Kollo: „Untern Linden“, Marsch aus der Posse „Filmzauber“, später folgt „Pauline geht tanzen“ aus der Posse „Große Rosinen“. Zu den „Schlagern“ gehört auch „Und der Himmel hängt voller Geigen“ aus der Operette „Der liebe Augustin“ von Leo Fall. 68 Czerny/Hofmann (wie Anm. 47), S. 242-249.

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pourri gibt es außer dem Wackeltanz noch andere modische Amerikanismen, die sich musikalisch als gemäßigte Synkopen und textlich in der exotischen The­ matik bemerkbar machen.69 Im Widerspruch zur versprochenen überseeischen Exotik des Wackeltanzes befinden sich allerdings die europäischen Tänze Marsch, Polka, Walzer und Rheinländer - in der Überzahl. Erwähnenswert sind einige Gassenhauer-Texte, welche die Ablehnung die­ ses Genres durch Karl Storck verständlich machen. Nummer 11 des Potpour­ ris ist die Neugestaltung eines Couplets des Franzosen Sterny-Courquin durch Paul Lincke. „Mariette“70 findet Eingang in Morenas Opus und muß auch sonst auf Resonanz gestoßen sein, denn kein Geringerer als Hanns Eisler hat die et­ was modifizierte Eröffnungszeile in seinem Erühwerk „Zeitungsausschnitte“ (op. 11,1) vertont: „Mariechen, du süßes Viehchen, / du bist mein Alles, du bist mein Edelstein ...“. Diesem als Polka frisierten Ohrwurm folgen weitere Tänze und gegen Schluß hin der versprochene „Wackeltanz“, der einigen Klamauk auf der Tanzfläche verspricht, denn es darf zu den einfachen Gehschritten gestampft und gesun­ gen werden: „Komm’ mein kleiner Schnackelfranz, oh, oh, oh, tanzen wir mal Wackekanz! oh, oh, oh, Komm mein Schatz, nicht lang gefackelt, immer feste losgewackelt, (mit den Füßen stampfen) Komm, mein lieber Schnackelfranz...“ usw.

Man kann sich vorstellen, daß solche Aktivitäten auf der Tanzfläche das Tem­ po der nachfolgenden Schlußpolka noch beschleunigt und die ausgelassene Stim­ mung zum Siedepunkt gebracht haben. Eine spezielle Art der großstädtischen Massenbelustigung gewinnt mit Schlager- und Tanz-Potpourris dieser Mach­ art an Boden.

Das Dreimädcrlhaus. Musik nach Franz Schubert, bearbeitet von Heinrich Berte Die Operette hat ihren Platz im Zwischenbereich von Kunst und Unterhaltung und ist damit in der Sphäre der niedriger bewerteten Gattungen legitimer Kul­ tur beheimatet. Der Faktur und Instrumentation nach gehört sie um 1900 in die 69 „Affenliebe“ von Theo F. Morse oder „Harry Walden’s Niggerständchen“( aus Walter Kollo: „Sein Herzensjunge“). 70 Czerny/Hofmann (wie Anm. 47), S. 195.

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Tradition von komischer Oper und Singspiel, das Libretto tendiert jedoch eher zum unterhaltenden Sektor der Musikkultur. Jacques Offenbach, erbittert be­ kämpft von Richard Wagner, erlangt unter anderem mit seinem „Orpheus in der Unterwelt“ Weltgeltung, ist aber auch als Komponist der Oper „Hoffmanns Erzählungen“ bekannt und kann wohl kaum nach den Kategorien von U und E klassifiziert werden. Die berühmte „Barkarole“, seiner Oper „Rheinnixen“ entnommen, ist von breiten Publikumsschichten begeistert aufgenommen und in zahlreichen Bearbeitungen populär geworden. Auch „Die Fledermaus“ von Johann Strauß oder seine überaus verbreiteten Walzer lassen sich, wie auch ihr Auftreten etwa in Neujahrskonzerten renommierter Orchester und Dirigen­ ten bis heute dokumentiert, nicht umstandslos aus dem Reich legitimer Kultur verbannen. In der leichten Kunst dieser Art lebt, wie selbst Theodor W. Adorno zugibt, noch ein Rest jener ästhetischen Einheit vor dem Sündenfall des „ästhe­ tischen Verfalls“.71 An der Gleichrangigkeit oder zumindest der Koexistenz von U- und EMusik wird aus Gründen der Verkäuflichkeit gern festgehalten. So drucken Verleger von Sammelbänden, wie aus der Serie „Musikalische Edelsteine“ her­ vorgeht, populäre Opern- und Operetten-Ausschnitte in einer gemeinsamen Rubrik ab, worin die arrangierte Ouvertüre des Offenbachschen „Orpheus in der Unterwelt“ ebenso Platz findet wie ein textiertes Potpourri aus der Oper „Faust“ von Charles Gounod oder „Das Lied vom Autoliebchen“ von Jean Gilbert und andere Operetten-Nummern, z.B. aus „Das Glücksschweinchen“ von Edmund Eysler.72 Welcher Benutzer wollte sich da anheischig machen, Schlager- und Kunstsphäre voneinander zu unterscheiden? Auch zwischen Opera seria und Operette erscheinen in diesem Rahmen die Grenzen fließend. In Band II der „Musikalischen Edelsteine“ finden sich Ausschnitte aus bekann­ ten Opern von Peter Tschaikowsky („Eugen Onegin“), Giuseppe Verdi („La Traviata“) oder Offenbach („Hoffmanns Erzählungen“) einträchtig neben Ope­ rettenschlagern von Leo Fall („Automobil-Marsch“), Franz Lehar („Bist du es, lachendes Glück“) und Robert Stolz („Dreh dich, Mäderl“). Das einigende Moment ist die Klavierbearbeitung, unter der sich Ouvertüren und PossenVorspiele, Opern- oder Operettenarien, Potpourris aus Wagners „Tannhäuser“ oder Paul Linckes „Frau Luna“ zu Spielobjekten mit ähnlichem Unterhaltungs­ wert verwandeln. Alle werden sie gleichermaßen arrangiert, auf konsumierbare Größe verkürzt, vereinfacht, in der Harmonik entschärft oder mit modischen Begleitformeln versehen und so instrumentiert, wie die Nachfrage es verlangt. 71 T. W. A.: Leichte Musik. In: Ders.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt/M. 1962, S. 31-49, hier S. 33. 72 Musikalische Edelsteine. Bd. 111. Hamburg, nach Inhalt und Copyright-Angaben etwa 1913 erschienen.

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Das Zauberwort der Popularisierung heißt Arrangement, und alles Originäre wird ihm gleichermaßen unterworfen. Jede Musik läßt sich in dieser Form ver­ markten, warum nicht auch die große Kunst? Vom Zugriff der Bearbeitung ist besonders das Werk Franz Schuberts be­ troffen, das wegen seiner sanglichen Qualitäten, die auch das Instrumentalwerk durchziehen, dafür geeignet erscheint. Das weiche, spezifisch österreichische Idiom und die im Umfeld der „Schubertiaden“ bekannt gewordenen Lieder, Walzer, Tänze und Märsche haben den Komponisten in weiten Kreisen popu­ lär gemacht. Klaviersonaten, Moments musicaux und Impromptus sowie kla­ vierbegleitete Sololieder - „O holde Kunst“! - werden für den häuslichen Gebrauch fleißig studiert, und die Bühnenmusik zu „Rosamunde“ oder die „Unvollendete“ rangieren bei öffentlichen Konzerten auf Spitzenpositionen in der Beliebtheitsskala bürgerlichen Musikgeschmacks. Besonders die Lieder haben ihren Siegeszug in der Welt angetreten, wozu die virtuosen Transkrip­ tionen von Franz Liszt beigetragen haben. Der „Lindenbaum“ aus der „Win­ terreise“, von Friedrich Silcher für vierstimmigen Chor bearbeitet,73 in vielen weiteren Arrangements verbreitet und schließlich zum einstimmig-unbegleiteten „Volkslied“ reduziert, ist wohl das berühmteste Beispiel, wie der Wunsch nach Aneignung dieser zu Herzen gehenden Melodie über den authentischen Entwurf hinweggeht. Neu und geradezu genial ist die Idee, den gesamten Schubert sozusagen zu bündeln und das Interesse an ihm dadurch abzuschöpfen, daß man sein Leben in einer Bühnengeschichte erzählt und die Highlights des musikalischen Ge­ samtwerks zur Illustration verschiedener Lebensstadien heranzieht. Das Ergeb­ nis ist eine Schubert-Operette, bei welcher das Ansehen des Komponisten und die Popularität seiner Musik das Unternehmen offenbar aufwerten. Heinrich Berte, der Schöpfer des Bühnenwerkes, vertritt in aller Naivität die Auffassung, mit dem Opus zur Verbreitung Schubertschcr Werke beizutragen.74 Aber es ist wohl eher so, daß das vorhandene Interesse durch die als skandalös bezeichne­ te ästhetische Zwischenstellung gesteigert und von geschäftstüchtigen Theater­ leitern ausgenutzt worden ist. Ästhetische Skrupel können sie sich nicht leisten, die städtischen Spielstätten müssen allabendlich gefüllt und die Konkurrenz mit neuartigen Ideen überboten werden. Textdichter, Arrangeure, Komponisten, Kapellmeister, Konzertagenten, ausführende Musiker und Saalbesitzer machen sich Gedanken darüber, welche Stücke die Gunst des Publikums am ehesten erwerben könnten. In Berlin sind es Paul Linckes berühmte Ausstattungsope­ retten „Frau Luna“ (1899) mit den Schlagern: „O Theophil“ und „Schlösser die 73 XII Volkslieder für vier Männerstimmen. Op. 50. Heft VIII, 1846. 74 Otto Schneidereit: Operettenbuch. Die Welt der Operette. Die Operetten der Welt. Berlin (Ost) 1964, S. 390.

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im Monde liegen“ oder „Lysistrata“ (1902) mit Luftballett und flimmernden Lichteffekten. Die Wiener Operette nach 1900 kann mit Komponisten wie Franz Lehar (1905: „Die lustige Witwe“), Oscar Straus (1907: „Ein Walzertraum“) und dem „ungarischen“ Kolorit von Emerich Kalman (1915: „Die Czardasfürstin“) aufwarten. Kein Singspiel und keine Operette hat jedoch im ersten Anlauf einen derar­ tigen Erfolg gehabt wie das „Dreimäderlhaus”, das wenige Jahre nach der Ur­ aufführung 1916 bereits zehntausend Mal gespielt worden ist. Das Libretto von A. M. Willner und Eleinz Reichert basiert auf dem Schubert-Roman „Schwam­ merl“ von Rudolf Hans Bartsch, während die Musik in einem riesigen, abend­ füllenden Potpourri aus bekannten Melodien Schuberts besteht. Sie sind von Heinrich Berte bearbeitet, der angeblich dadurch steinreich geworden ist.75 Die Diskussion über das Stück und seinen Welterfolg spiegelt etwas von der Verunsicherung wieder, welche der unbekümmerte Umgang mit dem klassischen Erbe hervorruft. Dem Lob in einigen Rezensionen76 steht die Kritik der intel­ lektuellen Wortführer entgegen, die den wahnsinnigen, geradezu beschämen­ den Kassenerfolg als Angriff auf Geschmack und Urteilsfähigkeit betrachten und mit dem Widerspruch schwer fertigwerden, der sich aus dem Mißverhält­ nis zwischen Ernst und Anspruch der Originalmusik und ihrer unterhaltenden Bearbeitung im „Dreimäderlhaus“ auftut.77 Berte ist übrigens nicht der erste Musiker, der die Idee zu einer SchubertOperette hatte. Schon 1864 wurde im Wiener Carltheater - unter Verwendung von Originalmelodien - „Franz Schubert” von Franz von Suppe uraufgeführt. Darüber hinaus belegen Schubert-Potpourris das Interesse, sich der beliebten Themen des Komponisten zu bemächtigen.78 Auch Schuberts Leben und Lie­ ben muß beträchtliche Aufmerksamkeit erregt haben, denn nicht nur der Ro­ man „Schwammerl“ von Rudolf Ernst Bartsch, sondern auch andere populäre Schubert-Romane finden reißenden Absatz.79 Das „Dreimäderlhaus“ hat 1918 75 Ebd. 76 Vgl. die Kritik von Friedrich Schwabe in der Allgemeinen Musikzeitung, Jg. XLIII, 1916, S. 100, der das von Berte geschickt zugeschnittene und gearbeitete „musikalische Kleid“ und die Freude der Hörer an den bekannten Melodien lobend hervorhebt. 77 So z.B. Theodor W. Adorno: Schubert. In: Ders.: Moments musicaux (1928). Frankfurt/M. 1964, S. 18-36, hier S. 36. Zu weiteren Reaktionen s. Ilija Dürhammer: Der Wandel des Schubert-Bildes im 20. Jahrhundert. In: Dialekt ohne Erde. Franz Schubert und das 20. Jahrhundert. Hg. v. Otto Kolleritsch. Graz 1998, S. 238-258. 78 Vgl. z.B. die Sammlung: 21 neue Potpourris für Klavier. Schlesingersche Buch- und Musikali­ enhandlung (Robert Lienau). Berlin o.J. Sic enthält als Heft IV, Schubert-Potpourri, folgenden Inhalt: „Rosamunde, Am Meer, Octett, Scherzo B-Dur, Der Tod und das Mädchen, Heiden­ röslein, Ständchen, Unvollendete Sinfonie, Sehnsuchtswalzer, Moment musical, Impromptu, Sinfonie C-Dur, Militärmarsch, Wandererfantasie, Ave Maria, Der Lindenbaum, Die Forelle, Valse noble u.a.“ 79 Herbert Eulenberg: Schubert und die Frauen. 1. Aufl 1928, oder Viktor Trautzl: Franz Schu-

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schließlich noch eine Fortsetzung in dem Singspiel mit dem Titel „Hannerl“ gefunden. Die Librettisten sind die gleichen wie im „Dreimäderlhaus“, die Musik stammt wieder weitgehend von Franz Schubert und wurde von Carl Lafite bearbeitet.80 Als Potpourri folgt das „Dreimäderlhaus“ dem Prinzip der Präsentation schöner Melodien, welche die Allgegenwart Schuberts durch das gesamte Stück garantieren. Wichtigstes „Kompositionsprinzip“ ist die Herauslösung schmack­ hafter Themen aus ihrem ursprünglichen artifiziellen Zusammenhang. Das Ver­ fahren der Filetierung erreicht in dieser Operette ungewöhnliche Dimensionen und hält die Zuhörer drei Akte lang in Atem. Nach der Ouvertüre mit Ländler und Jodler folgen Solonummern, Duette und Ensembles vom Terzett bis zum Sextett sowie eingeschobene instrumentale Abschnitte mit immer anderen schö­ nen Schubert-Motiven. Arrangierte Märsche und Walzer, besonders der bekann­ te Sehnsuchtswalzer oder Themen, z.B. aus dem dritten Satz des Oktetts (D 803), aus der „Unvollendeten“, der Ballettmusik zu „Rosamunde“ oder verschiede­ nen Klaviersonaten bilden die musikalische Substanz der verschiedenen Num­ mern.81 Die beiden Lieder „Horch, horch, die Lerch’ im Atherblau“ und „Un­ geduld“ („Die schöne Müllerin“) verdienen besondere Erwähnung, weil die Strophen an manchen Stellen komplett zum Einsatz kommen. Überhaupt hat sich Berte bemüht, die Arrangements hinsichtlich einiger Begleitstrukturen und bestimmter Reizharmonien möglichst nahe am Original zu belassen. Sie sind natürlich extrem verkürzt, transponiert, anders instrumentiert, im Tempo mo­ difiziert und mit neuen Schlüssen oder Übergängen versehen, aber die verblei­ benden Restteile sind z.T. noch erstaunlich vollständig und nicht nur auf die Melodie reduziert. Trotzdem überwiegt der Unterhaltungscharakter in solchem Maße, daß selbst das im Finale II zweimal sehr ausführlich zitierte Lied „Ungeduld“, mit dem der Baron Schober den armen Operetten-Schubert bei Hannerl, der Tochter des Glasers, aussticht, nicht in der Lage ist, die Kunstsphäre in das Stück hin­ einzutragen. Der musikalischen Vorlage nahe ist auch das im ersten Akt als Männerquartett von Schober, Vogl, Schwind und Kupelwieser vorgetragene „Horch, horch, die Lerch’ im Ätherblau“ oder die Erinnerung an historische Schubertiaden etwa im Quintett des ersten Aktes, das auf dem Thema einer Klaberts letzte Liebe. Reutlingen 1928 u.a. 80 Die Uraufführung fand wieder in Wien statt. Es ist zu vermuten, daß Reichert und Willner in diesem Singspiel wieder auf Rudolf Hans Bartsch zurückgreifen, der seinem ersten SchubertRoman 1913 einen weiteren folgen ließ: „Die Geschichte von der Hannerl und ihren Liebha­ bern“. 81 Genauere Angaben: Sabine Giesbrecht-Schutte: Klagen eines Troubadours. Zur Popularisie­ rung Schuberts im „Dreimäderlhaus“. In: Festschrift für Martin Geck. Dortmund 2001, im Druck.

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Viersonate (D 850,4. Satz) beruht. Man meint, einem schlagerähnlichen Wiener Lied und nicht einem Kunstlied zuzuhören. Als Ursache ist der naive Hand­ lungskontext und der ästhetisch auf ein Minimum zurückgeschraubte Text an­ zusehen, dessen literarische Schwächen besonders auffällig werden, wenn er einem ursprünglich als Instrumental-Stück komponierten Werk unterlegt wird, dessen Gehalt aus dem Zauber autonomer Sphären wahrlich abstürzt in das vor­ gebliche Leben des Komponisten, wie es die beiden Librettisten in publikums­ wirksamer Form nach Bartschs Roman konstruiert haben. Karl Kraus empört sich 1919 in der Fackel über j ede Art der Zustimmung und meint, die Stadt Wien habe Pest und Bomben verdient, wenn sie sich an einer Operette erfreue, die den Wiener Komponisten verunglimpfe.82 Die pseudobiographische Manier, mit welcher der Künstler als unbeholfe­ ner Liebhaber vorgeführt wird, stößt auf besondere Kritik. Die Erbitterung Theodor Adornos macht sich unter anderem an der Art fest, wie Schubert „zum Gelächter für Ladenmädchen“83 gemacht wird. In dieser Formulierung erscheint das soziale Milieu, in dem sich der Komponist nach dem Willen der Librettisten zu bewegen hat, als Diskriminierung und seine Musik wie eine geplünderte Schatzkammer. Mit dem „Singspiel“ scheint endgültig eine schwer zu fassende Grenze überschritten und der ästhetische Anspruch, der mit der Erinnerung an die originale Musik in ihrer vollständigen Form immer latent zugegen ist, wird sozusagen in jeder Musiknummer aufs neue in die Knie gezwungen. Das ist zumindest der eine Blickwinkel, unter dem das „Dreimäderlhaus“ betrachtet wird. Die andere Sichtweise ist eher positiv, wie etwa die Besprechung des Romans von Rudolf Ernst Bartsch durch Karl Storck belegt, der den sozialen Rahmen dieser Quasi-Biographie für „meisterhaft“ hält und „von einer köstlichen Lie­ benswürdigkeit“ spricht.84 Die positive Einschätzung muß ja wohl in der Re­ zeptionsgeschichte eine Rolle gespielt haben, sonst wäre das Stück nicht so beliebt geworden. Die Popularisierung der Biographie Schuberts und die Bereit­ stellung von Teilen seines Werkes zum Konsum sind vom Publikum nicht nur als Entwertung der Originalmusik und Verkleinerung der Persönlichkeit des Komponisten aufgefaßt worden. Möglicherweise honorieren die Operetten­ freunde den bedeutenden Namen und die vielen Zitate aus „geselligen“ Wer­ ken des Komponisten. Ein weiterer möglicher Reiz ist der volkstümliche Cha­ rakter der Handlung, deren sozialer Rahmen durch die Familie des Glasermeis­ ters Tschöll mit ihren kleinen Sorgen und Nöten vorgegeben ist. Nicht nur die 82 Dürhammer (wie Anm. 77), S. 240. 83 Adorno, Schubert (wie Anm. 77), S. 22. 84 Karl Storck: Ein Schubert-Roman. In: Allgemeine Musikzeitung, Jg. XXXIV, Nr. 51/52, 20. Dez. 1912, S. 1374-1376.

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Eltern, sondern auch die drei heiratslustigen Mädchen sprechen und agieren aus diesem kleinbürgerlichen Milieu heraus, in das Schubert sich nicht hineinfin­ den kann. Mit der Darstellung seiner Erlebnisse mit Frauen wird das Klischee vermarktet, daß Schaffenskraft in der Regel einer unerfüllten Liebe entspringt. Liebe und Sehnsucht, das ist die „höhere“ Botschaft des Stückes, sind die Trieb­ federn des Lebens und die Quellen der Kunst, aus denen das Genie seine Kraft schöpft. Dies ist der Stoff, aus dem erfolgreiche Operettenträume gemacht sind: Das Leiden des Komponisten kann mit Rührung mitgefühlt, die Quelle seiner Schaffenskraft nachempfunden und seine Musik entsprechend „verstanden“ werden.

Nationalisierung: Wilhelminische Festkultur Die Reichseinigung von 1871 ist der Höhepunkt einer nationalen Entwicklung, die verschiedene Formen populärer Musik hervorgebracht hat. Diese haben die Aufgabe, alle Deutschen zu erreichen, mit einer Stimme für das Land zu spre­ chen, den Gedanken der Einheit zu festigen und im gemeinsamen Musikerlebnis emotional zu verankern. Insofern ist eine Musik, die repräsentativ für das geeinte deutsche Reich spricht, in gewissem Sinne auch eine Musik für alle, nämlich für alle Deutschen. Distanzierung ist kaum möglich, angesichts der emotiona­ len Wucht, mit welcher der nationale Gedanke sich Bahn verschafft. Soziale Rangordnungen, unterschiedlicher Geschmack oder selbst politische Diffe­ renzen haben ihm gegenüber zurückzutreten. Wilhelm II. kann sich bei Kriegs­ ausbruch darauf verlassen, daß diese Idee unter nicht unwesentlicher Beteili­ gung der Musik sich zutiefst in den Köpfen der Menschen festgesetzt hat. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ - mit diesem Aufruf eröffnet er die deutsche Mobilmachung. Bei der Emotionalisierung nationaler Ideen hat die Musik ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Mit ihrer Hilfe lassen sich die Menschen ansprechen und Erlebnisse im Interesse nationaler Ziele instrumentalisieren. Dazu muß die Mu­ sik, wie die Volksaufklärer längst wußten, populäre Züge tragen, heimatliche Gemeinschaft anbieten und ihr Anliegen verständlich vortragen. Das Moment der Unterhaltung ist sparsam zu dosieren, weil es mit dem hohen ideologischen Anspruch kollidieren könnte. Unterhaltung bietet vor allem der festliche Rahmen, in dem eine Musik mit nationalem Zuschnitt in Erscheinung tritt. Disziplinierte, gut ausgebildete Mi­ litärmusiker treten bei Paraden und Platzkonzerten auf, bestreiten öffentliche Konzertveranstaltungen mit Bearbeitungen von Opernausschnitten oder sin­ fonischen Werken und repräsentieren mit ihrem geordneten Auftreten, ihren

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Uniformen und nicht zuletzt mit den Signalen, ihrer den Gleichschritt synchro­ nisierenden Marschmusik, dem Zapfenstreich sowie den nationalen Hymnen staatliche Ziele und Symbole.85 In Preußen ist die Popularität der Militärmusik vor allem dem Einfluß Wilhelm Wieprechts zu verdanken, der Freiluftkonzerte mit Militärorchestern in riesiger Besetzung organisiert und leitet. In der Neuen Zeitschrift für Musik ist z.B. von einem durch 440 Militärmusiker gestalteten Konzert die Rede, einer Menge, die nur von Subdirigenten zusammenzuhalten ist. Der Rezensent merkt ironisch an, es sei festzuhalten, daß keine Kanonen mitgespielt hätten. Zahlreiche Besucher hätten keinen Einlaß mehr erhalten.86 Attraktiv sind auch Paraden und Aufmärsche, wie sie beispielsweise Oscar Straus in seinem Lied op. 54, „Die Musik kommt“ (Text: Detlev von Liliencron), dar­ gestellt hat. Von der Wirkung, die durch solche hörbar und sichtbar gemachte Staatsmacht ausgeht, erzählen auch Romane wie „Der Untertan“ von Heinrich Mann oder „Aus großer Zeit“ von Walter Kempowski. Die demonstrative öffentliche Zurschaustellung von Musikabteilungen ver­ schiedener Truppenteile führt dazu, vorwiegend den Marsch als musikalische Repräsentationsform nationaler Interessen anzusehen. Darüber gerät in Verges­ senheit, daß er auch im zivilen Leben der Bürger gespielt und gehört wird. Die Salonalben sind voll von Beispielen, in denen Aspekte des militärischen Lebens in Erinnerung gerufen werden. So werden Aufmärsche von Soldaten program­ matisch nachgeahmt87 und finden selbst im Kinderzimmer ihre kleinen, niedli­ chen Vorformen, etwa in Leon Jessels Op. 123, „Parade der Zinnsoldaten“ (Abb. 4). Am Ende der 1905 erschienenen Ausgabe für Klavier, die übrigens auch als „Rheinländer, arrangiert“ käuflich zu erwerben ist, erfolgt kurz vor Schluß ein „heftiger Schlag“ in dreifachem forte und ein rascher, chromatischer Abgang mit dem Vermerk “Alle Zinnsoldaten fallen um“. Für ältere Jahrgänge gibt es ein umfangreiches Angebot an Potpourris aus Traditionsmärschen wie Hohenfriedberger-, Rakozcy- oder Dessauer-Marsch, z.B. in Verbindung mit dem Krönungsmarsch aus Meyerbeers „Prophet“, dem „Auf-in-den-Kampf-Marsch“ aus Georges Bizets „Carmen“, dem Hochzeits­ marsch aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“, hinzu kommen noch Beet­ hovens „Türkischer-“ und Trauer-Marsch, „Washington Post“ „Ungarischer 85 Auf den Militärmarsch und das Berufsrepertoire der Militärmusiker soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da sie bereits gut dokumentiert sind. Vgl. Achim Hofer: Studien zur Geschichte des Militärmarsches. 2 Bde. Tutzing 1988; Josef Eckhardt: Zivil- und Militär­ musiker im Wilhelminischen Reich. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Musikers in Deutsch­ land. Regensburg 1978. 86 Neue Zeitschrift für Musik, Nr. 31, 1849, nach Johannes Reschke: Studie zur Geschichte der brandenburgisch-preußischen Heeresmusik. Phil. Diss. Berlin 1935, S. 51. 87 Beispiele von Richard Eilenberg s.: Sabine Schutte: Für Gott, Kaiser und Vaterland. In: Dies., Untersuchungen (wie Anm. 1), S. 187-212.

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Sturmmarsch“ und andere.88 Populär sind auch Zusammenschnitte verschie­ dener Bühnenwerke von Paul Lincke oder Walter Kollo im Marschrhythmus. Marsch-Alben und Einzelausgaben sind in verschiedenen Preisklassen und Schwierigkeitsgraden zu haben. Multi­ funktional ist die Vorkriegsausgabe von „Hipp, hipp, hipp, hurra!“, ein „Kaiser­ marsch“ op. 24 von Georg Kunoth, im Bremer Verlag Praeger und Meier in der 72. Auflage erschienen und für „Sports-, Turner-, Keglerkreise“ sowie „auch als Radfahrerbundesmarsch“ ge­ eignet, wofür man dann einen speziellen „Radfahrertext“ extra anfordern kann. Abb. 4: Cover Jessel, Zinnsoldaten Zahllose Märsche in ähnlicher Machart bevölkern den Markt und zeu­ gen von der Verbindung politischer Ideen mit handfestem Verbindungswesen und praktischen Zielen. Häufig sind es die Titel, die von Politik sprechen, etwa von kolonialen Bemühungen, wie bei dem Flottenmarsch „Auf nach Kiautschou“ von Theodor Erler oder bemerkenswert oft von Siegen, wie „Unter dem Siegesbanner“ von Franz von Blon. Die dazugehörige Marschmusik ist dage­ gen relativ unauffällig und den oft prächtigen, mit nationalen Symbolen ausge­ statteten Titelblättern nicht unbedingt entsprechend. Wie sehr die Marschmusik den Markt der Unterhaltungsmusik um 1900 erobert hat, zeigen Operetten, die z.T. auch inhaltlich in den Einflußbereich des allgemeinen Interesses an militärischer Thematik geraten. Suppes stramme Ouvertüre zu „Leichte Kavallerie“, ein mitreißendes, einfallsreiches Werk mit zahlreichen militärischen Symbolen und einschlägiger Programmatik, ist bis heute beliebt. Andere Komponisten suchen die Zustimmung des Publikums durch Manöverdarstellungen, wie Emerich Kalman in „Herbstmanöver“ oder ganz allgemein durch den Glanz bunter Uniformen. Zu Beginn des Ersten Welt­ krieges ist die Indienstnahme von Revue und Operette für nationale Ziele of­ fensichtlich.89 Da pfeift und singt dann ganz Berlin Walter Kollos Couplet „Der Soldate, der Soldate ist der schönste Mann im Staate“ aus der Revue mit dem bezeichnenden Titel „Immer feste druff“. 88 21 neue Potpourris für Klavier. Schlesingersche Buch- und Musikalienhandlung (Robert Lienau). Berlin o.J. Heft XVII, Marsch-Potpourri. 89 Vgl. Czerny/Hofmann (wie Anm. 47), S. 139 f .

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Rudolf Nelson komponiert „Blaue Jungs“ und behandelt darin das Thema „Durchhalten“.90 Victor Hollaender verfaßt 1914 „Und der Michel lacht dazu”, ein „Vaterländisches Zeitbild“ mit einzelnen Nummern wie „Immerdruff“ oder „Unsere 42er Brummer“. Am originellsten ist sein Hindenburglied, in dem sich die Begeisterung über die ersten Siege des Generalfeldmarschalls über die Rus­ sen in der Schlacht bei Tannenberg mit einer höchst gelungenen Couplet-Dik­ tion vermischt. Zur Kennmelodie „im Marschtempo“ darf sich das Publikum über folgenden Text amüsieren: „Ach käm’ doch unser Hindenburg bei uns erst Untern Linden durch, dann hätt’n wir endlich Ruh’, und der Michel lacht dazu.“

„Ernste“ Lied- und Chorkompositionen mit weltanschaulichem Anspruch be­ einflussen das emotionale Klima bei öffentlichen Veranstaltungen mit nationa­ lem Inhalt. Die alte Idee des gemeinsamen Singens, vertraut durch Schule, Kir­ che und ständisches Chorwesen, erhält dabei weitere Impulse und kann dabei die Begeisterung für den Staat und seine Führung anheizen. Kaiser Wilhelm II. betrachtet den blühenden Nationalgesang mit Wohlwol­ len und versucht sich sogar als Komponist eines Liedes mit dem Titel „Gesang an Ägir“. Ästhetische Orientierung bietet auch der bei Hof lange Zeit politisch einflußreiche Philipp zu Eulenburg, der ebenfalls als Komponist hervorgetreten ist und mit Sammlungen wie den „Ro­ senliedern“ und „Skaldengesängen“ die­ se Musikgattung in gewisser Weise auf­ wertet. Wilhelm II. hat sich - ähnlich wie Bismarck - für die Sängerbewegung und ihr Repertoire eingesetzt. Diese verhält sich im Gegenzug weitgehend loyal und dankt ihrer Führung mit Beiträgen zur Gestaltung nationaler Feierlichkeiten. Zahlreiche Chordirigenten sind um die Auswahl eines geeigneten Repertoires für die Festkultur des deutschen Kaiser­ SWi Der Soldare, der Soldare, Wgj reiches bemüht und betätigen sich für jst der xhönsie Mann im Siaare. O dieses hohe Ziel auch als Komponisten. Ihre Lieder und Chorsätze sind daher Abb. 5: Ansichtskarte 90 Ebd., S. 140 und 142.

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für das Verständnis der wilhelminischen Musikkultur aufschlußreich. Die nationale Euphorie hat auch Auswirkungen auf die Bedeutung des klas­ sischen Musikerbes, welches sich besonders in Berlin großer Wertschätzung er­ freut. Im Zentrum steht dort nicht nur die Pflege des klassischen Repertoires, sondern es setzt sich auch eine ideologische Aufbereitung „großer Meister“ durch, nach der unter anderem Bach, Beethoven oder andere „urdeutsche“ Komponisten vor allem gegen die Franzosen und deren Musik ausgespielt wer­ den. Karl Storck kann in seinem Aufsatz „Die Musik als Grundkraft deutscher Kunstkultur“ nicht auf eine diesbezügliche Deutung musikgeschichtlicher Er­ eignisse verzichten. So hebt er z.B. das „eigenartig Deutsche“ bei Johann Seba­ stian Bach hervor und fährt in Anspielung auf ein Wettspielen mit Louis Marchand fort: „Und lange bevor bei Roßbach der Franzose vor dem Deutschen floh, schlug Joh. Seb. Bach als Klavierspieler und Organist vor dem erstaunten, ganz im Franzosentum befangenen Dresdner Hofe den Vertreter der französischen Kunst im Wettbewerb siegreich aus dem Felde“.’1

Die Nationalisierung bedeutender Musiker und ihrer Werke zieht zugleich eine Popularisierung nach sich, indem vor allem die Ideenkunstwerke der Klassik im Sinne deutscher Interessen interpretiert werden. Das gilt besonders für Lud­ wig van Beethoven, dessen Kunst nach Auffassung von Storck deshalb so „volks­ tümlich“ werden kann, weil „der Ur-Inhalt fast der gesamten Beethovenschen Musik aus jener titanischen Einstellung zur Welt hervorgeht und voll jenes faustischen Strebens des sich Hindurchringens durch Nacht zum Licht ist, die auch die stärksten Kräfte der modernen Weltanschauung bilden“.91 92 Dieses „per aspera ad astra“ ist eine häufig verwendete Metapher, die den Gymnasiasten aus dem Lateinbuch bekannt und im übertragenen Sinne als „durch Kampf zum Sieg“ auch Symbol für die blutig nach drei Kriegen errungene deutsche Einheit ist; sie spielt bei der Auswahl des Konzert-Repertoires und der heroischen Deutung von Musik eine Rolle.93 Im Sinne dieser Vorstellungen durchforsten eifrige Konzertveranstalter das bewährte klassische Erbe nach geeigneten Werken und fördern Neukompo­ sitionen, die in würdiger Form die Tradition weiterführen und geeignet sind, große Menschenmengen anzusprechen. Der Einsatz von Chören für nationale Festveranstaltungen ist besonders beliebt, weil sie als Gruppe auf der Bühne gemeinschaftliche Aktivitäten sichtbar demonstrieren und gegebenenfalls auch das anwesende Publikum in das Singen einbeziehen können. Schon in der Schule soll mit dem Erlernen von Hymnen, nationalen Liedern und eingängigen Neu91 Storck: Die Musik als Grundkraft deutscher Kunstkultur. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 27. 92 Ebd., S. 33. 93 „Durch Kampf zum Sieg“, Marsch von Franz von Blon. - S. Czerny/Hofmann (wie Anm. 47), S. 121.

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kompositionen begonnen54 und Deutschlands Größe ästhetisch erlebbar ge­ macht werden. Mit Hilfe des Repertoires können sich die Bürger mit dem eini­ gen Deutschland identifizieren, wie verschieden auch immer die jeweils vertre­ tene politische Richtung sein mag. Die größten Feierlichkeiten finden anläßlich der Reichseinigung im Jahr 1871 statt, für die zahlreiche populäre Vokalwerke entstehen, in denen die „Grün­ der“ Bismarck und Kaiser Wilhelm I., später auch Wilhelm II. überschwänglich gefeiert werden.55 Anlaß zum Verfassen solcher musikalischer Elogen sind häufig aktuelle Ereignisse. So ruft die Inthronisation von jedem der drei Kaiser musi­ kalischen Jubel hervor, der Tod Wilhelms I. und Friedrichs III. führt zur Groß­ produktion von Trauerhymnen, und überstandene Attentate der politischen Hauptprotagonisten verursachen zum Teil geradezu hektische Musikaktivi­ täten.96 9497 Glücklich 95 verlaufene Schlachten werden mit Hilfe der Musik idealisiert und deutsche Siege zum jeweiligen Jahrestag mit hymnischem Jubel in Erinne­ rung gerufen. Festliche Instrumentalmusik und beziehungsreiche Vokalwerke krönen die Einweihung von Denkmälern oder begleiten demonstrative Schiffs­ taufen. Gedenkfeiern für Heroen wie Bach, Luther, Schiller oder Beethoven werden mit Chorälen und Hymnen, die das Publikum geschlossen mitsingen kann, volkstümlich aufbereitet und dabei im nationalen Sinne akzentuiert. Karl Storck sieht in der gemeinsamen Feiergestaltung, an der örtliche Gesangverei­ ne in der Regel beteiligt sind, einerseits die Befriedigung geselliger Bedürfnisse und den legitimen Versuch, die Musik in das Leben der Menschen zu integrie­ ren,57 eine Tendenz, die ihre volksaufklärerische Tradition nicht verleugnen kann und schwer von nationalen Implikationen zu trennen ist. „Kaisers Gebürtstag“, der alljährlich mit Militärparaden, Umzügen, Gesän­ gen und Feiern volksfestartig begangen wird, erfreut sich besonderer Beliebt­ heit. Die Kinder haben schulfrei, die Organisatoren Sorge, ob alles gut klappt, und Verlage, Herausgeber oder Komponisten sind darauf bedacht, das Fest mit einer Musik auszugestalten, die eines deutschen Kaisers würdig ist und daher Popularität mit Anspruch in sich vereint. Ein Beispiel für diese Melange aus Tradition und sogenannter Volkstümlichkeit aus dem von Wilhelm Köhler her­ ausgegebenen „Liedergarten“ möge diese Absicht verdeutlichen. Unter dem 94 Dazu Heinz Lemmermann: Kriegserziehung im Kaiserreich. Studien zur politischen Funkti­ on von Schule und Schulmusik 1890-1918. Bd. 1 Darstellung, Bd. 2 Dokumentation. Lilienthal/Bremen 1984. 95 Sabine Giesbrecht-Schutte: Bismarck-Lieder und Bismarck-Kult. In: Regionale Stile und volks­ musikalische Traditionen in populärer Musik. Hg. v. Helmut Rösing. Karben 1996, S. 6-29. 96 Dies.: Gründerzeitliche Festkultur - Die Bismarckhymne von Carl Reinthaler und ihre Bezie­ hung zum „Triumphlied“ von Johannes Brahms. In: Die Musikforschung, 52. Jg. 1999, H. 1, S. 70-88. 97 Storck: Gassenmusik. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 105.

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Titel „Am Geburtstage des Kaisers“ findet sich hier zu einem Text von Ernst von Wildenbruch98 99 ein100 dreistimmiger 101 Chorsatz nach der berühmten Melodie aus der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven: „Freude glänzt auf allen Wegen, Jubel tönt aus jeder Brust, Sang und Klang tönt uns entgegen, alles fühlet Lieb’ und Lust. Denn es blüht im Vaterlande eine schön’re, bess’re Zeit:

Feindes ledig, frei von Schande steht es da in Herrlichkeit. Und die heiß errung’nen Güter: Nie verschlingt sie mehr die Nacht; denn ein Vaterlandeshüter hält am Thor des Landes Wacht!“

In der Tendenz unterscheidet sich der dazugehörige Satz kaum von ähnlich ge­ arteten Huldigungen. Die Anbindung an die heute als „Song of Joy“ bekannte Melodie zeigt das Bemühen, das Erbe Beethovens einzubeziehen und diese Tradition zur Legitimation politischer Macht zu verwenden. Wenn dabei ein prätentiöser Nationalschlager entsteht, so wird das meist in Kauf genommen. Als Festmusik wird das Stück nicht nach strengen ästhetischen Maßstäben be­ wertet, sondern ist vor Kritik geschützt. Populäre Lieder ähnlicher Qualität über den Kaiser, Bismarck und andere Heroen sind beliebte Motive von Ansichts­ karten, die vor allem während des Ersten Weltkrieges in Umlauf kommen.” Politisch konforme Vokalwerke sind vor allem durch zahlreiche Männerchö­ re verbreitet, deren Aktivitäten von Bismarck ebenso wie von Wilhelm II. auf­ merksam registriert und gefördert werden. Ihren Beitrag zur Stabilisierung der herrschenden Staatsform schildert - bereits unter dem Eindruck des Ersten Welt­ krieges - Hermann von der Pfordten: „Gewiß hat das deutsche Lied nicht das deutsche Reich ersungen; dazu mußten ganz andere Kräfte in Bewegung gesetzt werden. Aber mindestens den Boden hat es bereiten, die Stimmung finden helfen; und unter den vielen Faktoren, die zur Gründung des Reiches tätig waren, dürfen die Sän­ gerfeste nicht vergessen werden. Die alte Sehnsucht und der alte Wert des deutschen Volkes klang daraus hervor, immer wieder, immer stärker und lauter, auf die Dauer nicht zu überhören. Und als wir dann wieder auf eigenen Füßen standen und unser Deutschtum gesichert schien, da war es die weitere Aufgabe, es zu stützen, zu fördern, zu vertiefen und zu veredeln; und auch daran sollte der mehrstimmige volkstümliche Gesang Anteil haben.”1“

Wilhelm II. versichert sich der Loyalität von Männerchören unter anderem durch ein im Turnus von vier Jahren veranstaltetes Kaiserpreissingen, bei dem die be­ sten Männerchöre des Landes, mittelständische Bürger und Arbeiter,10' zu eiErste Strophe, zit. nach der 4. Aufl., Hamburg 1900. Vgl. dazu Christine Brocks: Der Krieg auf der Postkarte - Feldpostkarten im Ersten Weltkrieg. In: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918. Museum Industriekultur Osnabrück, Katalog der Ausstellung v. 17.5.-23.8.1998. Bramsche 1998, S. 154 - 164 u.ö. 100 Deutsche Musik auf geschichtlicher und nationaler Grundlage dargestellt. Leipzig (1917), S. 27. 101 Musik und Industrie. Beiträge zur Entwicklung der Werkschöre und Werksorchester. Hg. von Monica Steegmann. Regensburg 1978, hier bes. die Beiträge von Jochem Wolff, Joseph Eck­ hardt, Heinrich W. Schwab. - Zeitgenössische Quellen, wie z.B.: Offizielles Festbuch. Dritter

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hem Wettstreit Zusammenkommen. Der erste L Nach pen bestimmuncen wird vom 25.-28. Mai 1899 in Kassel102 ausge­ 1 MÜlESTttt PCS [ Kaisers i tragen, wobei das Interesse des Kaisers für den Männergesang und das Volkslied ausdrücklich und dankbar anerkannt wird. B Das Wettsingen wirft in den Gesangverei­ nen seine Schatten lange voraus und ist ein viel­ beachtetes gesellschaftliches Ereignis. Zu Be­ ginn stimmt die gesamte Festgesellschaft die FGcsöncswett= Kaiserhymne „Heil Dir im Siegerkranz“ an; STREIT DEUTSCHER darauf erklingt, z.B. beim Frankfurter Treffen I MÜNNERGCSßNG» IVEREINE* 1909, der Schlußchor des mit großem Orche­ Kassel* V«, . ster begleiteten Kaisermarsches von Richard n

„Die neue Wacht. Als einst achtzehnhundertsiebzig Zu dem hohen Siegesflug Zug auf Zug zur Landesgrenze Tausende von Streitern trug,

Da erscholl auch tausendstimmig Überall ,Die Wacht am Rhein' Und Begeist’rung, hoch entflammend, Zog in alle Herzen ein.“

Der beste Chor erhält als Wanderpreis eine kostbare goldene Kette, in deren einzelne Glieder nationale Embleme sowie Namen deutscher Dichter und Mu­ siker eingegraben sind. Die zentrale, die Sänger verpflichtende Inschrift lautet: „Im Liede stark, deutsch bis ins Mark“. Nach dem 2. Sängerwettstreit in Frank­ furt, 1903, sieht sich der Kaiser veranlaßt, ein Liederbuch für Männerchor her­ ausgeben zu lassen, das 1906 bei Peters in Leipzig erscheint und bis zum WeltWettstreit deutscher Männergesangvereine zu Frankfurt a.M., 19.-22. Mai 1909, S. 99 u.a., belegen die Beteiligung von Arbeiterchören. 102 Nach Richard Kötzschke: Geschichte des deutschen Männergesanges, hauptsächlich des Ver­ einswesens. Dresden 1927, S. 130. Näheres S. 243 f. 103 Offizielles Festbuch (wie Anm. 101), S. 30. 104 Op. 13, Nr. 1, Strophe 1, zit. nach: ebd., S. 50.

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krieg unter den Namen „Kaiserliederbuch“ so starke Verbreitung findet, daß das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung es später auch als Volksliederbuch für die deutsche Jugend drucken läßt. Vaterländische Lie­ der bilden den Kernbestand und künden „von den Heldentaten der Vorfahren und von ihrer Sehnsucht nach einem einzigen Reiche“. Sie werden ergänzt durch Neukompositionen „von des Reiches Herrlichkeit“, die ihre ideologische Wirk­ samkeit besonders effektiv an nationalen Gedenktagen entfalten, so z.B. im Jahr 1913, in dem „in allen deutschen Landen Erinnerungsfeiern an die Freiheitskrie­ ge“105 stattfinden und Wilhelm II. in seiner Rede anläßlich der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig an diese Vergangenheit anknüpft. Die Produktion populärer Lied- und Chormusik von Komponisten wie Franz Abt, Karl Zöllner, Gustav Wohlgemuth, Friedrich Wilhelm Kücken, Robert Hegar, Theodor Koschat u.a.106 nimmt nach Auskunft des HoffmeisterHandbuches für die Jahre 1885 bis zum Beginn des 1. Weltkrieges einen außer­ ordentlichen Umfang an. Richard Kötzschke zählt einen jährlichen Zuwachs von je 1000 Männerchören, spricht von „Massenproduktion“ und attestiert ihr allerdings auch „viel Minderwertiges“.107 Entscheidend für die Beliebtheit der Gesangvereine und Männerchöre ist die Befriedigung geselliger Bedürfnisse und damit die Möglichkeit, Kunst und Le­ ben miteinander zu vereinbaren. Darüber hinaus ist der Akt des gemeinsamen Singens dazu geeignet, das Gefühl lokaler und nationaler Gemeinschaft aufkommen zu lassen. Als Möglichkeit des Ausgleiches sozialer Divergenzen und kul­ tureller Unterschiede sowie als Maßnahme gegen die individuelle Vereinsamung preist Karl Storck das Chorwesen:

105 Kötzschke (wie Anm. 102), S. 251. 106 Einblicke in das Repertoire sowie eine Aufzählung wichtiger Komponisten finden sich bei Kötzschke (wie Anm. 102) wie auch bei Franz Josef Ewens (Hg): Das deutsche Sängerbuch. Wesen und Wirken des Deutschen Sängerbundes in Vergangenheit und Gegenwart. Karlsru­ he u. Dortmund 1930. Die politische Bedeutung der Männerchöre wird hier (S. 69) aus der Sicht des Jahres 1930 gewürdigt: „Wir finden den Männergesang nicht nur wirksam im eige­ nen Kreise, im Konzertleben - sondern auch als Ausdrucksmittel besonderer Art bei weltan­ schaulichen Anlässen, bei vaterländischen Zeiterscheinungen und als Träger und Verbreiter von Wahrheiten, die in der Form des deutschen Liedes unmerkbar von den Köpfen Besitz neh­ men. Aber die Form der Einwirkung ist eingebettet in Musik. Freilich singt der Bekenntnis­ verhaftete neben dem Freidenker... Das ist ein wunderbares Gleichklingen der Seelen, die zur gegenseitigen Achtung und Wertung weltanschaulichen Empfindens kommen und im Grun­ de sich eins fühlen. Dieses verbindende und Gemeinschaft bildende Moment ist das schät­ zenswerteste, der Ausdruck und die Gestaltwerdung eines Gesamtwillens, der seine Veranke­ rung im Kosmischen hat und im rasse- und volksmäßigen Gedanken sich auswuchtet.“ 107 Kötzschke (wie Anm. 102), S. 225.

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¿Dieser Umstand, daß alle Volksklassen dabei sind, ist mir so wichtig. Nicht nur aus sozialen, son­ dern auch aus künstlerischen Gründen. ...Volksmusik heißt Musik der ganzen Nation, so wie das alte Volkslied Volksmusik war, weil es dem ganzen Volke gehörte“.108 109 110 111

Und in anderem Zusammenhang hebt er die besondere Funktion der Musik hervor: „Des weiteren ist die Musik auch die sozialste aller Künste. Sie verwächst zwanglos mit allen Lebens­ gelegenheiten, stellt sich von selber ein, wo Menschen beisammen sind, wo Feste gefeiert werden, bei Freude und Trauer. Die natürlichste Unterhaltung der Einsamkeit, ist Musik zugleich die ein­ fachste und nächstliegende gesellschaftliche Betätigung der größten Masse; vor allem ist sie auch das beste Mittel, großen Massen gemeinsame Empfindungen beizubringen“.10’

Wie zutreffend diese Einschätzung ist, läßt sich exemplarisch an der 1875 er­ folgten Einweihung des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald zeigen, bei dem nach Informationen der örtlichen Presse 15-30 000 Personen anwesend gewesen sein sollen. Nach vielfachen Hochs und Heils auf den ersten deutschen Kaiser und einem vom Musikkorps des 55. Regiments gespielten Choral sowie diversen Reden folgt die Aufführung einer „Hermanns-Cantate“ von H. RuhlCassel durch 500 (!) Sänger unter Leitung des Lehrers H. Meyer. Später erle­ ben die herbeigeströmten Menschen „unter dem Donner der Geschütze und den Klängen der Nationalhymne, in die sich der tausend- und aber tausend stim­ mige Jubel der versammelten Menge hineinmischte“, den eigentlichen „Weihe­ akt“: das Aufhissen der Flagge. Danach singt der Detmolder Gesangverein Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“, in den die Festversammlung „volltönig“ einstimmt. Nach weiteren Reden erklingt der Chor „Germania“ von Carl Loewe. Nach Beendigung des offiziellen Teils entwickelt sich dann noch ein reges volkstümliches Fest: „Man jubelte, zechte, sang und musicirte, das rasch populär gewordene Scheffelsche Lied von der Varusschlacht"0 bildete den Grundton aller Weisen; dazwischen klangen wohl auch andere patrio­ tische Gesänge wie das Preußenlied1" und die .Wacht am Rhein““.112

Die Veranstalter ziehen sich derweil mit ausgewählten Gästen zu einem „klas­ sischen“ Konzert zurück. Feiern dieser Art lenken das Gefühl, ein Volk zu sein, auf die in der monu­ mentalen Denkmalsgestalt weithin sichtbar gemachte siegreiche deutsche Ver­ gangenheit, die mit Stolz erlebt wird. Alle gesellschaftlichen Schichten sind festlich gestimmt - vertreten, vereint im Gesang und in der Vorstellung, deutsch zu fühlen und zu denken. 108 109 110 111 112

Storck: Gassenmusik. In: Musik-Politik (wie Anm. 5), S. 105. Ders.: Die Musik als Grundkraft deutscher Musikkultur. In: ebd., S. 24. „Als die Römer frech geworden“. Text: Victor von Scheffel. Musik: Ludwig Teichgräber 1875. „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben“. Text: Bernhard Thiersch. Musik: H. A. Neithardt. Alle Zitate: Westfälische Zeitung vom 19. August 1875.

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Neues Volkslied

Es wollten drei Burschen wohl über den Rhein.

Doch Eins das macht'ihnen Kummer Frau Wirtin hatte wohl feinen Wein,

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Doch auch einen grossen Brummer. (Ja zogen sie ab vollerTrauer,

Jhnen war'ndieTrauben zu sauer.

Abb. 7: Ansichtskarte Volkslied gegen England

Die Früchte dieser Ästhetisierung und Emotionalisierung von Politik zei­ gen sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges, der neue Blüten volkstümlich-na­ tionaler Musik hervorbringt. Zahlreiche populäre Lieder, z.T. Volksliedkon­ trafakturen, kommentieren die wünschenswerten Positionen und Einstellun­ gen. Österreich wird als Bundesgenosse besungen, der Kaiser als großer Feld­ herr gelobt, Helden der Vergangenheit, wie Bismarck oder Friedrich der Gro­ ße, als Schutzherren angerufen, Hindenburg als Retter Masurens gefeiert und Mütter, Freundinnen und Ehefrauen dazu aufgerufen, ihren Söhnen den Ab­ schied nicht zu schwer zu machen.113 „Die Mutter des Reservisten“ heißt Werk 187 von Robert Stolz und Alfred Grunwald. Feldpostkarten verbreiten Auf­ bruchsstimmung, bereiten aber auch auf die Trennung und mögliche Verluste vor: „Vaterland, du forderst viel“. Traditionelle Nationallieder wechseln mit komponierten Ausfällen gegen England.114 An die Ereignisse der französischen 113 Beispiele: „Deutschland-Osterreich!“. Ein neues Kriegslied. Sang und Dichtung von Johan­ nes Fels. In Musik gesetzt von Albert Steffahn, Leipzig; - „Kaiserlied“. Text und Musik von Ludolf Waldmann, Op. 48. In: Zehn volkstümliche Vaterlands Lieder mit leichter Klavierbe­ gleitung, „Den deutschen Helden im Weltkrieg gewidmet“. Waldmann Verlag Berlin; - „Ge­ bet für das Hohenzollernhaus“ für gemischten Chor von Oscar Rudolph Op. 31. Leipzig, Sie­ gel; - „Bismarck, der Führer zum Sieg“. Text Felix Marquart. Musik Simon Breu. In: Lieder zum Deutschen Krieg 1914; auch abgedruckt in: Kriegs-Lieder für deutsche Schulen. - Alle in diesem Zusammenhang erwähnten Kriegslieder befinden sich in der Staatsbibliothek Berlin. 114 Z.B. „Haß auf England“. Gedicht von Paul Keller. Musik von Wilhelm Maske. Erschienen im

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Westfront erinnert der „Loretto-Sturm-Marsch“ für Klavier von Rudolf Loeffel, „dem 6. Rheinischen Infanterieregiment Nr. 68 (Coblenz) als Denkstein für die schweren Kämpfe an der Lorctto I löhe“ gewidmet."5 Das gleiche Ereignis wird dem berühmten Marschlied von Walter Kollo „Es war in Schöneberg im Monat Mai, ein kleines Mädelchen war auch dabei“ aus der Posse „Wie einst im Mai“ unterlegt, dessen Refrain nunmehr heißt: „’s war auf Lorettohöh ‘ne Knallerei Das große Schützenfest ist nun vorbei;

floß auch auf uns’rer Seite sehr viel Blut, ein deutsche Kriegersmann hat frohen Mut.“

Zu diesem Tonfall passen handliche Liederbücher in Granatenform mit Gesän­ gen, die wie ein „Riesenchor“ oder eine „Sturm- und Springflut” über alle Däm­ me schießen. Das ganze Volk sang, das behauptet jedenfalls der Herausgeber eines Kriegsliederbuches von 1914."'’ Das Schlagwort „Musik für Alle“ erhält 1914 seinen spezifischen Sinn und kann als Beschwörung einer gemeinschaftlich bedrohten Nation den Kriegsfrei­ willigen eine Elilfe sein. Die LORCTTO >Tl5Rfl) (DARJCk gleichnamige, bereits erwähnte Serie, die mit dem Untertitel „Monatshefte zur Pflege volks­ tümlicher Musik“ inzwischen ei­ ne feste Institution im deutschen Musikleben geworden ist, er­ scheint zu Kriegsbeginn pro­ grammgemäß mit einer Samm­ lung von Soldatenliedern. Diese wird eröffnet mit der deutschen und österreichischen National­ hymne,"7 der „Wacht am Rhein“ und dem Deutschlandlied. Beson­ ders dieser Hymne, mit ihrem Hoffmann-von-Fallersleben-Text und der Melodie Joseph Haydns, Abb. 8: Cover: Loeffel, Loretto-Sturm-Marsch

Selbstverlag des Komponisten. Berlin o.J. - „Auf nach England!“ Patriotisches Marschlied. Text und Musik von Willy Boehme, Herzog Anhaitischer Musikdirektor, Op. 309. 115 Staatsbibliothek Berlin, Sign. DMS 206605. 116 Deutsche Kriegslieder 1914/16. Herausgegeben und eingeleitet von Carl Busse. Dritte, voll­ ständig umgearbeitete und vermehrte Auflage. Bielefeld u. Leipzig 1916, S. VI. 117 „Heil dir im Siegerkranz“ und „Gott erhalte“.

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wird eine integrative Funktion zugetraut. Der Musikwissenschaftler Hermani von der Pfordten erläutert 1917 ihre kriegswichtige Bedeutung: „Wenn unsere Jungmannschaft im Vorstürmen .Deutschland über alles“ anstimmt und singend ii den Tod geht, dürfen wir wohl fragen: bei welchem anderen Volk wäre das denkbar? Und imme tönt es vielstimmig, immer aus Gemeinsamkeitsgefühl heraus. Im Volkslied finden wir uns alle zu sammen.“ 118 119

Das Singen erzeugt offenbar ein starkes Gefühl, mit dem sich nicht nur kultu­ relle, sondern auch soziale Differenzen scheinbar in Luft auflösen. Anders isi jedenfalls nicht verständlich, daß Carl Busse im Vorwort seiner „Kriegsliedei 1914/16“ das „jeden Unterschied des Standes verwischende Gemeinschaftsge­ fühl“ als Tendenz erklärt, durch die sich „doch auch die höchsten Forderungen der Demokratie erfüllen“: „Der gleiche Rock, das gleiche Recht, Und Rottennachbarn Herr und Knecht, Derselbe Lohn, dasselbe Brot, Dasselbe Bett in Schlaf und Tod, Einer wie der andere.“

Die in diesem Gedicht zum Vorschein kommende Verwechslung von Demokra­ tie und kriegsbedingter Gemeinschaft ist der hilflose Versuch, dem Kämpfen einen sozialen Sinn zu geben. Gemeinschaft anstelle von Demokratie, der Traum einer klassenlosen Gesellschaft: Wo das Blut des Fürstensohnes zusammen mit dem des ärmsten Knechtes geflossen sei, so der Herausgeber wenig später, gebe es keine Standesunterschiede mehr. Hier verstellt die überwältigende Wirkung des nationalen Gedankens die Sicht auf die Wirklichkeit und führt zur Fehlein­ schätzung des gemeinsamen Singens als demokratischem Impuls.Diese Auffas­ sung als quasi programmatisches Vorwort eines Liederbuches von 1914 steht nicht nur für die Illusion politischer Einheit, sondern läßt auch die verzweifel­ te Hoffnung erkennen, daß im Schmelztiegel des Krieges sich mit der sozialen auch die ästhetische Gespaltenheit vermindern lassen würde. Erst 1918/19, am eigentlichen Abschluß des 19. Jahrhunderts, wird das Scheitern offenbar und mit ihm die Einsicht, daß mit dem Ende des Weltkrieges und den veränderten politischen Bedingungen in Deutschland die Hoffnung auf eine universale geisti­ ge Orientierung alter Art und entsprechende ästhetische Leitlinien verloren ist. In der Weimarer Republik verabschiedet sich - unter massivem anglo-amerikanischem Einfluß - die Unterhaltungsmusik endgültig von Ansprüchen traditio­ neller bürgerlicher Bildung und macht allmählich einer Musikkultur Platz, die als Popmusik vollständig neue Ideen vertritt und andere Zielgruppen anspricht. 118 Von der Pfordten (wie Anm. 100), S. 26. 119 Busse (wie Anm. 116), S. IX.

Synkopen-Tänze Uber Importe populärer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Fred Ritzel

In diesem Beitrag geht es um eine epochale Wende in der Entwicklung von Tanz­ musik und Schlager gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und in Deutsch­ land, um eine regelrechte Welle von musikalischen Importen aus Nord- und Südamerika. Sie lösen ein Jahrhundert europäisch dominierter Tanzmusik ab und müssen als Vorboten der im 20. Jahrhundert nicht nur in Europa, sondern welt­ weit sich außerordentlich erfolgreich ausbreitenden afro-amerikanischen Pop­ musik und des Jazz gesehen werden. Walzer, Polka, Rheinländer, Galopp und diverse Varianten dominieren zwar noch auf den Bällen und Tanzböden des Kaiserreichs, ihre Bedeutung als modische Gesellschaftstänze hat jedoch erheb­ lich nachgelassen. Die neuen Töne aus Amerika bringen nicht nur neues rhyth­ misches Feuer, neue Bewegungsenergien für die Tänzermassen, neue Klänge und Melodien, sie bringen auch die Botschaft des lockeren American way of life aus der jungen, weltweit führenden Industriemacht (seit den 1890er Jahren), das klingende Indiz für das Ende einer Epoche, in Deutschland das Ende der impe­ rialen wilhelminischen Ära und ihrer politischen und kulturellen Charakteri­ stik. Bereits früher im 19. Jahrhundert hat es musikalische Importe aus der Neu­ en Welt gegeben, das berühmteste Beispiel ist sicherlich die Habanera aus Bi­ zets „Carmen“, 1875 (deren Musik von Sebastián de Iradier stammt).1 Recht glanzvoll kehrt mit ihr ein Relikt alter europäischer Tanzmusik aus der Neuen Welt zurück: Der nach Kuba verschlagene europäische Contredanse präsentiert sich nun - durch die kreolischen „Contradanzas“ mit neuem afro-amerikanischem Leben erfüllt - als Tanz aus Havana, als „Habanera“. Noch etwas früher konnte man in der Pariser Virtuosenszene um die Jahrhundertmitte aufregend 1

Sebastian de Iradier y Salaverri (1809-1865), Spanier, hielt sich zeitweilig auch in Kuba auf, wo er die Habanera kennen lernte. Sein Lied El arreglito. Chanson Havanaise, 1840, benutzte Bi­ zet in seiner Oper „Carmen“ (1875). Nicht minder berühmt ist Iradiers Lied La Paloma, eben­ falls in Lateinamerika entstanden und zum Habanera-Typ gehörig. Vgl. Friedrich Blume (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 5. Kassel/Basel 1956, Sp. 1187-88 (Stichwort „Habanera“).

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Fred Ritzt

rhythmisierte Salonstücke von Louis Moreau Gottschalk (1829-1869) hören einem kreolischen Pianisten und Komponisten aus Louisiana. Berlioz, Theophil« Gautier, Adolphe Adam und andere äußern sich zustimmend zu seinem Spie und seiner Musik. Einige seiner Begleitmuster zeugen von seiner Vertrautheil mit der kubanischen Tanzmusik, sie entsprechen in ihrem rhythmischen Zu­ schnitt recht genau der Habanera (und ähneln damit dem Cakewalk, dem Rag­ time und dem Tango). Insbesondere die „kreolischen“ Stücke Gottschalks schätzt man als Konzert-Bonbons (viele davon erscheinen bei Schott in Mainz, damals bereits international tätig). Als wesentliche Voraussetzung für die umfangreiche internationale Verbrei­ tung populärer Musik entstehen im 19. Jahrhundert neben den technologischen Neuerungen für Massenproduktion und Vertrieb musikalischer Waren auch die sich allmählich entfaltenden internationalen Regulierungen von Urheber- und Verlagsrechten. International tätige Verlage haben ein starkes Interesse an ei­ nem regen Verkehr für musikalischen Warenaustausch. (Als wesentliche Waren­ formen dienen damals in erster Linie Noten, Rechte und öffentliche Veranstal­ tungen.) Insbesondere funktioniert der musikalische Warentausch im kulturellen und ökonomischen Zusammenspiel der führenden Industriegroßmächte USA, England, Frankreich und Deutschland. Und er harmoniert auch recht gut mit gewissen politischen Strömungen der Zeit. Präsentationen von fremden Völ­ kern und ihren Sitten und Gebräuchen auf dem Unterhaltungsmarkt passen gut in das Umfeld von Kolonialismus und weltumspannenden Handels. In den Weltausstellungen feiert der Westen sein Konzept der Weltbeherrschung. Neue Unterhaltungsangebote wie Zoologischer Garten und Zirkus entstehen im 19. Jahrhundert und sprechen ähnliche Gefühlsbereiche an; Music Halls, Variete­ theater, Tingeltangels unterschiedlicher Qualität bieten exotische Sensationen, und auch die Traditionen des Jahrmarkts modifizieren sich durch neue Ange­ bote (Werbung für neue Songs etwa durch das song plugging mittels Dia-Shows, den live model song slide-Vorführungen, durch den Kinetophonograph u.a.). Häufig ist dabei fremdartige Musik zu hören, authentisch fremde oder fremdartig ausstaffierte herkömmliche Musik. Eine recht gut dosierte und da­ her auch in Europa hellhörig machende Mischung von neuen melodischen Wen­ dungen und vor allem neuen, synkopierten Rhythmen mit europäischer Un­ terhaltungsmusik (Polka, Rheinländer, Marsch u.ä.) bietet die amerikanische Un­ terhaltungsmusik der reisenden Minstrel-Shows, der Musical Comedies und an­ derer Formen des öffentlichen Showgeschäfts. Amerikanische Show-, Gesangs- und Tanzgruppen kommen in der zwei­ ten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufiger auch nach Europa und finden ein in­ teressiertes Publikum (etwa die schwarzen Fisk Jubilee Singers mit domestizier­ ten Spirituals auf mehreren Europatourneen, 1880 u.a. auch bei Wilhelm I. in

Importe populärer Musik aus Amerika

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Potsdam).2 Gleichwohl bleiben amerikanische Stücke und afro-amerikanische Stilmittel in jener Zeit noch exotische Ausnahme im populären Musikleben der Alten Welt. Wie auch in den USA selbst dominieren in den Veranstaltungen der besseren Kreisen die gewohnten europäischen Gesellschaftstänze (Walzer, Pol­ ka, Galopp, Quadrille u. ä.), in den einfacheren Kreisen gibt es ohnehin nur das traditionelle Angebot. Dies ändert sich allmählich um die Jahrhundertwende. Mit enorm anwach­ senden Stadtbevölkerungen verschieben sich die gewohnten sozialen Strukturen, der Lebensstandard steigt spürbar, es steht mehr Freizeit zur Verfügung und das Unterhaltungsbedürfnis entfaltet und differenziert sich. Unzählige Theater, Variétés, Tingeltangels, Music Halls und andere einschlägige Etablissements bedienen ein mehr oder weniger großes, sozial differenziertes Publikum. Es gibt Singspiele, Volksstücke, Possen, Operetten, Revuen, Sketche, bunte Program­ me aus diversen Einzelteilen mehr oder weniger überzeugend zusammenge­ strickt. Und jeweils viel Musik, mit zahlreichen Möglichkeiten zu Nachver­ wertung und Zusatzverdienst. „Neuestes, Allerneuestes“ - so der Titel einer „Metropol-Revue“ von Viktor Holländer und Julius Freund - muß präsentiert werden, um konkurrierende Unternehmungen auszustechen. Noten und Schallplatten erlauben das Nachspielen dieser neuesten Musik, das Wiedererleben und Erinnern der neuen Show-Sensationen. Sie ermöglichen allerdings auch - bis zu einem gewissen Grad - den Wunsch- oder Fluchttraum der weniger feinen Kreise, das Dabei-Sein der in größerer sozialer und ökono­ mischer Distanz Lebenden. Das Massenpublikum für den Musikmarkt beginnt sich zu formieren; in den Tanzgaststätten, Klavierzimmern, Tanzschulen, Tin­ geltangels der großen, bald auch der kleinen Städte und ländlichen Regionen macht sich der medial vermittelte, verkäufliche Abglanz der großen Show-Pa­ läste der europäischen Zentren bemerkbar. Die erste größere Welle kommerzieller US-Hits3 gelangt am Anfang der „gay (oder „naughty“, auch „naive“) nineties“ via London und Paris nach Deutsch­ land, und zwar recht schnell nach ihrem amerikanischen Erscheinen. Dies gilt etwa für den freak of the year 1891 (wie Sigmund Spaeth den Titel charakteri­ siert)4 Ta-ra-ra Boom de-ay!, der sofort in Deutschland von zahlreichen Kom­ ponisten unverfroren als eigenes Werk oder als Bearbeitung auf den Markt ge­ bracht wird (u. a. von A. Rau als op. 30, von G. Herold als op. 256, als op. 118 2 3

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Vgl. Heinrich G. Schwab: Konzert. Öffentliche Musikdarbietung vom 17. bis 19. Jahrhundert. Leipzig 1971, S. 176. Der Begriff „Hit“ taucht in den USA schon früh im 19. Jahrhundert auf und entspricht dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstehenden Begriff „Schlager“: Bei­ de Begriffe meinen inhaltsneutral „Bestseller“. Sigmund Spaeth: A History of Populär Music in America. New York 1948, S. 258

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von Ertl, aber auch von Karl Komzak jun., Schild, Thiele, Paul Lincke und C. M. Ziehrer). Die Melodie des Marschlieds (der eigentliche Autor ist unbekannt, ein deutsches Liederbuch wird als Quelle vermutet) hat sich bezeichnenderweise bis heute in der kollektiven Gedächtnistradition der deutschen Massenmusik gehalten, genauso übrigens wie die amerikanische Ballade Asleep in the deep (Petrie 1897, zu deutsch Seemannslos)? Doch hierbei handelt es sich um Stücke des üblichen Unterhaltungsmusik­ markts, wie er auch in Europa existiert. Noch weisen sie keine musikalischen Besonderheiten auf, die sie als spezielle amerikanische Botschaften hätten ausweisen können. Ihr besonderes Qualitätsmerkmal besteht allenfalls in ihrer Herkunft aus dem Land der modernen industriellen Führungsgroßmacht USA, verknüpft mit den Werbehinweisen auf dortige Erfolge. Als Beispiel dafür wäre etwa ein amerikanischer Millionen-Seller wie After the Ball (Harris, 1892) zu nennen, der mit über fünf Millionen verkauften Exemplaren in den Neunzigern aufwarten kann, auch auf dem europäischen Markt erscheint, mitsamt der Fama seines extraordinären Übersee-Erfolgs - und vielleicht gerade aus diesem Grund attraktiv.5 6 Neues jedoch kommt insbesondere über den Import von Tänzen. Tanzen ist en vogue, und es fungiert auch als ein Mittel sozialer Distinktion. Die mo­ dernen amerikanische Import-Tänze um 1900 beanspruchen Modernität und Exklusivität. Anfeindungen - nicht nur aus den traditionellen öffentlichen In­ stitutionen (Behörden, Vereine, Veranstalter etc.) - werden von den jungen Tanz­ experten als unangemessene Reaktionen konservativer Kreise verstanden, die die Gegenwart noch nicht begreifen. Oder sie verachten Widerstände als igno­ rante Borniertheit der breiten Masse.7 Obwohl die modernen Tänze oft auf eine durchaus unfeine Herkunft zurückblicken können, bemühen sich ihre Propa­ gandisten um Klarstellung: Sie zu tanzen sei etwas total Gesittetes, Anständi­ ges, Ausweis von verfeinerter Lebensart. Es ist der Versuch der jeunesse dorée, der jungen Unterhaltungselite, sich deutlich abzusetzen, sowohl von der Kul­ tur der älteren Generationen wie auch von den Unterhaltungsgepflogenheiten der unteren Schichten der Bevölkerung; sie wollen mondain sein, weitläufig. Das Tanzen der Kenner solle sich vom unverständigen „Schieben und Wackeln“ des

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Nachweislich (Auskunft von Herrn Karl Schneider, Herbolzheim (Brsg.), Tonband-Interview am 21. Mai 1983) lernten Schüler dieses Lied in der Schule als Seemannslos. Bloch und Tuchol­ sky war es geläufig. Brecht zelebrierte es gern im Wirtshaus, auf Drehorgeln tönte es, und noch 1984 sang es Trude Possehl in einer Fernsehsendung. Ein gewisser Carl Weydert veröffentlicht dieses Lied einfach unter seinem Namen, mit einem Text von Adolf Marteil. Allerdings: Mu­ sikalische Struktur und Text entsprechen exakt dem Original von H.W. Petrie und A.J. Lamb. Vgl. Ulrich Schneider: Die Londoner Music Hall und ihre Songs. Tübingen 1984, S. 129 f. Vgl. etwa F.W. Koebner/R.L. Leonard (Hg.): Das Tanzbrevier. Berlin 1913, S. 6.

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Pöbels, dem es sowohl an musikalischer als auch an tänzerischer Kompetenz fehle, deutlich unterscheiden. Dies gilt nun nicht generell, aber doch im Prinzip für die meisten neuen Tänze aus Amerika. Tango aus Argentinien, Maxixe aus Brasilien, Cakewalk, Ragtime, die diversen Trots aus den USA: Sie alle finden ihren Weg in die feinen Tanz­ zirkel der europäischen Großstädte, in die gutbürgerlichen Tanzsalons und die entstehenden feinen Tanzcafes (gerade im Zusammenhang mit dem Tango bil­ den sich in den Etablissements spezielle Tanzflächen!). In erster Linie erreichen von den amerikanischen Importen die musikalisch und bewegungsmäßig einfacheren und den traditionellen deutschen Tänzen wie Marsch, Polka oder Rheinländer - ähnlichen Tanzmusiken auch die brei­ teren Schichten der Tanzbegeisterten. So der Twostep, aus der Polka entstan­ den und ein entschieden vorwärts ausgeführter Tanz (im Gegensatz zu den vorherigen Rundtänzen der europäischen Tradition), und ab etwa 1909/10 der Onestep, eine weiter vereinfachte Art des Vorwärtstanzens. Überhaupt läßt sich das Kriterium der „Vereinfachung“ als eine charakteri­ stische Eigenschaft neuer Massentänze feststellen, eine Indiz für das Kalkül der Marktgängigkeit von Novitäten. Während es bei den feineren Kreisen durch­ aus üblich ist, Tanzlehrer zur eigenen Vervollkommnung zu bemühen, muß die breite Masse der einfacheren Tänzer allein durch Abgucken und Nachmachen das neue Tanzen erlernen. Und dies ermöglichen die Schiebe- und Wackeltänze ohne große Probleme. Für die Hörer, Tänzer und Musiker aus der Alten Welt zählen neben den ökonomischen Wundergerüchten und guter musikalischer Erfindung noch wei­ tere Reizmomente: - Produkte aus der dynamischen, jungen Neuen Welt versprechen ein gewisses Maß von Teilhabe an der fabulösen Aufbruchstimmung, zumindest über popu­ lärmusikalische Symbole. - Ihre „Unfeierlichkeit“ steht erfrischend quer zu dem steifleinenen Pathos der „Gründerzeit“. - Nicht nur exotische Ferne rückt in sinnlich erfaßbare Nähe, sie holt auch ei­ gene, vertraute Züge kultureller Vergangenheit wieder hervor, suggeriert Zu­ gehörigkeit zum internationalen Geschehen, riecht nach Zukunft. Mit den amerikanischen Titeln in Europa, den in London und auf dem Konti­ nent erfolgreichen US-Stars jener Zeit, dem schon recht flüssig laufenden Musik­ geschäft und dem gewachsenen Interesse der europäischen Konsumenten an amerikanischer Musik entwickelt sich eine Nachfragesituation, in die sich die in den USA gerade auch vom „weißen“ Musikgeschäft ausgewerteten schwar­ zen Popmusikstile gut einfügen, zumal ihre exotischen Reizmomente in Euro­ pa besondere Wirksamkeit versprechen.

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Cakewalk und Ragtime Nach der Sklavenbefreiung8 bieten 9 sich zunehmend mehr schwarze Künstler auf dem Unterhaltungsmarkt an, bei den Minstrelshows, den Gesangs- und Tanz­ gruppen, den Road Shows und anderen Unterhaltungsangeboten. Das ameri­ kanische Unterhaltungsmusikgeschäft etabliert sich von den 90er Jahren an in der Tin Pan Alley in New York und bildet dabei auch einen Sektor mit schwar­ zer Unterhaltungskunst heraus. Die schwarze Minstrelsy wandelt sich allmäh­ lich zur Bühnen-Show, zur Revue, und schließlich zum Musical: 1896 gibt es das Negro Musical Oriental America am Broadway, noch ohne eine deutliche Handlung, aber nicht mehr nur mit Schwarzen als komische Figuren, sondern als ernst zu nehmende Bühnencharaktere. 1898 kommt es am Broadway zu zwei ersten Schwarzen-Musicals mit einem Handlungskonzept, zugleich mit ausge­ prägtem selbstreferentiellen Bezug : „Clorindy - The origin of the Cake Walk“ (Will Marion Cook/Paul Dunbar) und „A Trip to Coontown“ (Robert Cole).’ Als Urheber und Interpreten agieren hierbei ausschließlich Schwarze. Gleichwohl dominieren im Musikgeschäft die weißen Künstler, selbst in den neuen afro-amerikanischen Tanz- und Musikformen wie Cakewalk und Rag­ time. Cakewalk-Tanzen mit der Begleitung von Ragtime, vergleichbar einer stark synkopierten Form von Marsch-, Polka- und Rheinländer-Musik, kommt um die Jahrhundertwende schnell nach Europa. Einige der damals reüssierenden Stücke haben sich noch bis heute in manchen Erinnerungssträngen gehalten. Ein Beispiel dafür: At A Georgia Campmeeting von Kerry Mills aus dem Jahre 1897, von dem Komponisten und Verleger Mills quasi als Protest gegen die herrschende Unsitte der artifiziell-prätentiösen „Coon Songs“ geschrieben. Mills, ein Weißer, hat mit diesem Stück den klassischen Cakewalk präsentiert;10 der Text beschreibt das parodistische Tanzspiel der Schwarzen (einen Wettkampf von Tanzpaaren um die Siegestrophäe eines Schokoladenkuchens) und die Re­ aktion auf das Spiel der Ragtime-Band. Das gelungene Stück hat den Cakewalk im weißen Musikgeschäft durchgesetzt, Showtänzer haben ihn dann zu einem aufsehenerregenden Tanz entwickelt und quasi als Gesellschaftstanz für eine Weile populär machen können. Das Deckblatt der Einzelausgabe von Mills’ At a Georgia Campmeeting weist darauf hin, daß die Ragtime-artige Musik zum Tanzen gedacht ist, jedoch für recht verschiedene Tänze. Zunächst wird das Stück als „characteristic march“ 1863 erfolgte Lincolns Proklamation zur Sklavenbefreiung; nach Ende des Sezessionskriegs (1861-65) kommen 1865 der Verfassungszusatz zur Sklavenbcfreiung, 1868 das Bürgerrecht und 1870 das Wahlrecht für die Schwarzen. 9 Helmut Günther: Die Tänze und Riten der Afro-Amerikaner. Bonn 1982, S. 97. 10 Spaeth (wie Anm. 4), S. 284: „Mills ... may be considered the creator of the cake-walk“.

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bezeichnet, aber es kann auch als Twostep, Polka oder Cakewalk benutzt wer­ den. Mit der Mehrfach-Funktion als Tanzmusik werben die meisten Tanzmu­ sik-Ausgaben dieser Zeit, auch in Deutschland. Denn die 4/4-Tänze in der „Post-Polka-Ara“ verfügen außer der häufigeren Synkopierung sonst kaum über neue und charakteristische musikalische Eigenschaften, die sie unterscheid­ bar gemacht hätten. Ragtime (von Blasmusik, von der Salonkapelle oder vom Klavier ausgeführt) fungiert als musikalische Stütze für so unterschiedliche Tänze wie Twostep, Slow Drag, Cakewalk, Onestep, Turkey Trot, Grizzly Bear, Buck, Buck and Wing (beides Vorstufen zum späteren Tap Dance), aber auch Polka und Marsch. Ein eigener Ragtime-Tanz taucht 1903 auf, in Scott Joplins The Rag-Time Dance, eine Art volkstümliches Tanztheater. In einem der Texte darin wird genau un­ terschieden:11 Let me see you do the rag-time dance,

Laß mich sehen, ob Du den Ragtime tanzen kannst.

Turn left and do the cakewalk prance,

Dreh’ Dich nach links und führe den prance (hoher Beinwurf) des Cakewalk aus

Turn the other way and do the slow drag -

und dreh’ Dich nach der anderen Seite und tanze slow drag.

Now take your lady to the World’s Fair

Dann nimm Deine Dame zur Weltausstellung

And do the rag-time dance.

und tanze mit ihr Ragtime.

Nach Europa kommen derartige Tänze zunächst als Show-Bestandteile und Bühnentänze, tauchen also bei Veranstaltungen auf, in denen sich vor allem die besseren Kreise amüsieren. Von der Jahrhundertwende an entwickeln sie sich zu enormen Erfolgen, zumindest für die erste Dekade mit einem Höhepunkt im Jahr 1903. Während bis 1897 die importierten US-Titel noch europäischen Zuschnitt aufweisen, bringt das Hofmeister-Handbuch11 12 für den Berichtszeitraum bis 1903 erstmals Cakewalks und Valses Boston, in Stilkopie auch von europäischen bzw. deutschen Autoren. Bis 1908 verstärkt sich deren Anteil erheblich. Fast könnte man sagen, daß dieser „afro-amerikanische“ Teil des Musikangebots eine neue Selbstverständlichkeit im Verlags-Repertoire darstellt, so wie in der Live-Szene damals die Sparte „English Song And Dance“ mit „Negerliedern“ und „Ne­ gertänzen“ angeboten wird.13 Auch Franz Pazdireks „Universal-Handbuch der Musikliteratur“ spiegelt diesen Trend, verweist sogar auf bei Hofmeister fehlen­ de Stücke: Einer der bedeutendsten Rags des Schwarzen Scott Joplin, der Maple 11 Günther (wie Anm. 9), S. 109. 12 Friedrich Hofmeister (Hg.): Handbuch der musikalischen Literatur. Bd. 8 ff. Leipzig 1892 ff. 13 Rainer E. Lotz: Grammophonplatten aus der Ragtime-Ara. Dortmund 1979, S. 209.

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Leaf Rag, wird als in Deutschland käuflich annonciert, ebenfalls viele Titel von Hogan, Mills, Petrie, Thurban und diverse Cakewalk- und Ragtime-Alben.14 Angebot und Nutzung der Noten muß im Zusammenhang des Erfolgs der neuen amerikanischen Tanzformen gesehen werden. Eine massenhafte Rezep­ tion amerikanischer Tanzimporte setzt ein; nicht nur die etwas komplizierten Cakewalks, sondern auch die einfachen Tänze wie Twostep finden Interesse. N och einfacher als der Twostep und entsprechend beliebt erweist sichum 1910 herum der Onestep, der in Deutschland als Marschtanz und Schieber große Popularität erlangt. „Schiebe- und Wackeltänze“ - von einigen regionalen Be­ hörden gelegentlich wegen unsittlicher Aspekte verboten - haben um 1910 in Deutschland bei Jugendlichen großen Erfolg. Es sind die ersten weit verbreite­ ten afro-amerikanischen Tänze, denn ihre Becken-Bewegungen und das Entlang-Schlurfen (shuffle) entstammen schwarzen Tanztraditioncn. Europa bietet noch nicht ganz die Vielfalt der amerikanischen Mode­ tänze, doch gibt es immerhin neben Cakewalk, Twostep und Onestep vereinzelt auch den Turkey Trot, den Grizzly Bear und andere Tierimitati­ onen.15 In der breiteren europäischen Öffentlichkeit beeindruckt das Auf­ treten des Blasorchesters von John Philip Sousa (1854-1932) bei den Weltausstellungen 1899 und 1900 in Paris, wo er neben seinen mitreißen­ den Märschen (die in Deutschland noch heute gespielt werden!) auch den Rhythmus des amerikanischen Abb. 1: Cover eines der ersten deutschen Cake­ Ragtime bekannt macht.16 Und dies, walks für Klavier, 1903 komponiert von Paul Linobwohl Sousa die Ragtimes und cke Cakewalks nicht sonderlich mag und vor allem als Marschkomponist brilliert. Mit einer recht absurden Theorie - viel­ leicht um den schwarzen Background dieser Musik zu vernebeln - behauptet 14 Franz Pazdirek: Universal-Handbuch der Musikliteratur. Wien 1904-1910. 15 Obwohl der Foxtrot bereits in der Vorkriegszeit in den USA reüssierte, gelangt er erst wäh­ rend der Kriegszeit nach Europa und erreicht Deutschland nach Kriegsschluß, als der erste neue Modetanz einer Reihe erfolgreicher neuer afro-amerikanischer Tänze (Shimmy, Charleston, Black Bottom u.a.). 16 Astrid Eichstedt/BerndPolster: Wie die Wilden. Tänze auf der Höhe ihrer Zeit. Berlin 1985, S. 14.

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er, der Begriff „Ragtime“ käme aus Indien; er habe den „Rag“ zum ersten Mal auf der Weltausstellung in Chicago von indischen Musikern gehört, die eine „Raga“ gespielt hätten.17 Eine erstaunliche Aufnahme eines amerikanischen Tin Pan Alley-Cakewalks wird von deutschen Militärorchestern bereits 1900 vorgelegt. Sie heißt Neger­ ständchen, ist ein Ragtime für Blasorchester von Arthur Pryor und wird (laut Plattentext) von der Kapelle des „Kaiser Alexander Garde-Grenadier-Regiments“ unter der Leitung des Königlichen Musikdirektors Neumann aus Ber­ lin gespielt, aufgenommen im Jahre 1900. Im „Spezial-Platten-Verzeichnis be­ liebter Tänze“ der Deutschen Grammophon-AG vom März 1905 findet sich das fragliche Stück in einer eigenen Kategorie „Cakewalk“, die wie selbstver­ ständlich neben „Walzer“, „Polonaise“, „Polka“ und anderen Standard-Gesell­ schaftstänzen des 19. Jahrhunderts aufgeführt wird. Vom Negerständchen (Ar­ thur Pryor: A coon band contest) gibt es laut Hofmeister-Handbuch Bd. 12 (1898-1903) Arrangements in zahlreichen Besetzungsversionen, vom Hambur­ ger Verlag Benjamin vertrieben. Die Deutsche Grammophon-AG bietet sogar noch eine zweite Einspielung an, von der Kapelle des „Westf. Pionier-Bat. No. 7“ unter der Leitung des Kgl. Musikdirektors Alex Hubert, Köln-Deutz. Obwohl die deutschen Tanzbezeichnungen es nicht immer deutlich machen: Es kommen eine ganze Reihe amerikanischer Cakewalk-Ragtimes hier an und werden nachhaltig rezipiert. So geht es etwa mit Perman ’s Brooklyn Cake Walk (von T. W. Thurban, 1899): In der deutschen Cover-Version nennt er sich Schat­ zerl, ich möchte gern ein Automobil mit der Tanzbezeichung „Automobil Rhein­ länder“. Etwas später, um 1908, verwandelt sich „Schatzerl“ in „Schorschl“. Als der Börsenspekulant Friedberg 1908 nach einer Pleite mit seiner Freundin zu­ sammen im Automobil flieht, wird das Ereignis als Couplet nach der Melodie des Brooklyn Cake Walk vermarktet: Schorschl, ach kauf mir doch ein Auto­ mobil. 18 Das formale Design entspricht der mehrgliedrigen Reprisen-Form des 19. Jahrhunderts: mehrere Perioden mit unterschiedlichem thematischem Materi­ al und einigen Wiederholungen, mit deutlichen Teilen zum Tanzen und zum Sin­ gen. Synkopierte Melodiephrasen verweisen auf die Ragtime-Basis der Musik. Aus dem Jahr 1903 stammt ein weiterer US-Import-Cakewalk, der in Deutschland als Polka präsentiert wird, aber von seiner Synkopierung her ohne weiteres seinen Cakewalk-Ursprung verrät: A wise old owl (M: Theodore F. Morse, T: Edward Madden, 1903). Lotte, du süße Maus, so klingt’s in deutsch, wird ähnlich wie das „Schatzerl mit dem Automobil“ ein Evergreen aus der Kai17 Günther (wie Anm. 9), S. 112. 18 Lotz (wie Anm. 13), S. 189.

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serzeit - und ein Stein des Anstoßes für den „Kampf gegen die musikalische Schundliteratur“, wie sie etwa der Lehrer Anton Penkert unter Zuhilfenahme bescheidener musikanalytischer Argumente vorträgt. Ihm mißfällt, daß die Be­ schreibung der Sehnsucht eines Liebenden seiner Meinung nach so unsäglich banal als Text wie als musikalische Begleitung formuliert wird.1'* Aufgrund der Veröffentlichungsdaten scheint es naheliegend, den Höhe­ punkt der Cakewalk-Begeisterung europaweit etwa um 1903 anzusetzen. In London gastiert 1903 die erste Cakewalk-Truppe (mit den renommierten schwarzen Tänzern Walker & Williams) in dem Musical „In Dahomey“ (UA 1902 in New York). Der enorme Erfolg - das Stück läuft sieben Monate in Lon­ don - löst vermutlich die europäische Cakewalk-Welle aus. Weitere amerika­ nische Cakewalk-Gruppen gastieren in Europa, darunter 1903 auch in Berlin.19 20 Ein eher komisches Relikt aus dieser Zeit, das unzweideutig auf den ModeCharakter des Cakewalk hinweist (sozusagen als eine intermediale Referenz), präsentiert das Filmehen „Cakewalk Infernal“, das George Melies, der franzö­ sische Stummfilmpionier, ebenfalls 1903 gedreht hat und als exotisch-teuflische Angelegenheit seinem Filmpublikum präsentiert. Und auch aus dem Jahr 1903 stammen zahlreiche Cakewalk-Kompositionen von deutschen Komponisten. Nachdem Lehar bereits 1902 in seine Operette „Der Rastelbinder“ einen Cake­ walk einfügt, gelingt Paul Lincke 1903 ein recht passabler Erfolg mit dem Einzel­ titel Negers Geburtstag. Coon ’s Birthday, der in seinem musikalischen Zuschnitt den amerikanischen Vorlagen weitgehend entspricht, obgleich ihm keine son­ derlich inspirierten Melodieerfindungen gelungen sind.21 Weitere Beispiele gibt es u.a. von Jean Gilbert {Cakewalk aus „Der Prinzre­ gent“, 1903), von R. Schräder {Der Cake-Walk oder Kuchentanz), von Otto Teich {Hänschen undFränzchen. Amerikanischer Cake-Walk, op. 378), wie auch von dem bereits verstorbenen Josef Strauß, dessen Bearbeiter Ernst Reiterer aus Aktualitätsgründen einen Cakewalk in die posthume Kompilations-Operette „Frühlingsluft“ (1903) hineinbastelt - führende Vertreter der Zunft also, die den neuen Trend wittern und sich bemühen, den Anschluß nicht zu verpassen. Robert Vollstedt bietet 1903 mit dem „humoristischen Cake Walk“ Eine fidele Neger-Hochzeit, op. 215, eines der charakteristischen Beispiele für die wohl­ 19 Anton Penkert: Das Gassenlied. Eine Kritik. Leipzig 1911, S. 54. 20 Eichstedt/Polster (wie Anm. 16), S. 15 21 Vgl. Fred Ritzel: „Negerständchen“ - Uber amerikanische Einflüsse auf die Tanz- und Unter­ haltungsmusik der wilhelminischen Ara. In: Anke Bingmann/Klaus Hortschansky/Winfried Kirsch (Hg.): Studien zur Instrumentalmusik (Festschrift Prof. Dr. L. Hoffmann-Erbrecht). Tutzing 1988; Fred Ritzel: „Hätte der Kaiser Jazz getanzt ..." US-Tanzmusik in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Sabine Schutte (Hg.): „Ich will aber gerade vom Leben singen ..." Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weima­ rer Republik. Reinbek 1987.

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wollend-herablassende Verachtung schwarzer Musikkultur, wie sie im Zusam­ menhang kolonialistischer Arroganz in Deutschland häufig zu beobachten war. In diesem Stück singt „der Neger“, allerdings nur auf „La-la-la“ und „O No No No“, und er lacht sein „Negerlachen“ „Hi hi hi“ chromatisch abwärts, dazu mit einer äußerst bescheiden erfundenen musikalischen Substanz, unterstützt von etwas deplazierten „Neger-Kastagnetten“ - und all dies versteht Vollstedt als „humoristisch“. Debussy liegt 1907 mit seinem Golliwogg’s cake walk durchaus im Trend, seine fantasievoll-groteske Version des populären Modells hält sich an das for­ male Schnittmuster und die besonderen idiomatischen Charakteristika (Cake­ walk-Synkopenmuster). Und er nutzt die Chance, in einer höchst unfeierlichen Kontamination über Tristan-Zitate gleich seine Anti-Wagner-Haltung und seine „Kritik am metaphysischen Anspruch der deutschen Musik“ (wie es Adorno nennt)22 in das Stück einzubauen. Anstoß für diese Komposition gibt Sousa, den Debussy 1903 hört und seine Cakewalks etwas ironisch bewundert. (Golliwogg nennt sich eine 1895 geschaffene und damals sehr beliebte Spielzeug-Neger­ puppe.) Nach 1910 kommt es zu einer Art Renaissance des Ragtime-Tanzens, ver­ mutlich hervorgerufen durch den weltweiten Erfolg von Irving Berlins Alex­ ander’s Ragtime (Band). Ragtime als Tanztyp bleibt dann einige Jahre im deut­ schen Tanzrepertoire - der Cakewalk ist bereits weitgehend vergessen - , um Anfang der 20er Jahre allmählich zu verschwinden. Foxtrot, Shimmy und Char­ leston lösen ihn ab. Bevor ich zu den Südamerika-Importen komme, noch ein letzter nordame­ rikanischer Tanz, der allerdings nicht aus dem afro-amerikanischen Kontext stammt, sondern aus den feinen Kreisen der Neu-England-Staaten.

Valse Boston Die neue, elegante Art des langsamen Walzertanzens stellt eine deutliche Reak­ tion auf die lange Zeit des schnellen Walzerdrehens Wiener Provenienz dar. Entstanden in den 70er und 80er Jahren in den USA, erreicht der Valse Boston um 1903 England und Frankreich, sozusagen in Konkurrenz zu den afro-ame­ rikanischen Ragtime und Cakewalk. In London müht sich die „Keen Dancer’s Society“ um seine Verbreitung, sie nennt sich später Boston Club. Tanzlehrer beginnen etwa um 1907 mit dem Unterricht im Valse Boston. Um 1912 gibt es 22 Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. 12 theoretische Vorlesungen. Frank­ furt/M. 1975, S. 187.

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die ersten deutschen Boston Clubs, unter anderem in Berlin, Hamburg und Düsseldorf.23 Wie auch für die anderen modernen Tänze der Jahrhundertwende ist für den Boston im Unterschied zu den älteren Modetänzen des 19. Jahrhunderts charak­ teristisch, daß er - obwohl aus der Walzertradition kommend - als Vorwärts­ tanz fungiert (entstanden aus den Übergangsschritten beim Linksherum-Tanzen des Walzers). Das neue, moderne Tanzen nach vorne ist die zentrale stili­ stische Neuerung - ein sanftes, ruhiges Gleiten. Oft nutzt man noch in Ermange­ lung geeigneter Musiken den alten schnellen Walzer, auf dessen Musik der Bo­ ston ausgeführt wird (drei Schritte in zwei Takten als eine Einheit, daher eine langsamere Tanzbewegung), auch genannt Boston américain, Zögerwalzer, Valse Hésitation. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wird Boston stets nach den spezi­ fischen langsameren Walzern, den Valses Boston getanzt. Zeitgenössische Tanzfachleute erklären den Boston-Erfolg mit einem Wech­ sel in der Auffassung von „Grazie“. Nicht mehr das frühere Drehen und Hop­ sen, sondern das ruhige Dahingleiten dominiere. „Unsere ganze Sensibilität ist eine feinere, kompliziertere geworden, wir können uns heute unmög­ lich noch mit der etwas mechanischen Tanzweise begnügen, mit dem etwas banalen Rhythmus; er interessiert uns nicht mehr; wir haben daher den Tanz komplizierter gemacht, ihm eine größere Be­ wegungsfreiheit verliehen; wir tanzen künstlerischer und gehen viel mehr auf die Intentionen der Musik ein, einer Musik, die vielleicht weniger gut komponiert, doch viel nervöser ist als die alten hm-ta-ta-mh-tata-Walzer.“24

Berühmte Boston-Musiken kommen gar aus dem Bereich der Semi-Kunst­ musik. So der Apachentanz von Jacques Offenbach oder der Valse Boston aus dem Ballett „Die Millionen des Harlekins“ von Richard Drigo (1909).

Tango Von den Tänzen, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aus Südamerika nach Europa kommen, hat sicherlich der Tango die größte Bedeutung erlangt. Selbst heute noch, nach fast 100 Jahren Tangogeschichte in Europa, findet er als einzi­ ger Modetanz aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Interesse und glühende Verehrung. Und als soziales Phänomen scheint er in den 1980er und 1990er Jahren zu seinen europäischen Anfängen zurückzukehren: Er bewegt nicht die breite Masse, sondern findet Anklang in spezifischen Zirkeln bei Studenten,

23 Helmut Günther/Helmut Schäfer: Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Ge­ sellschaftstanzes. Stuttgart 21975, S. 235. 24 Koebner/Leonard (wie Anm. 7), S. 14-15.

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Intellektuellen, Bildungsbürgern, sozusagen im Selbstverwirklichungs- und Niveaumilieu.25 Seine argentinische Genese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts of­ fenbart die Erfolgsgeschichte einer multikulturellen Symbiose vielfältiger Her­ kunft, jedoch unter Dominanz europäischer Unterhaltungsmusiktraditionen. Es entsteht eine spezifische Tanzmusikkultur der argentinischen Großstadt­ slums mit charakteristischen Tanzformen, mitreißender Musik und eindrucks­ vollen Texten, zunächst im Lunfardo, der regionalen Gaunersprache, dann im südamerikanischen Spanisch. Der Sprung nach Europa ge­ schieht höchst prosaisch, als Neben­ wirkung einer musikindustriellen Aktivität. Nach der Jahrhundertwen­ de scheint sich in Argentinien ein Ab­ satzmarkt für Schallplatten und No­ ten zu entwickeln, nicht zuletzt über den argentinischen Erfolg der Rag­ time-Musik, die zum Cakewalk er­ klingt und interessanterweise aus Frankreich importiert wurde.26 Jun­ ge bürgerliche Kreise begeistern sich für die aufwühlende Musik der Vor­ städte, besuchen die Bordelle und Bars und fragen Musikwaren nach. Da entsprechende Technologien in Argentinien jedoch noch nicht aus­ Ahb. 2: Cover des noch heute bekannten Tangos reichend vorhanden sind, reisen ar­ „El Choclo“ (= Der Maiskolben), 1905 von A. Villoldo in Argentinien komponiert, 1912 für den eu­ gentinische Musikerum 1907 zwecks ropäischen Markt gedruckt. Schallplattenaufnahmen nach Paris. Paris war von jeher das kulturelle Mekka der argentinischen Bürgersehnsüchte, und die merkwürdigen Tanz- und Musikkünste der Argentinier finden in Paris aufmerksame Ohren und plötzlich großes Interesse. Was diese Argentinier vor­ führen, entfacht eine regelrechte Mode in den feinen Kreisen der Pariser Jugend. In den Lokalen entstehen spontan kleine Tanzflächen, die Tanzlehrer bemühen sich um die adäquaten Regeln, Wettbewerbe werden veranstaltet, und recht schnell verbreitet sich in den nächsten Jahren die Tangomanie über Europa und 25 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/ New York 1992. 26 Willy Olliver/Tomäs Mooney: Begleittext zur Schallplatte „Jazz and Hot Dance in Argentina. Volume One“, HQ 2010.

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von da aus auch nach Nordamerika (hier aber schon recht reduziert). Auch Rußland wird vom Tangofieber angesteckt. Die Diffusion des Tangos aus den Aufnahmestudios heraus, über Tanzvor­ führungen, Tanzunterweisungen, das eigene Ausprobieren und Nachmachen in den Tanzlokalen, die Möglichkeiten des Platten- und Notenkaufs: Die Maschi­ nerie der Musikindustrie läuft an und bringt auf verschiedenen Kanälen das richtige Angebot zum richtigen Zeitpunkt. Der besondere musikalische Reiz entsteht wohl durch die raffinierte Mi­ schung altbekannter Traditionen: Polka, das neapolitanische Tanzlied, die schon länger bekannte Habanera scheinen durch, werden gebrochen von einer inten­ siven, oft melancholischen, aber auch mit lustigen Wendungen ausgestatteten melodischen Struktur. Die Spezifik des Tango manifestiert sich jedoch nicht so sehr in der Musik, sondern vielmehr im charakteristischen Tanzen. Musikalisch fällt es schwer, den frühen Tango von der Habanera, der Danza und anderen Musiken mit ähnlichen synkopischen Rhythmusmodellen zu unterscheiden. Die europäische Tangowelle erreicht 1912/13 ihren Vorkriegs-Höhepunkt. In allen Metropolen herrscht die Tango-Mode, ein regelrechtes Merchandising etabliert sich rund um den Tango: Mode (Stoffe, Blusen, „jupes culottes“ = Hosenrock, 1911 von Paul Poiret kreiert etc.), Farbe, Parfums, Gebrauchsge­ genstände wie Bleistifte oder Postkarten, Events (Tangotee) u.v.a.; Tango wird umfassend vermarktet und ein wichtiges Symbol feiner Kultur (so verkehrt im Sommer ein „Tangozug“ zwischen dem feinen Badeort Deauvillc und Paris).27 Auch die deutschen Komponisten versuchen sich, so wie vorher mit den nordamerikanischen Tanztypen, nun mit dem „original argentinischen Tango“: Walter Kollo bringt 1913 El Sabo für seine Posse „Wie einst im Mai“, Richard Ellenberg Die Schönen von Santa Fe (topographisch etwas daneben geraten), beide als Tanznummern oder Charakterstücke ohne Text. Von Franz Lehar kommt um 1914 der Tango La Plata. In Jean Gilberts „Thalia-Tango“ Ich tanz’ so gern den Tango (aus der Posse „Die Tango-Prinzessin“, 1913) zeigt sich die einsetzende Nivellierung des Musikmarkts, formal folgt das Stück dem Strophe-Refrain-Muster der üblichen populären Schlager. Es versagt sich die mehr­ periodische Struktur des argentinischen Tango (wenigstens drei Perioden mit verschiedenen thematischen Gestalten, meist auch mit Wechsel des Tonge­ schlechts). Hier bleibt das ganze Stück in der Dur-Grundtonart F. Ausschlag­ gebend für die musikalische Charakteristik „Tango“ ist allein das Begleitmuster im Habanera-Rhythmus. Als weiteres Indiz für Rücksichten auf modische Un­ terhaltungsmusikbedürfnisse (oder vielleicht auch Gewohnheit bzw. Unvermö­ gen) wären einige Stellen des Melodieverlaufs zu nennen, an denen recht affek­ 27 Vgl. Simon Collier u.a.: Tango. Mehr als nur ein Tanz. München 1995, S. 77.

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tiert akkordfremde Töne auf Takt-Schwerpunkten eingesetzt werden. So endet eine Textzeile auf dem damals nicht gerade üblichen Ruhepunkt einer großen Sept zum Tonikaakkord. Oder im Refrain eine ausgehaltene Spannungsnote auf der None der zweiten Stufe, analog antwortet dieser Phrase an entsprechender Stelle die None zur Tonika. Und es gibt weitere ähnliche Beispiele von recht spitzfindigen Reiztönen, die den Anspruch erlesener Originalität etwas allzu auffällig vor sich her tragen. Der Text verweist in selbstreferentieller Hysterie auf seine aktuelle Erfolgsgeschichte: Vers 1: Einstmals man sein kleines Mädel packte auf zum frohen Walzertakt!

Die noch ältere Garnitur tanzte Polka nur! Dann die letzte Sensation der Bälle war der Wackler guter Ton! Fragst du heut’ dein Mägdelein gesteht sie ein:

Vers 2: Tangofieber alle hat ergriffen, selbst in finstern

Felsenriffen, jedes Land und jeder Stand ist aus Rand und Band! Ob sie Lady oder ob Prinzessin, höh’re Tochter oder Magd,

mag sie alt, mag jung sie sein gesteht sie ein:

Refrain: Ich tanz’ so gern, ich tanz’ so gern den Tango,

man träumt so süß, man träumt so süß beim Tango! Wie Rosen glühen purpurrot die Wangen, das Herz es springt vor Seligkeitsverlangen! Ich tanz’ so gern, ich tanz’ so gern den Tango, man träumt so süß, man träumt so süß beim Tango!

Wie Rosen glühen purpurrot die Wangen, bei dem Tanz, bei dem Tanz, bei dem Tango Tango Tangotanz!

Auffällig, daß dieser Tango das Tango-Tanzen in einer Weise thematisiert, als sei er die eigentliche Sensation der Gegenwart, als eine moderne, neue Angelegen­ heit, dazu offenbar gesellschaftliche Schranken überschreitend, eine klassenlo­ se Unterhaltung. Vielleicht ein frommer Wunsch der Macher, daß ihr Publikum im Unterhaltungs-Theater diese Aussage als unwahrscheinliche Perspektive bestaunt. In der Realität bleibt es bei der säuberlichen Distinktion von feinen und weniger feinen Nutzern der modernen Unterhaltung.

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Gilberts Tango fällt nicht heraus aus dem Standard, andere deutsche Tango­ botschaften lauten ähnlich. Etwa von Hugo Hirsch (Text und Musik), 1914: Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein: Versl

Vers 2

Der Tanz in frühem Zeiten, das läßt sich nicht bestreiten, war wirklich etwas nüchtern, man war da noch zu schüchtern. In Menuett, Gavotten, im Walzertakt, im flotten, selbst wenn man Polka hopste, das Menschenkind sich mopste. Beim Cakewalktanz der Neger war schon die Stimmung reger.

Es blüht im Tanzgewimmel Berlin der Tangofimmel. Auf deinen Bummelreisen hörst du nur Tangoweisen. Auf allen Straßen, Wegen

Man kam auf seine Kosten

Beim Twostep und beim Boston. Doch noch bedeutend lieber da wackelte man Schieber, bis daß expreß der Tango kam und uns in Fesseln nahm.

Vers 3

grüßt ein Plakat entgegen,

wo Tango wird empfohlen -

Es ist zum Teufel holen. Zu Haus jedoch nicht minder

tanzt Tango Frau und Kinder. Du siehst selbst hinterm Ofen Großmüttern Tango schwofen. Dir brummt wie eine Hummel der Kopf im Tangorummel, bis daß als Kluger nach du gibst und selbst Tango schiebst.

Refrain:

Seit Tango uns bekannt ist,

Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein,

Berlin ganz plümerant ist. Es wird der Großberliner zum Tangoargentiner.

beim Tango, da tanzt man in ihr Herz hinein.

Selbst dort, wo Tempelhof ist, der Tango jetzt sehr schwof ist.

Der Tango ist mal heute der Tanz für bess’re Leute. Tanzt Schieber Donna Rieke, ruft Senor Ede: „Stieke“. „Paß uff und häng’ dir, Kleene,

man in die Tangobeene.“ Bald kann man beide sehen

sich argentinisch drehen; auf Tango hat der Ede Mumm für’n Groschen einmal rum.

Im Tango, da kann man selig sein zu zwei’n.

Auf Tango, auf Tango fällt jeder sicher rein.

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Er handelt von denselben Botschaften, wie sie auch Gilberts Lied propagiert, nur daß vielleicht die erotische Komponente eine etwas stärkere Betonung fin­ det. Und es gibt einen interessanten Hinweis auf die Konkurrenz der moder­ nen Tänze, denn Tango sei den etwa gleichzeitigen Bostons, Cakewalks, Twosteps und Schiebern überlegen an Aktualität und Qualität. klusivität des Tango, unterstreicht seine besondere Fähigkeit, soziale und kul­ turelle Distinktion zu demonstrieren. Ein charakteristischer Bericht über ein Tangotanzpaar von K. Schwabe mit dem Titel „Tangorausch“ (aus dem „Kunst­ wart“ von 1914) lautet: „Die zwei benehmen sich wie Rechenmaschinen, sie sind todernst, um ihre Lippen schwebt immer ein Heer von Zahlen, es ist Mathematik mit verlogen erotischem Einschlag. Temperament ist un­ möglich, weil der Vorgang kühlste Überlegung verlangt; die Bewegung, mit der die Dame sich an des Herren Brust wirft, ist lediglich Symbol, wenn sich Schoß an Schoß preßt, so merkt man: Jetzt würde es in der gesegneten Heimat des Tango schwül! Aber hier bleibts hundeschnäuzig, weil die nächste Figur zu überlegen ist.“28

Tango hat nicht nur die Komponisten der populären Musik, der Unterhaltungs­ musik beeinflußt, auch einige Vertreter der Kunstmusik begeistern sich für die Rhythmen aus Südamerika. Nicht nur Bizet findet Gefallen an der Habanera, 1892 schon gibt es einen Tango von Isaac Albeniz (noch heute wird er von Tangoorchestern gespielt!). Auch Ravel komponiert einschlägige Beispiele, wie die Habanera Sites auriculaires (1895/96), die Vocalise-Etude en forme d’Habanera (1907) und aus dem gleichen Jahr die Nr.3 Habanera aus der „Rhapso­ die espagnole“ (1907). Sicher ist es kein Zufall, daß gerade zum Zeitpunkt der anlaufenden Tangowelle diese charakteristischen südamerikanischen Rhythmen Interesse erwecken. Ähnliche Stücke wären von Debussy zu nennen, auch Erik Satie hat mitgehalten mit seinem Le Tango (perpetuel) aus „Sports et Diver­ tissements“ (1914). Interessant ist zweierlei: Einmal stammen diese Beispiele alle aus der euro­ päischen Filiale Argentiniens, aus Frankreich, zum anderen liegen sie durchaus zeitlich parallel zur populären Tangobegeisterung ihrer feinen Referenzkreise; die Komponisten unterstreichen ihre Aktualität. Zeitgleiche Kunstmusik-Tangos aus Deutschland sind mir nicht bekannt. Erst in den 20er Jahren öffnen in Deutschland die jungen Komponisten ihre Ohren in nicht-akademischer Rich­ tung und verarbeiten recht begeistert das neue Potential an interessanter Tanz­ musik aus der Neuen Welt. Tango hat möglicherweise seinen Erfolg daraus gezogen, daß er neue For­ men des öffentlichen Ausdrucks von privatem Leiden, von erotisierter Kom28 Eichstedt/Polster (wie Anm. 16), S. 34.

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munikation, von öffentlich formulierbarer Leidenschaft ermöglicht hat. Der Wechsel aus den großstädtisch-proletarischen Hafenbezirken von Buenos Aires in die feinen, international ausgerichteten Kreise der europäischen Gesellschaft (dies strahlte übrigens nach Argentinien zurück) scheint komplementär zu den bürgerlichen Umgangsformen ein zwar symbolisches, aber doch von starken Gefühlen getragenes Ausleben erweiterter sinnlicher Genußbereiche darzustel­ len. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß der frühe Tango, auch in Europa, noch nicht derart stark melancholisch, traurig und beherrscht-klagend ausge­ führt wird wie später in den 20er und 30er Jahren.29 Auffallend ist die Tatsache, daß gerade in der Vorkriegszeit, die sich durch­ aus krisenhaft als solche bemerkbar macht, der Tango erfolgreich ist. Und dies gerade in Europa mit seiner Untergangsstimmung in Hinblick auf die noch herr­ schenden alten Regierungssysteme und deren Ideologien (Österreich, Rußland, Deutschland usw.). Den Tango tanzt vor allem die herrschende Klasse, noch nicht die Masse des Mittelstandes und schon gar nicht das Proletariat. So läßt sich auch erklären, warum (falls es stimmt) offenbar in den USA der Tango keine besondere Rolle spielte. Vielleicht gab es dort nicht diese spezielle europäische gesellschaftliche Situation und Vergangenheitsbewältigung wie in der Alten Welt mit ihren im Tango aufgehobenen „alten Großgefühlen“, nicht die in Europa spürbar fatalistische Grundstimmung.30 Aus Südamerika kommen noch weitere Tänze nach Europa, jedoch nur mit kurzfristigem Erfolg. Am bekanntesten wird ein Vorläufer des brasilianischen Samba, die Maxixe, zeitlich etwa parallel, vielleicht sogar etwas früher als der Tango. Musikalisch stammt sie von der Habanera ab, ähnelt der Milonga (die gelegentlich auch als brasilianischer Tango bezeichnet wird), einer schnelleren, fröhlicheren Tangovariante, mit einem Wechsel vom Marsch-Pattern zu einem Synkopenpattern (Typ „Hey Mr. Banjo“), dazu gelegentlich synkopierte Melo­ diephrasen. Und so wird ein entsprechender Tanztitel, nämlich der 1913 in Deutschland präsentierte Estragadäo (von Esteban Ricardo) als „Tango brazileiro“ bezeichnet. Die besondere Synkopierung des Begleitmusters im dritten Teil dieses Tangos benutzt auch der junge Willy Rosen (1894-1944, gest. in 29 Vgl. Fred Ritzel: „Schöne Welt, du gingst in Fransen!“: Auf der Suche nach dem authentischen deutschen Tango. In: Bernd Hoffmann/Winfried Pape/ Helmut Rösing (Hg.): Rock/Pop/Jazz im musikwissenschaftlichen Diskurs. Ausgewählte Beiträge zur Popularmusikforschung. Ham­ burg 1992,S.43-6Q. 30 So äußert sich die New York Times 1914 ironisch: „Von der Villa Montmorency aus eroberte der Tango Europa. Verschlungene Paare vollführten mit starren Schultern die langsame argen­ tinische Promenade. Korpulente Herren schoben sich, im rechten Winkel zu ihren Partnerin­ nen, mit gleitenden Schritten dahin. Dann und wann hielten sie abrupt inne, hoben einen Fuß und inspizierten die Sohle, als wären sie gerade in etwas Schreckliches getreten.“ Zitiert nach Collier u.a. (wie Anm. 27), S. 81.

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Auschwitz) 1914 in seiner „Maxixe Brésilienne“ Tabarin (vielleicht nach einem der neuen Berliner Tanzlokale benannt). Gleichwohl gestaltet sich die europäische Rezeption der Maxixe etwas ver­ wirrend, denn neben der eben beschriebenen brasilianischen Form mit Synko­ pierungen gibt es offenbar auch eine reine Marsch-Version. Als Beispiel dafür der Titel La Matchiche {Maxixe) von Charles Borel-Clerc, annonciert als „cé­ lèbre marche sur les motifs populaires espagnols“ (wie von Mayol damals ge­ sungen) - ein auch noch heute bekanntes Stück, allerdings im Stil der flotten spanischen Märsche und ohne afro-amerikanische Komponenten. Diese frühe brasilianische Botschaft blieb nur vorübergehend bis zum Be­ ginn des Ersten Weltkriegs in Mode. Der nächste Versuch der Musikindustrie, den Samba in Europa zu etablieren, kommt in den späten 20er Jahren. Weitere lateinamerikanische Importe, insbesondere die Rumba, folgen dann schnell.

Bedeutungselemente Zusammenfassend seien einige Aspekte der neuen Tänze und ihrer Musik vom amerikanischen Kontinent akzentuiert. 1) Die neuen Tänze haben oft einen ausgeprägten Hang zur selbstreferen­ tiellen Propaganda, fast hysterisch loben sie sich selbst, betonen ihre Notwen­ digkeit und ihre gewaltigen Leistungen. Stolz auf die Moderne, auf ihre Errun­ genschaften auch im Bereich der Unterhaltung prägt die Botschaften der Un­ terhaltungsindustrie; dieses unterschwellige kommerzielle Selbstbewußtsein ver­ weist auf den engen Zusammenhang von Werbung für sich und Affirmation des gesellschaftlichen Umfelds, das diese Unterhaltungspraxis ermöglicht und her­ vorbringt. Dieses Umfeld wird zwar dynamisch beschrieben, jedoch im Sinne einer hysterischen Weiterentwicklung durch die moderne Unterhaltungswarenwelt.31 31 Einige Beispiele für die selbstreferentielle Praxis vieler Tanzmusiktitel: 1897 Kerry Mills: At a Georgia Campmeeting’, 1898 Will Marion Cook: „Clorindy - The origin of the Cake Walk“ (Musical); 1912 Jean Gilbert: Two Step schiebt man heut, aus der Posse „Autoliebchen“; 1913 Jean Gilbert: Ich tanz' so gern den Tango, aus der Posse „Die Tango-Prinzessin“; 1914 Hugo Hirsch: Mit Tango fängt man kleine Mädchen ein. W Aletter/Theo Oppermann: „Der Wackeltanz“: Wo man hinkommt heutzutage, Ballhaus oder Halensee, Neukölln oder Hasenheide, draußen an der Oberspree, überall an allen Orten und ein Jeder einzige kann’s, hört und sieht man jetzt den schönen und beliebten Wackeltanz. Fängt die Musik zu spielen an, dann singt gleich Jedermann: Komm, mein kleiner Schnackelfranz, tanzen wir mal Wackeltanz, komm mein Schatz, nicht lang gefackelt, immer feste los gewackelt. Komm, mein kleiner Schnackelfranz, tanzen wir mal Wackeltanz, einmal hin und einmal her, siehstc wohl das ist nicht schwer.

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2) Das Lob der Moderne, der Jubel über die neue Zeit scheint bestimmte Sektoren des populären Lieds der Gründerzeit zu bestimmen. Gerade auch mit den amerikanischen Botschaften lassen sich solche Neuerungen verbinden: Da gibt es immer mal wieder den Freudentaumel um die Errungenschaften der mo­ dernen Technik, sei es das Automobil (Thurbans SchatzerF) oder das Tandem (Dacres Tandem-Walzer Daisy), das Flugzeug (Flieg, du kleine Rumpler-Tau­ be, flieg in meine Wolkenlaube, aus Jean Gilbert: „Püppchen“, 1912) oder atem­ beraubende Reisen (Jean Gilbert: „Die Reise um die Erde in 40 Tagen“, 1913) und die neue Sensation Kino (Jean Gilbert: „Die Kino-Königin“, 1913; Walter Kollo: „Filmzauber“, 1913). Auch die Telekommunikation gelangt zu musika­ lischen Ehren: I guess, I have to telegraph my baby, Coon Song (Text und Mu­ sik: Geo M. Cohan, 1898); oder den Song: Hello, ma baby, Ragtime-March und Schottische, Text/Musik: Howard & Emerson, 1899. Die Liste läßt sich belie­ big erweitern. Die moderne amerikanische Unterhaltungsmusik fügt sich nahtlos ein in das Geflecht von Technologieentwicklung, Kommunikation, Handel und Unterhaltungindustrie. 3) Mit den neuen Tänzen verändern sich auch die Umgangsweisen. Es ent­ steht sozusagen eine eigene Tanzkultur, die gepflegte Freizeitunterhaltung mit der spezifischen Kommunikationskultur der Snobs und Dandys männlicher und weiblicher Ausführung verbindet. Diesem Netzwerk gehören Musik, Tanzfor­ men, Mode, Verhaltensstile und andere Elemente an und bedingen einander. Das gesellschaftlich Wirksame dieses Tanzmilieus besteht wohl in einer Struktur sozialer Distinktion. Tanzen im Café wird ermöglicht, eine Tanzfläche entsteht, Tangotees finden statt, Tangobälle und andere modische Veranstaltungsformen bieten die Gelegenheit zur Präsentation von (teilweise einfach tanztechnisch notwendigen) Tangokleidern und Tangofrisuren. Es gibt Wettbewerbe und Tanzturniere (z.B. Dezember 1907 in Nizza für den neuen Tango), Tanzlehrer unterrichten die Modetänze, Hotels stellen Tanzlehrer ein zur Unterrichtung ihrer Gäste. Mit dem „Tangozug“ kann man stilsicher aus Paris nach dem fei­ nen Deauville fahren. Und es entstehen Tanzlokale, in Berlin etwa 1912 das „Palais de Danse“, in dem moderne Tanzkapellen moderne Tänze anbieten. 4) Nur sehr zwiespältig läßt sich die Frage der „Demokratisierung“ durch das neue Tanz- und Musikgeschehen beantworten. Die kommerziell bedingte tendenzielle Breite der Zugangsmöglichkeiten zum Unterhaltungsgeschehen kann nur als triviales Argument gelten. Das Angebot ist real breit und für jeden abrufbar, dies jedoch nur theoretisch. Wie bereits oben angeführt, wirken bei vielen neuen Tänzen und Musiken die sozialen Distinktionsmechanismen. Dies betrifft die Nutzungsorte, die zur Verfügung stehenden Musiker, die Schwie­ rigkeit der Tänze, die sozialen Hierarchien, verfügbare Technologien (Gram­ mophon) u.a.m.

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Praktisch jedoch erobert sich die breite Masse der Nutzer - wie stets in der Geschichte (etwa beim Walzer) - durch die ihr gegebenen Möglichkeiten in spezifischer Weise die Gegenwart. Denn natürlich gilt auch für die Masse der unteren Schichten, daß die traditionellen Musik- und Tanzgewohnheiten ver­ blassen und neue Moden auftauchen. Was durch Twostep und Onestep aus Amerika kommt, läßt sich tatsächlich übernehmen, es ist einfach zu imitieren. So kommen die „Schiebe- und Wackeltänze“ hoch, musikalisch entweder leicht afro-amerikanisch eingefärbt (synkopierte Elemente bei Originalimporten) oder nur einfach tagesaktuelle Tanzlied-Musik europäischer (oder auch amerikani­ scher) Herkunft. 5) Die Spezifik des neuen Tanzens weist neben ihrer Vorwärtsricbtung - im Gegensatz zur alten Drehung (Walzer) oder zum geordneten Tanzspiel (wie Quadrille) - auch neue Eigenschaften auf, wie beispielsweise die stärkere Beto­ nung des Aspekts Erotik. Obwohl dies etwas schwierig zu beurteilen ist, da etwa der Walzer in dieser Hinsicht historisch auch gut mithalten kann. Tango wäre hier vor allem zu nennen, aber auch die „Schiebe- und Wackeltänze“ (auch auf sie richten sich die erheblichen Vorbehalte der offiziellen Moralwächter): Bei diesen Tänzen scheint die Symbolisierung des Geschlechtsakts - so legen es zumindest die Reaktionen von manchen Rezipienten und Tanzautoren nahe32 - ein wichtiger Gehalt der Tanzaussage zu sein. Und sie signalisieren einen gewis­ sen Sieg der Tanzpraxis der unteren Schichten, die ihre Ansprüche und Moti­ vationen des gemeinsamen Tanzens auf die feineren amerikanischen Originale des Twostep und Onestep übertragen und deutlich ihren Interessen anpassen. Manche der neuen Tänze haben einen pantomimisch-imitatorischen Ansatz, so die diversen Tier-Trots, aber auch der Cakewalk. Eine regelrechte Tierepi­ demie bestimmt die Tanzerfindungen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Als Varianten des One Step gibt es vor 1914 unter anderem: Bunny Hug, Judy Walk, Turkey Trot, Grizzly Bear, Cat Step, Fish Tail, Bullfrog Hop, Eagle Rock. Tanzen auf der Stelle - also heftige und charakteristische Körperbewegungenist bei derartigen Tänzen häufig notwendig. Und generell scheint sich als Trend abzuzeichnen, mehr Raum für Improvisation und individuellere Tanzausfüh­ rungen zu ermöglichen, d.h. die Schritt-Anwendungen und -Kombinationen bleiben der individuellen Entscheidung überlassen. Der Tanzschriftsteller Koeb­ ner schreibt 1913: „Der große Unterschied der heutigen Tanzkunst von der früherer Jahre ist folgender: man ist mu­ sikalischer geworden. Man behandelt die einzelnen Tänze nicht mehr schematisch, sondern indivi­ duell - man tanzt ausgesprochen nach der Musik und nützt jede Nuance der Melodien aus. So ist das Tanzbild von 1913/14 ein wesentlich erfreulicheres geworden, als es Vorjahren war. Der heu­ tige Tanzkünstlcr erstrebt als erstes Ziel völlige Ruhe, was der Uebergang vom Two Step zum One 32 Eichstedt/Polstcr (wie Anm. 16), S. 31.

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Step und von diesem zum Rag beweist - die Tänze mit den unruhigsten Schritten müssen am ru­ higsten und sichersten wirken. Schon aus diesem Grund erhellt, daß die ,Wackeltänze‘ von jeher nur Ausgeburten der erregten Phantasie von Nichttänzern gewesen sind.“”

6) W.K. von Jolizza, ein Wiener Tanzlehrer, beschreibt 1907 in „Die Schule des Tanzes“ genau die Schritte des Cakewalk und meint: „Dieser groteske, aus Amerika stammende Tanz, der entschieden mehr Anspruch auf Originalität als auf Schönheit machen kann, hat unbegreiflicherweise in allen Salons Einzug gefunden und sich auch schon über ganz Europa verbreitet. Einem Negertanz nachgebildet, liegt heut noch der Haupt­ reiz des Cakewalk in dessen charakteristischen Posen, während die plumpen Schritte und grotes­ ken Sprünge der Neger größtenteils durch moderne Tanzschritte ersetzt wurden.“'4

Also: der Tanz benötigte dringend Nachhilfe in Sachen Originalität und Schön­ heit, die Plumpheit seines schwarzen Urbilds erfordere unbedingt eine Moder­ nisierung. Bei allem Enthusiasmus für die afro-amerikanischen Tanz- und Mu­ sikbotschaften: Im Grunde bleibt die europäische Rezeption der Schwarzen in der Musik weitgehend geprägt von einem mehr oder weniger offenen Rassis­ mus, durchsetzt von dieser seltsamen Ambivalenz von Bewunderung urtümli­ cher, animalischer Vitalität und dem Bild einer restringierten Persönlichkeit, gesehen aus der herablassenden Perspektive des mächtigen Kolonial-Herrenmenschen.35 33In34den Sujets und Texten der Stücke gibt es häufig überhaupt keine Unterschiede zwischen den Schwarzen in Amerika und denen in Afrika, beide Situationen werden bunt, oberflächlich-karikierend durcheinander gewürfelt. Noch scheint die bösartig-rassistische Komponente undeutlich. Erst in den 20er Jahren entsteht ein starkes und von Bewunderung getrage­ nes Interesse an schwarzer Kultur bei vielen jungen Künstlern, die den zivilisa­ torisch reduzierten Europäer und seine künstlerischen Hervorbringungen für renovierungsbedürftig halten. Die Deutlichkeit und Stärke dieser Position ruft 33 Koebner/Leonard (wie Anm. 7), S. 28. 34 Zitiert nach Günther (wie Anm. 9), S. 109. 35 Beispiele gibt es viele. Einige seien aufgeführt: 1903 Robert Vollstedt: Eine fidele Neger-Hoch­ zeit, op. 215; ca. 1907 Rudolf Nelson: Meine kleine Braune (Text: Herman Klink), geschrieben für das Cabaret „Chat Noir“; 1911 Das Potpourri „Metropolitana“ von Otto Brinkmann ent­ hält von Maurice Scott: Nigger und Mädel (weißes Mädel sieht Afrikaner, ist begeistert und hei­ ratet ihn; Musik harmloses Polka- oder Rheinländer-Getrappel, keine afro-amerikanischen Ele­ mente); 1912 „Berlin wackelt“, Potpourri von Camillo Morena, op.123, enthält als Nr. 4 Kitty (Twostep), d.i. Harry Waldens Niggerständchen aus „Sein Herzensjunge“ von Walter Kollo (wobei die Artikulation von „Kitty“ stets Anlaß zu einer Synkope bietet und dies als das „Niggerische“ anzusehen ist); als Nr. 15 Down in Jungle Town von Theo F. Morse, 1908; 1913 Malongo vom Kongo, Tanz-Duett aus der Revue „Chauffeur! Ins Metropol!“ von Rudolf Nel­ son (der Neger Malongo erwartet mit seiner Frau den Berliner Schieber (!) in Neu Kamerun). Eine Ausnahme stellt das in Deutschland recht beliebte Lied Der Negersklave von Moritz Peuschel dar, eine sentimentale Schnulze im Gartenlaubenstil mit der bitteren Klage eines schwarzen Sklaven über sein Schicksal - ein Appell an die Tränendrüsen in der Nachfolge von „Onkel Toms Hütte“ und zugleich ein Vehikel zum Auslebcn moralischer Überlegenheit ge­ genüber den Sklaven haltenden Ländern.

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in der Weimarer Republik notwendigerweise den Widerstand der Konservati­ ven und Nationalisten hervor. Vor dem Ersten Weltkrieg war man von seiner eigenen Bedeutung völlig überzeugt, glaubte, den fortgeschrittensten Stand menschlicher Entwicklung zu repräsentieren, und verstand afrikanische und afro-amerikanische Kultur als exotisches Genußmittel, als Gebrauchselement eines gehobenen, international orientierten Lebensstils.

„Halb kriminalistisch, halb erotisch“: Presse für die „niederen Instinkte“ Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte Hartwig Gebhardt

Strukturwandlungen der Massenpresse um 1900 In seiner im Jahre 1905 veröffentlichten „Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters“ berichtet M.Th.W. Bromme über Lesestoffe der Arbeiter ei­ ner Fabrik in Gera um die Zeit der Jahrhundertwende. Er schreibt unter ande­ rem: „Meistens wurde (...) die .Berliner Illustrierte' und der .Reporter' von den Arbeitern gelesen. Als letzterer in Konkurs geraten war, kamen die meisten Abonnenten der ersteren zugute, während ein kleiner Teil die neugegründete .Gerichtszeitung' las, die hauptsächlich sensationelle Mordillustra­ tionen brachte. (...) Die 19-22jährigen gelernten Leute liebten wieder Kriegsgeschichten oder et­ was Pikantes, etwas, wo möglichst viel entblößte Weiber abgebildet waren, so das .Album', .Frauen­ schönheiten', .Das kleine Witzblatt', .Flirt', .Satyr' und .Sekt'.“'

Den „Satyr“, „Das kleine Witzblatt“ und den „Reporter“ („der seinerzeit auf rosa Papier gedruckt das Sensationsblatt der Reichshauptstadt war“) nennt auch ein ehemaliger Verleger, als er sich drei Jahrzehnte später an Zeitschriften erin­ nert, die um 1900 in Berlin im Straßenhandel vertrieben wurden.2 Fast alle die­ se Blätter - das sei schon jetzt angemerkt - wurden von damaligen Zeitgenos­ sen, die um die Erhaltung der öffentlichen Sittlichkeit besorgt waren, als schäd­ lich für Nation und Gesellschaft angesehen und häufig in einem Atemzug mit Kolportageromanen und Groschenheften genannt? Möchte man heute über die damals offenbar beliebten Zeitschriften Näheres erfahren und zieht die presse1

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Moritz Theodor William Bromme: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Leipzig/ Jena 1905. Zit. nach Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Band 1. Reinbek 1974, S. 293. „Der Zeitungshandel“ Nr. 8, 28.4.1930, S. 1. Auch bei Bromme ist an zitierter Stelle von „Hintertreppenromane(n), die auf jeder Seite ei­ nen Mord bieten“, als bei Jungarbeitern beliebtem Lesestoff die Rede. - Zur Kolportage- und Serienheftliteratur s. Georg Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 31, 1988, S. 163-191, und Günter Kosch/Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850 bis 1960. Stuttgart 1993.

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historische Literatur zu Rate, so wird man - mit Ausnahme der „Berliner Illustrirten Zeitung“, die hier auch nicht weiter interessieren soll - vergeblich su­ chen.4 Und nicht viel besser ergeht es einem, der Bestände dieser Blätter in deut­ schen Bibliotheken und Archiven zu ermitteln sucht. Berichte über Sensatio­ nelles, Sexuelles und Skandalöses haben diese und andere Blätter aus dem Kreis der für die Nachwelt erhaltenswürdigen Zeitzeugnisse weitgehend ausgeschlos­ sen. Dem Versuch einer Rekonstruktion des damaligen Angebots an Blättern, die sogenannten höheren Ansprüchen an eine „seriöse“ Presse kaum genügten, dennoch oder gerade deshalb auf ein breites Leserinteresse stießen, stellen sich allein schon deshalb erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Nur wenige vollstän­ dige Jahrgänge sind erhalten, und oft mußte der Verfasser schon zufrieden sein, wenn es ihm gelungen war, Einzelnummern aufzutreiben. Für mehrere Titel war nicht einmal das möglich. Die genannten Zeitschriften gehören zur Gruppe der Unterhaltungsblätter, unterscheiden sich aber hinsichtlich Inhalt und Aufmachung teilweise so sehr, daß es zunächst einmal ratsam ist, sie voneinander abzugrenzen und typologisch genauer zu fassen. Der Berliner „Reporter“ ist ein Sensationsblatt, wie man damals zu sagen pflegt, wird aber treffender durch den allerdings erst sehr viel später in Deutschland aufkommenden Begriff Sex-and-crime-Presse charakte­ risiert. Die erwähnte Gerichts-Zeitung ist nicht eindeutig identifizierbar, es dürfte sich aber um die Hamburger „Illustrirte Gerichts-Zeitung“ handeln,5 die als „Criminal-Reporter“ gegründet wurde und dem Berliner „Reporter“ typo­ logisch eng verwandt ist. Das „Album“ und die „Frauenschönheiten“ gehören zu einer Zeitschriftengruppe, deren Sensationen allein aus sogenannten Pikanterien bestehen, also hauptsächlich aus, wie es Bromme nennt, „entblößten Weibern“. Diese spielen auch eine wichtige Rolle in den unpolitischen Witz­ blättern „Das kleine Witzblatt“, „Sect“ und „Flirt“,6 während der „Satyr“, der sich ebenfalls als Witzblatt bezeichnet, „gehobene“ pikante Unterhaltung mit politischer Satire verbindet.

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Bezeichnend für den Umgang mit den Witzblättern nach Art der eingangs genannten, die nicht, wie die „Lustigen Blätter“ oder der „Simplicissimus“, zu den „besseren“ gezählt wurden, ist deren (Nicht-)Behandlung in der Münchener Dissertation von Henriette Moos: Zur Soziolo­ gie des Witzblattes (1915). Man könne die Titel nicht nennen, „ohne sich zu schämen“, denn „diese furchtbaren Nebenprodukte kleiner Verleger“ hätten „geradezu unser Jahrhundert Kom­ promittierendes geboten“ und würden, „was kompromittierender ist, auch gelesen“ (S. 60 f.). Die „Berliner Gerichts-Zeitung“ ist wahrscheinlich 1898 eingestellt worden, kommt hier aber ohnehin nicht in Betracht, denn sie war gegen Ende ihres Bestehens eine normale Tageszeitung. Ein weiteres Blatt gleichen Namens erscheint erst wieder ab 1907. Von der Zeitschrift „Flirt - Witzblatt für die vornehme Welt“ war kein Exemplar zu ermitteln. - Weitere damalige Blätter dieser Art sind u.a. „Faun“, „Die Grazien“, „Das kleine Album“, „TipTop“.

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Die Sexualthematik ist auch ein wichtiges Ingrediens einer Gruppe von Zeit­ schriften, die in den obigen Zitaten nicht vertreten ist, aber hier ebenfalls Be­ achtung verdient. Es handelt sich um großstädtische Wochenblätter, die zu ih­ rer Hauptaufgabe die Aufdeckung lokaler Skandale und Mißstände erklären, von ihren Gegnern aber mit dem abwertenden Begriff Skandal- oder Revolver­ presse bezeichnet werden. Da diese Zeitschriften ihren Stoff zu einem großen Teil aus Gerichtsverhandlungen und bevorzugt aus solchen mit sexueller The­ matik beziehen, kann man sie als eine Spielart der Sex-and-crime-Presse ver­ stehen; sie werden daher in die folgende Darstellung einbezogen. Es ist nicht nur die offensichtliche Beliebtheit beim damaligen Publikum, die es sinnvoll erscheinen lässt, Sex-and-crime-Zeitschriften, Witzblätter und großstädtische „Skandal“-Presse in Beziehung zueinander zu setzen. Gemein­ sam ist allen genannten Blättern auch, erst in den Jahren um 1900 gegründet worden zu sein und sich in Aufmachung und Inhalt als modern und von Tradi­ tionen unbelastet zu verstehen. Das kommt nicht zuletzt in der Sexualisierung des Inhalts zum Ausdruck, die diese Presse wesentlich prägt. Daraus wieder­ um leitet sich als weitere Gemeinsamkeit ab, bei vielen Zeitgenossen wegen des Verstoßes gegen die „guten Sitten“ und wegen des Mangels an „Takt und Ge­ schmack“ Anstoß erregt zu haben. Wenn die Blätter in zeitgenössischen Schrif­ ten namentlich erwähnt werden, was allerdings eher selten vorkommt, dann fast immer im Zusammenhang mit Forderungen nach ihrer Unterdrückung oder Meldungen über Beschlagnahmen und Verbote. Das Aufkommen einer periodischen Presse, die sich traditioneller journali­ stischer Ethik und Praktik nur noch bedingt verpflichtet fühlt, indem sie z.B. die herkömmlichen Grenzen zwischen Öffentlich und Privat nicht mehr respek­ tiert und durch systematische Tabuverletzungen die bis dahin weitgehend ver­ bindlichen Anstands- und Moralauffassungen zu unterlaufen sucht, ist allerdings kein auf nur eine Gruppe von Zeitschriften begrenzter Vorgang, sondern Teil eines Strukturwandels im gesamten deutschen Medienbereich, der schon von Zeitgenossen als zwar bedenklicher, aber kaum rückgängig zu machender Pro­ zeß verstanden wird.7 Eingeleitet wird er in den 1880er Jahren mit der Entste­ hung und Ausbreitung der sogenannten Generalanzeiger, billiger großstädti­ scher Tageszeitungen ohne parteipolitische Bindung, die den alteingesessenen Zeitungsverlegern und ihren Blättern einen scharfen Konkurrenzkampf liefern. Im Bereich der Unterhaltungszeitschriften ist die in den 1890er Jahren begin7

„Man darf eben nicht übersehen, daß Sensationsgier und Skandalsucht sich bereits seit einer Reihe von Jahren als distelartig wuchernde Giftpflanze in der Presse und weiten Leserkreisen eingenistet hat, und kein Mittel kann helfen, in welchem Sonderinteressen, Konkurrenzneid und Rücksicht auf den eignen Geldbeutel als gar zu gewichtige Faktoren eine ausschlaggeben­ de Rolle spielen.“ („Der Zeitungs-Verlag“, Magdeburg, Nr. 10, 5.3.1908, Sp. 327).

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hende und nach der Jahrhundertwende abgeschlossene Verdrängung der Fa­ milienblätter vom Typ der 1853 gegründeten „Gartenlaube“ aus der Spitzen­ position in der Beliebtheitsskala des Publikums durch die Foto-Illustrierten nach Art der „Berliner Illustrirten Zeitung“ (1891/92) und der Berliner „Woche“ (1899) ein Indikator für den Strukturwandel. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang ferner das Aufkommen der soge­ nannten Boulevardzeitungen in der Reichshauptstadt (am bekanntesten die „BZ am Mittag“, 1904), die weniger für den in Deutschland traditionell üblichen Vertrieb per Abonnement, sondern besonders für den Absatz im Straßenhan­ del konzipiert sind. Auch die Berliner Montagszeitungen wie die „Welt am Mon­ tag“ (1895) und ein halbes Dutzend weitere Blätter werden hauptsächlich im freien Einzelverkauf durch ambulante Straßenhändler und Kioske abgesetzt (1905 gibt es in Berlin 30 konzessionierte Zeitungskioske, fünf Jahre später etwa 608). Merkmale des Strukturwandels in der deutschen Presse sind ferner die ge­ gen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Kapitalkonzentration und die Bil­ dung von Medienkonzernen. Mosse, Ullstein, Scherl in der Reichsmetropole, Girardet und Huck in der Provinz sind Unternehmen, die nach großkapita­ listischen Prinzipien geführt werden und in ihrem Bestreben nach optimaler Verwertung der eingesetzten Finanzmittel journalistisch und medientechnisch neue Wege gehen. Unmittelbare Auswirkungen auf die Masse der für den deut­ schen Zeitungsmarkt typischen Lokal- und Kleinzeitungen hat die Entwicklung der großstädtischen und besonders der Berliner Presse zu großbetrieblichen Un­ ternehmen zunächst nicht, doch mit der von der Hauptstadtpresse ausgehen­ den Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Zeitungen auch in der Pro­ vinz breiten sich publizistische Praktiken aus, die von zeitgenössischen Kriti­ kern einhellig als Kulturverfall diagnostiziert und mit Vorliebe unter dem Begriff „Amerikanisierung“ bzw. „Amerikanismus“ subsumiert werden. Beanstandet wird die Jagd nach Sensationen und Skandalen, das Aufbauschen an sich unbe­ deutender Vorgänge und deren marktschreierische Präsentation, die Vorliebe für pikante Themen und Stoffe mit sexuellem Hintergrund sowie die Behand­ lung privater und intimer Angelegenheiten in der Öffentlichkeit, wodurch die „niederen Instinkte“ im Publikum gefördert würden, das „diese Ragouts der Lüsternheit“ geradezu „verschlingt“.9 Kritisiert wird zudem die Tendenz, die Presseproduktion ausschließlich unter dem Aspekt des Profits zu betreiben und die Verpflichtung der Presse zur Förderung der Kultur, d.h. unter anderem Hebung der Sittlichkeit der Massen, 8 9

Fiedler: Zehn Jahre Berliner Presse. In: „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 24, 16.6.1911, Sp. 514. Hermann Diez: Der Amerikanismus in der deutschen Presse. In: „Süddeutsche Monatshefte“ (München) 1/1910, S. 671-676.

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zu mißachten. Dazu wird auch die Öffnung der Anzeigenteile für sittlich zwei­ felhafte Inserate gezählt. Als ungeliebtes Vorbild für diese Entwicklung gilt deutschen Beobachtern die nordamerikanische Presse und besonders die Yellow Press, die ihnen als Mittel zur „Befriedigung des rohesten Geschmackes“, zur systematischen Pflege des „Geschmack(s) am Unsittlichen und Ungeheuerli­ chen“ von Millionen von Lesern und schließlich überhaupt entsittlichend und dadurch „anarchistisch“ wirkend erscheint10 und 11 deren meist auf dem Weg über England und Frankreich kommenden negativen Einfluss auf die deutsche Presse man wahrzu nehmen meint. Aus damaliger kulturkritischer Perspektive läßt sich die deutsche Presse um die Jahrhundertwende nach einem Drei-Stufen-Modell klassifizieren: „Oben“ stehen die Zeitungen und Zeitschriften, die sich als die „ernsthafte politische Presse“ und als erstrangiger Kulturfaktor verstehen und noch am wenigsten von den neuesten publizistischen Entwicklungen infiziert sind, während die Gene­ ralanzeiger, die Foto-Illustrierten und die Boulevardblätter, also die Erzeugnisse der „modernen Presseverleger“," hinsichtlich der Seriosität ihres Inhalts und der vorwiegend geschäftlichen Interessen ihrer Produzenten doch erheblichen Anlaß zur Kritik geben und deshalb eine Stufe tiefer stehen. Auf der untersten Stufe und wegen der moralisch-sittlichen Defizite und des mangelnden jour­ nalistischen Ethos ihrer Produzenten kaum würdig, der Presse zugerechnet und überhaupt wahrgenommen zu werden, findet sich in diesem Modell die eigent­ liche Presse für die „niederen Instinkte“ wieder, die Sex-and-crime-Zeitschriften, die Witzblätter und die Skandal- oder Revolverpresse genannten großstäd­ tischen Wochenblätter.

Zeitschriften für die „niederen Instinkte“: Profile und Praktiken Im Jahre 1891 erscheint in Hamburg ein auffällig großformatiges Wochenblatt mit dem für deutsche Verhältnisse ungewöhnlichen Titel „Der Criminal-Reporter“.12 Ungewöhnlich ist auch die Aufmachung: Die großen und schnörkello­ sen Lettern des Titels sind in roter Farbe gedruckt, und jede Titelseite besteht aus einer formatfüllenden Abbildung, montiert aus mehreren Illustrationen, die Gewalt, Unglück und Verbrechen zum Gegenstand haben und auf jeweils zu10 „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 43,26.10.1901, S. 5. - Positive Seiten können die traditionellen Presse­ verleger und ihr Verbandsorgan „Der Zeitungs-Verlag“ dem „Amerikanismus“ allenfalls we­ gen seiner geschäftsfördernden Neuerungen im Werbe- und Anzeigenwesen abgewinnen. 11 Die Gegenüberstellung von „ernsthaft politisch“ und „modern“ im „Zeitungs-Verlag“ Nr. 50, 14.12.1901, S. 2. 12 Einzelnummern aus dem Zeitraum 1891 bis 1895 im Staatsarchiv Hamburg und im Zeitungs­ museum Aachen.

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Abb. 1: Der Criminal-Reporter (Hamburg) Nr. 51, Januar 1892

gehörige Artikel im Blattinneren verweisen. Ebenso kreisen die nicht illustrier­ ten Texte der Zeitschrift ausschließlich um die genannten Themen. Die frühe­ ste erhaltene Ausgabe des „Criminal-Reporter“, die Nummer 35 vom Herbst 1891, enthält u.a. folgende Beiträge: „Wieder ein sensationeller Mord“, „Ein Attentat im Gcfängniß“, „Ein hartnäckiger Selbstmordcandidat“, „Eine feine Diebin“, „Bestialischer Raubmord“, „Ein Liebesdrama“, „Hinrichtung eines Raubmörders“, „Fünffacher Kindermord“, „Gräßlicher Selbstmord“, „Zwei Selbstmörderinnen“, „Eine gruselige Entdeckung“. Die Artikel geben Gerichts-

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Verhandlungen wieder (Rubriken „Vor Gericht“ und „Der Criminal-Reporter“), liefern Erläuterungen zu den Illustrationen auf der Titelseite („Unsere Bilder“), stellen einschlägige Meldungen aus aller Welt zusammen („Der Criminal-Re­ porter“, „Weltschau“) und rechtfertigen so den doppelten Untertitel „Illustrirte Gerichts-Zeitung - Neuigkeits-Weltblatt“. Der „Criminal-Reporter“ kann sich bei seiner Gründung teilweise auf be­ reits gemachte Erfahrungen beziehen, denn populär gehaltene Gerichtszei­ tungen waren in Deutschland bereits in den 1880er Jahren in größerer Zahl ent­ standen.'3 Neu aber sind die Ausschließlichkeit und Ausführlichkeit, mit de­ nen sich der „Criminal-Reporter“ den genannten Themen widmet, und vor allem die auffällige Illustrierung jeder Ausgabe. Damit kreiert das Blatt hierzu­ lande tatsächlich einen neuen Zeitschriftentyp. In Anbetracht schon früher zu beobachtender internationaler Einflüsse auf die Entwicklung der periodischen Presse stellt sich auch hier die Frage nach etwaigen ausländischen Vorbildern. Da es Selbstdarstellungen der Zeitschrift nicht gibt, die Auskunft geben könn­ ten, sind wir auf Vermutungen und Indizien angewiesen. Da ist zunächst der, wie gesagt, ungewöhnliche Titel. Wahrscheinlich han­ delt es sich um die erstmalige Verwendung des englischen Wortes Reporter im Titel eines deutschen Blattes.13 14 Daß es ein Hamburger Blatt ist, nimmt nicht wun­ der, denn die durch den überseeischen Verkehr geprägte Hafenstadt war schon lange ein Einfallstor für Anglizismen in den deutschsprachigen Raum. Hinzu kommt, daß es in London schon seit 1864 eine dem „Criminal-Reporter“ ähn­ liche Zeitschrift gab, die „Illustrated Police News“. Deren Aufmachung belegt, daß das Hamburger Blatt tatsächlich ein Vorbild hatte. Und die Herausgeber des „Criminal-Reporter“ haben die „Illustrated Police News“ nicht nur gekannt, sondern auch für ihre Zwecke genutzt, wie sich trotz der nur bruchstückhaften Überlieferung des Hamburger Blattes nachweisen läßt: Die Titelseite der Num­ mer 51 des „Criminal-Reporter“ enthält zwei Nachzeichnungen von Abbil­ dungen der zwei Wochen früher erschienenen Ausgabe der „Illustrated Police News“ sowie die annähernd wörtlichen Übersetzungen der dazugehörenden Texte des Londoner Blattes (Abb. 2). Es gibt noch eine weitere ins Ausland führende Spur. Auffällig ist nämlich die große Zahl von Meldungen aus den Ländern der k.u.k. Monarchie. Allein die schon zitierte Nummer 35/1891 enthält zehn, u.a. aus Wien, Linz und Preß­ burg. Wiederholt finden sich Illustrationen zu dortigen Begebenheiten auf den 13 Eine ansehnliche Sammlung von einzelnen Nummern populärer Gerichtszeitungen jener Zeit befindet sich im Zeitungsmuseum Aachen. 14 Nach Abschluß des Manuskripts erfahre ich, daß der Titel "Reporter” schon früher im deut­ schen Sprachraum vorgekommen ist: 1862 erschien in Wien eine stenographische Zeitschrift mit diesem Titel und von 1870 bis mindestens 1875 ebenfalls in Wien ein Finanz-und Börsenblatt.

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Abb. 4: Wage und Schwert (Berlin) Nr. 38/1908

gegeben werden „Wage und Schwert“ und die spätere Parallelausgabe vom Ver­ lagshaus für Volksliteratur und Kunst in Berlin, das auch die Groschenheftserien „Lord Lister“, „Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs“ (Sherlock Holmes­ imitation), „Texas Jack“ u.a. verlegt31 und zu den Großproduzenten von Kol­ portageromanen gehört.32 31 Eigeninserate des Verlags in „Wage und Schwert“ 1907/08; Vorwort von Hans-Friedrich Foltin zu: Sherlock Holmes. Aus den Geheimakten des Wehdetektivs. Hildesheim 1973 (Nachdruck). 32 Nachweise bei Kosch/Nagl (wie Anm. 3), S. 321.

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Verantwortlich für den Inhalt von „Wage und Schwert“ ist von 1907 bis 1911 Ernst Drahn (der sich später, nach seiner Zeit als Sex-and-crime-Redakteur, als Bibliograph und Buchhandelshistoriker einen Namen macht). Drahn leitet nicht nur „Wage und Schwert“, er tritt auch als Autor des Blattes in Erscheinung, u.a. mit einem zusätzlichen Text zu einem der Hefte der Sherlock-Holmes-Serie aus demselben Verlag. Am Ende des 46. Heftes („Ein verbrecherischer Arzt“) wer­ den die Leser auf eine Fortsetzung in Form eines „unabhängigen Zusatzartikel(s)“ in „Wage und Schwert“ hingewiesen,33 der unter dem Titel „Die letzte Bitte eines zum Tode Verurteilten“ und - abweichend von der Praxis der an­ onym erscheinenden Serienhefte - unter Angabe des Verfassernamens in Num­ mer 10 der Zeitschrift vom Dezember 1907 erscheint. Drahn schildert darin aus­ führlich die letzten Stunden eines Delinquenten sowie dessen Exekution (das Serienheft endet mit der knappen Feststellung, der Übeltäter sei zum Tode ver­ urteilt und hingerichtet worden). Es wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, daß Drahn der Verfasser auch des Heftes war, aber man wird wohl davon ausgehen dürfen. Und wahrscheinlich ist es nicht das einzige Heft dieser Serie, das Drahn zum Verfasser hat. Eigenar­ tig ist nämlich die Tatsache, daß er in seiner „Wage und Schwert“-Erzählung den Delinquenten im Hof eines Londoner Gefängnisses unter der in England nicht verwendeten Guillotine sterben läßt. Dieser Vorgang wiederholt sich im Sherlock-Holmes-Heft Nr. 56 („Der Vampir von London“)34 und wird auch mit den gleichen Worten geschildert („Der Schluß der Rede hallte feierlich über die Versammlung“ bzw. „Der Schluß seiner Rede hallte feierlich über den Hof hin“). Und ein weiteres, in diesem Fall kostensenkendes Zusammenspiel von Se­ rienheft und Zeitschrift des Verlagshauses für Volksliteratur und Kunst läßt sich nachweisen. Der „Kriminal-Reporter“, d.h. die Parallelausgabe von „Wage und Schwert“, bringt auf der Titelseite der Ausgabe 34/1913 ein Bild, das nicht recht zur Bddunterschrift „Die Festnahme eines Brandstifters“ passen will. Der Grund ist, daß die Abbildung zur Illustrierung eines ganz anderen Vorgangs an­ gefertigt wurde und ursprünglich nicht einen Brandstifter zeigt, der die Leiter hinab-, sondern den Serienhefthelden Sherlock Holmes, der die Leiter hinauf­ steigt.35 Noch intensiver als in den Sex-and-crime-Blättern wird Sexuelles und Ero­ tisches in Wort und Bild von einer anderen Gruppe von Zeitschriften prakti­ ziert, die deshalb von den eingangs erwähnten Fabrikarbeitern ebenfalls ge­ schätzt wurde. „Das Album“, 1898 von einem Verlag mit Sitz in Paris und Leip33 Sherlock Holmes (wie Anm. 31). 34 Ebenda. 35 Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs, Heft 33/1907: „Die Leuchtkäfer von New York“, Titelseite. In: Sherlock Holmes (wie Anm. 31).

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zig gegründet, erscheint monatlich in 10 000 Exemplaren36 und bezeichnet sich selbst als „Journal für die Lebe­ welt in chic-pikantem Pariser Gen­ re“.37 Das Blatt ist aufwendig ausge­ stattet und enthält zahlreiche Aktfo­ tografien, ist aber teuer und für einen einzelnen Arbeiter kaum erschwing­ lich. Letzteres gilt auch für die 1901 gegründete, nur kurzlebige Zeitschrift „Frauenschönheit“, die zweimal mo­ natlich erscheint. Es ist anzunehmen, daß mehrere Arbeiter besagter Geraer Labrik gemeinsam diese Blätter bezo­ gen und sich die Kosten teilten. Damit wäre einmal mehr nachgewiesen, daß auch weniger Bemittelte imstande wa­ ren, sich eigentlich zu kostspieligen Lesestoff zu beschaffen. Keine Preisbarriere hindert damals Abb. 5: Das kleine Witzblatt (Berlin) Nr. 38/ die Lektüre der anderen in Brommes 1903 Lebenserinnerungen als pikant cha­ rakterisierten Wochenzeitschriften „Das kleine Witzblatt“, „Satyr“ und „Sect“, die alle 10 Pfennige kosten. Nur vom „Kleinen Witzblatt“, das in Berlin er­ scheint, ist die vergleichsweise hohe Auflage überliefert: 70 000 Exemplare, und auch das angegebene Verbreitungsgebiet ist bemerkenswert, denn es reicht von Holland und der Schweiz bis nach Rußland.38 Die vom Verlag stammende Cha­ rakterisierung des Inhalts als „harmloser Humor“ wird allerdings nicht von allen Zeitgenossen geteilt, wie noch zu zeigen sein wird. Der für diese Untersuchung zur Verfügung stehende Jahrgang 1903 (das Blatt wurde 1896 gegründet) ent­ hält unzählige Zeichnungen und Lotos entblößter Frauen.39 Das Blatt kennt die 36 37 38 39

Sperlings Zeitschriften-Adressbuch. Stuttgart 1906, S. 1/229. Inserat in „Das kleine Witzblatt“ Nr. 12, 1903. Kürschner (wie Anm. 17), Sp. 598. Bilder sich duellierender bzw. miteinander kämpfender und dabei möglichst entblößter Frau­ en (Abb. 5) sind in der damaligen deutschen und internationalen Witz- und Sex-and-crimePresse so häufig anzutreffen, daß man schon von einer Obsession der Produzenten und Kon­ sumenten sprechen kann. Den Gründen kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Der Hinweis auf dieses Bildmuster als männliche Antwort auf die weiblichen Emanzipations­ bestrebungen, d.h. als „Nachweis“ nicht mehr von männlicher Kultur gebändigter weiblicher Exaltiertheit, mag hier genügen.

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Wünsche seiner Leserschaft, muss aber darauf achten, nicht mit gesetzlichen Herr Höflich hat einen sehr eleganten Anzug an., Die Frau des Hauses macht dem Gast ein Bestimmungen gegen die Verbreitung Kompliment wegen der prachtvoll sitzenden Hose. Gnädige Frau, ruft Herr Höflich — ich bin unzüchtiger Darstellungen in Wort bereit, dieselbe zu Ihren Füssen niederzulegen. und Bild in Konflikt zu geraten. Den Lesern des „Kleinen Witzblattes“ geht das Gespür für solche Rücksichtnah­ men hingegen ab, wie das Ergebnis ei­ nes Preisausschreibens im Frühjahr 1903 zeigt. Zu gewinnen sind 100 Mark für den besten „prickelnden“ Witz, doch unter den 800 Ein­ sendungen sind nur sehr wenige brauchbare. Enttäuscht erinnert die Redaktion ihre Leser daran, wohl „drastische“, aber „nicht indezente“, m 9 d e r nr also unanständige Witze verlangt zu Und wirst du auch nie einen anderen neben mir lieben, bene f haben. 40 = So lange mein IHann lebt, niemals! Dem „Kleinen Witzblatt“ typologisch und inhaltlich eng verwandt ist Abb. 6: Sect (München) Nr. 41/1907 die Zeitschrift „Sect - Blätter für fröh­ liche Laune“. Im Jahr 1902 in Wien ge­ gründet, siedelt das Blatt im Frühjahr 1905 nach München über und geht Mitte 1908 nach Berlin, wo es die Schreibweise in „Sekt“ ändert. Auflagezahlen sind nicht bekannt, auch gibt es keine Angaben zur Verbreitung, sieht man von der vollmundigen Behauptung des Verlags ab, das Blatt habe „in allen Weltteilen“ einen „nach Hunderttausenden zählenden Leserkreis“. Sich selbst sieht das Blatt als ein „Freudenfeuer echter Lustigkeit (...), die in unserer düstern Zeit oft so heiß ersehnt und doch so griesgrämig verurteilt wird“.41 Eine Spezialität der Zeit­ schrift ist die Beigabe einer Postkarte, die in die erste Umschlagseite eingesteckt ist und auf diese Weise als Titelbild fungiert. Auch die Postkarten, die zunächst schwarz-weiß, ab Mai 1906 dann koloriert sind (und den Preis des Einzelheftes auf 15 Pfennige steigen lassen), enthalten, dem Charakter des Blattes entspre­ chend, „flotte Zeichnungen“.42 Der Berliner „Satyr“, Untertitel „Moderne Wochenschrift“, bezeichnet sich zwar auch als „Witzblatt“, unterscheidet sich von den beiden vorgenannten Wahres Seschiehtchen.

40 „Das kleine Witzblatt“ Nr. 14, 1903, S. 9, und Nr. 22, 1903, S. 19. 41 „Sect“ Nr. 1,(1908), S. 21. 42 Farbige Abbildung einer Umschlagseite mit eingesteckter Postkarte in Ursula E. Koch/Marcus Behmer (Hg.): Grobe Wahrheiten - Wahre Grobheiten. München 1996, S. 31.

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Zeitschriften jedoch erheblich. Das Blatt enthält nur wenige der üblichen Wit­ ze, sein „Witz“ ist vor allem politische Satire. Diese verleiht in Verbindung mit erotischen Bildern und Texten dem „Satyr“ eine kritisch-aggressive Note. Die Startauflage - das Blatt wird im Herbst 1899 gegründet - beträgt 20 000 Exem­ plare und ist sofort vergriffen.43 Am Ende des ersten Jahrgangs spricht der „Sa­ tyr“ von einer „vieltausendköpfige(n) Familie von Lesern“.44 Die Zeitschrift kann auf dem üblichen Weg durch den Buchhandel und die Post bezogen wer­ den, sie ist aber besonders „auf den Straßenverkauf berechnet“.45 Im Jahre 1903 betreibt der „Satyr“ Abonnentenwerbung mit dem Hinweis, von jetzt an jedem Heft eine Postkarte mit einer mehrfarbigen Abbildung „aus dem Reich der Schönheit“, also mit dem Bild einer mehr oder weniger bekleideten Frau, bei­ zulegen.46 Die dritte Gruppe der hier zu behandelnden Zeitschriften bilden die von damaligen Zeitgenossen so bezeichneten Skandal- oder Revolverblätter. Die begriffliche Unterscheidung bezieht sich darauf, ob ein Blatt Skandale und Miß­ stände beschreibt und damit öffentlich macht oder ob es die Kenntnis von ei­ nem Skandal oder auch nur von Umständen, deren Veröffentlichung den Be­ teiligten unangenehm wäre, zur finanziellen Erpressung der betreffenden Per­ sonen benutzt. Es ist für die Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des ersten Weltkrieges eine ganze Reihe von Fällen nachweisbar, in de­ nen Journalisten mit dem vorgehaltenen Revolver der Publikationsdrohung Zeitgenossen erpreßt haben und deshalb verurteilt wurden. Das dürfte we­ sentlich dazu beigetragen haben, daß die gesamte Gruppe der in den Jahren um die Jahrhundertwende entstehenden großstädtischen Wochenblätter, die sich selbst als Instanz öffentlicher Kritik und als Sprachrohr der „kleinen Leute“ be­ sonders gegenüber Staat und Behörden verstanden, in Verruf geriet. Zeitschrif­ ten dieser Art haben damals nur wenige Fürsprecher gefunden. Einer soll hier - als Gegengewicht zu den unzähligen abwertenden Äußerungen47 - zu Wort kommen: „Seit drei bis vier Jahren macht sich in vielen Städten (...) das Bedürfnis nach einem unabhängigen Lokalblatt geltend, das ohne Rücksicht auf Ausfälle an Inserateneinnahmen und Gönnerschaften dem Unmute weiter Kreise über Mißstände an allen möglichen Institutionen Luft machen soll. In

43 44 45 46

„Satyr“ Nr. 5, 1899-1900, S. 78. „Satyr“ Nr. 52, 1899-1900, S. 826. „Vossische Zeitung" (Berlin), zit. nach „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 3, 20.10.1900, S. 6. „Satyr“-Werbeprospekt 1903; Exemplare des Blattes aus dieser Zeit waren nicht zu ermitteln. - Die ersten beiden Jahrgänge der Zeitschrift befinden sich im Institut für Zeitungsforschung Dortmund. 47 Ein Beispiel für viele: „Gibt es doch kaum eine Großstadt bei uns, die nicht über eine derartige Schmarotzerpflanze der Presse verfügt.“ („Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 2, 15.1.1909, Sp. 32).

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Dresden, Leipzig, Frankfurt. a.M., München, Hannover etc. sind dann auch gleich wöchentlich einmal erscheinende Blättchen entstanden, die da helfend eingreifen wollen, wo die Tagespresse aus Rücksicht auf gute Freunde und Inserenten schweigt.“4"

Zwei Blätter dieser Spezies sollen hier die vielen anderen jener Zeit vertreten: die „Dresdener Rundschau“ und die „Grosse Glocke von München / Münche­ ner Tribüne“. Die „Dresdener Rundschau“, gegründet 1892, bezeichnet sich im Unterti­ tel als „Wochenschrift für Kritik und Humor auf allen Gebieten des öffentli­ chen Lebens“. Sie kostet als Einzelnummer 15, im Abonnement 10 Pfennige. Verbreitet ist das Blatt im Königreich Sachsen, besonders in der Stadt Dresden und in deren näherer Umgebung. Im Hinblick auf das begrenzte Absatzgebiet ist die vom Verlag genannte Auflage - 10 000 Exemplare48 49 - beachtlich, die Angabe erscheint aber angesichts des öffentlichen Interesses an der Zeitschrift glaubhaft. Die „Dresdener Rundschau“ wirbt um Leser und Abonnenten mit dem nachdrücklichen Hinweis, die „hier so beliebte Leisetreterei“ der Presse nicht mitzumachen.50 Welcher Art Zeitungen gemeint sind, erfährt man an an­ derer Stelle: „die braven Regierungswaschlappen, die untertänigsten Kreis­ blättchen, die konservativen Wischpapiere“.51 Ihnen wirft das Blatt „Liebedie­ nerei“ vor und Unterschlagung von Nachrichten, die „die höheren Klassen, welche bestimmt sind, über das ,Volk‘ zu herrschen, in schlechterem Lichte erscheinen lassen könnten. Darüber spricht man aber nicht in der ,guten Ge­ sellschaft“, das macht böses Blut und dient nicht dem .inneren Frieden““.52 Hier sieht die „Dresdener Rundschau“ ihre Aufgabe: einerseits Mißstände und Kor­ ruption in Politik und Verwaltung in der sächsischen Hauptstadt aufzudecken sowie Skandale und persönliche, besonders sexuelle Verfehlungen in den Krei­ sen der herrschenden Klasse anzuprangern, andererseits der breiten Bevölke­ rung mit ihren Nöten und Beschwerden ein Sprachrohr zu sein und „allen, denen Unrecht geschehen ist“, Gelegenheit zu geben, ihre Probleme an die Öffent­ lichkeit zu bringen.53 Daneben gilt das Interesse des Blattes den sozialen Verhältnissen, den „Gegensätze(n) zwischen Arm und Reich“, die nirgends stärker hervorträten „als im nervösen Getriebe der Großstadt“. Regelmäßig und ausführlich berichtet die „Dresdener Rundschau“ aus den Gerichtssälen Dresdens, denn „dort hört und sieht man das Elend in seiner ganzen Größe“.54 Durch eine Gerichtsberichter­ 48 49 50 51 52 53 54

„Presse-Buch-Papier“ Nr. 14, 3.4.1904, S.159 f. Kürschner (wie Anm. 17), Sp. 317. „Dresdener Rundschau“ Nr. 11, 16.3.1901, S. 9. „Dresdener Rundschau“ Nr. 38, 21.9.1907, S. 2. „Dresdener Rundschau“ Nr. 2, 11.1.1913, S. 11. „Dresdener Rundschau“ Nr. 51, 21.12.1901, S.13. „Dresdener Rundschau“ Nr. 35, 31.8.1907, S. 7.

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stattung, die mit Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen und speziell an der Justiz durchsetzt ist, macht sich die Zeitschrift höheren Orts nicht gerade be­ liebt. Aber auch wohlwollendere Zeitgenossen üben an Blättern wie der „Dres­ dener Rundschau“ Kritik, unter anderem wegen der Praxis, Namen und Adres­ sen von Angeklagten zu veröffentlichen, diese auch gelegentlich zu vorver­ urteilen und überhaupt die Privatsphäre von Personen nicht zu respektieren.55 So kommt es, daß die „Dresdener Rundschau“ wiederholt auch in eigener Sa­ che, z.B. über eine Verurteilung wegen übler Nachrede, aus dem Gerichtssaal berichten muss. Ähnlich verhält es sich mit der „Grossen Glocke von München / Münche­ ner Tribüne“. Gegründet im April 1909 als „Der Wahre Peter“, wird das Blatt schon nach zwei Ausgaben in „Grosse Glocke von München“ umbenannt;56 im Februar 1913 ändert die Zeitschrift ihren Namen in „Münchener Tribüne“.57 Sie erscheint wöchentlich mit Ausnahme einiger Monate im Jahre 1911, in denen sie zweimal pro Woche ausgegeben wird. Das zunächst zeitungsähnliche For­ mat wird im Frühjahr 1911 verkleinert. Die Auflagenhöhe ist nicht bekannt, das Verbreitungsgebiet im wesentlichen auf München beschränkt.58 Vertrieben wird das Blatt durch Kolporteure und durch den Verkauf in Münchener Einzel­ handelsgeschäften.59 Der Preis beträgt 10 Pfennige für das Einzelheit. Haupt­ thema der „Grossen Glocke“ ist die Gerichts- und Kriminalberichterstattung vornehmlich über Münchener Verfahren und Ereignisse, z.B. über Lebens­ mittelverfälschungen („Eine Schweinerei sondersgleichen“), über eine Pros­ tituierte, die ihre minderjährige Tochter verkuppelt hat („Unsere .Masseusen““), über ein Sittlichkeitsdelikt an einem Kind („Unzüchtigkeiten in der Kirche“).60 Das Blatt gibt sich volkstümlich, manchmal humoristisch, seltener satirisch (ob­ wohl es sich im Untertitel als „satyrische Wochenschrift“ bezeichnet); die Spra­ che ist zuweilen deftig. Katholische Geistliche, die sich sexuelle Verfehlungen zuschulden kommen ließen, werden „Schweinepriester“ oder „Gemeindestier“ und die gutbürgerlichen „Münchener Neuesten Nachrichten“ „inseratenalimentierte Klugscheißerin“ genannt.61

55 Selbst der Verteidiger eines angeklagten „Dresdener Rundschau“-Redakteurs bedauerte, „daß ein Blatt, das doch in vielen Fällen Rückgrat besitzt, sich manchmal mit Privatsachen befaßt, die es nichts angehen.“ („Dresdener Rundschau“ Nr. 37, 14.9.1901, S. 8). 56 Namensvorbild war vermutlich das seit 1906 in Berlin bestehende typverwandte Wochenblatt „Die große Glocke“. 57 Koch/Behmer (wie Anm. 42), S. 23; Abbildungen S. 29 f. 58 „Grosse Glocke“ Nr. 5, 3.2.1911, S. (2): „Münchner Leserpublikum“. 59 „Grosse Glocke“ Nr. 10, 8.3.1912, S. (5); Koch/Behmer (wie Anm. 42), S. 47. 60 Alle Artikel auf der zweiten Seite der „Münchener Tribüne“ Nr. 7, 14.2.1913. 61 „Grosse Glocke“ Nr. 2, 13.1.1911, Beiblatt, Nr. 19, 28.4.1911, Nr. 26, 2.6.1911, und „Münche­ ner Tribüne“ Nr. 27, 4.7.1913.

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Der redaktionelle Teil werde, so der Herausgeber der „Grossen Glocke“, so gestaltet, „daß unsere Leser (...) nicht an der schwarzen Melancholie sterben“.62 Das Blatt sieht sich im scharfen Gegensatz zur „feinen Tagespresse“ Münchens, die mit Vorliebe die juristischen Verfehlungen der „Armen und Kleinen“ breit­ trete, die „Reichen und .Bessern“' hingegen schone; es sei daher die Aufgabe der von den bürgerlichen Zeitungen als „Skandalpresse“ beschimpften Wochen­ blätter, in der Berichterstattung ein „Gleichgewicht“ herzustellen.63 Die Zeit­ schrift reklamiert für sich die Rolle einer Verteidigerin der Interessen der „klei­ nen Leute“: „Manch’ ein Bedrängter aus dem Publikum ist schon zu uns gekom­ men, und wir haben für den Kleinen und Unterdrückten eine Lanze eingelegt“.64 Mehrfach muß sich der Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift vor Gericht verantworten, meist wegen Beleidigung. In mindestens einem Fall beruft er sich auf den satirischen Charakter seines Blattes, dem karikierende und übertreibende Darstellungen gestattet sein müßten. In diesem einen Fall hat er damit auch Erfolg,65 in anderen hingegen nicht, denn wiederholt kommt es vor, daß das Blatt ein gegen seinen Herausgeber ergangenes Urteil publizieren muß. Eine satiri­ sche Zeitschrift ist die „Grosse Glocke von München / Münchener Tribüne“ tatsächlich nicht. Es sieht vielmehr so aus, als sollte die Selbstbezeichnung „satyrische Wochenschrift“ vor allem dazu dienen, das Blatt und seinen Her­ ausgeber vor juristischer Verfolgung zu schützen.66 Das gemeinsame Merkmal der hier behandelten Zeitschriften ist die mehr oder minder intensive Sexualisierung des Inhalts, die sich den Lesern unter anderem in jeder „Reporter“-Ausgabe im Bildmuster „Pariser Modell“ und „Amerikanische Schönheit“, in den Witzblatt-Zeichnungen und -Fotografien wenig bekleideter Frauen oder in den ausführlichen Berichten der lokalen Wo­ chenblätter über Ereignisse und Gerichtsverhandlungen mit sexuellem Hinter­ grund präsentiert. Der Verstoß gegen die traditionellen Normen öffentlicher Sittlichkeit hat bei einigen der Zeitschriften auch eine politische Dimension. So läßt der „Reporter“, wie schon berichtet, zunächst einige Sympathien für den Anarchismus erkennen, dann - im Jahrgang 1900 - für die Sozialdemokratie, 62 63 64 65 66

„Grosse Glocke“ Nr. 3, 20.1.1911, S. (2). „Grosse Glocke“ Nr. 15, 11.4.1911, S. (2). „Münchener Tribüne“ Nr. 25, 20.6.1913, S. (4). „Grosse Glocke“ Nr. 11, 17.3.1911, S. (3). Vgl. „Allgemeine Zeitung“ (München), 5.8.1904: „(...) die Unflätigkeit verbirgt sich unter der Maske der Satire, die als ein Freipaß für jede Zote zu gelten scheint“, in: (Friedrich) Bohn (Hg.): Materialien zur Bekämpfung der unsittlichen Literatur. Ein kulturgeschichtliches Denkmal für die deutsche Presse. Berlin 1905, S. 32. - Zu Beginn des Jahres 1908 erklärt die Zeitschrift „Sect“ nach einer Bemerkung über Versuche von „heute sich so kräftig regenden Muckern und Phari­ säern (...), unsere harmlos heiteren Heftchen als gefährlich zu denunzieren“, künftig sich auch der „aktuellen gesellschaftlichen Satire“ bedienen zu wollen (Nr. 1, (1908), S. 21), doch bleibt es, wie der Inhalt des Jahrgangs zeigt, bei der Ankündigung.

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bevorzugt für deren revisionistische Richtung. Das Blatt bedient sich in seinen sozialkritischen Berichten und Kommentaren einer klassenkämpferischen Spra­ che, solidarisiert sich wiederholt mit Streikenden und polemisiert gegen die Besitzenden. Berichtet wird in Wort und Bild über die Beisetzung Wilhelm Liebknechts, den Mainzer Parteitag der SPD und den Pariser Sozialistenkon­ greß. Auch das erklärt, warum die Brommeschen Fabrikarbeiter den „Repor­ ter“ lasen. Noch deutlicher lassen die „Dresdener Rundschau“ und die „Grosse Glokke von München / Münchener Tribüne“ ihre politischen Präferenzen erkennen. Das Dresdener Blatt pocht zwar auf seine parteipolitische Unabhängigkeit, über­ nimmt aber immer wieder Artikel aus der sozialdemokratischen Parteipresse, mit der es sich verbunden fühlt, bilden doch die „Arbeiterzeitungen und die ,Dresdener Rundschau““ die „oppositionelle Presse“ in Sachsen.67 Dabei sieht sich das Blatt in einer ganz besonderen Rolle bei der Verbreitung widerständiger Einstellungen in der Bevölkerung, denn es dringe „in Kreise, in welche die Blät­ ter der äußersten Linken nicht hineindringen“.68 Als Bebel 1913 stirbt, bezeichnet ihn die „Dresdener Rundschau“ auf der Titelseite als „Deutschlands populär­ sten Mann“.69 Die „Münchener Tribüne“ würdigt ihn sogar mit einer großen Traueranzeige: „Einer grossen Sache grösster Mann / Ist mit ihm aus dieser Welt geschieden!“70 Regelmäßig bringt diese Zeitschrift Artikel aus Münchener und anderen SPD-Zeitungen, spricht von „Feinden der Arbeiter“, „Schlotbaronen“, „Klassenjustiz“ und „Militarismus“ und registriert Versuche konservativer Ber­ liner Kreise, einen Sexualmord politisch auszubeuten: „So ein kleines Sozialistengesetzchen käme den Herrschaften sehr gelegen“.71 „Wage und Schwert“ läßt derartige parteipolitische Sympathien nicht erken­ nen.72 Die Zeitschrift gibt sich unpolitisch, enthält aber in Bildern und Texten, in denen Mönche und Pfarrer als lüstern und kriminell dargestellt werden (Abb. 7), massive Angriffe auf den Klerus und damit auf Repräsentanten einer staatserhaltenden Institution. Daß damit auch die Zentrumspartei getroffen „Dresdener Rundschau“ Nr. 38, 21.9.1907, S. 3. „Dresdener Rundschau“ Nr. 31, 3.8.1901, S.2 „Dresdener Rundschau“ Nr. 33, 16.8.1913. „Münchener Tribüne“ Nr. 34, 22.8.1913. „Münchener Tribüne“ Nr. 22, 29.5.1913, S. (4 f.). - Darüber, ob und welche Bedeutung derar­ tige Blätter für die Verbreitung von Sympathien für die Sozialdemokratie unter nichtorganisierten Arbeitern hatten, läßt sich nur mutmaßen. Die zitierte Behauptung der „Dresdener Rundschau“, das Blatt erreiche Leser, die von der sozialdemokratischen Parteipresse nicht er­ reicht würden, erscheint jedenfalls nicht unbegründet. 72 Nicht uninteressant aber ist in diesem Zusammenhang, daß Redakteur Ernst Drahn, der „Wage und Schwert“ und die Parallelausgabe „Kriminal-Reporter“ bis 1911 leitet, drei Jahre später als SPD-Mitglied und Autor der Berliner „Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse“ hervor­ tritt (z.B. Nr. 124, 3.5.1914: Zur Frage der Reorganisation des Schriftenvertriebs).

67 68 69 70 71

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werden sollte, die seit der Lex-Heinze-Debatte in der ersten Reihe im Kampf gegen die „unsittliche“ Presse und Literatur stand, wird man wohl annehmen dürfen. Ebenso verbindet die „Grosse Glocke von München“ ihre sexuell ge­ färbte Berichterstattung mit einer scharf antikatholischen Tendenz unter dem Motto „Geistliche Sittlichkeitsverbrecher“.73

Rezeption Material, das einigermaßen verläßlich Auskunft über die Zusammensetzung der Le­ serschaft historischer Presse gibt, ist außerordentlich rar. Die seit dem Aufkommen der bürgerlichen und Mas­ senpresse im 19. Jahrhundert von deren Produzenten oft verwendete Formel „ver­ breitet in allen Schichten“ ist zwar selten ganz falsch, sie sagt aber zu wenig über das tatsächliche Sozialprofil der Rezipientenschaft von Zei­ tungen und Zeitschriften i rmrni Vfnrrrr rritfjoflni. aus. Einige Angaben über das Publikum der hier inter­ Abb. 7: Wage und Schwert (Berlin) Nr. 25/1908 essierenden Presse und deren Verbreitung finden sich in den Schriften zeitgenössischer Kritiker, wobei - das sei angemerkt - im Umgang mit diesen Quellen eine gewisse Vorsicht angezeigt ist, denn das in den einschlägigen Schriften durchweg vorhandene Interesse am Nachweis der Gefährdung besonders der Jugend und der Unterschichten durch die sogenannte unsittliche Literatur läßt manche Übertreibung vermuten, z.B. wenn behauptet wird, das „Kleine Witzblatt“, eines der bekanntesten in der „ekle(n) Flut der Witzblätter“, sei „fast das Lieblingsblatt unserer heranwachsenden, noch schulpflichtigen Jugend“,74 oder wenn ein Autor unter Berufung auf amtliches Material berichtet, die Polizei habe „mehr als einmal Blätter von 73 „Grosse Glocke“ Nr. 2, 13.1.1911, Beiblatt. 74 Stanislaus Swierczewski: Wider Schmutz und Schwindel im Inseratenwesen. Leipzig 1907, S. 20.

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der Art des Kleinen Witzblattes wie Reste giftiger Lebensmittel bei den Leichen junger Studenten und Kaufleute, die sich selbst das Leben genommen hatten, gefunden“.75 Die Klage, gerade junge Leute würden von unsittlicher Literatur und spe­ ziell unsittlichen Zeitschriften angezogen und seien daher besonders gefährdet, gehört zum Argumentationsrepertoire in den damaligen Kritikerschriften. Un­ gewöhnlich jedoch ist eine Schilderung von Tätlichkeiten gegen jugendliche Leser solcher Blätter. Dabei ging es um drei Schuljungen in der Berliner Stadt­ bahn, die sich so laut über die Bilder in einigen Witzblättern unterhalten hät­ ten, „daß die neben ihnen sitzende Dame errötete“. Die daraus resultierende Verletzung des „Edelgefühls“ des Berichterstatters und sein anschließender „Zornesausbruch“ kostete die Jungen zwar ihre Witzblatthefte, trug dem Ag­ gressor aber auch eine „Flut von Schimpfworten“ seitens der „Bengel“ ein.76 Bei einem anderen Jugendlichen reichte eine Ermahnung: „(...) noch am selben Tage“, erzählt George Grosz in seiner Autobiographie, „vernichtete ich eine kleine Sammlung von Bildausschnitten kitschig schöner, halbbekleideter Da­ men, die ich im Laufe der Zeit aus der halb kriminalistischen, halb erotischen Zeitschrift ,Reporter“ gesammelt hatte“.77 Erschienen die Unreifen und Ungebildeten als besonders gefährdet, so sa­ hen die Kritiker das Problem doch auch als ein gesamtgesellschaftliches: „Lü­ sternheit und krankhafte Wollüstelei“ habe das ganze Volk ergriffen, „ob oben oder unten“, und ließen sich in ihren Auswirkungen sogar schon „bei vielen Mädchen und Frauen der höheren und mittleren Schichten“ beobachten.78 Als den Kolporteuren in Zürich nahegelegt wird, die auch dort „üppig gedeihen­ den“ lokalen Wochenblätter nicht mehr zu vertreiben, lehnen diese mit der Be­ gründung ab, der „Absatz der sogenannten Skandalblättchen (sei) selbst bei dem besseren Publikum noch ein solch enormer, daß der Verdienstausfall für uns zu groß wäre“.79 Der Berichterstatter einer liberalen Berliner Tageszeitung, der die moralisierende Polemik der meist konservativen Kritiker ablehnt und die Be­ liebtheit der Presse für die „niederen Instinkte“ als „Reaktion gegen die unge­ heure Arbeitsleistung (...) in den Großstädten“ deutet, bedient sich zur Illustrie­ rung seiner Argumentation bezeichnenderweise nicht der Figur eines Arbeiters, eines Dienstboten oder Jugendlichen, sondern der eines Vertreters der Mittel­ schicht: „So ein abgehetzter Kaufmann, der den ganzen Tag im Sturm des Ge­ 75 Ludwig Kemmer: Die graphische Reklame der Prostitution. München 1906, S. 4. 76 Jacques Jolowicz: Der Kampf gegen die Unzucht in Wort und Bild. Leipzig 1904, S. 12. 77 George Grosz: Ein kleines Ja und ein großes Nein. Reinbek 1974, S. 37; G. war auch begeister­ ter Konsument von Kolportage- und Serienheftliteratur (a.a.O., S. 22-26). 78 Otto von Leixner: Zum Kampfe gegen den Schmutz in Wort und Bild. 2. Aufl. Leipzig 1904, S. 5. 79 „Münchener Neueste Nachrichten“ Nr. 280, 4.6.1913, „Das .bessere“ Publikum“.

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schäftes stand, (...) verlangt, um seine Gedanken loszuwerden, aufreizende, aufhetzende Kost, eine pikante, dreiste Lektüre“.80 Daß „nicht allein in den breiten Massen des Volkes“ entsittlichende Literatur gelesen werde, sondern auch „in den sogenannten gebildeten Kreisen“,81 bestätigt ein anderer Zeitge­ nosse, der außerdem darauf hinweist, daß diese Literatur gerade von den gebil­ deten Kreisen ausgehe, denn von ihnen werde die „Saat zu diesen Giftpflanzen“ ausgestreut, unter anderem in Form von Witzblättern mit wenig Witz, aber dafür mit pikanten bis ausgesprochen unzüchtigen Bildern und schlüpfrigen Texten.82 Die Erbitterung der meisten Kritiker richtet sich daher auch weniger gegen die jugendlichen bzw. ungebildeten Rezipienten als vielmehr gegen die auf ih­ ren Profit bedachten Produzenten moralisch verwerflicher Druckerzeugnisse und ganz besonders gegen die leichte Zugänglichkeit der Hefte. Beklagt wird nicht nur, daß in Großstädten die ambulanten Zeitungshändler ein breites Sor­ timent solcher Zeitschriften feilhielten, sondern auch immer mehr Buchhand­ lungen dazu übergingen, in ihren Auslagen Witzblätter und andere unsittliche Zeitschriften anzubieten und daß sogar in Einzelhandelsgeschäften mit Waren für den täglichen Gebrauch derartige Literatur zu haben sei, z.B. in München, wo speziell in den von Schülern und weiblichen Dienstboten frequentierten Milchläden die neuesten Nummern illustrierter Witzblätter aüshingen. „Was an Wochenschriften mit pikantem Inhalt in Deutschland erscheint, ist hier zu fin­ den.“83 Sorgen bereitet den Gegnern dieser Entwicklung zudem, daß es immer weniger Schwierigkeiten macht, auch außerhalb der Großstädte an derartige Zeitschriften zu kommen. Otto von Leixner, ein Wortführer der Sittlichkeits­ bewegung, hat „Schmutzzeitschriften“, d.h. erotische und Witzblätter, in „sehr vielen mittleren Städten“ gefunden, vor allem auf den Bahnhöfen, und sogar „schon auf dem flachen Lande“ machten sich die unmoralischen Erzeugnisse der Unterhaltungsindustrie breit.84 Gelegentlich enthalten die Zeitschriften selbst Angaben über ihre Leser. In den Leserbriefecken der „Dresdener Rundschau“ trifft man u.a. auf einen „al­ ten ehrlich-rechtlich denkenden Handwerker“, auf einen Dachdecker, einen

80 „Berliner Börsen-Zeitung“ (o.D.; Oktober 1904). In: Bohn (wie Anm. 66), S. 58. 81 Das gilt auch für die Lektüre der Serienhefte ä la Nick Carter: Es wird berichtet, daß auch Angehörige der „wohlhabenden Stände“ die Hefte kauften, aber schon beim Kauf die bunten Umschläge entfernten, um in der Öffentlichkeit nicht als Konsumenten von Schundliteratur erkannt zu werden (Ernst Schultze: Die Schundliteratur. 2. Aufl. Halle/S. 1911, S. 150). 82 Bert. Wiemann: Die Pflicht der Presse im Kampfe gegen die unsittliche Literatur. Barmen (1904), S. 9. 83 L. Kemmer in den „Grenzboten“ vom 1.10.1903. In: Bohn (wie Anm. 66), S. 3. - Auch Buch­ bindereien, Papiergeschäfte und Zigarrenläden werden als Verkaufsstellen „minderwertiger“ Periodika genannt. 84 Leixner (wie Anm. 78), S. 4.

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demnach in ganz Deutschland sowohl in Großstädten wie in der tiefsten Pro­ vinz gelesen und hatte, wie die Adressen von Gewinnern in Baden/Schweiz, Wien und Riga zeigen, auch Bezieher im Ausland. Noch aussagekräftiger sind die Angaben zur Leserschaft, die der Jahrgang 1900 des Berliner „Reporter“ enthält.91 Auch hier handelt es sich um Namen und Adressen von Preisausschreiben-Gewinnern, und zwar in einer Größen­ ordnung, die es möglich macht, das Sozialprofil der Leserschaft des Blattes recht genau zu bestimmen. Verzeichnet sind 568 Namen mit Adressen, davon 231 mit verwertbaren Berufsangaben. Die Auswertung ergibt folgendes Bild: 101 Ar­ beiter und Handwerker, 9 Soldaten (nur Mannschaftsränge), 17 Meister, 21 (meist untere) Angestellte, 32 Beamte (davon 12 (meist Dorfschul-)Lehrer), 43 Selbständige (u.a. Gastwirte, Kaufleute, Landwirte), 2 Akademiker (Referen­ dar Dr. jur., Student) und 6 Sonstige. Auch das Profil der Leserschaft des „Re­ porter“ wird unverkennbar von proletarischen und kleinbürgerlichen Konsu­ menten geprägt. Der eigentliche Mittelstand - einige höhere Angestellte und Beamte, zwei Akademiker sowie einige wohl besser gestellte Selbständige (z.B. ein Maschinenfabrikant und ein Hotelbesitzer) - ist nur schwach vertreten. Und wieder zählen zu den Gewinnern und damit auch zu den Konsumenten des Blattes Frauen, insgesamt 42 (von 568 - 7,6%). Erheblich höher liegt der Anteil der Frauen, wenn man die stehende Rubrik „Ansichtskartenaustausch wünschen“ einbezieht, in der der „Reporter“ die Namen und Adressen von Postkartensammlern unter seinen Lesern abgedruckt hat. Von 375 in einer Stichprobe92 erhobenen Namen sind 128 weiblich, das entspricht einem Anteil von 34 Prozent. Der Verfasser beschränkt sich auf die­ se Feststellung, ohne eine definitive Erklärung für das bemerkenswerte weib­ liche Interesse am Tausch von Ansichtskarten geben zu können. Immerhin ist festzuhalten, daß männliche Interessenten ihre Offerten häufig mit dem Zusatz „am liebsten mit Damen“ o.ä. versahen, also der Ansichtskartentausch für Männer und wohl auch für Frauen eine Möglichkeit zu verdeckter Kontaktan­ bahnung war. Auffällig ist in diesem Zusammenhang noch ein Detail: Die Ham­ burger Adressen von Tauschpartnerinnen beschränken sich fast ausschließlich auf solche aus Hamburg-St. Pauli. Allein viermal sind es Adressen in der Hein­ richstraße. Diese Straße war (und ist unter dem 1922 geänderten Namen Her­ bertstraße bis heute) die bekannteste Bordellstraße Hamburgs.93 Da seinerzeit

91 „Reporter“ Nrn. 12-14 und 26/1900. 92 Ausgewertet wurden die Nummern 1-10 und 30-39/1900. 93 Darauf, daß es sich bei den Adressen um die von Prostituierten handelte, deutet auch der Wortlaut einer Kleinanzeige im „Reporter“ Nr. 7/1900, S. 8, hin: „Ansichtskarten der ganzen Welt erwidert Mitzi, die Hannoveranerin, Hamburg-St. Pauli, Heinrichstr. 27“.

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die Hamburger Bordelle häufig mit Lokalen verbunden waren,94 liegt die Vor­ stellung nahe, daß die Prostituierten die „Reporter“-Hefte lasen, die für die Gäste auslagen. Überhaupt spielten Gastwirtschaften wie auch Cafés und Konditoreien eine große Rolle für die Verbreitung und Lektüre der Zeitschrift, nicht zuletzt dar­ an ablesbar, daß von den 43 Selbständigen unter den Preisausschreibengewin­ nern 22 Gastwirte waren, die die für ihre Gäste bereitgestellten Hefte wohl selbst nutzten. Einen ähnlichen Multiplikationseffekt für die Verbreitung des „Repor­ ter“ hatten die Friseure, die in der Gewinnerliste 22mal erscheinen (auch als Barbier oder Coiffeur).95 Die Adressen der 568 Preisausschreibengewinner be­ legen, daß der „Reporter“ im ganzen Deutschen Reich - von Flensburg bis München und von Fauterburg im Eisass bis Ottloschin bei Thorn - verbreitet war und auch Leser in der Schweiz (11 Adressen) und in Österreich (5) hatte. Bemerkenswerter als die Größe des Absatzgebietes ist aber die Tatsache, daß die Mehrheit der Genannten nicht in größeren und Großstädten wohnte, son­ dern in Kleinstädten und Dörfern. Es sieht so aus, als sei das „Weltblatt“ (wie sich der „Reporter“ ja selbst bezeichnete) am interessantesten für diejenigen gewesen, die der „Welt“ am fernsten waren.96

Kritik und Repression Die zeitgenössische Kritik an der als unsittlich eingestuften Fiteratur im All­ gemeinen und an Periodika im Besonderen artikuliert sich vordergründig als moralisch motiviert. Der eigentliche Bezugspunkt aber ist politischer Natur. Be­ fürchtet wird eine Erosion von Staat und Gesellschaft durch die Aufweichung überkommener Wert- und Ordnungsvorstellungen gerade in den Bevölkerungs­ teilen, die man - wie gezeigt, nicht zu Unrecht - als Hauptkonsumenten der einschlägigen Druckerzeugnisse ausmacht, also in der sogenannten Masse des Volkes und in der Jugend. Nach Überzeugung der damaligen Kritiker führt der Weg der Entsittlichung von der Aufreizung der Sinnlichkeit über die Selbstbe94 Alfred Urban: Staat und Prostitution in Hamburg. Staatswiss. Diss., Hamburg 1925, S. 55 und 107 f. 95 In Dresden hängte ein Barbier die „Dresdener Rundschau“ in seinem Schaufenster aus (Nr. 4, 26.1.1901, S. 2), und O. v. Leixner erwähnt „Bartscherer“ als Verbreiter unzüchtiger Bilder (wie Anm. 78, S. 4). ' 96 George Grosz, der damals als Jugendlicher in Stolp wohnte, erwähnt nicht nur die Bilder aus dem „Reporter“, die Lektüre der Serienhefte und die Sensationsbilder der ambulanten Panora­ men („Jene Welt, so schien es mir, war in unserer kleinen hinterpommerschen Stadt nicht zu erleben“), sondern auch den einmal wöchentlich durchfahrenden Expresszug Paris-St. Peters­ burg, begleitet von der „jugendlichen Sehnsucht nach der weiten Welt“ (wie Anm. 77, S. 22 und 26).

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friedigung und die dadurch bewirkte körperliche und seelische Auszehrung zum Verlust der Zeugungs- und Wehrkraft und damit zwangsläufig in den nationa­ len Untergang.97 Der an Körperfunktionen ausgerichteten Beweisführung die­ ser Argumentationskette entspricht eine betont krankheitsmetaphorisch gepräg­ te Sprache. Die Witzblätter „Sect“, „Satyr“ und „Das kleine Witzblatt“ seien eine „Pestbeule für das deutsche Volk“98 und ein „Geschwür“ bzw. eine „Eiter­ beule am Körper der deutschen Presse“; „Berlin und Deutschland“ würden seit dem Aufkommen solcher Zeitschriften „verpestet“, wobei sich die „Krankheit“ sogar schon „in abgelegene Gebirgsdörfer ungehindert verbreitet“: „es fiebert der Volkskörper“.99 Aber es geht den Kritikern um mehr als um die Wieder­ erringung der Volksgesundheit, es geht um die „Erhaltung der germanischen Rasseeigentümlichkeiten“, die durch das massenhaft verbreitete unsittliche Schrifttum bedroht sind.100 Eine konservative Berliner Tageszeitung wird deut­ licher: Die „Schmutzliteratur“ einschließlich „zotiger Witzblätter“ sei „durch und durch ungermanisch und wird großenteils von undeutschen Parasiten und Schmarotzern fabriziert“.101 Wer damit gemeint ist, erfährt der zeitgenössische Leser aus einer anonymen Flugschrift: in Preußen naturalisierte „österreichi­ sche Israeliten“, die das Geschäft mit den Witzblättern monopolisiert hätten.102 Die Diagnose, das deutsche Volk befinde sich im Zustand fortschreitender Krankheit, provoziert, verschärft durch den antisemitischen Affekt, sofortige Gegenmaßnahmen, d.h. ein entschiedenes Vorgehen von Polizei, Staatsanwalt­ schaften und Gerichten gegen die Verbreiter des Giftes der Unsittlichkeit und der Unmoral. Deren Gegner sind zwar durchweg mit der staatlichen Verfol­ gungspraxis unzufrieden, weil ihrer Ansicht nach die entsprechenden Geset­ zesbestimmungen sowie viele Gerichtsentscheidungen es an der notwendigen Schärfe fehlen lassen, doch verfügt der Staatsapparat tatsächlich über weitrei­ chende Möglichkeiten zur Bekämpfung mißliebiger Druckerzeugnisse. Staat­ liche Maßnahmen gegen die Presse für die „niederen Instinkte" sind damals in aufsteigender Linie des Repressionsgrades - Aushangverbot und Straßen­ handelsverbot (für einzelne oder alle Ausgaben einer Zeitschrift), BeschlagnahLeixner (wie Anm. 78), S. 1 f. - Ausführlich über die Argumente der Kritiker: Jäger (wie Anm. 3), S. 173-178, bes. 175 f. 98 Flugblatt „Schmutz und Gift“ des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild. In: „Presse-Buch-Papier“ Nr. 26, 24.6.1905, S. 295. 99 Leixner (wie Anm. 78), S. 2, 9, 11 f., 15. 100 Kemmer (wie Anm. 75), S. 2. 101 „Der Reichsbote“(Berlin) vom 13.10.1904. In: Bohn (wie Anm. 66), S. 92. 102 Ekkehard: Schmutzannoncen. Leipzig 1906, S. 4. Nicht alle Autoren argumentieren offen an­ tisemitisch. O. v. Leixner spricht sich sogar dagegen aus, wiederholt dann aber den Hinweis auf die führende Rolle „von jüdischen Verlegern“ bei der Verbreitung der „unreinlichen“ Pe­ riodika und unterscheidet nachdrücklich zwischen „unserem Volk“ und den Juden (wie Anm. 78, S. 19 f.).

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me und Erscheinungsverbot (für be­ X Damen X Uon 81. ntrwnscbwäcbt 6 Com tbell« AnlrkR» mit, Chauttee Wim» in asst 17. 9 A. eellsltnd. Bum«. stimmte Ausgaben einer Zeitschrift), Sp -, p BrlalmarfcaneekrbilîîïïeriJe *■“ iMlan Sammler Standeaanoaba. IdealeWeiber. Anklage und gerichtliche Verurteilung 6 4) KOtOS von Herstellern und Verbreitern von r - Z. pAaa*ahltrndun( ‘‘flw “*'d’11' IlasGeschlechlsIcben I Miniatur 8i0. Mb. 10 Zeitschriften.103 allflpracben. K. «trauert. Or HB Martin. bulrni ».nSi« niittta furui J Von diesen Möglichkeiten wird sei­ »Oft» eetfai.IL flubr|itbnibothbir ttrnfl'Ittie'Uer-1 badibaiiblaug +magerkeit+ grara(iiH!eben*]t«W( *' nerzeit reichlich Gebrauch gemacht. veile durch unear «eldena Madame Heilung: In -9 Der „Satyr“ gerät unmittelbar nach nahme — kein ■ oder Nachnahme aasanta eillUebrancheaoweleung Institut seinem Erscheinen im Oktober 1899 trail» *7. Steiner «7. I Illust. in Konflikt mit den Behörden. Schon Für männert »JR Cestkndnlsse Bnl SrbatrhecusUodeo beathrt« Bebend . Man die zweite Nummer wird von der Ktne. od Nadia »•rat. la am 29. Rlchardï Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, das Pariser Photos. (.1 eon 30 Vielte« Blatt zudem vom Verkauf auf Bahn­ Miniaturen) * SCHILLER. 2 Waarcn höfen ausgeschlossen. Am Ende des S ROmner, Franhlurf Krankenpflege. Dienen ersten Jahrgangs registriert der „Satyr“ Practiker. L Wilhelms, «7. gratisTu Gründliche Hülfe zwei Konfiskationen (die von den Ge­ Innere Krankh . »pea chroa. oad richten aber wieder aufgehoben wur­ Zauber ■ab Kimm stapu den) und 17 Straßenverkaufsverbote f.okm. Ruebci. B flanlmlai (gegen die es keine Rechtsmittel alt Dr. A. »cbltflal's Verlag. »•!»). Jrtafporte 6 gab).104 Auch in den folgenden Jahren wird das Blatt immer wieder im Zu­ Abb. 8: Das kleine Witzblatt (Berlin) Nr. 5/1903 sammenhang mit behördlichen Re­ pressionsmaßnahmen genannt. Das gilt ebenso für „Das kleine Witzblatt“ und „Sect“ sowie für weitere Witzblätter. In Berlin verfügt die Polizei im Jahr 1901 ein Aushangverbot unter anderem für die drei genannten Titel wegen „.unsitt­ licher“ bildlicher Darstellungen bezw. .anstößigen“ Textes“.105 Hannover (1906) und Hamburg (1909) folgen mit einem Verkaufsverbot im Straßenhandel.106 Als besonders schikanös und vertriebsschädigend wird von den Betroffenen das oft angewandte Verfahren der Polizei empfunden, gerichtliche Auseinandersetzun­ gen mit Verlegern und Redakteuren der Zeitschriften bzw. mit deren Anwäl­ ten zu meiden und stattdessen die Straßenhändler zu belangen und sie wegen auf «ia leb Oppltf* erlang'*. Frau w. Dollla iu CkartelWaburg I«, Plan nt c h« • nach Empfanq ’»n Porto an hol 0. Lublin. Zehlendorf bei Bei im.

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103 Aushang- und Straßenhandelsverbote wurden unter Bezug auf § 56 der Reichsgewerbeordnung (Verbot des Feilbietens von Schriften und Bildern, die in sittlicher Beziehung Ärgernis erre­ gen können) oder unter Bezug auf kommunalpolizeiliche Bestimmungen über den Straßen­ handel verhängt, während die schärferen Maßnahmen mit Verstößen gegen § 184 des Strafge­ setzbuches über die Verbreitung unzüchtiger Schriften und Abbildungen begründet wurden. - Ausführlicher über das Instrumentarium zur Bekämpfung von „Schund und Schmutz“ bei Jäger (wie Anm. 3), S. 178-184. 104 „Satyr“ Nr. (52), 1900, S. 826. 105 „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 47, 23.11.1901, S. 5. 106 „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 39, 27.9.1906, Sp. 981; Schultze (wie Anm. 81), S. 90 f.

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unterlassener Prüfung der von ihnen feilgebotenen Blätter auf eventuelle Anstößigkeiten zu bestrafen.* 107 Sind die behördlichen Maßnahmen gegen die Witzblätter in der zeitgenös­ I sischen Presse gut dokumentiert,108 fehlt eine solche Überlieferung für die Sex-and-crime-Blätter. So treten der „Reporter“ und „Wage und Schwert“ in dieser Beziehung nicht in Erschei­ Hygien. Gummiartikel Magerkeit-fr Gummiwaaren-Versandhaus, nung, vielleicht weil sie zu den Wo­ Berlin W. o o o Victoria Luiseplatt 12 a, chenschriften gehören, von denen eine 50 Couplets konservative Zeitung schreibt, daß sie 1X1 „an Nacktheiten und Halbnackthei­ ten, an Zoten und Halbzoten, an Schlüpfrigkeiten und Schmutzereien Damen-Blusen u. Kostüme gerade soviel bieten, wie ihnen ohne flagrante Gesetzesverletzung möglich ist“.109 Doch werden auch diese Blät­ Hollaender & Co., Berlin, ter überwacht. So sind die im Ham­ Ceipzigerstrasse 112,1, Eche IKauerstr. burger Staatsarchiv aus den Jahren 1891 bis 1895 vorhandenen Nummern des „Criminal-Reporter / Illustrirte Abb. 9: Sect (München) Nr. 6/1907 Gerichts-Zeitung“ mit einem Ein­ gangsvermerk der Hamburger Poli­ zeibehörde versehen, und auch die zu den „Skandalblättern“ gehörende „Dres­ dener Rundschau“ steht unter regelmäßiger staatlicher Überwachung: Am Ausgabetag kontrolliert der Dresdener Polizeipräsident persönlich das neue­ ste Heft und gibt es dann zur weiteren Prüfung an die Staatsanwaltschaft wei-

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107 „Satyr“ Nr. (20), 1900, S. 318 f.; „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 13,29.3.1906, Sp. 311 und Nr. 30, 26.7.1906, Sp. 750. - Die Straßenhändler wehrten sich: Sie „stellen verbotene Hefte nicht mehr offen in ihre Tragständer, aber auf eine Nachfrage zaubern sie das Gewünschte aus einem ver­ steckten Fach hervor, nachdem sie sich umgesehen haben, ob ein Schutzmann in Seh- oder Greifweite zu erblicken ist.“ (Leixner, wie Anm. 78, S. 2). 108 „Der Zeitungs-Verlag“ 1900 ff., Rubrik „Rechtspflege, Massregelungen usw.“. - Verwiesen sei auch auf den sog. Polunbi-Katalog von 1926 (als Nachdruck: Herbert Birett (Hg.): Verbotene Druckschriften in Deutschland. Band 2: Schmutz und Schund. Liechtenstein 1995); das Ver­ zeichnis der verbotenen Bücher und Zeitschriften, Leipzig 1914, ist hingegen ziemlich lücken­ haft. 109 „Deutsche Tageszeitung“ (Berlin) vom 13.8.1904. In: Bohn (wie Anm. 66), S. 10; mit einer ge­ wissen Befriedigung merkt der „Reporter“ im März 1900 an, bisher noch nicht wegen Presse­ vergehens verurteilt worden zu sein (Nr. 10, 1900, S. 5).

Presse für die „niederen Instinkte“

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ter.110 Daraus ergeben sich wiederholt Verurteilungen zu selbst für damalige Ver­ hältnisse drakonischen Strafen. So wird der Redakteur des Blattes wegen Ehr­ verletzung zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt, sein Nachfolger wegen „Ver­ ächtlichmachung von Anordnungen der Obrigkeit“ zu vier Monaten.111 Die Vermutung der Zeitschrift, sie solle auf diese Weise mundtot gemacht werden, war wohl nicht ganz unbegründet. Doch der Hauptstoß der Kritik an der Presse für „niedere Instinkte“ richtet sich gegen die Witzblätter. Ganz besonders deren Anzeigenteile sind den Ver­ teidigern der öffentlichen Sittlichkeit ein Dorn im Auge. Die Inserate erschei­ nen ihnen mehr als bei allen anderen Periodika als integraler Bestandteil der je­ weiligen Zeitschriften, gleichsam als Fortsetzung des redaktionellen Teils mit anderen Mitteln (Abb. 8, 9). Am häufigsten wird in diesem Zusammenhang das „Kleine Witzblatt“ genannt. Zwar gebe es auch in ästhetisch niveauvolleren Witzblättern wie dem „Simplicissimus“ gelegentlich „Schmutzannoncen”, aber diese Zeitschrift „ist ein ahnungsloses Kind (...), wenn man daneben das .Klei­ ne Witzblatt“ (...) betrachtet. (...) Dieses Blatt hat (...) durch die Gemeinheit seines Inhalts alles angezogen, was schmutzige Ware vertreiben will.“112 Gemeint sind damit vor allem Anzeigen für erotische Schriften und Aktfotografien sowie für Mittel gegen Impotenz, zur Empfängnisverhütung und für Abtreibungen. Wegen der Strafbarkeit derartiger Werbung erfolgt diese oft in verschleierter Form - z.B. werden Verhütungs- und Abtreibungsmittel neutral als „hygieni­ sche bzw. medizinische Waren“ inseriert -, doch die Leser wissen die Angebo­ te zu deuten und offenbar auch zu schätzen, was den Verlegern - „Das kleine Witzblatt“ besteht bis zur Hälfte aus Annoncen - einen „nachweisbar außer­ ordentlich hohen Verdienst“ einbringt.113 Hier setzen die Kritiker den Hebel an. Der schon genannte Otto von Leixner fordert in seiner Programmschrift „Zum Kampfe gegen den Schmutz in Wort und Bild“ die Behörden auf, gezielt gegen derartige Anzeigen vorzugehen und unter Bezug auf §184 StGB alle Ausgaben der inkriminierten Zeitschriften zu beschlagnahmen, „dann sind diese Blätter in einem Jahre zum grössten Teile tot.“114

110 „Dresdener Rundschau“ Nr. 9, 2.3.1901, S. 3. 111 „Dresdener Rundschau“ Nr. 31, 3.8.1901, S. 2-4; „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 50, 15.12.1904, Sp. 1243. - Bewährungsstrafen gab es damals noch nicht. 112 Leixner (wie Anm. 78), S. 8 f. 113 Swierczewski (wie Anm. 74), S. 20 f.; die Verleger bzw. die Pächter der Annoncenteile sollen für juristisch bedenkliche Inserate weit überhöhte Anzeigenpreise verlangt haben (Ekkehard, wie Anm. 102, S. 5). - Nicht nur die Witzblätter „Satyr", „Sect“ und „Das kleine Witzblatt“, sondern auch die meisten anderen hier behandelten Zeitschriften - „Das Album“, der „Repor­ ter“, „Wage und Schwert“ und die Hamburger „Ilustrirte Gerichts-Zeitung“ - enthalten ein­ schlägige Anzeigen. 114 Leixner (wie Anm. 78), S. 13.

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Hartwig Gebhardt

Leixner veröffentlicht seine Schrift im Jahr 1904, in dem er auch den Volks­ bund zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild ins Leben ruft und in dem in Köln der Internationale Kongreß zur Bekämpfung der unsittlichen Li­ teratur stattfindet. Das Ziel ist, Staat und Öffentlichkeit gegen alle Formen als unsittlich klassifizierter Druckerzeugnisse zu mobilisieren. Ob die Aktivitäten der Sittlichkeitsbewegung des Jahres 1904 zu einer Verschärfung der staatlichen Repression gegen die Zeitschriften für „niedere Instinkte“ in der Folgezeit bei­ getragen haben, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, doch deuten die Quel­ len darauf hin. Nur sechs Wochen nach dem Kölner Kongreß teilt die Zeitschrift „Sect“ ihren Lesern mit, sie werde künftig keine Werbung mehr für „Photos u. pikante Lektüre“ veröffentlichen.115 Als sich das Blatt einige Monate später an diese Ankündigung nicht mehr hält, beschlagnahmt die Münchener Staatsan­ waltschaft mehrere Nummern.116 Um weiteren Konfiszierungen zu entgehen, übt das Blatt zeitweise Selbstzensur und schwärzt „gefährdete“ Inserate ein. Auch das „Kleine Witzblatt“ versucht, drohenden staatlichen Maßnahmen zuvorzukommen, und verzichtet auf die Veröffentlichung gewisser Annoncen bzw. läßt an deren Stellen „große leere Räume“.117 Als das Blatt doch wieder einschlägige Anzeigen bringt, wird der Geschäftsführer zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Gerichtsverfahren wurde übrigens veranlaßt durch den Gene­ ralsekretär der deutschen Sittlichkeitsvereine, Friedrich Bohn, der im Auftrag des Leixnerschen Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutzes in Wort und Bild bei der Berliner Polizei vorstellig geworden war.118 Das oben erwähnte Straßen­ handelsverbot in Hannover für bestimmte Zeitschriften wurde ebenfalls auf Betreiben eines Sittlichkeitsvereins verhängt.11'1 Auch wird man die Notiz im „Zeitungs-Verlag“ von 1905, die Polizei habe auf den Vertrieb von Zeitschrif­ ten wie „Satyr“ und „Das kleine Album“ in „letzter Zeit ein besonders wachsa­ mes Auge“ und gehe jede Woche gegen derartige Blätter vor,120 sowie die Äuße­ rung der Zeitschrift „Sect“ vom Beginn des Jahres 1908 über die sich kräftig regenden Mucker und Pharisäer, die das Blatt als gefährlich denunzierten, im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Sittlichkeitsagitation sehen müs­ sen.121 Die Wortführer der Sittlichkeitsbewegung verlangen die umstandslose Un­ terdrückung unsittlicher Druckerzeugnisse durch den Staatsapparat und begrün­ 115 „Sect“ Nr. 2, (1904). 116 Handschriftliche Notiz betr. die Konfiszierung der Nrn. 19-22 (1905) im Exemplar der Bayer. Staatsbibliothek München. 117 Swierczewski (wie Anm. 74), S. 21. 118 „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 1, 3.1.1907, Sp. 12 f.; Swierczewski (wie Anm. 74), S. 20. 119 „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 39, 27.9.1907, Sp. 981. 120 „Der Zeitungs-Verlag“ Nr. 35, 31.8.1905, Sp. 857. 121 Siehe Anm. 66.

Presse für die „niederen Instinkte“

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den diese Forderung mit der moralischen und politischen Notwendigkeit, den mit dem Gift der Unsittlichkeit infizierten Volkskörper zu heilen. Die Liquidie­ rung der Presse für die „niederen Instinkte“ wird daher in den Kritikerschriften übereinstimmend und vor allem als fürsorgliche Maßnahme zum Schutz der Mehrheit der Bevölkerung ausgegeben, die nicht unbedingt aus „Verderbtheit“, sondern eher aus „Schwäche und Unerfahrenheit“ dem „Genuß (...) des dun­ keln Triebes“ verfallen ist.122 Doch nicht nur die breite Masse gilt es vor dem Gift literarischer und bildlicher Versuchung zu schützen. Gefährdet seien auch alle, die sich aufgrund ihrer Einsicht in die Gefahr und aufgrund ihrer gefestig­ ten Sittlichkeit gegen die „glühende Flamme unreiner Triebe“ gefeit wähnten. Wenn Otto von Leixner vom „inneren Feind“ spricht, meint er vordergründig die kollektive „Entartung des Geschlechtslebens“ in den proletarischen und kleinbürgerlichen Massen, doch wird man ihm nicht unrecht tun, wenn man ihn beim Wort nimmt und den inneren Feind auch als Feind im Innern des gebilde­ ten deutschen Mannes identifiziert. Leixner selbst liefert den Beweis dafür, in­ dem er seinen Lesern die Gefahr durch den „Dämon des Verderbens“ veran­ schaulicht, der sogar der Fachwissenschaftler ausgesetzt sei: „Ich habe einen Mann gekannt, einen kräftigen, unverdorbenen, der Kulturgeschichte betrieb und dadurch auf die erotischen Schriften hingewiesen wurde. Als Forscher hat er begonnen - mit dem Selbstmord hat er geendet.“

122 Leixner (wie Anm. 78), S. 7 und 11; die anderen Zitate dieses Absatzes finden sich ebenda, S. 1 f., 10 und 17.

Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur und die Jugendschriftenbewegung um 1900 Gisela Wilkending

Zur Einführung „Die Production auf dem Gebiete der Jugendliteratur nimmt unverhältnismäßig zu. Während die Zahl der literarischen Erzeugnisse des deutschen Buchhandels überhaupt von 17 016 im Jahre 1888 auf 17 986 im Jahre 1889 gestiegen ist, hat die Rubrik der Jugendschriften eine Vermehrung von 494 auf 591, d.i. von fast 20% aufzuweisen. Es ist von vornherein klar, daß unter dieser Zahl eine große Menge minderwerthiger Bücher ist. Wer aber Gelegenheit oder Beruf hat, sich etwas genau­ er um die Lesekost unserer Jugend zu bekümmern, ist geradezu entsetzt über die beispiellose Leicht­ fertigkeit, ja Frechheit, mit welcher eine gewisse Sorte von Schriftstellern und Verlegern Jugend­ schriften auf den literarischen Markt bringt. (...) Wir brauchen nicht hinabzusteigen in jene niedern Regionen der 25 Pfg-Hefte mit den lächerlich-blödsinnigen, bluttriefenden Indianergeschichten und dem bunten, in neu-ruppinscher Manier bemalten Umschlag, wie man sie in den meisten Papierund sogar in einigen Buchhandlungen ausliegen sieht. In stattlichem, stilvollem Gewände, den ver­ trauenerweckenden Namen einer hochangesehenen Verlagsfirma an der Stirn, marschiren Erschei­ nungen auf dem Büchermärkte auf, deren innere Jämmerlichkeit jeder Beschreibung spottet. We­ der der Preis, noch die gediegene Ausstattung, noch der Verleger, ja streng genommen nicht einmal der Name des Verfassers, bietet die Garantie für den Werth einer Jugendschrift.“1

Bereits mit seiner ersten Veröffentlichung zur Jugendschriftenfrage, im Jahre 1890 im liberalen Hamburger Fremdenblatt, setzt der Volksschullehrer Hein­ rich Wolgast (1860-1920) - noch heute gilt er als die herausragende Figur in­ nerhalb der „Jugendschriftenbewegung“2 der Jahrhundertwende - in der lan­ gen Tradition pädagogischer Jugendschriftenkritik, so zeittypisch seine Kritik auf den ersten Blick erscheinen mag, einen neuen Akzent. Nicht etwa die von den Zeitgenossen viel geschmähte Heftchenliteratur steht im Zentrum seiner Kritik, sondern die Jugendliteratur renommierter Autoren und Verlage. Die Hauptaufgabe der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend in regiona­ len pädagogischen Ausschüssen und Kommissionen geleisteten Jugendschriften­

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Heinrich Wolgast: Was und wie sollen unsere Kinder lesen? In: Hamburger Fremdenblatt, 62. Jg. 1890, Nr. 50 vom 28.2. Jugendschriftenbewegung“ meint im folgenden den Gesamtkomplex der organisierten Jugend­ schriftenkritik der Lehrerschaft, insbesondere der Volksschullehrerschaft, als deren Zentrum die „Vereinigten Prüfungsausschüsse“ (s.u.) anzusehen sind.

Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur

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kritik3 galt bis dahin vornehmlich der Auswahl des pädagogisch „Besten“ aus der unübersichtlich gewordenen Fülle spezifischer Jugendliteratur, insbeson­ dere der Trennung der „Spreu“ (vor allem „Kolportage“) vom „Weizen“ („gute“ Jugendliteratur). Wolgast, selbst Vorsitzender eines gerade innerhalb der Ham­ burger Volksschullehrerschaft zu diesem Zweck gegründeten „Prüfungsaus­ schusses“, geht es letztlich nicht um eine solche Auswahl. Das Spektakuläre an seiner Jugendschriftenkritik ist vielmehr, und dieser Aspekt soll im Zentrum der folgenden Darstellung stehen, daß er die Grenze zwischen der von den Pädago­ gen des 19. Jahrhunderts einhellig als „Schmutz und Schund“ verdammten Kolportageliteratur, etwa den Heftchen aus dem Bagel-Verlag, und der über den regulären Buchhandel verkauften Jugendliteratur renommierter Verlage und Autoren als flüssig ansieht. Wichtig ist dabei, daß seine Ansicht nicht allein aus der ästhetischen Bewer­ tung der Jugendliteratur abgeleitet, sondern auch durch Kritik der Warenästhetik und der politischen Ökonomie motiviert ist. Wolgast kritisiert daher nicht nur das Funktionalisieren der Literatur für „außerhalb ihrer selbst liegende Zwekke“, sondern vor allem eine bestimmte, nämlich ihre politische Funktion. Er kri­ tisiert vor allem das „Ueberwuchern der patriotischen Jugendliteratur“, den „Riesenberg von chauvinistischem, lobhudelndem und lügendem Schund“.4 Insbesondere die Kolportageliteratur im engeren Sinne diene dabei, so Wolgast, gleichzeitig dem Mißbrauch ästhetischer Bedürfnisse, vor allem der Ausbeutung des „Lesebedürfniß(es) der ärmeren Bevölkerungsklassen“.5 Mit seiner buch­ marktkritischen Position setzten sich Wolgast und seine Anhänger, die „Ham­ burger Bewegung“,6 etwa zwei Jahrzehnte lang schärfsten Angriffen, vor allem von der Seite des Börsenvereins, von der Seite einiger Autoren und von Vertre­ tern des örtlichen Buchhandels aus (s. Anlage). Aber auch in der Lehrerschaft selbst blieb diese Position singulär. Keine jugendliteraturkritische und literatur­ pädagogische Schrift hat seither so heftige positive und negative Reaktionen

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Das früheste entsprechende Verzeichnis stammt vermutlich vom Berliner Geselligen-Lehrerverein: Was sollen unsre Kinder lesen? Was sollen unsre Jungfrauen und Jünglinge lesen? Ein Wegweiser durch die Literatur, für Eltern und Erzieher. Berlin (1851). S. dazu den Quellen­ bericht von Gisela Wilkending: Kritik der Jugendlektüre. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Herausbildung der Hamburger Jugendschriftenbewegung. In: Kinder- und Jugend­ literaturforschung (3. Jg.) 1996/97, S. 36-68. Heinrich Wolgast: Unsere moderne Jugend-Literatur. Streiflichter und Bemerkungen. In: Ham­ burger Fremdenblatt. 63. Jg. 1891, Nr. 304 vom 31.12. und 64. Jg. 1892, Nr. 1 vom 2.1.; hier Nr. 304. Ders.: Die literarische Bildung der Volksmassen. In: Die Gegenwart. 42. Jg. 1892, S. 117-(119) und S. 365-367; hier S. (119). Wie der Begriff der Jugendschriftenbewegung“ ist auch der Begriff der „Hamburger Bewe­ gung“ ein zeitgenössischer Begriff. Zeitgenössisch wurde er häufig in polemischer Absicht ver­ wendet.

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Gisela Wilkendin

ausgelöst und eine so nachhaltige Wirkung gehabt wie Wolgasts 1896 erschie nene Kampfschrift Das Elend unserer Jugendliteratur.7 1893 schlossen sich auf der Deutschen Lehrerversammlung in Leipzig 11 re gionale Jugendschriftenkommissionen, unter ihnen auch die Hamburger Kom mission, im Dachverband der Vereinigten deutschen Prüfungsausschüsse für Ju gendschriften (VPA), zunächst mit dem „Vorort“ Berlin, zusammen. Die gleich zeitig gegründete Vereinszeitschrift, die Jugendschriften-Warte (JSW), wurdi fortan zum wichtigsten Rezensions- und Diskussionsorgan der Jugendschriften bewegung.8 Daß Wolgast und der Hamburger Prüfungsausschuß in den verei nigten Prüfungsausschüssen für einen großen Zeitraum, von 1896 an, uneinge schränkt die Führungsposition einnahmen, darf allerdings nicht darüber hinweg­ täuschen, daß sich Wolgasts radikal kritische Position gegenüber Buchhandel Verlagswesen und einigen Jugendbuchautoren sowie gegenüber patriotisch religiös und moralisch tendenziöser Jugendliteratur auch in der JSW nur mil Abstrichen durchgesetzt hat.9 Intern betrachtet, erscheint die Geschichte dei Jugendschriftenbewegung eher als Geschichte permanenter Flügelkämpfe und Kompromisse. Dennoch boten die Ausschüsse Wolgast und seinen „Partei­ gängern“ in ihren Auseinandersetzungen mit Repräsentanten des Buchmarkts Rückhalt. Breitenwirksam war an Wolgasts Position also nicht die Spezifik sei­ ner Buchmarktkritik. Auch in der Wolgast-Rezeption des 20. Jahrhunderts spielte sie kaum noch eine Rolle.10 Auf breiterer Basis konsensfähig waren dagegen Wolgasts Utopie der Kul­ tivierung des ästhetischen „Geschmacks“ im Bereich der „literarische(n) Bil­ dung der Volksmassen“11 und insbesondere der in Das Elend unserer Jugend­ literatur ausführlich begründete, wohl bekannteste Grundsatz Wolgasts, daß die „Jugendschrift in dichterischer Form (...) ein Kunstwerk sein“ muß.12 Über Heinrich Wolgast: Das Elend unserer Jugendlitteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erzie­ hung der Jugend. Hamburg 1896. 8 Nach Wolgast gehören dieser Dachorganisation im Jahre 1905 bereits 65 örtliche Jugend­ schriftenausschüsse an. Die JSW wurde regelmäßig pädagogischen Blättern mit 50 000 Ex­ emplaren beigelegt. Das Weihnachtsverzeichnis empfehlenswerter Jugendlektüre sei 1904 in 141 000 Exemplaren verteilt worden. S. Heinrich Wolgast: Ueber den gegenwärtigen Stand der Jugendschriftenbewegung. In: Blätter für Volksbibliotheken und Lesehallen, 6. Jg. 1905, S. (41)44, hier S. (41). 9 S. dazu Herm(ann) L(eopold) Köster: Geschichte der deutschen Jugendliteratur. In Monogra­ phien. 2 Bde. Hamburg 1906-1908. 10 Wie sehr die Wolgast-Rezeption seine buchmarktkritische Position reduziert hat, dafür steht insbesondere Wilhelm Fronemann: Das Erbe Wolgasts. Ein Querschnitt durch die heutige Jugendschriftenfrage. Langensalza 1927. S. aber auch die früheren Arbeiten von Joseph Antz: Jugendschrift und Erziehung. Ein Beitrag zur Lösung der Jugendschriftenfrage. Wittlich 1905; Paul Lang: Jugendschrift und Tendenz. Ein Beitrag zur Theorie der Jugendlektüre. Leipzig 1907. 11 Wolgast, Elend (wie Anm. 7), S. 117. 12 Ebd., S. 21 (im Original gesperrt). 7

Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur

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diese Formel ließ sich die Jugendschriftenbewegung als integrales Element der „Kunsterziehungsbewegung“ der Jahrhundertwende auffassen.13 Die Formel wurde später auch zu einem zumindest losen Band zwischen der zunächst vor allem von Volksschullehrern getragenen Jugendschriftenbewegung und der vom Bildungsbürgertum getragenen Kulturpolitik des Dürer-Bundes.14 Wolgasts kritische Distanz zur Kinder- und Jugendliteraturproduktion ins­ gesamt, seine Kritik an der literarischen „Ausbeutung“ der Massen und die dar­ aus resultierenden Auseinandersetzungen mit bekannten Verlegern, Autoren und Buchhändlern sowie ihren Interessenorganisationen brachten es allerdings mit sich, daß sich die Jugendschriftenbewegung in den organisierten „Schmutz und Schundkampf“ seit dem Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts m.E. nicht bruchlos integriert hat.15 In Deutschland zu bekannt war auch, daß 13 Eine solche Integration der Jugendschriftenbewegung in die Kunsterziehungsbewegung, un­ ter Eliminierung der politischen Position Wolgasts, nimmt insbesondere Lang (wie Anm. 10) vor. 14 Heinrich Wolgast und Hermann Leopold Köster sind Mitglieder im Gesamtvorstand des DürerBundes. S. Dürer-Bund (Hg.): Gegen den Mißbrauch des Vaterländischen in Jugendschriften. In Sachen der Kotzde-Scholzschen Agitation. München (1913) (119. Flugschrift zur Ausdrucks­ kultur), S. 3. In der letzten großen öffentlichen Auseinandersetzung um die „vaterlandsfeindliche Tendenz“ der Hamburger Jugendschriftenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg ergreifen der Kunstwart und der Dürer-Bund gegen den Verleger Joseph Scholz und den Autor und Her­ ausgeber Wilhelm Kotzde und für die Hamburger Bewegung Partei (s. Anlage; vgl. auch Wil­ helm Kotzde und Josef Scholz: Der vaterländische Gedanke in der Jugendliteratur. Eine Streitund Wehrschrift. o.O. (1912); Dies.: Vaterländische Erziehung! Eine Antwort auf die Hambur­ ger Rechtfertigung. o.O. (1912). 15 Zum „Schundkampf“ s. vor allem Georg Jäger: Der Kampf gegen Schmutz und Schund. Die Reaktion der Gebildeten auf die Unterhaltungsindustrie. In: Archiv für Geschichte des Buch­ wesens, Bd. 31,1988, S. 163-191; Kaspar Maase: Kinder als Fremde - Kinder als Feinde. Halb­ wüchsige, Massenkultur und Erwachsene im wilhelminischen Kaiserreich. In: Historische Anthropologie, 4. Jg. 1996, S. (93)-126; Ders.: Die soziale Konstruktion der Massenkünste. Der Kampf gegen Schmutz und Schund 1907-1918. Eine Skizze. In: Martin Papenbrock u.a. (Hg.): Kunst und Sozialgeschichte. Pfaffenweiler 1995, S. 262-278; Taiji Azegami: Die JugendschriftenWarte. Von ihrer Gründung bis zu den Anfängen des „Dritten Reiches“ unter besonderer Be­ rücksichtigung der Kinder- und Jugendliteraturbewegung und -beurteilung. Frankfurt/M. 1996. Brunckhorst nimmt vermutlich korrekt die Jahre 1907/8, „als die neue Schundliteratur der NickCarter- und Buffalo-Bill-Hefte zuerst in größerem Maße sich ausbreitete“, als den Zeitpunkt der Integration der Lehrerschaft in den organisierten „Schundkampf“ an. S. Paul Samuleit/Hans Brunckhorst: Geschichte und Wege der Schundbekämpfung. Berlin 1922, S. (23). Der „Schund­ kampf“ in diesem engeren Sinn, der mit der „Hochflut“ der neuen Typen großformatiger Heft­ chenliteratur im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einsetzt, vor allem aber die Geschichts­ schreibung des Schundkampfes in den 20er Jahren (Fronemann u.a.) hat die m.E. zunächst großen politischen Differenzen zwischen den einzelnen Richtungen und die Sonderstellung mindestens eines Teils der Hamburger Lehrer verwischt. Einzelne Mitglieder der „Hamburger Bewegung“ blieben gegenüber der Einrichtung der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schund­ literatur durch einen ihrer Gegner, Karl Brunner, negativ eingestellt. Noch 1910 spricht sich Wolgast in seiner Spätschrift Ganze Menschen grundsätzlich skeptisch gegenüber einer Zen­ sur im Bereich der Kultur aus. S. Heinrich Wolgast: Ganze Menschen. Ein sozial-pädagogischer Versuch. Berlin 1910, S. 126. Vgl. auch die Stellungnahmen von Georg Hassenpflug: Die Be­ kämpfung der Schundliteratur durch die Stellvertretenden Generalkommandos. In: Jugend-

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ein großer Teil der reformorientierten Hamburger Volksschullehrer, unter ih nen Wolgast, mit der Sozialdemokratie sympathisierte. Schon 1899, währen^ der ersten großen Auseinandersetzung der Hamburger Bewegung mit dem oi ganisierten Buchhandel, prangerte der in der „Sammlungsbewegung“ sowie ii der Kolonial- und Flottenpolitik aktive Journalist Friedrich Lange „die anti religiöse und antipatriotische“ Tendenz des Hamburger Prüfungsausschüsse an und äußerte die Hoffnung, daß der Hamburger Senat „seinen Gemeinde lehrern jede Mitwirkung an diesem Jugendschriften-Ausschuß untersagt“.16 Die folgende Darstellung kann nicht die komplexen Verläufe der Jugend­ schriftenbewegung im Kontext anderer erziehungs- und kulturreformerischei Bewegungen rekonstruieren.17 Im Zentrum steht vielmehr die Frage, wie dei Prozeß der Kommerzialisierung der Jugendliteratur angesichts der wirtschaft­ lichen, politischen, sozialen und kulturellen Umbruchssituation der Jahrhun­ dertwende von Vertretern der „Jugendschriftenbewegung“ selbst reflektiert wird. Gerade die avanciertesten Positionen innerhalb der Jugendschriftenbewe­ gung, zu denen insbesondere Heinrich Wolgast gehört, sind ein Spiegel der in­ neren Widersprüche der Kulturreformbestrebungen in dieser Zeit des gesell­ schaftlichen Umbruchs. Dabei bilden sich innerhalb der Jugendschriftenbe­ wegung, zumindest im Kontext der Hamburger Bewegung in den 1890er Jahren und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, durchaus innovative kulturanaly­ tische, auch das politisch-kulturelle Handeln dieser „Bewegung“ anleitende oder legitimierende Argumentationsmuster aus. Die wichtigste Innovation liegt m.E. darin, daß die Struktur der Jugendliteratur und der jugendliterarische Prozeß schriften-Warte, 23. Jg. 1916, S. (21 )-25; Ders.: Kann die Schundliteratur durch die stellv. Ge­ neralkommandos ausschließlich nach der „Berliner“ Liste mit durchschlagendem Erfolg be­ kämpft werden? In: Ebd., S. 29-31. Gleichzeitig profiliert sich in der JSW der Frankfurter Leh­ rer Fronemann als Parteigänger Brunners. S. Wilhelm Fronemann: Die Aufgaben der „Verei­ nigten Deutschen Prüfungsausschüsse für Jugendschriften“ gegenüber der Kriegsliteratur. In: Ebd., S. 33-35, S. (37)-39 und S. 41-43. Die Differenzen zwischen Teilen der „Hamburger Be­ wegung“ und Brunner spiegeln sich in den Jahren zuvor insbesondere in dem von Brunner herausgegebenen Zentralorgan des „Schundkampfes“, der Hochwacht (1910 ff.). 16 (Friedrich Lange:) Eroberungsversuche der Sozialdemokratie in der Volksschule. In: Deutsche Zeitung. Jg. 1899, vom 22.9. Zu Lange s. Gisela Wilkending: Volksbildung und Pädagogik „vom Kinde aus“. Eine Untersuchung zur Geschichte der Literaturpädagogik in den Anfängen der Kunsterziehungsbewegung. Weinheim 1980, S. 70 ff. Holtz-Baumert zitiert, allerdings ohne Nachweis, aus der preußischen Kreuz-Zeitung auch eine Polemik mit antisemitischer Färbung: „Ein gewisser Heinrich Wolgast (wahrscheinlich Jude) erdreistet sich ...“. Gerhard HoltzBaumert: „Überhaupt brauchen wir eine sozialistische Literatur ...“. Eine Skizze über die An­ fänge sozialistischer deutscher Kinderliteratur mit einem Dokumenten-Anhang. Berlin 1972, S. 33. 17 S. dazu Azegami (wie Anm. 15), Wilkending, Volksbildung (wie Anm. 16) und Geralde SchmidtDumont (Hg.): Von den Anfängen der Jugendschriftenbewegung in Deutschland. Die Jugend­ schriftenausschüsse und ihr „Vorort“ Hamburg um 1900. Weinheim 1990 (Informationen Ju­ gendliteratur und Medien. Beih. 1).

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nicht allein im „Feld“ von Pädagogik und Ästhetik, sondern auch angesichts der „Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse der Wirtschaft“, von „sozia­ ler Ungleichheit“ und insbesondere auch von „politischer Herrschaft“18 reflek­ tiert werden. Gerade in diesem letzten Moment bleibt die Position Wolgasts und seiner Anhänger auch im Kontext der bürgerlichen Kulturreformbewegungen und der Reformpädagogik der „Kaiserzeit“ dysfunktional. Es zeigt sich aller­ dings gleichzeitig an der Position Wolgasts, daß sein Versuch der Vermittlung zwischen einer ausdrücklich an Karl Marx orientierten Kritik der Warenästhetik und politischen Ökonomie auf der einen Seite und einem ausdrücklich an Fried­ rich Schiller orientierten Ästhetisierungsprogramm, mit dem Ziel der Erziehung des Menschen zur ästhetischen „Genußfähigkeit“, nicht gelingen kann. Auch für dieses Projekt trifft letztlich zu, was Wolfgang Welsch als Konsequenz des „evalatorischen Imperativs“ (Vernichtung des „Stoffes“ durch „Form“) der „tra­ ditionellen Ästhetik“ formuliert hat, daß nämlich in ihr Kultivierungskonzept immer ein „anti-sinnlicher Absolutismus eingebaut“ ist.19

Das „Grossobuch“ - ein „Halbbruder der Jugendschrift“ In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts tritt der seit den 1840er Jahren forcierte Prozeß der Revolutionierung der literarischen Verhältnisse in Rich­ tung auf die Ausbildung eines modernen Systems der Massenkommunikation in eine neue Phase ein.20 Auch die Jugendliteratur21 wird in ihrer Struktur nun wesentlich bestimmt durch den kommerziellen Kreislauf von Angebot und Nachfrage und durch das Funktionsgefüge einer modernen Unterhaltungs­ kultur. Sie nimmt an der Expansion auf dem Buchmarkt teil.22 Dabei öffnet sie 18 Zu diesen Kategorien s. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. 1849-1914. München 1995. 19 Wolfgang Welsch: Asthet/hik - Ethische Implikationen und Konsequenzen der Ästhetik. In: Ders.: Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996, S. 106-134, hier S. 118. 20 Zur Diskussion der divergierenden Epochalisierungskonzepte in der Geschichte von Buch­ produktion und Buchhandel sowie zum vorsichtigen Umgang mit Daten zur Buchproduktion s. Gabriele Scheidt: Der Kolportagebuchhandel (1869-1905). Eine systemtheoretische Rekon­ struktion. Stuttgart 1994, bes. S. 129 ff. Scheidt spricht von einem „Sprung“ von der ersten zur zweiten Phase der Industriellen Revolution (ebd., S. 133). 21 Ich verwende im folgenden den Begriff der Jugendliteratur nicht in einem umfassenden, Lite­ ratur für Kinder und Jugendliche einschließenden, sondern in einem spezifischen Sinn. Verstan­ den wird darunter diejenige Literatur, die an Jugendliche von ca. 12/13 Jahren an adressiert ist. In diesem Teilbereich der Kinder- und Jugendliteratur wird m.E. der Entdifferenzierungsprozeß im Bereich der neuen Unterhaltungsliteratur besonders deutlich. 22 Verläßliche Zahlen lassen sich noch nicht angeben. Das von Bettina Hurrelmann und mir ge­ leitete, in der Kölner Arbeitsstelle für Leseforschung und Kinder- und Jugendmedien (ALEKI) erarbeitete Projekt Handbuch zur Kinder- undJugendliteratur 1850-1900 geht zum gegenwär-

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sich prinzipiell für ein klassen- und schichtübergreifendes Lesepublikum um gibt teilweise auch ihre traditionelle Spezifik als eine von der Erziehungsfunktioi dominierte Jugendliteratur auf.23 Dieser Tendenz entsprechen die große Anzah der „für Volk und Jugend“ gleichermaßen angebotenen Texte, die großen struk turellen Ähnlichkeiten zwischen der neuen Mädchen- und der Frauen-Unter haltungsliteratur, zwischen dem allgemein und jugendspezifisch adressierter Abenteuerroman, dem historischen Roman usw. sowie die Zunahme serielle) und periodischer Jugendliteratur. Gleichzeitig verändert sich auch das Erscheinungsbild dieser Literatur. Dit beiden zunächst von Spemann, später vom marktführenden Stuttgarter UnionVerlag herausgebrachten erfolgreichen Jugendzeitschriften Der gute Kameraa (1887 ff.) und Das Kränzchen (1888 ff.)24 beispielsweise sind nach dem Muster illustrierter Familienblätter konzipiert. Sie werden im übrigen zu Multipli­ katoren solcher Erfolgsautorinnen und -autoren wie Karl May, Bertha Clément, Johanna Klemm, Henny Koch, Else Ury u.a. Vermehrt seit dem Ende der 1870er Jahre, vor allem in den 1890er Jahren, kommt billigere Jugendliteratur auf den Markt. Die Buchdeckel dieser Bücher sind mit auffälligen Farbdrucken beklebt und enthalten ganzseitig eingeheftete bunte Bilder in der Art der Bebilderung von „Kolportageromanen“, während sich einige Verlage in ihren Jugendbuch­ programmen, so etwa der renommierte Unterhaltungsliteraturverlag Velhagen und Klasing, umgekehrt durch ihre besonders in Papier, Druck, Bindung und Umschlaggestaltung komfortable und „vornehme“ Ausstattung, aber auch durch ein entsprechendes Preisniveau, als Verlage für die Wohlhabenden profi­ lieren und damit auch vorgeben, daß das von ihnen hergestellte Buch kein Mas­ senprodukt ist.25 Auch der Kolportagebuchhandel, der „seit 1868 als ein eigener Zweig des Buchhandels figurierte“,26 macht in dieser Expansionsphase einen Ausdifferen­ zierungsprozeß durch. Und in diesem Prozeß kommt es zu engen Berührun-

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tigen Zeitpunkt von einer Gesamttitelzahl von ca. 25 000 Titeln (ohne Periodika) gegenüber 11 000 Titeln für den Zeitraum 1800-1850 aus. Vgl. hierzu auch Otto Brunken/Bettina Hurrelmann/Klaus-Ulrich Pech (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. (Bd. 4). 1800-1850. Stuttgart u.a. 1998. Zu Das Kränzchen s. Irmgard Voß: Wertorientierungen in der bürgerlichen Mädchenerziehung am Beispiel der illustrierten Mädchenzeitung „Das Kränzchen“ 1888/89-1933/34. Hamburg 1997. Aus einer mir vorliegenden Kopie eines Verlagsvertrags aus dem Jahre 1877 zwischen Velhagen und Klasing und der vor allem durch Backfischchen’s Leiden und Freuden (1863) bekannten Erfolgsautorin Clementine Helm geht z.B. hervor, daß Helms Das vierblättrige Kleeblatt je Aufl. in 3 500 Exemplaren aufgelegt werden sollte. Dafür erhielt Helm für die 1. Aufl. immerhin 1 500 und für jede weitere 1 200 Mark. Die aus dem Helm-Nachlaß Hermann Laues (Stuttgart) stam­ mende Vertragskopie wurde mir freundlicherweise mit dessen Zustimmung vom Marbacher Literaturarchiv zur Verfügung gestellt. Scheidt (wie Anm. 20), S. 146.

Die Kommerzialisierung der Jugendliteratur

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gen mit dem jugendliterarischen Markt. Zu die­ sen Berührungen kommt es zunächst einmal im Bereich der frühen „Heftchen-Literatur“, wo­ bei in der Jugendliteraturkritik immer wieder der Mülheimer Bagel-Verlag erwähnt wird, der seit den 1860er Jahren, vermutlich als erster, „Volkserzählungen“ in sedezformatigen Heft­ chen von 32 bzw. 64 Seiten zu 10 bzw. 25 Pfen­ nig auf den Markt bringt,27 die von Pädagogen von Anfang an als beliebte Jugendlektüre ein­ geschätzt werden. Wichtiger im Zusammen­ hang der Umschichtung der jugendliterarischen Verhältnisse um die Jahrhundertwende scheint mir aber, wenn man der zeitgenössischen ju­ gendliteraturkritischen Diskussion folgen darf, ... , .. . . Abb. 1 : Indianerliteratur für die Judie Etablierung eines auf Kolportageartikel spe- gend im Heftchenformat zialisierten Zwischenbuchhandels, des „Grossobuchhandels“, seit den 1870er Jahren gewesen zu sein28 und schließlich vor allem die seit den 1890er Jahren wirksame Spezialisierung auch von Kolporta­ ge-Großverlagen wie dem Berliner Weichert-Verlag auf Jugendliteratur. Inner­ halb der Jugendschriftenbewegung nimmt man gerade diesen Ausdifferenzie­ rungsprozeß im Bereich von Buchproduktion und Buchvertrieb sehr genau wahr. Genannt werden als neue, auch Jugendliteratur produzierende „Grossobuch-Verlage“ neben dem erfolgreichen Weichert-Verlag vor allem die Verlage Düms, Effenberger, Löwensohn, Meidinger und Ensslin und Laiblin.29 Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Begriffe „Schmutz“ und „Schund“ in einer spezifischen, offenbar vor allem auf die Kolportageliteratur begrenzten Bedeutung in die pädagogische Jugendschriftenkritik eingedrungen. 27 So Heinz J. Galle: Geschichte des abenteuerlichen Heftchenromans. In: Lexikon der Reise- und Abenteuerliteratur. Hg. von Friedrich Schegh. Bd. 5.2. Grundwerk und 2. und 3. Ergänzungs­ lieferung. Meitingen 1988/89, S. 1-68, hier S. 1 f. Steinlein datiert einen wichtigen Einschnitt in bezug auf die neue Heftchenliteratur erst auf die 70er Jahre. S. Rüdiger Steinlein: In finstern und blutigen Gründen. Das Indianerbuch als Jugendmassenlektüre. Anhang zu: Jack, die Bären­ klaue. Eine Erzählung aus dem wilden Westen von Major von Krusow. Neu hg. von Johannes Merkel und Dieter Richter. München 1979, S. 135-181, hier S. 135. Zur pädagogischen Kritik der frühen Heftchenliteratur s.a. Wilkending, Kritik (wie Anm. 3), bes. S. 4 f. 28 Zum Grossobuchhandel s. Scheidt (wie Anm. 20), bes. S. 152 ff., und Günter Kosch/Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850 bis 1960. Mit einer Beilage: Der Kolportagebuchhandcl. Praktische Winke. Von Friedrich Streissler (1887). Stuttgart 1993. Streissler führt in seinem Verzeichnis der für den Kolportagevertrieb geeigneten Werke aus dem Bereich der spezifischen Jugendliteratur nur Der gute Kamerad an (ebd., Beilage, S. 48). 29 Die /SW kommentiert diesen Prozeß seit ihrer Gründung. S. JSW, 1. Jg. 1893, H. 3, 2. Jg. 1894, H. 10, 3. Jg. 1895, H. 7, und 5. Jg. 1897, H. 11 f.

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Gisela Wilkendinj

Ein erster Kulminationspunkt dieser Kritif liegt am Ende der 1860er und zu Beginn de, 1870er Jahre, was also der Phase der Etablie­ rung der neuen Heftchen auf dem Buchmarki entspricht.30 Ein großes Unheil, heißt es da­ mals, gehe von den „Jugendromanen, den Be­ arbeitungen der Leihbibliothekenliteratur für das Kind“, aus.31 Insbesondere über die „Penniblätter“ verbreitete „jugendliche Verbre­ cherliteratur“ sei in England bereits als „ge­ sellschaftliche Calamität ersten Ranges er­ kannt“, es sei nur eine Frage der Zeit, daß auch Deutschland damit konfrontiert werde.32 Und noch 1891 greift Göhringdie „grell-kolorierte( ) Kolportagemache des Bagel’schen Ver­ umfjfetang ben tollfílfeiien 6d)ÜC