Kants Populäre Schriften 9783111496566, 9783111130378

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Kants Populäre Schriften
 9783111496566, 9783111130378

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1755. Aus der allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels
1760. Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk
1764. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen
1766. Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik
1784. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht
1785. Aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Übergang von der gemeinen sittlichen Bernunfterkenntniß zur philosophischen
1791. Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee
1792. Brief an Maria von Herbert
1794. Das Ende aller Dinge
1795. Zum ewigen Frieden
1798. Aus dem Streit der Fakuttäten

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Nants Populäre Schriften Unter Mitwirkung der Ranrgesellschafr herausgegeben von

Professor Dr. Paul Menzer

Berlin Druck und Verlag von Georg Reimer 19 11

Vorwort. Ijliyt dem Namen „Kant" verbinden viele philosophisch ***" interessierte Laien die Vorstellung des Unverständlichen und deshalb für sie Unerreichbaren. Mzu oft geschieht es, daß das Hauptwerk des Königsberger Denkers, die „Kritik der reinen Bemunft" zuerst in die Hand genommen und fort­ gelegt wird, nachdem der eifrige Leser kaum über die ersten Seiten hinausgekommen ist. So wird der größte deutsche Philosoph wohl überall mit Ehrfurcht genannt, ohne daß doch seine Ideen in weitere Kreise eingedrungen wären. Meist vermitteln Darstellungen seiner Lehre eine oberflächliche KennMis, die doch niemals imstande sind, einen lebendigen Eindruck von der Eigenart eines Denkers zu erwecken. Die vorliegende Sammlung der populären Schriften versucht nun einen leichteren, wenn auch nicht ganz unschwierigen Weg in die Gedankenwelt Kants zu eröffnen. Einiger Anstrengung wird es noch immer bedürfen, um den aus tiefster Konzentra­ tion des Geistes entspmngenen Lehren zu folgen und um die oft verwickelten Perioden aufzulösen. Wer diese Mühe nicht scheut, wird belohnt werden durch die Einsicht in eine von unbedingter wissenschaftlicher Ehrlichkeit und einem innerlichst empfundenen Glauben an die höhere Bestimmung des Men­ schen getragene Weltanschauung. Me nun die Persönlichkeit eines Denkers seine Lehre zu einem Teile verstehen lehrt, so sind auch hier einige Schriften aufgenommen, die einen Eindmck des Kantischen

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Borwort.

Wesens und seiner Lebensführung geben können. In dem Trostschreiben an eine um ihren Sohn trauernde Mutter tritt uns die innere Wärme und taktvolle Zurückhaltung entgegen, mit welcher der jugendliche Lehrer an dem Leiden anderer teilnimmt. Die von den Zeitgenossen so ost gerühmte LiebensWürdigkeit seiner gesellschastlichen Formen und das geistreiche Spiel seines Witzes lernt der Leser aus den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" und den „Träu­ men eines Geistersehers" kennen. Besonders die erstere Schrift enthält viel Persönliches und in der mit besonderer Liebe gegebenen Schilderung des Melancholikers haben wir wohl eine Art Selbstbekenntnis zu erblicken. Der Lehrer des Ideals spricht dann ernst und streng, aber doch zur höchsten Pflicht­ erfüllung ausrufend und damit erhebend in dem Brief an Maria von Herbert zu uns. Schließlich zeigt die Schrift „Von der Macht des Gemüts", wie dieser Mann das Leben meisterte und einen schwachen Körper zum Dienst für seine gewaltige Gedankenarbeit zwang. Das Weltbild Kants, das durch die am Schluß der „Kritik der praktischen Vemunft" gegebene (Gegenüberstellung des „bestirnten Himmels über mir" und des „moralischen Gesetzes in mir" einen so großartigen Ausdruck gefunden hat, tritt in seinen Grundzügen uns schon in den beiden Abschnitten aus der „Mlgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" entgegen. Kant steht auf dem Boden der mechanischen Welt­ erklärung und entwickelt aus ihrem Grunde ein Bild des ewigen, der Notwendigkeit unterworfenen Werdens und Vergehens. Dann aber richtet er seinen Blick nach innen und findet in dem mo­ ralisch-religiösen Gefühl das Bewußtsein von einer Bestimmung des Menschen, die über alles Irdische hinausweist. Die kritische Philosophie hat nun eine erkenntnistheoretischc Begründung der Grundlehren der Naturwissenschaft gegeben und den Gegensatz von Natur und Freiheit zu scharfer Formulierung

Vorwort.

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gebracht. Bon der ersteren besitzen wir eine Erkenntnis, die insofern eine gesicherte genannt werden darf, als die Gesetze der Natur ihre letzte Begründung in den Bedingungen finden, an die unser Erkennen gebunden ist. Mt der Sichemng des letzteren ist so zugleich seine Begrenzung gegeben, es ist be­ schränkt auf das Feld der uns möglichen Erfahrung. Me Versuche zu dem Bedingten ein Unbedingtes zu finden müssen mißlingen. Bon dieser für die theoretische Bemunft geltenden Grenzsetzung vermag die Schrift „Über das Mßlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee" einen Eindruck zu übermitteln. Kants E t h i k ist aufgebaut auf der Tatsache des Sollens in uns, das auf ein Können, d. h. auf eine Freiheit hinweist. Dadurch daß er diesen Begriff ganz konsequent denkt, kommt er zu einer dualistischen Weltanschauung. Die Welt der Natur, der Notwendigkeit unterworfen, steht der der Freiheit, der intelligiblen Welt gegenüber. Das unabhängig von aller Erfahmng zu begründende Sittengesetz weist den Menschen in eine moralische Welt und stellt als Postulate die Ideen der Unsterblichkeit und eines obersten Weltenrichters auf. In diese Gedanken, insbesondere die Lehre von dem unbedingten Werte des Sittengesetzes führt der Abschnitt „Übergang von der ge­ meinen sittlichen Vernunsterkenntnis zur philosophischen" ein. Das von der praktischen Philosophie entwickelte Ideal einer sittlichen Vollkommenheit des Menschen, der seiner mora­ lischen Bestimmung nach Endzweck der Schöpfung genannt werden kann, dient nun als regulative Idee für die Ge­ schichtsphilosophie. Sie bildet den Gegenstand der bisher nicht genannten flehten Schriften. Das geschichtliche Leben zeigt nun allerdings nicht eine gradlinige AufwärtsentWicklung zu einem solchen ethischen Ideal, und so glaubt Kant die Garantie für die Annäherung an dies Ziel in den Absichten der Natur zu sehen, welche den Gegensatz benutzt, um die Menschen

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Vorwort.

durch Not und Kampf endlich zu einer auf Moralität gegründeten Kultur zu führen. Die hier abgedruckten Abhand luttgen, deren wichtigsten die „Idee zu einer allgemeinen Ge schichte in weltbürgerlicher Absicht" und die „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zun. Besseren sei" sind, zeigen Kants Zuversicht unter dem Einfluß der Weltereignisse und persönlicher Erfahrung in der späteren Zeit wankender werden. Schließlich siegt aber doch der Glaubc an die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur und dir Meinung, daß das Böse in sich den Keim der Selbstvernichtune trage. In diesen Zusammenhang gehören denn auch seine Ideen über den „ewigen Frieden", die gerade in unserer Zeii zu nachdenklicher Betrachtung Anregung geben können.

Da diese Ausgabe sich nicht an Fachgelehrte wendet, ist auf allen wissenschaftlichen Apparat verzichtet worden. Der Druck durfte mit gütiger Erlaubnis der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften sich an den von dieser für die große Kantausgabe hergestellten Text anschließen. Die so zum Teil bewahrte Altertümlichkeit der Sprache mag vielleicht den modemen Leser gelegentlich stören, gehört aber doch so sehr zum Denken Kants, daß ohne sie ein lebendiger Eindmck seiner Schreibart und seines Stiles nicht gegeben werden kann. Halle a. S-, im Oktober 1911.

p. Menzer.

Inhaltsverzeichnis. Seite

1755. Aus der allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des HimmelS: Bon der Schöpfung im ganzen Umfange ihrerUnendlichkeit 1 Bon den Bewohnern der Gestirne..................................... 25 1760. Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn Johann Friedrich von Funk................................................ 49 1764. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen................................................................................ 59 1766. Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.............................................................................. 127 1784. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.......................................................................................... 203 Beantwortung der Frage: Was istAufklärung?..............225 1785. Aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Übergang von der gemeinen sittlichen Bernunfterkenntniß zur philosophischen................................................................... 237 1791. Über das Mißlingen aller philosophischenVersuche in der Theodizee.............................................................................267 1792. Brief an Maria von Herbert...............................................281 1794. Das Ende aller Dinge.............................................................289 1795. Zum ewigen Frieden............................................................... 309 1798. Aus dem Streit der Fakuttäten: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fort­ schreiten -um Besseren sei........................................................369 Von der Macht des GemütS.................................................391

Von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

"Don der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unend­ lichkeit sowohl dem Raume, al« der Zelt nach. Das Weltgebäude setzt durch seine unermeßliche Größe und durch die unendliche Mannigfaltigkeit und Schönheit, welche aus ihm von allen Seiten hervorleuchtet, in ein stilles Erstaunen. Wenn die Vorstellung aller dieser Vollkommenheit nun die Einbildungskraft rührt, so nimmt den Verstand an» dererseits eine andere Art der Entzückung ein, wenn er be­ trachtet, wie so viel Pracht, so viel Größe aus einer einzigen allgemeinen Regel mit einer ewigen und richtigen Ordnung abfließt. Der planetische Weltbau, in dem die Sonne aus dem Mittelpunkte aller Kreise mit ihrer mächtigen Anziehung die bewohnte Kugeln ihres Systems in ewigen Kreisen umlaufend macht, ist gänzlich, wie wir gesehen haben, aus dem ursprüng­ lich ausgebreiteten Gmndstoff aller Weltmaterie gebildet wor­ den. Me Fixsteme, die das Auge an der hohlen Tiefe des Himmels entdeckt, und die eine Art von Verschwendung an­ zuzeigen scheinen, sind Sonnen und Mttelpunkte von ähn­ lichen Systemen. Die Analogie erlaubt es also hier nicht, zu zweifeln, daß diese auf die gleiche Art, wie das, darin wir uns befinden, aus den lleinsten Theilen der elementarischen Ma­ terie, die den leeren Raum, diesen unendlichen Umfang der göttlichen Gegenwart, erfüllte, gebildet und erzeugt worden. Wenn nun alle Welten und Weltordnungen dieselbe Art ihres Ursprungs erkennen, wenn die Anziehung unbeschränkt und allgemein, die Zurückstoßung der Elemente aber ebenfalls l*

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Bon der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

durchgehends wirksam, wenn bei dem Unendlichen das Große und Kleine beiderseits Nein ist: sollten nicht alle die Weltgebäude gleichermaßen eine beziehende Verfassung und systematische Verbindung unter einander angenommen haben, als die Him­ melskörper unserer Sonnenwelt im kleinen, wie Saturn, Ju­ piter und die Erde, die für sich insonderheit Systeme sind und dennoch unter einander als Glieder in einem noch größern zu­ sammen hängen? Wenn man in dem unermeßlichen Raunre, darin alle Sonnen der Milchstraße sich gebildet haben, einen Punkt annimmt, um welchen durch ich weiß nicht was für eine Ursache die erste Bildung der Natur aus dem Chaos angefan­ gen hat: so wird daselbst die größte Masse und ein Körper von der ungemeinsten Attraction entstanden sein, der dadurch fähig geworden, in einer ungeheuren Sphäre um sich alle in der Bildung begriffene Systeme zu nöthigen, sich gegen ihn, als ihren Mittelpunkt, zu senken und um ihn ein gleiches System im Ganzen zu errichten, als derselbe elementarische Gmndstoff, der die Planeten bildete, um die Sonne im Kleinen gemacht hat. Die Beobachtung macht diese Muthmaßung beinahe ungezweifelt. Das Heer der Gestirne macht durch seine beziehende Stellung gegen einen gemeinschaftlichen Plan eben sowohl ein System aus, als die Planeten unseres Sonnenbaues um die Sonne. Die Mlchstraße ist der Zodiakus dieser höheren Weltordnungen, die von seiner Zone so wenig als möglich abweichen, und deren Streif immer von ihrem Lichte erleuchtet ist, so wie der Thierkreis der Planeten von dem Scheine dieser Kugeln, obzwar nur in sehr wenig Punkten, hin und wieder schimmert. Eine jede dieser Sonnen macht mit ihren umlaufenden Planeten für sich ein besonderes System aus; allein dieses hindert nicht, Theile eines noch größeren Systems zu sein, so wie Jupiter oder Saturn ungeachtet ihrer eigenen Begleitung in der syste­ matischen Verfassung eines noch größeren Weltbaues beschränkt sind. Kann man an einer so genauen Übereinstimmung in

Bon

der Schöpfung

im

ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

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der Verfassung nicht die gleiche Ursache und Art der Erzeugung erkennen? Wenn nun die Fixsterne ein System ausmachen, dessen Umfang durch die Anziehungssphäre desjenigen Körpers, der im Mittelpunkte befindlich ist, bestimmt wird, werden nicht mehr Sonnensystemata und, so zu reden, mehr Milchstraßen entstanden sein, die in dem grenzenlosen Felde des Weltraums erzeugt worden? Wir haben mit Erstaunen Figuren am Him­ mel erblickt, welche nichts anders, als solche auf einen ge­ meinschaftlichen Plan beschränkte Fixsternensyftemata, solche Milchstraßen, wenn ich mich so ausdrücken darf, sind, die in verschiedenen Stellungen gegen das Auge mit einem ihrem unendlichen Abstande gemäß geschwächten Schimmer ellip­ tische Gestalten darstellen; es sind Systemata von, so zu sagen, unendliche mal unendlich größerm Durchmesser, als der Dia­ meter unseres Sonnenbaues ist, aber ohne Zweifel auf gleiche Art entstanden, aus gleichen Ursachen geordyet und eingerichtet und erhalten sich durch ein gleiches Triebwerk, als dieses in ihrer Verfassung. Wenn man diese Sternensystemata wiederum als Glieder an der großen Kette der gesummten Natur ansieht, so hat man eben so viel Ursache, wie vorher, sie in einer gegenseitigen Be­ ziehung zu gedenken und in Verbindungen, welche kraft des durch die ganze Natur herrschenden Gesetzes der ersten Bildung ein neues, noch größeres System ausmachen, das durch die Anziehung eines Körpers von ungleich mächtigerer Attraction, als alle die vorige waren, aus dem Mittelpunkte ihrer regel­ mäßigen Stellungen regiert wird. Die Anziehung, welche die Ursache der systematischen Verfassung unter den Fixstemen der Milchstraße ist, wirkt auch noch in der Entfemung eben dieser Weltordnungen, um sie aus ihren Stellungen zu bringen und die Welt in einem unvermeidlich bevorstehenden Chaos zu begraben, wenn nicht regelmäßig ausgetheilte Schwungskräfte

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Bon der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

der Attraction das Gegengewicht leisten und beiderseits in Ver­ bindung diejenige Beziehung hervorbringen, die der Grund der systematischen Verfassung ist. Die Anziehung ist ohne Zweifel eine eben so weit ausgedehnte Eigenschaft der Materie, als die Coexistenz, welche den Raum macht, indem sie die Substanzen durch gegenseitige Abhängigkeiten verbindet, oder, eigentlicher zu reden, die Anziehung ist eben diese allgemeine Beziehung, welche die Theile der Natur in einem Raume vereinigt: sie erstreckt sich also aus die ganze Ausdehnung dessel­ ben bis in alle Weiten ihrer Unendlichkeit. Wenn das Licht von diesen entfernten Systemen zu uns gelangt, das Licht, welches nur eine eingedrückte Bewegung ist, muß nicht vielmehr die Anziehung, diese ursprüngliche Bewegungsquelle, welche eher, wie alle Bewegung ist, die keiner fremden Ursachen bedarf, auch durch keine Hinderniß kann aufgehalten werden, weil sie in das Innerste der Materie ohne einigen Stoß selbst bei der allgemeinen Ruhe der Natur wirkt, muß, sage ich, die Anziehung nicht diese Fixstemen-Systemata ihrer unermeßlichen Ent­ fernungen ungeachtet bei der ungebildeten Zerstreuung ihres Stoffes im Anfange der Regung der Natur in Bewegung ver­ setzt haben, die eben so, wie wir int Kleinen gesehen haben, die Quelle der systematischen Verbindung und der dauerhaften Beständigkeit ihrer Glieder ist, die sie vor dem Verfall sichert? Aber welches wird denn endlich das Ende der systemati­ schen Einrichtungen sein? wo wird die Schöpfung selber auf­ hören? Man merkt wohl, daß, um sie in einem Verhältnisse mit der Macht des unendlichen Wesens zu gedenken, sie gar keine Grenzen haben müsse. Man kommt der Unendlichkeit der Schöpfungskraft Gottes nicht näher, wenn man den Raum ihrer Offenbarung in einer Sphäre, mit dem Radius der Milch­ straße beschrieben, einschließt, als wenn man ihn in eine Kugel beschränken will, die einen Zoll im Durchmesser hat. Alles, was eMich, was seine Schranken und ein bestimmtes Ver-

Sott der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichleit.

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hältniß zur Einheit hat, ist von dem Unendlichen gleich weit entfernt. Nun wäre es ungereimt, die Gottheit mit einem unendlich kleinen Theile ihres schöpferischen Vermögens in Wirksamkeit zu setzen und chre unendliche Kraft, den Schatz einer wahren Unermeßlichkeit von Naturen und Welten, uitthätig und in einem ewigen Mangel der Ausübung ver­ schlossen zu gedenken. Ist es nicht vielmehr anständiger, oder, besser zu sagen, ist eS nicht nothwendig, den Inbegriff der Schöpfung also anzustellen, als er sein muß, um ein Zeugniß von derjenigen Macht zu sein, die dmch keinen Maßstab kann abgemessen werden? Aus diesem Grunde ist das Feld der Offenbarung göttlicher Eigenschaften eben so unendlich, als diese selber sind *). Die Ewigkeit ist nicht hinlänglich, die *) Der Begriff einer unendlichen Ausdehnung der Welt findet unter den Metaphysikkündigern Gegner und hat nur neulich an dem Herrn M. Weitenkampf einen gefunden. Wenn diese Herren wegen der angeblichen Unmöglichkeit einer Menge ohne Zahl und Grenzen sich zu dieser Idee nicht bequemen können, so wollte ich nur vorläufig fragen: ob die künftige Folge der Ewigkeit nicht eine wahre Unendlichkeit von Mannigfaltigkeiten und Veränderungen in sich fassen wird, und ob diese unendliche Reihe nicht auf einmal schon jetzt dem göttlichen Verstände gänzlich gegenwärtig sei. Wenn es nun möglich war, daß Gott den Be­ griff der Unendlichkeit, der seinem Verstände auf einmal darsteht, in einer auf einander folgenden Reihe wirklich machen tonn: warum sollte derselbe nicht den Begriff einer andern Unendlichkeit in einem dem Raume nach verbundenen Zusammenhange darstellen und dadurch den Umfang der Welt ohne Grenzen machen können? Indessen daß man diese Frage wird zu beantworten suchen, so werde ich mich der Gelegenheit, die sich darbieten wird, bedienen, durch eine aus der Natur der Zahlen gezogene Erläuterung die vermeinte Schwierigkeit zu heben, wofern man bei genauer Erwägung eS noch als eine einer Erörterung bedürftige Frage ansehen tonn: ob dasjenige, was eine durch die höchste Weisheit begleitete Macht hervorgebracht hat, sich zu offenbaren, zu demjenigen, was sie hat h e r v o r b r i n g e n können, sich wie eine Differentialgröße verhalte.

Zeugnisse des höchsten Wesens zu fassen, wo sie nicht mit der Unendlichkeit des Raumes verbunden wird. Es ist wahr, die Ausbildung, die Form, die Schönheit und Vollkommenheit sind Beziehungen der Grundstücke und der Substanzen, die den Stoff des Weltbaues ausmachen; und man bemerkt es an den Anstalten, die die Weisheit Gottes noch zu aller Zeit trifft; es ist ihr auch am gemäßesten, daß sie sich aus dieser ihren eingepflanzten allgemeinen Gesetzen durch eine unge­ zwungene Folge Herauswickeln. Und daher kann man mit gutem Grunde setzen, daß die Anordnung und Einrichtung der Weltgebäude aus dem Vorrathe des erschaffenen Naturstosfes in einer Folge der Zeit nach und nach geschehe; allein die Grundmaterie selber, deren Eigenschaften und Kräfte allen Verän­ derungen zum Grunde liegen, ist eine unmittelbare Folge des göttlichen Daseins: selbige muß also auf einmal so reich, so vollständig sein, daß die Entwickelung ihrer Zusammen­ setzungen in dem Abflusse der Ewigkeit sich über einen Plan ausbreiten könne, der alles in sich schließt, was sein kann, der kein Maß annimmt, kurz, der unendlich ist. Wenn nun also die Schöpfung der Räume nach unendlich ist, oder es wenigstens der Materie nach wirklich von Anbeginn her schon gewesen ist, der Form, oder der Ausbildung nach aber es bereit ist, zu werden, so wird der Weltraum mit Welten ohne Zahl und ohne Ende belebt werden. Wird denn nun jene systematische Verbindung, die wir vorher bei allen Theilen insonderheit erwogen haben, auch aufs Ganze gehen und das gesammte Universum, das All der Natur, in einem einigen System durch die Verbindung der Anziehung und der fliehenden Kraft zusammen fassen? Ich sage ja; wenn nur lauter abgesonderte Weltgebäude, die unter einander keine vereinte Beziehung zu einem Ganzen hätten, vorhanden wären, so könnte man wohl, wenn man diese Kette von Gliedern als wirklich unendlich annähme, gedenken, daß eine genaue Gleich-

Bon der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

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heit der Anziehung ihrer Theile von allen Seiten diese Systemata vor dem Verfall, den ihnen die innere Wechselanziehung droht, sicher halten könne. Mein hiezu gehört eine so genaue abgemessene Bestimmung in den nach der Attraction abge­ wogenen Entfernungen, daß auch die geringste Verrückung dem U n i v e r s o den Untergang zuziehen und sie in langen Perioden, die aber doch endlich zu Ende laufen müssen, dem Umstürze überliefern würde. Eine Weltverfassung, die sich ohne ein Wunder nicht erhielt, hat nicht den Charakter der Be­ ständigkeit, die das Merkmal der Wahl Gottes ist; man trifft es also dieser weit anständiger, wenn man aus der gesammten Schöpfung ein einziges System macht, welches alle Welten und Weltordnungen, die den ganzen unendlichen Raum aus­ füllen, auf einen einigen Mttelpunkt beziehend macht. Ein zerstreuetes Gewimmel von Weltgebäuden, sie möchten auch durch noch so weite Entfernungen von einander getrennt sein, würde mit einem unverhinderten Hang zum Verderben und zur Zerstörung eilen, wenn nicht eine gewisse beziehende Ein­ richtung gegen einen allgemeinen Mittelpunkt, das Centrum der AtKaction des U n i v e r s i und den Unterstützungspunkt der gesammten Natur, durch systematische Bewegungen ge­ troffen wäre. Um diesen allgemeinen Mittelpunkt der Senkung der ganzen Natur, sowohl der gebildeten, als der rohen, in welchem sich ohne Zweifel der Klumpen von der ausnehmendsten AtKaction befindet, der in seine Anziehungssphäre alle Welten und Ordnungen, die die Zeit hervorgebracht hat und die Ewigfeit hervorbringen wird, begreift, kann man mit Wahrschein­ lichkeit annehmen, daß die Natur den Anfang ihrer Bildung gemacht, und daselbst auch die Systemen ant dichtesten gehäuft seien, weiter von demselben aber in der Unendlichkeit des Raumes sich mit immer größeren Graden der Zerstreuung verlieren. Man könnte diese Regel aus der Analogie unseres

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Bon der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

Sonnenbaues abnehmen, und diese Verfassung kann ohnedem dazu dienen, daß in großen Entfernungen nicht allein der all­ gemeine Centralkörper, sondem auch alle um ihn zunächst laufende Systemata ihre Anziehung zusammen vereinigen und sie gleichsam aus einem Klumpen gegen die Systemata des noch weiteren Abstandes ausüben. Dieses wird alsdann mit dazu behülflich sein, die ganze Natur in der ganzen Unend­ lichkeit ihrer Erstreckung in einem einzigen Systema zu be­ greifen. Um nun der Errichtung dieses allgemeinen Systems der Natur aus den mechanischen Gesetzen der zur Bildung streben­ den Materie nachzuspüren: so muß in dem unendlichen Raume des ausgebreiteten elementarischen Grundstoffes an irgend einem Orte dieser Grundstoff die dichteste Häufung gehabt haben, um durch die daselbst geschehende vorzügliche Bildung dem gesummten Universo eine Masse verschafft zu haben, die ihm zum Unterstützungspunkt diente. Es ist zwar an dem, daß in einem unendlichen Raume kein Punkt eigentlich das Borrecht haben kann, der Mittelpunkt zu heißen; aber vermittelst eines gewissen Verhältnisses, das sich auf die wesentliche Grade der Dichtigkeit des Urswsfes gründet, nach welchem dieser zugleich mit seiner Schöpfung an einem gewissen Orte vorzüglich dichter gehäuft und mit den Weiten von demselben in der Zerstreuung zunimmt, kann ein solcher Punkt das Vor­ recht haben, der Mittelpunkt zu heißen, und er wird es auch wirklich durch die Bildung der Centralmasse von der kräftigsten Anziehung in demselben, zu dem sich alle übrige in Particularbildungen begriffene elementarische Materie senkt und dadurch, so weit sich auch die Auswickelung der Natur erstrecken mag, in der unendlichen Sphäre der Schöpfung aus dem ganzen M nur ein einziges System macht. Das ist aber was Mchtiges, und welches, wofern es Bei­ fall erlangt, der größten Aufmerksamkeit würdig ist, daß der

Bon der Schöpfung im ganzen Umfange chrer Unendlichleit.

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Ordnung der Natur in diesem unserm System zu Folge die Schöpfung, oder vielmehr die Ausbildung der Natur bei diesem Mittelpunkte zuerst anfängt und mit stetiger Fortschreitung nach und nach in alle fernere Weiten ausgebreitet wird, um den unendlichen Raum in dem Fortgange der Ewig­ keit mit Welten und Ordnungen zu erfüllen. Lasset uns dieser Vorstellung einen Augenblick mit stillem Vergnügen nachhängen. Ich finde nichts, das den Geist des Menschen zu einem edleren Erstaunen erheben kann, indem es ihm eine Aussicht in das unendliche Feld der Mlmacht eröffnet, als diesen Theil der Theorie, der die successive Vollendung der Schöpfung betrifft. Wenn man mir zugiebt, daß die Materie, die der Stoff zu Bildung aller Welten ist, in dem ganzen unendlichen Raume der göttlichen Gegenwart nicht gleichförmig, sondem nach einem gewissen Gesetze ausgebreitet gewesen, das sich vielleicht auf die Dichtigkeit der Partikeln bezog, und nach welchem von einem gewissen Punkte, als dem Orte der dichtesten Häufung, mit den Weiten von diesem Mittelpunkte die Zerstreuung des Urstosses zunahm: so wird in der ursprünglichen Regung der Natur die Bildung zunächst diesem Centro angefangen und dann in fortschreitender Zeitfolge der weitere Raum nach und nach Welten und Weltordnungen mit einer gegen dieses sich beziehenden systematischen Verfassung gebildet haben. Ein jeder endliche Periodus, dessen Länge zu der Größe des zu vollbringenden Werks ein Verhältniß hat, wird immer nur eine endliche Sphäre von diesem Mittelpunkte an zur Aus­ bildung bringen; der übrige unendliche Theil wird indessen noch mit der Verwirrung und dem Chaos streiten und um so viel weiter von dem Zustande der vollendeten Bildung entfernt sein, je weiter dessen Abstand von der Sphäre der schon ausge­ bildeten Natur entfernt ist. Diesem zu Folge ob wir gleich von dem Orte unseres Aufenthalts in dem U n i v e r s o eine Aussicht in eine, wie es scheint, völlig vollendete Welt und, so

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Bon der Schöpsung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

zu reden, in ein unendliches Heer von Weltordnungen, die systematisch verbunden sind, haben: so befinden wir uns doch eigentlich nur in einer Naheit zum Mittelpunkte der ganzm Natur, wo diese sich schon aus dem Chaos ausgewickelt und ihre gehörige Vollkommenheit erlangt hat. Wenn wir eine gewisse Sphäre überschreiten könnten, würden wir daselbst das Chaos und die Zerstreuung der Elemente erblicken, die nach dem Maße, als sie sich diesem Mittelpunkte näher befinden, den rohen Zu­ stand zum Theil verlassen und der Vollkommenheit der Aus­ bildung näher sind, mit den Graden der Entfernung aber sich nach und nach in einer völligen Zerstreuung verlieren. Wir würden sehen, wie der unendliche Raum der göttlichen Gegen­ wart, darin der Vorrath zu allen möglichen Naturbildungen anzukeffen ist, in einer stillen Nacht begraben liegt voll von Materie, den künftig zu erzeugenden Welten zum Stoffe zu dienen, und von Triebfedern sie in B-'wegung zu bringen, die mit einer schwachen Regung diejenige Bewegungen anfangen, womit die Unermeßlichkeit dieser öden Räume dereinst noch soll belebt werden. Es ist vielleicht eine Reihe von Millionen Jahren und Jahrhunderten verflossen, ehe die Sphäre der gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommen­ heit gediehen ist, die ihr jetzt beiwohnt; und es wird vielleicht ein eben so langer Periodus vergehen, bis die Natur einen eben so weiten Schritt in dem Chaos thut: allein die Sphäre der ausgebildeten Natur ist unaufhörlich beschäftigt, sich auszu­ breiten. Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augen­ blicke. Nachdem sie mit der Hervorbringung einer Unendlich­ keit von Substanzen und Materie den Anfang gemacht hat, so ist sie mit immer zunehmenden Graden der Fruchtbarkeit die ganze Folge der Ewigkeit hindurch wirksam. Es werden Millionen und ganze Gebürge von Millionen Jahrhunderten verfließen, binnen welchen immer neue Welten und Welt­ ordnungen nach einander in den entfernten Weiten von dem

Bon der Schöpfung im ganzen Umfange chrer Unendlichkeit.

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Mittelpunkte der Natur sich bilden und zur Vollkommenheit gelangen werden; sie werden unerachtet der systematischen Verfassung, die unter ihren Theilen ist, eine allgemeine Be­ ziehung auf den Mittelpunkt erlangen, welcher der erste Bil­ dungspunkt und das Centrum der Schöpfung durch das An­ ziehungsvermögen seiner vorzüglichen Masse geworden ist. Die Unendlichkeit der künftigen Zeitfolge, womit die Ewigkeit unerschöpflich ist, wird alle Räume der Gegenwart Gottes ganz und gar beleben und in die Regelmäßigkeit, die der Treff­ lichkeit seines Entwurfes gemäß ist, nach und nach versetzen; und wenn man mit einer kühnen Vorstellung die ganze Ewig­ keit, so zu sagen, in einem Begriffe zusammen fassen könnte, so würde man auch den ganzen unendlichen Raum mit Welt­ ordnungen angefüllt und die Schöpfung vollendet ansehen können. Weil aber in der That von der Zeitfolge der Ewigkeit der rückständige Theil allemal unendlich und der abgeflossene endlich ist, so ist die Sphäre der ausgebildeten Natur allemal nur ein unendlich kleiner Theil desjenigen Inbegriffs, der den Samen zukünftiger Welten in sich hat und sich aus dem rohen Zustande des Chaos in längem oder kürzern Perioden aus­ zuwickeln trachtet. Die Schöpfung ist niemals vollendet. Sie hat zwar einmal angefangen, aber sie wird niemals auf­ hören. Sie ist immer geschäftig, mehr Auftritte der Natur, neue Dinge und neue Welten hervor zu bringen. Das Werk, welches sie zu Stande bringt, hat ein Verhältniß zu der Zeit, die sie darauf anwendet. Sie braucht nichts weniger, als eine Ewigkeit, um die ganze grenzenlose Weite der unendlichen Räume mit Welten ohne Zahl und ohne Ende zu beleben. Man kann von ihr dasjenige sagen, was der erhabenste unter den deutschen Dichtern von der Ewigkeit schreibt: Unendlichkeit! wer misset dich? Bor dir sind Welten Tag und Menschen Augenblicke; Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich,

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Bon der Schöpfung

im

ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit.

Und tausend bleiben noch zurücke. Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht, Eilt eine Sonn', aus Gottes Kraft bewegt: Ihr Trieb lauft ab, und eine andre schlägt, Du aber bleibst und zählst sie nicht.

ö Faller

Es ist ein nicht geringes Vergnügen, mit seiner Einbil­ dungskraft über die Grenze der vollendeten Schöpfung in den Raum des Chaos auszuschweifen und die halb rohe Natur in der Naheit zur Sphäre der ausgebildeten Welt sich nach und nach durch alle Stufen und Schattirungen der Unvollkommen­ heit in dem ganzen ungebildeten Raume verlieren zu sehen. Mer ist es nicht eine tadelnswürdige Kühnheit, wird man sagen, eine Hypothese auszuwerfen und sie als einen Vor­ wurf der Ergötzung des Verstandes anzupreisen, welche viel­ leicht nur gar zu willkürlich ist, wenn man behauptet, daß die Natur nur einem unendlich kleinen Theile nach ausgebildet sei, und unendliche Räume noch mit dem Chaos streiten, um in der Folge künftiger Zeiten ganze Heere von Welten und Weltordnungen in aller gehörigen Ordnung und Schönheit darzustellen? Ich bin den Folgen, die meine Theorie dar­ bietet, nicht so sehr ergeben, daß ich nicht erkennen sollte, wie die Muthmaßung von der successiven Ausbreitung der Schöp­ fung durch die unendliche Räume, die den Stoff dazu in sich fassen, den Einwurf der Unerweislichkeit nicht völlig ablehnen könne. Indessen verspreche ich mir doch von denjenigen, welche die Grade der Wahrscheinlichkeit zu schätzen im Stande sind, daß eine solche Karte der Unendlichkeit, ob sie gleich einen Borwurf begreift, der bestimmt zu sein scheint, dem mensch­ lichen Verstände auf ewig verborgen zu sein, nicht um deswillen sofort als ein Hirngespinst werde angesehen werden, vornehmlich wenn man die Analogie zu Hülfe nimmt, welche uns allemal in solchen Fällen leiten muß, wo dem Verstände der Faden der untrüglichen Beweise mangelt.

Bon der Schöpfung int

ganzen

Umfange ihrer Unendlichkeit.

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Man tonn aber auch die Analogie noch durch annehmungswürdige Gründe unterstützen, und die Einsicht des Lesers, toofem ich mich solches Beisalls schmeicheln darf, wird sie viel­ leicht mit noch wichtigern vermehren können. Denn wenn man erwägt, daß die Schöpfung den Charakter der Beständig­ keit nicht mit sich führt, toofem sie der allgemeinen Bestrebung der Anziehung, die durch alle ihre Theile wirkt, nicht eine eben so durchgängige Bestimmung entgegen setzt, die dem Hange der ersten zum Verderben und zur Unordnung gnugsam wider­ stehen tonn, wenn sie nicht Schwungskräfte ausgetheilt hat, die in der Verbindung mit der Centralneigung eine allgemeine systematische Verfassung festsetzen: so wird man genöthigt, einen allgemeinen Mittelpunkt des ganzen Weltalls anzu­ nehmen, der alle Theüe desselben in verbundener Beziehung zusammen hält und aus dem ganzen Inbegriff der Natur nur ein System macht. Wenn man hiezu den Begriff von der Bildung der Weltkörper aus der zerstreueten elementarischen Materie fügt, wie wir ihn in dem vorhergehenden entworfen haben, jedoch ihn allhier nicht auf ein absonderliches System einschränkt, sondern über die ganze Natur ausdehnt: so wird man genöthigt, eine solche Austheilung des Gmndstosfes in dem Raume des ursprünglichen Chaos zu gedenken, die natür­ licher Weise einen Mittelpunkt der ganzen Schöpfung mit sich bringt, damit in diesen die wirksame Masse, die in ihrer Sphäre die gesammte Natur begreift, zusammengebracht und die durchgängige Beziehung bewirkt werden könne, wodurch olle Welten nur ein einziges Gebäude ausmachen. Es kann aber in dem unendlichen Raume kaum eine Art der Austheilung des ursprünglichen Gmndstosfes gedacht werden, die einen wahren Mittel- und Senkungspunkt der gesummten Natur setzen sollte, als wenn sie nach einem Gesetze der zunehmenden Zerstreuung von diesem Punkte an in alle ferne Weiten ein­ gerichtet ist. Dieses Gesetz aber setzt zugleich einen Unterschied

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Bon der Schöpfung im ganzen Umsange ihrer Unendlichkeit.

in der Zeit, die ein System in den verschiedenen Gegenden des unendlichen Raumes gebraucht, zur Reife seiner Ausbildung zu kommen, so daß diese Periode desto kürzer ist, je näher der Bildungsplatz eines Weltbaues sich dem Centro der Schöpfung befindet, weil daselbst die Elemente des Stoffes dichter gehäuft sind, und dagegen um desto längere Zeit erfordert, je weiter der Abstand ist, weil die Partikeln daselbst zerstreueter sind und später zur Bildung zusammen kommen. Wenn man die ganze Hypothese, die ich entwerfe, in dem ganzen Umfange sowohl dessen, was ich gesagt habe, als was ich noch eigentlich darlegen werde, erwägt, so wird man die Kühnheit ihrer Fordemngen wenigstens nicht für unfähig halten, eine Entschuldigung anzunehmen. Man kann den unvermeidlichen Hang, den ein jegliches zur Vollkommenheit gebrachte Weltgebäude nach und nach zu feinem Untergange hat, unter die Gründe rechnen, die es bewähren können, daß das U n i v e r s u m dagegen in andern Gegenden an Welten fruchtbar sein werde, um den Mangel zu ersetzen, den es an einem Orte erlitten hat. Das ganze Stück der Natur, das wir kennen, ob es gleich nur ein Awmus in Ansehung dessen ist, was über oder unter unserem Gesichtskreise verborgen bleibt, bestätigt doch diese Fmchtbarkeit der Natur, die ohne Schranken ist, weil sie nichts anders, als die Ausübung der göttlichen Mlmacht selber ist. Unzählige Thiere und Pflanzen werden täglich zerstört und sind ein Opfer der Vergänglichkeit; aber nicht weniger bringt die Natur durch ein unerschöpftes Zeugungs­ vermögen an andern Orten wiederum hervor und füllt das Leere aus. Beträchtliche Stücke des Erdbodens, den wir be­ wohnen, werden wiederum in dem Meere begraben, aus dem sie ein günstiger Periodus hervorgezogen hatte; aber an an­ deren Orten ergänzt die Natur den Mangel und bringt andere Gegenden hervor, die in der Tiefe des Wassers verborgen waren, um neue Reichthümer ihrer Fruchtbarkeit über dieselbe

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auszubreiten. Auf die gleiche Art vergehen Welten und Welt­ ordnungen und werden von dem Abgrunde der Ewigkeiten verschlungen; dagegen ist die Schöpfung immerfort geschäftig, in anbetn Himmelsgegenden neue Bildungen zu verrichten und den Abgang mit Vortheile zu ergänzen. Man darf nicht erstaunen, selbst in dem Großen der Werke Gottes eine Vergänglichkeit zu verstatten. Alles, was endlich ist, was einen Ansang und Ursprung hat, hat das Merkmaal seiner eingeschränkten Natur in sich; es muß vergehen und ein Ende haben. Die Dauer eines Weltbaues hat durch die Vor­ trefflichkeit ihrer Errichtung eine Beständigkeit in sich, die unsern Begriffen nach einer unendlichen Dauer nahe kommt. Viel­ leicht werden tausend, vielleicht Millionen Jahrhunderte sie nicht vernichten; allein weil die Eitelkeit, die an den endlichen NaMren haftet, beständig an ihrer Zerstömng arbeitet, so wird die Ewigkeit alle mögliche Perioden in sich halten, um durch einen allmählichen Verfall den Zeitpunkt ihres Unterganges doch endlich herbei zu führen. Newton, dieser große Be­ wunderer der Eigenschaften Gottes aus der Vollkommenheit seiner Werke, der mit der tiefsten Einsicht in die Trefflichkeit der Natur die größte Ehrfurcht gegen die Offenbarung der göttlichen Mmacht verband, sah sich genöthigt, der Natur ihren Verfall durch den natürlichen Hang, den die Mechanik der Bewegungen dazu hat, vorher zu verkündigen. Wenn eine systematische Verfassung durch die wesentliche Folge der Hinfälligkeit in großen Zeitläuften auch den allerkleinsten Theil, den man sich nur gedenken mag, dem Zustande ihrer Ver­ wirrung nähert: so muß in dem uneMichen Ablaufe der Ewigkeit doch ein Zeitpunkt sein, da diese allmähliche Ver­ minderung alle Bewegung erschöpft hat. Wr dürfen aber den Untergang eines Weltgebäudes nicht als einen wahren Verlust der Natur bebauten. Sie beweiset ihren Reichthum tn einer Art von Verschwendung, welche, Kant- populäre Schriften.

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indem einige Theile der Vergänglichkeit den Tribut bezahlen, sich durch unzählige neue Zeugungen in dem ganzen Umfange ihrer Vollkommenheit unbeschadet erhält. Welch eine un­ zählige Menge Blumen und Jnsecten zerstört ein einziger kalter Tag; aber wie wenig vermißt man sie, unerachtet es herrliche Kunstwerke der Natur und Beweisthümer der gött­ lichen Mlmacht sind! An einem andem Orte wird dieser Ab­ gang mit Überfluß wiederum ersetzt. Der Mensch, der das Meisterstück der Schöpfung zu sein scheint, ist selbst von diesem Gesetze nicht ausgenommen. Die Natur beweiset, daß sie eben so reich, eben so unerschöpft in Hervorbringung des Treff­ lichsten unter den Creaturen, als des Geringschätzigsten ist, und daß selbst deren Untergang eine nothwendige Schattirung in der Mannigfaltigkeit ihrer Sonnen ist, weil die Erzeugung derselben ihr nichts kostet. Die schädlichen Wirkungen der an­ gesteckten Lust, die Erdbeben, die Überschwemmungen ver­ tilgen ganze Völker von dem Erdboden; allein es scheint nicht, daß die Natur dadurch einigen Nachtheil erlitten habe. Auf gleiche Weife verlassen ganze Welten und Systemen den Schauplatz, nachdem sie ihre Rolle ausgespielt haben. Die Unendlichkeit der Schöpfung ist groß genug, um eine Welt, oder eine Milchstraße von Welten gegen sie anzusehen, wie man eine Blume, oder ein Jnsect in Vergleichung gegen die Erde ansieht. Indessen, daß die Natur mit veränderlichen Auf­ tritten die Ewigkeit ausziert, bleibt Gott in einer unaufhör­ lichen Schöpfung geschäftig, den Zeug zur Bildung noch größerer Welten zu formen. Der stets mit einem gleichen Auge, weil er der Schöpfer ja von allen, Sieht einen Helden untergehn und einen flehten Sperling fallen. Sieht eine Wafferblase springen und eine ganze Welt vergehn. Pope nach B r o ck e s' Übersetzung.

Laßt uns also unser Auge an diese erschreckliche Um­ stürzungen als an die gewöhnlichen Wege der Vorsehung ge-

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wöhnen und sie sogar mit einer Art von Wohlgefallen ansehen. Und in der That ist dem Reichthume der Natur nichts an­ ständiger als dieses. Denn wenn ein Weltsystem in der langen Folge seiner Dauer alle Mannigfaltigkeit erschöpft, die seine Einrichtung fassen kann, wenn es nun ein überflüssiges Glied in der Kette der Wesen geworden: so ist nichts geziemender, als daß es in dem Schauspiele der ablaufenden Veränderungen des Unib etf t die letzte Rolle spielt, die jedem endlichen Dinge gebührt, nämlich der Vergänglichkeit ihr Gebühr ab­ trage. Die Natur zeigt, wie gedacht, schon in dem kleinen Theile ihres Inbegriffes diese Regel ihres Verfahrens, die das ewige Schicksal ihr im Ganzen vorgeschrieben hat, und ich sage es nochmals, die Größe desjenigen, was untergehen soll, ist hierin nicht im geringsten hinderlich, denn alles, was groß ist, wird klein, ja es wird gleichsam nur ein Punkt, wenn man es mit dem Unendlichen vergleicht, welches die Schöpfung in dem unbeschränkten Raume die Folge der Ewigkeit hindurch darstellen wird. Es scheint, daß dieses den Welten, so wie allen Natur­ dingen verhängte Ende einem gewissen Gesetze unterworfen sei, dessen Erwägung der Theorie einen neuen Zug der An­ ständigkeit giebt. Nach demselben hebt es bei den Weltkörpem an, die sich dem Mittelpunkte des Weltalls am nächsten be­ finden, so wie die Erzeugung und Bildung neben diesem Centro zuerst angefangen: von da breitet sich das Verderben und die Zerstömng nach und nach in die weiteren Entfer­ nungen aus, um alle Welt, welche ihre Periode zurück gelegt hat, durch einen allmählichen Verfall der Bewegungen zuletzt in einem einzigen Chaos zu begraben. Andererseits ist die Natur aus der entgegengesetzten Grenze der ausgebildeten Welt unablässig beschäftigt, aus dem rohen Zeuge der zerstreuetm Elemente Welten zu bilden, und indem sie an der einen Seite neben dem Mittelpunkte veraltet, so ist sie auf der

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andern jung und an neuen Zeugungen fruchtbar. Die aus­ gebildete Welt befindet fich diesemnach zwischen den Ruinen der zerstörten und zwischen dem Chaos der ungebildeten Natur mitten inne beschränkt, und wenn man, wie es wahrscheinlich ist, sich vorstellt, daß eine schon zur Vollkommenheit gediehene Welt eine längere Zeit bauten könne, als sie bedurft hat, gebildet zu werden: so wird ungeachtet aller der Verheemngen, die die Vergänglichkeit unaufhörlich anrichtet, der Umfang des U n i v e r s i dennoch überhaupt zunehmen. Will man aber noch zuletzt einer Idee Platz lassen, die eben so wahrscheinlich, als der Verfassung der göttlichen Werke wohlanständig ist, so wird die Zufriedenheit, welche eine solche Abschilderung der Verändemngen der Natur erregt, bis zum höchsten Grade des Wohlgesallens erhoben. Kann man nicht glauben, die Natur, welche vermögend war sich aus dem Chaos in eine regelmäßige Ordnung und in ein geschicktes System zu setzen, sei ebenfalls im Stande, aus dem neuen Chaos, darin sie die Verminderung ihrer Bewegungen versenkt hat, sich wiederum eben so leicht herzustellen und die erste Ver­ bindung zu erneuten? Können die Federn, welche den Stoss der zerstreuten Materie in Bewegung und Ordnung brachten, nachdem sie der Stillstand der Maschine zur Ruhe gebracht hat, durch erweiterte Kräfte nicht wiederum in Wirksamkeit gesetzt werden und sich nach eben denselben allgemeinen Regeln zur Übereinstimmung einschränken, wodurch die ursprüngliche Bildung zuwege gebracht worden ist? Man wird nicht lange Bedenken tragen, dieses zuzugeben, wenn man erwägt, daß, nachdem die endliche Mattigkeit der Umlaufs-Bewegungen in dem Weltgebäude die Planeten und Kometen insgesammt auf die Sonne niedergestürzt hat, dieser ihre Gluth einen uner­ meßlichen Zuwachs durch die Vermischung so vieler und großer Klumpen bekommen muß, vornehmlich da die entfernte Kugeln des Sonnensystems unserer vorher erwiesenen Theorie

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zufolge den leichtesten und im Feuer wirksamsten Stoff der ganzen Natur in sich enthalten. Dieses durch neue Nahmng und die flüchtigste Materie in die größte Heftigkeit versetzte Feuer wird ohne Zweifel nicht allein alles wiederum in die kleinsten Elemente auflösen, sondern auch dieselbe in dieser Art mit einer der Hitze gemäßen Ausdehnungskraft und mit einer Schnelligkeit, welche durch keinen Widerstand des Mittel­ raums geschwächt wird, in dieselben weiten Räume wiederum ausbreiten und zerstreuen, welche sie vor der ersten Bildung der Natur eingenommen hatten, um, nachdem die Heftigkeit des Centralfeuers durch eine beinahe gänzliche Zerstreuung ihrer Masse gedämpft worden, durch Verbindung der Attractions» und Zurückstoßungskräste die alten Zeugungen und systematisch beziehende Bewegungen mit nicht minderer Regel­ mäßigkeit zu wiederholen und ein neues Weltgebäude darzu­ stellen. Wenn dann ein besonderes Planetensystem auf diese Weise in Verfall gerathen und durch wesentliche Kräfte sich daraus wiederum hergestellt hat, wenn es wohl gar dieses Spiel mehr wie einmal wiederholt: so wird endlich die Periode herannahen, die auf gleiche Weise das große System, darin die Fixsterne Glieder sind, durch den Verfall ihrer Bewegungen in einem Chaos versammlen wird. Man wird hier noch weniger zweifeln, daß die Vereinigung einer so unendlichen Menge Feuerschätze, als diese brennenden Sonnen sind, zusammt dem Gefolge ihrer Planeten den Stoff ihrer Massen, durch die unnennbare Gluth aufgelöset, in den alten Raum ihrer Bildungssphäre zerstreuen und daselbst die Materialien zu neuen Bildungen durch dieselbe mechanische Gesetze hergeben werden, woraus wiedemm der öde Raum mit Welten und Systemen kann belebt werden. Wenn wir denn diesem Phönix der Natur, der sich nur dämm verbrennt, um aus seiner Asche wiedemm verjüngt aufzuleben, durch alle Unend­ lichkeit der Zeiten und Räume hindurch folgen; wenn man

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sieht, wie sie sogar in der Gegend, da sie versällt und veraltet, an neuen Austritten unerschöpst und auf der anderen Grenze der Schöpfung in dem Raum der ungebildeten rohen Materie mit stetigen Schritten zur Ausdehnung des Plans der gött­ lichen Offenbarung fortschreitet, um die Ewigkeit sowohl, als alle Räume mit ihren Wundern zu füllen: so versenkt sich der Geist, der alles dieses überdenkt, in ein tiefes Erstaunen; aber annoch mit diesem so großen Gegenstände unzufrieden, dessen Vergänglichkeit die Seele nicht gnugsam zufrieden stellen kann, wünscht er dasjenige Wesen von nahem kennen zu lernen, dessen Verstand, dessen Größe die Quelle desjenigen Lichtes ist, das sich über die gesammte Natur gleichsam als aus einem Mittelpunkte ausbreitet. Mit welcher Art der Ehrfurcht muß nicht die Seele sogar ihr eigen Wesen ansehen, wenn sie betrachtet, daß sie noch alle diese Veränderungen überleben soll, sie kann zu sich selber sagen, was der philosophische Dichter von der Ewigkeit sagt: Wenn dann ein zweites Nichts wird diese Welt begraben, Wenn von dem Alles selbst nichts bleibet als die Stelle, Wenn mancher Himmel noch, von andern Sternen helle, Wird seinen Lauf vollendet haben: Wirst du so jung als jetzt, von deinem Tod gleich weit, Gleich ewig künftig sein, wie heut. v. Halle r.

O glücklich, wenn sie unter dem Tumult der Elemente und den Trümmem der Natur jederzeit auf eine Höhe gesetzt ist, von da sie die Verheerungen, die die Hinfälligkeit den Dingen der Welt verursacht, gleichsam unter ihren Füßen kann vorbei rauschen sehen! Eine Glückseligkeit, welche die Vernunft nicht einmal zu erwünschen sich eMhnen darf, lehrt uns die Offenbarung mit Überzeugung hoffen. Wenn dann die Fesseln, welche uns an die Eitelkeit der Creaturen geknüpft halten, in dem Augenblicke, welcher zu der Verwandlung

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unsers Wesens bestimmt worden, abgesallen sind, so wird der unsterbliche Geist, von der Abhängigkeit der endlichen Dinge befreiet, in der Gemeinschaft mit dem unendlichen Wesen den Genuß der wahren Glückseligkeit finden. Die ganze Natur, welche eine allgemeine harmonische Beziehung zu dem Wohl­ gefallen der Gottheit hat, kann diejenige vemünftige Creatur nicht anders als mit immerwährender Zufriedenheit erfüllen, die sich mit dieser Urquelle aller Vollkommenheit vereint be­ findet. Die Natur, von diesem Mittelpunkte aus gesehen, wird von allen Seiten lauter Sicherheit, lauter Wohlanständig­ keit zeigen. Die veränderlichen Scenen der Natur vermögen nicht, den Ruhestand der Glückseligkeit eines Geistes zu ver­ rücken, der einmal zu solcher Höhe erhoben ist. Indem er diesen Zustand mit einer süßen Hoffnung schon zum voraus kostet, kann er seinen Mund in denjenigen Lobgesängen üben, davon dereinst alle Ewigkeiten erschallen sollen. Wenn dereinst der Bau der Welt in sein Nichts zurück geeilet Und sich deiner Hände Werk nicht durch Tag und Nacht mehr theilet: Dann soll mein gerührt Gemüthe sich, durch dich gestärkt, bemühn, In Verehrung deiner Mmacht stets vor deinen Thron zu ziehn; Mein von Dank ersüllter Mund soll durch alle Ewigkeiten Dir und deiner Majestät ein unendlich Lob bereiten; Ist dabei gleich kein vollkommnes: denn o Herr! so groß bist du, Dich nach Würdigkeit zu loben, reicht die Ewigkeit nicht zu. Addisso n nach Gottscheds Übersetzung.

Von den Bewohnern der Gestirne.

Weil ich dafür halte, daß es den Charakter der Weltweis­ heit entehren heiße, wenn man sich ihrer gebraucht, mit einer Art von Leichtsinn freie Ausschweifungen des Witzes mit einiger Scheinbarkeit zu behaupten, wenn man sich gleich er­ klären wollte, daß es nur geschähe, um zu belustigen: so werde ich in gegenwärtigem Versuche keine anderen Sätze anführen, als solche, die zur Erweiterung unseres Erkenntnisses wirklich beitragen können, und deren Wahrscheinlichkeit zugleich so wohl gegründet ist, daß man sich kaum entbrechen kann, sie gelten zu lassen. Obgleich es scheinen möchte, daß in dieser Art des Bor­ wurfes die Freiheit zu erdichten keine eigentliche Schranken habe, und daß man in dem Urtheil von der Beschaffenheit der Einwohner entlegener Welten mit weit größerer Ungebundenheit der Phantasie könne den Zügel schießen lassen, als ein Maler in der Abbildung der Gewächse oder Thiere unentdeckter Länder, und daß dergleichen Gedanken weder recht erwiesen, noch widerlegt werden könnten: so muß man doch gestehen, daß die Entfemungen der Himmelskörper von der Sonne gewisse Verhältnisse mit sich führen, welche einen wesentlichen Einfluß in die verschiedenen Eigenschaften der denkenden Naturen nach sich ziehen, die auf denselben befind­ lich sind, als deren Art zu wirken und zu leiden an die Be­ schaffenheit der Materie, mit der sie verknüpft sind, gebunden ist und von dem Maß der Eindrücke abhängt, die die Welt nach den Eigenschaften der Beziehung ihres Wohnplatzes zu dem Mittelpunkte der Attraction und der Wärme in ihnen erweckt.

Ich bin der Meinung, daß es eben nicht nothwendig sei, zu behaupten, alle Planeten müßten bewohnt sein, ob es gleich eine Ungereimtheit wäre, dieses in Ansehung aller, oder auch nur der meisten zu leugnen. Bei dem Reichthume der Natur, da Welten und Systeme in Ansehung des Ganzen der Schöpfung nur Sonnenstäubchen sind, könnte es auch wohl öde und unbewohnte Gegenden geben, die nicht auf das ge­ naueste zu dem Zwecke der Natur, nämlich der Betrachtung vemünftiger Wesen, genutzt würden. Es wäre, als wenn man sich aus dem Gmnde der Weisheit Gottes ein Bedenken machen wollte, zuzugeben, daß sandichte und unbewohnte Wüsteneien große Strecken des Erdbodens einnehmen, und daß es ver­ lassene Inseln im Weltmeere gebe, darauf kein Mensch be­ findlich ist. Indessen ist ein Planet viel weniger in Ansehung des Ganzen der Schöpfung, als eine Wüste, oder Insel in Ansehung des Erdbodens. Vielleicht daß sich noch nicht alle Himmelskörper völlig aus­ gebildet haben; es gehören Jahrhunderte und vielleicht tausende von Jahren dazu, bis ein großer Himmelskörper einen festen Stand seiner Materien erlangt hat. Jupiter scheint noch in diesem Streite zu sein. Die merkliche Abwechselung seiner Gestalt zu verschiedenen Zeiten hat die Astronomen schon vorlängst muthmaßen lassen, daß er große Umstürzungen er­ leiden müsse und bei weiten so ruhig auf seiner Oberfläche nicht sei, als es ein bewohnbarer Planet sein muß. Wenn er keine Bewohner hat und auch keine jemals haben sollte, was für ein unendlich kleiner Aufwand der Natur wäre dieses in Ansehung der Unermeßlichkeit der ganzen Schöpfung? Und wäre es nicht vielmehr ein Zeichen der Armuth, als des Über­ flusses derselben, wenn sie in jedem Punkte des Raumes so sorgfältig sein sollte, alle ihre Reichthümer aufzuzeigen? Allein man kann noch mit mehr Befriedigung vermuthen, daß, wenn er gleich jetzt unbewohnt ist, er dennoch es dereinst

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werden wird, wenn die Periode seiner Bildung wird vollendet sein. Vielleicht ist unsere Erde tausend oder mehr Jahre vor­ handen gewesen, ehe sie sich in Versassung befunden hat, Men­ schen, Thiere und Gewächse unterhalten zu können. Daß ein Planet nun einige tausend Jahre später zu dieser Vollkom­ menheit kommt, das thut dem Zwecke seines Daseins keinen Abbruch. Er wird eben um deswillen auch ins zukünftige länger in der Vollkommenheit seiner Verfassung, wenn er sie einmal erreicht hat, verbleiben; denn es ist einmal ein gewisses Naturgesetz: alles, was einen Ansang hat, nähert sich beständig seinem Untergange und ist demselben um so viel näher, je mehr es sich von dem Punkte seines Anfanges entfernt hat. Die satirische Vorstellung jenes witzigen Kopfes aus dem Haag, welcher nach der Anführung der allgemeinen Nach­ richten aus dem Reiche der Wissenschaften die Einbildung von der nothwendigen Bevölkerung aller Weltkörper auf der lächer­ lichen Seite vorzustellen wußte, kann nicht anders, als gebilligt werden. „Diejenigen Creaturen," spricht er, „welche die Wäl­ der auf dem Kopfe eines Bettlers bewohnen, hatten schon lange ihren Aufenthalt für eine unermeßliche Kugel und sich selber als das Meisterstück der Schöpfung angesehen, als einer unter ihnen, den der Himmel mit einer feinern Seele begabt hatte, ein keiner F o n t e n e l l e seines Geschlechts, den Kopf eines Edelmanns unvermuthet gewahr ward. Alsbald rief er aNe witzige Köpfe seines Quartiers zusammen und sagte ihnen mit Entzückung: Wir sind nicht die einzigen belebten Wesen der ganzen Natur; sehet hier ein neues Land, hier wohnen mehr Läuse." Wenn der Ausgang dieses Schlusses ein Lachen erweckt: so geschieht es nicht um des­ willen, weil er von der Menschen Art, zu urtheilen, weit ab­ geht; sondem weil eben derselbe Irrthum, der bei dem Menschm eine gleiche Ursache zum Grunde hat, bei diesen mehr Entschuldigung zu verdienen scheint.

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Laßt uns ohne Bomrtheil urteilen. Dieses Jnsect, welches sowohl seiner Art zu leben, als auch seiner Nichtswürdigkeit nach die Beschaffenheit der meisten Menschen sehr wohl aus­ drückt, kann mit gutem Fuge zu einer solchen Vergleichung gebraucht werden.

Weil seiner Einbildung nach der Natur

an seinem Dasein unendlich viel gelegen ist: so hält es die ganze übrige Schöpfung für vergeblich, die nicht eine genaue Abzielung auf sein Geschlecht, als den Mittelpunkt ihrer Zwecke, mit sich führt. Der Mensch, welcher gleich unendlich weit von der obersten Stufe der Wesen absteht, ist so verwegen, von der Nothwendigkeit seines Daseins sich mit gleicher Einbildung zu schmeicheln. Die Unendlichkeit der Schöpfung saßt alle Naturen, die ihr überschwenglicher Reichthum hervorbringt, mit gleicher Nothwendigkeit in sich.

Von der erhabensten Classe unter den

denkenden Wesen bis zu dem Verachtetesten Jnsect ist ihr kein Glied gleichgültig; und es kann keins fehlen, ohne daß die Schönheit des Ganzen, welche in dem Zusammenhange be­ steht, dadurch unterbrochen würde.

Indessen wird alles durch

allgemeine Gesetze bestimmt, welche die Natur durch die Ver­ bindung ihrer ursprünglich eingepflanzten Kräfte bewirkt. Weil sie in ihrem Verfahren lauter Wohlanständigkeit und Ordnung hervorbringt: so darf keine einzelne Absicht ihre Folgen stören und unterbrechen. Bei ihrer ersten Bildung war die Erzeugung eines Planeten nur eine unendlich kleine Folge ihrer Frucht­ barkeit; und nun wäre es etwas Ungereimtes, daß ihre so wohl­ gegründete Gesetze den besondem Zwecken dieses Atomus nachgeben sollten.

Wenn die Beschaffenheit eines Himmels­

körpers der Bevölkerung natürliche Hindemisse entgegensetzt: so wird er unbewohnt sein, obgleich es an und für sich schöner wäre, daß er Einwohner hätte. Die Trefflichkeit der Schöpfung verliert dadurch nichts: denn das Unendliche ist unter allen Größen diejenige, welche durch Entziehung eines endlichen Theiles nicht vermindert wird. Es wäre, als wenn man klagen

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wollte, daß der Raum zwischen dem Jupiter und dem Mars so unnöthig leer steht, und daß es Kometen giebt, welche nicht bevöllert sind. In der That, jenes Insert mag uns so nichts­ würdig scheinen, als es wolle, es ist der Natur gewiß an der Erhaltung seiner ganzen Classe mehr gelegen, als an einer kleinen Zahl vortrefflicherer Geschöpfe, deren es dennoch un­ endlich viel giebt, wenn chnen gleich eine Gegend, oder Ort beraubt sein sollte. Weil sie in Hervorbringung beider un­ erschöpflich ist, so sieht man ja gleich unbekümmert beide in ihrer Erhaltung und Zerstörung den allgemeinen Gesetzen über­ lassen. Hat wohl jemals der Besitzer jener bewohnten Wälder auf dem Kopfe des Bettlers größere Verheerungen unter dem Geschlechte dieser Colonie gemacht, als der Sohn Philipps in dem Geschlechte seiner Mitbürger anrichtete, als es ihm sein böser Genius in den Kopf gesetzt hatte, daß die Welt nur um seinetwillen hervorgebracht sei? Indessen sind doch die meisten unter den Planeten gewiß bewohnt, und die es nicht sind, werden es dereinst werden. Was für Verhältnisse werden nun unter den verschiedenen Arten dieser Einwohner durch die Beziehung ihres Ortes in dem Weltgebäude zu dem Mittelpunkte, daraus sich die Wärme verbreitet, die alles belebt, vemrsacht werden? Denn es ist gewiß, daß diese unter den Materien dieser Himmelskörper nach Proportion ihres Abstandes gewisse Verhältnisse in ihren Bestimmungen mit sich führt. Der Mensch, welcher unter allen bemünftigen Wesen dasjenige ist, welches wir am deutlichsten kennen, ob uns gleich seine innere Beschaffenheit annoch ein unerforschtes Problema ist, muß in dieser Vergleichung zum Gmnde und zum allgemeinen Beziehungspunkte dienen. Wir wollen ihn allhier nicht nach seinen moralischen Eigenschaften, auch nicht nach der physischen Einrichtung seines Baues be­ trachten: wir wollen nur untersuchen, was das Vermögen, vemünftig zu denken, und die Bewegung seines Leibes, die

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Bon den Bewohnern der Gestirne.

diesem gehorcht, durch die dem Abstande von der Sonne proportionirte Beschaffenheit der Materie, an die er geknüpft ist, für Einschränkungen leide. Des unendlichen Abstandes un­ geachtet, welcher zwischen der Kraft, zu denken, und der Be­ wegung der Materie, zwischen dem vernünftigen Geiste und dem Körper anzutreffen ist, so ist es doch gewiß, daß der Mensch, der alle seine Begriffe und Vorstellungen von den Eindrücken her hat, die das Universum vermittelst des Körpers in seiner Seele erregt, sowohl in Ansehung der Deutlichkeit der­ selben, als auch der Fertigkeit, dieselbe zu verbinden und zu vergleichen, welche man das Vermögen zu denken nennt, von der Beschaffenheit dieser Materie völlig abhängt, an die der Schöpfer ihn gebunden hat. Der Mensch ist erschaffen, die Eindrücke und Rühmngen, die die Welt in ihm erregen soll, durch denjenigen Körper anzunehmen, der der sichtbare Theil seines Wesens ist, und dessen Materie nicht allein dem unsichtbaren Geiste, welcher ihn bewohnt, dient, die ersten Begriffe der äußeren Gegen­ stände einzudrücken, sondern auch in der innern Handlung diese zu wiederholen, zu verbinden, kurz, zu denken, unent­ behrlich ist.*) Nach dem Maße, als sein Körper sich ausbildet, bekommen die Fähigkeiten seiner denkenden Natur auch die gehörigen Grade der Vollkommenheit und erlangen allererst ein gesetztes und männliches Vermögen, wenn die Fasern seiner Werkzeuge die Festigkeit und Dauerhaftigkeit überkom­ men haben, welche die Vollendung ihrer Ausbildung ist. Die*) Es ist aus den Gründen der Psychologie ausgemacht, daß Dermöge der jetzigen Bersassung, darin die Schöpfung Seele und Leib von einander abhängig gemacht hat, die erstere nicht allein alle Begrisse des U n i v e r s i durch des letztern Gemeinschaft und Einfluß überkommen muß, sondern auch die Ausübung feiner Denkungskraft selber aus dessen Verfassung ankommt und von dessen Beihülse die nöthige Fähigkeit dazu entlehnt.

jenigen Fähigkeiten entwickeln sich bei ihm früh genug, durch welche er der Nothdurft, die die Abhängigkeit von den äußer­ lichen Dingen ihm zuzieht, genug thun kann. Bei einigen Menschen bleibt es bei diesem Grade der Auswickelung. Das Vermögen, abgezogene Begriffe zu verbinden und durch eine freie Anwendnug der Einsichten über den Hang der Leiden­ schaften zu herrschen, findet sich spät ein, bei einigen niemals in ihrem ganzen Leben; bei allen aber ist es schwach: es dient den unteren Kräften, über die es doch herrschen sollte, und in deren Regierung der Vorzug seiner Natur besteht. Wenn man das Leben der meisten Menschen ansieht: so scheint diese Creatur geschaffen zu sein, um wie eine Pflanze Saft in sich zu ziehen und zu wachsen, sein Geschlecht fortzusetzen, endlich alt zu werden und zu sterben. Er erreicht unter allen Geschöpfen am wenigsten den Zweck seines Daseins, well er seine vorzügliche Fähigkeiten zu solchen Absichten verbraucht, die die übrigen Creaturen mit weit minderen und doch weit sicherer und anständiger erreichen. Er würde auch das verachtungswürdigste unter allen zum wenigsten in den Augen der wahren Weisheit sein, wenn die Hoffnung des Künftigen ihn nicht erhübe, und den in ihm verschlossenen Kräften nicht die Periode einer völligen Auswickelung bevorstände. Wenn man die Ursache der Hindernisse untersucht, welche die menschliche Natur in einer so tiefen Erniedrigung erhalten: so findet sie sich in der Grobheit der Materie, darin sein geistiger Theil versenkt ist, in der Unbiegsamkeit der Fasern und der Trägheit und Unbeweglichkeit der Säfte, welche dessen Regungen gehorchen sollen. Die Nerven und Flüssigkeiten seines Gehirnes liefern ihm nur grobe und undeutliche Begriffe, und weil er der Reizung der sinnlichen Empfindungen in dem Inwendigen seines Denkungsvermögens nicht genugsam kräftige Vorstellun­ gen zum Gleichgewichte entgegen stellen kann: so wird er von seinen Leidenschaften hingerissen, von dem Getümmel der ftantß populäre Schriften.

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Elemente, die seine Maschine unterhalten, übertäubt und ge­ stört. Die Bemühungen der Bemunst, sich dagegen zu erheben und diese Verwirrung durch das Licht der Urtheilskraft zu ver­ treiben, sind wie die Sonnenblicke, wenn dicke Wolken ihre Heiterkeit unablässig unterbrechen und verdunkeln. Diese Grobheit des Stoffes und des Gewebes in dem Baue der menschlichen Natur ist die Ursache derjenigen Trägheit, welche die Fähigkeiten der Seele in einer beständigen Mattig­ keit und Kraftlosigkeit erhält. Die Handlung des Nachdenkens und der durch die Vernunft ausgeklärten Vorstellungen ist ein mühsamer Zustand, darein die Seele sich nicht ohne Widerstand setzen kann, und aus welchem sie durch einen natürlichen Hang der körperlichen Maschine alsbald in den leidenden Zustand zurückfällt, da die sinnlichen Reizungen alle ihre Handlungen bestimmen und regieren. Diese Trägheit seiner Denkungskraft, welche eine Folge der Abhängigkeit von einer groben und ungelenksamen Materie ist, ist nicht allein die Quelle des Lasters, sondem auch des Irrthums. Durch die Schwierigkeit, welche mit der Bemühung verbunden ist, den Nebel der verwirrten Begriffe zu zerstreuen und das durch verglichene Ideen entspringende allgemeine Erkenntniß von den sinnlichen Eindrücken abzusondern, ab­ gehalten, giebt sie lieber einem übereilten Beifalle Platz und bemhigt sich in dem Besitze einer Einsicht, welche ihr die Träg­ heit chrer Natur und der Mderstand der Materie kaum von der Seite erblicken lassen. In dieser Abhängigkeit schwinden die geistigen Fähigkeiten zugleich mit der Lebhaftigkeit des Leches: wenn das hohe Alter durch dm geschwächten Umlauf der Säfte nur dicke Säfte in dem Körper kocht, wenn die Beugsamkeit der Fasem und die Behendigkeit in allen Bewegungen abnimmt, so erstarren die Kräfte des Geistes in einer gleichen Ermattung. Die Hurtig­ keit der Gedanken, die Klarheit der Vorstellungen die Leb-

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Hastigkeit des Witzes und das Erinnerungsvermögen werden kraftlos und erkalten. Die durch lange Erfahmng eingepfropften Begriffe ersetzen noch einigermaßen den Abgang dieser Kräfte, und der Verstand würde sein Unvermögen noch deutlicher ver­ rathen, wenn die Heftigkeit der Leidenschaften, die dessen Zügel nöthig haben, nicht zugleich und noch eher als er abnehmen möchten. Es erhellt demnach hieraus deutlich, daß die Kräfte der menschlichen Seele von den Hindemissen einer groben Materie, an die sie innigst verbunden werden, eingeschränkt und gehemmt werden; aber es ist etwas noch Merkwürdigeres, daß diese spezifische Beschaffenheit des Stoffes eine wesentliche Be­ ziehung zu dem Grade des Hinflusses hat, womit die Sonne nach dem Maße ihres Abstandes sie belebt und zu den Ver­ richtungen der animalischen Ökonomie tüchtig macht. Diese nothwendige Beziehung zu dem Feuer, welches sich aus dem Mittelpunkte des Weltsystems verbreitet, um die Materie in der nöthigen Regung zu erhalten, ist der Gmnd einer Analogie, die eben hieraus zwischen den verschiedenen Bewohnern der Planeten fest gesetzt wird; und eine jede Classe derselben ist vermöge dieses Verhältnisses an den Ort durch die Noth­ wendigkeit ihrer Natur gebunden, der ihr in dem U n i v e r s o angewiesen worden. Die Einwohner der Erde und der Venus können ohne ihr beiderseitiges Verderben ihre Wohnplätze gegeneinander nicht vertauschen. Der erstere, dessen Bildungsstoff für den Grad der Wärme seines Abstandes proportionirt und daher für einen noch größer« zu leicht und flüchtig ist, würde in einer erhitzteren Sphäre gewaltsame Bewegungen und eine Zerrüttung seiner Natur erleiden, die von der Zerstreuung und Austrocknung der Säfte und einer gewaltsamen Spannung seiner elastischen Fasem entstehen würde; der letztere, dessen gröberer Bau und Trägheit der Elemente seiner Bildung eines großen Einflusses 3*

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der Sonne bedarf, würde in einer kühleren Himmelsgegend erstarren und in einer Leblosigkeit verderben. Eben so müssen es weit leichtere und flüchtigere Materim sein, daraus der Körper des Jupiters-Bewohners besteht, damit die geringe Regung, womit die Sonne in diesem Abstande wirken kann, diese Maschinen eben so kräftig bewegen könne, als sie es in den unterm Gegenden verrichtet, und damit ich alles in einem allgemeinen Begriffe zusammenfasse: Der Stoss, wo­ raus die Einwohner verschiedener Pla­ neten, ja sogar die Thiere und Gewächse auf denselben gebildet sind, muß über­ haupt um desto leichtererund seinererArt und die Elastizität der Fasern sammt der vortheilhaften Anlage ihres Baues um desto vollkommener sein nach dem Maße, als sie weiter von der Sonne abstehen. Dieses Verhältniß ist so natürlich und wohl gegründet, daß nicht allein die Bewegungsgründe des Endzwecks darauf führm, welche in der Naturlehre gemeiniglich nur als schwache Gründe angesehen werden, sondern zugleich die Proportionen der specifischen Beschaffenheit der Materien, woraus die Planeten bestehm, welche sowohl durch die Rechnungen des Newton, als auch durch die Gründe der Kosmogonie aus­ gemacht sind, dasselbe bestätigen, nach welchem der Stoff, wo­ raus die Himmelskörper gebildet sind, bei den entferntem allemal leichterer Art, als bei den nahen ist, welches nothwendig an den Geschöpfm, die sich auf ihnen erzeugen und unterhalten, ein gleiches Verhältniß nach sich ziehm muß. Wir haben eine Vergleichung zwischen der Beschaffenheit der Materie, damit die vemünstigen Geschöpfe auf den Planeten wesentlich vereinigt sind, ausgemacht; und es läßt sich auch nach der Einleitung dieser Betrachtung leichtlich erachtm, daß diese Verhältnisse eine Folge auch in Ansehung ihrer

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geistige n Fähigkeit nach sich ziehen werden. Wenn demnach diese geistige Fähigkeiten eine nothwendige Abhängigkeit von dem Stoffe der Maschine haben, welche sie bewohnen, so wer­ den wir mit mehr als wahrscheinlicher Vermuthung schließen können: daß die Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstel­ lungen, die Deutlichkeit und Lebhaftig­ keit der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, sammt dem Vermögen sie zusammen zu setzen, endlich auch die Behendigkeitin der wirklichen Ausübung, kurz, der ganze Umfang ihrer Vollkom­ menheit, unter einer gewissen Regel stehen, nach welcher dieselben nach dem Verhältniß des Abstandes ihrer WohnPlätze von der Sonne immer trefflicher und vollkommener werden. Da dieses Verhältniß einen Grad der Glaubwürdigkeit hat, der nicht weit von einer ausgemachten Gewißheit ent­ fernt ist, so finden wir ein offenes Feld zu angenehmen Muth­ maßungen, die aus der Vergleichung der Eigenschaften dieser verschiedenen Bewohner entspringen. Die menschliche Natm, welche in der Leiter der Wesen gleichsam die mittelste Sprosse inne hat, sieht sich zwischen den zwei äußersten Grenzen der Vollkommenheit mitten inne, von deren beiden Enden sie gleich weit entfernt ist. Wenn die Vorstellung der erhabensten Classen vemünftiger Creaturen, die den Jupiter oder den (Saturn bewohnen, ihre Eifersucht reizt und sie durch die Er­ kenntniß chrer eigenen Medrigkeit demüthigt: so kann der Anblick der niedrigen Stufen sie wiederum zufrieden sprechen und beruhigen, die in den Planeten Venus und Mercur weit unter der Vollkommenheit der menschlichen Natur erniedrigt sind. Welch ein verwunderungswürdiger Anblick! Bon der

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einen Seite sahen wir denkende Geschöpfe, bei denen ein Grön­ länder oder Hottentotte ein Newton sein würde: und aus der andern Seite andere, die diesen als einen Assen bewundern. Da jüngst die obern Wesen sahn, Was unlängst recht verwunderlich Ein Sterblicher bei uns gethan, Und wie er der Natur Gesetz entfaltet: wunderten sie sich, Daß durch ein irdisches Geschöpf dergleichen möglich zu geschehn, Und sahen unsern Newton an, so wie wir einen Assensehn. Pope.

Zu welch einem Fortgange in der Erkenntniß wird die Einsicht jener glückseligen Wesen der obersten Himmelssphären nicht gelangen! Welche schöne Folgen wird diese Erleuchtung der Einsichten nicht in ihre sittliche Beschaffenheit haben! Die Einsichten des Verstandes, wenn sie die gehörigen Grade der Vollständigkeit und Deutlichkeit besitzen, haben weit lebhaftere Reizungen als die sinnlichen Anlockungen an sich und find vermögend, diese siegreich zu beherrschen und unter den Fuß zu treten. Wie herrlich wird sich die Gottheit selbst, die sich in allen Geschöpfen malt, in diesen denkenden Naturen nicht malen, welche als ein von den Stürmen der Leidenschaften unbewegtes Meer ihr Bild ruhig aufnehmen und zurüchtrahlen! Wir wollen diese Muthmaßungen nicht über die einer physischen Abhandlung vorgezeichnete Grenzen erstrecken, lvir bemerken nur nochmals die oben angeführte Analogie: daß die Vollkommenheit der Geisterwelt sowohl, als der materialischen in den Planeten von dem Mercur an bis zum Saturn, oder vielleicht noch über ihm (wofern noch an­ dere Planeten sind) in einet richtigen Gradenfolge nach der Proportion ihrer Entfernungen von der Sonne wachse und

fortschreite.

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Indessen daß dieses aus den Folgen der physischen Be­ ziehung ihrer Wohnplätze zu dem Mittelpunkte der Welt zum Theil natürlich herfließt, zum Theil geziemend veranlaßt wird: so bestätigt andererseits der wirkliche Anblick der vortrefslichsten und sich für die vorzügliche Vollkommenheit dieser Naturen in den obern Gegenden anschickenden Anstalten diese Regel so deutlich, daß sie beinahe einen Anspruch aus eine völlige Über­ zeugung machen sollte. Die Hurtigkeit der Handlungen, die mit den Vorzügen einer erhabenen Natur verbunden ist, schickt sich besser zu den schnell abwechselnden Zeitperioden jener Sphären, als die Langsamkeit träger und unvollkommener Ge­ schöpfe. Die Sehröhre lehren uns, daß die Abwechselung des Tages und der Nacht im Jupiter in 10 Stunden geschehe. Was würde der Bewohner der Erde, wenn er in diesen Planeten gesetzt würde, bei dieser Eintheilung wohl ansangen? Die 10 Stunden würden kaum zu derjenigen Ruhe zureichen, die diese grobe Maschine zu ihrer Erholung durch den Schlas gebraucht. Was würden die Vorbereitung zu den Verrichtungen des Wachens, das Kleiden, die Zeit, die zum Essen angewandt wird, nicht für einen Antheil an der folgenden Zeit abfordern, und wie würde eine Creatur, deren Handlungen mit solcher Langsam­ keit geschehen, nicht zerstreuet und zu etwas Tüchtigem unver­ mögend gemacht werden, deren 5 Stunden Geschäfte plötzlich durch die Dazwischenkunft einer eben so langen Finsterniß unterbrochen würden? Dagegen wenn Jupiter von vollkommneren Creaturen bewohnt ist, die mit einer feinern Bildung mehr elastische Kräfte und eine größere Behendigkeit in der Ausübung verbinden: so kann man glauben, daß diese 5 Stun­ den ihnen eben dasselbe und mehr sind, als was die 12 Stun­ den des Tages für die niedrige Classe der Menschen betragen. Mr wissen, daß das Bedürfniß der Zeit etwas Relatives ist, welches nicht anders, als aus der Größe desjenigen, was ver-

richtet werden soll, mit der Geschwindigkeit der Ausübung ver­ glichen, kann erkannt und verstanden werden. Daher eben dieselbe Zeit, die für eine Art der Geschöpfe gleichsam nur ein Augenblick ist, für eine andere eine lange Periode sein kann, in der sich eine große Folge der Verändemngen durch eine schnelle Wirksamkeit auswickelt. Saturn hat nach der wahr­ scheinlichen Berechnung seiner Umwälzung, die wir oben dar­ gelegt haben, eine noch weit kürzere Abtheilung des Tages und der Nacht und läßt daher an der Natur seiner Bewohner noch vorzüglichere Fähigkeiten vermuthen. Endlich stimmt alles überein das angeführte Gesetz zu bestätigen. Die Natur hat ihren Vorrath augenscheinlich auf der entlegenen Seite der Welt am reichlichsten ausgebreitet. Die Monde, die den geschäftigen Wesen dieser glückseligen Ge­ genden durch eine hinlängliche Ersetzung die Entziehung des Tageslichts vergüten, sind in größter Menge daselbst ange­ bracht, und die Natur scheint sorgfältig gewesen zu sein, chrer Wirksamkeit alle Beihülfe zu leisten, damit ihnen fast keine Zeit hinderlich sei, solche anzuwenden. Jupiter hat in Ansehung der Monde einen augenscheinlichen Vorzug vor allen unteren Planeten und Saturn wiederum vor ihm, dessen Anstalten an dem schönen und nützlichen Ringe, der ihn umgiebt, noch größere Vorzüge von seiner Beschaffenheit wahrscheinlich machen: dahingegen die untern Planeten, bei denen dieser Borrach unnützlich würde verschwendet sein, deren Classe weit näher an die Unvernunft grenzt, solcher Vortheile entweder gar nicht, oder doch sehr wenig theilhaftig geworden sind. Man kann aber (damit ich einem Einwurfe zuvor komme, der alle diese angeführte Übereinstimmung vereiteln könnte) den größeren Abstand von der Sonne, dieser Quelle des Lichts und des Lebens, nicht als ein Übel ansehen, wogegen die Weitläuftigkeit solcher Anstalten bei den entferntem Planeten nur vorgekehrt werde, um ihm einigermaßen abzuhelfen, und ein-

wenden, daß in der That die obern Planeten eine weniger vortheichafte Lage im Weltgebäude und eine Stellung hätten, die der Bollkommenheit ihrer Anstalten nachtheilig wäre, weil sie von der Sonne einen schwächern Einfluß erhalten. Denn wir wissen, daß die Wirkung des Lichts und der Wärme nicht durch deren absolute Intensität, sondern durch die Fähigkeit, der Materie, womit sie solche annimmt und chrem Antriebe weniger oder mehr widersteht, bestimmt werde, und daß daher eben derselbe Abstand, der für eine Art grober Materie ein gemäßigtes Klima kann genannt werden, subtilere Flüssig­ keiten zerstreuen und für sie von schädlicher Heftigkeit sein würde; michin nur ein feinerer und aus beweglicheren Elementen be­ stehender Stoff dazu gehört, um die Entfernungen des Jupiters oder Saturns von der Sonne beiden zu einer glücklichen Stel­ lung zu machen. Endlich scheint noch die Trefflichkeit der Naturen in diesen oberen Himmelsgegenden durch einen physischen Zusammen­ hang mit einer Dauerhaftigkeit, deren sie würdig ist, verbunden zu sein. Das Verderben und der Tod können diesen trefflichen Geschöpfen nicht so viel, als uns niedrigen Naturen anhaben. Eben dieselbe Trägheit der Materie und Grobheit des Stoffes, die bei den unteren Stufen das specifische Principium ihrer Erniedrigung ist, ist auch die Ursache desjenigen Hanges, den sie zum Verderben haben. Wenn die Säfte, die das Thier oder den Menschen nähren und wachsen machen, indem sie sich zwischen seine Fäserchen einverleiben und an seine Masse ansetzen, nicht mehr zugleich dessen Gesäße und Canäle in der Raumesausdehnung vergrößern können, wenn das Wachschum schon vollendet ist: so müssen diese sich ansetzende Nahrungssäste durch eben den mechanischen Trieb, der, das Thier zu nähren, angewandt wird, die Höhle seiner Gefäße verengen und verstopfen und den Bau der ganzen Maschine in einer nach und nach zunehmenden (Erstarrung zu Grunde richten.

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Es ist zu glauben, daß, obgleich die Vergänglichkeit auch an den vollkommensten Naturen nagt, dennoch der Vorzug in der Feinigkeit des Stosses, in der Elasticität der Gesäße und der Leichtigkeit und Wirksamkeit der Säste, woraus jene vollkommnere Wesen, welche in den entfernten Planeten wohnen, gebildet sind, diese Hinfälligkeit, welche eine Folge aus der Trägheit einer groben Materie ist, weit länger aufhalten und diesen Creaturen eine Dauer, deren Länge ihrer Vollkommen­ heit proportionirt ist, verschaffen werde, so wie die Hinfällig­ keit des Lebens der Menschen ein richtiges Verhältniß zu ihrer Nichtswürdigkeit hat. Ich kann diese Betrachtung nicht verlassen, ohne einem Zweifel zuvor zu kommen, welcher natürlicher Weise aus der Vergleichung dieser Meinungen mit unseren vorigen Sätzen entspringen könnte. Wir haben in den Anstalten des Welt­ baues an der Menge der Trabanten, welche die Planeten der entferntesten Kreise erleuchten, an der Schnelligkeit der Achsen­ drehungen und dem gegen die Sonnenwirkung proportionirten Stoffe ihres Zusammensatzes die Weisheit Gottes erkannt, welche alles dem Vortheile der vernünftigen Wesen, die sie bewohnen, so zuträglich angeordnet hat. Aber wie wollte man ansetzt mit der Lehrverfassung der Absichten einen mechanischen Lehrbegriff zusammen reimen, so daß, was die höchste Weisheit selbst entwarf, der rohen Materie und das Regiment der Vor­ sehung der sich selbst überlassenen Natur zur Ausführung aus­ getragen worden? Ist das erstere nicht vielmehr ein Geständniß, daß die Anordnung des Weltbaues nicht durch die allgemeinen Gesetze der letzteren entwickelt worden? Man wird diese Zweifel bald zerstreuen, wenn man auf dasjenige nur zurück denkt, was in gleicher Absicht in dem vorigen angeführt worden. Muß nicht die Mechanik aller natürlichen Bewegungen einen wesentlichen Hang zu lauter solchen Folgen haben, die mit dem Project der höchsten Vernunft in dem

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ganzen Umfange der Verbindungen wohl zusammenstimmt? Wie sann sie abirrende Bestrebungen und eine ungebundene Zerstreuung in ihrem Beginnen haben, da alle ihre Eigen­ schaften, aus welchen sich diese Folgen entwickeln, selbst ihre Bestimmung aus der ewigen Idee des göttlichen Verstandes haben, in welchem sich alles nothwendig auf einander beziehen und zusammenschicken muß? Wenn man sich recht besinnt, wie kann man die Art zu urtheilen rechtfertigen, daß man die Natur als ein widerwärtiges Subject ansieht, welches nur durch eine Art von Zwange, der ihrem freien Betragen Schranken setzt, in dem Gleise der Ordnung und der gemein­ schaftlichen Harmonie kann erhalten werden, wofern man nicht etwa dafür hält, daß sie ein sich selbst genügsames Principium sei, dessen Eigenschaften keine Ursache erkennen, und welche Gott, so gut als es sich thun läßt, in den Plan seiner Absichten zu zwingen trachtet? Je näher man die Natur wird kennen lernen, desto mehr wird man einsehen, daß die allgemeinen Beschaffenheiten der Dinge einander nicht fremd und getrennt sind. Man wird hinlänglich überführt werden, daß sie wesent­ liche Verwandtschaften haben, durch die sie sich von selber anschicken, einander in Errichtung vollkommener Verfassungen zu unterstützen, die Wechselwirkung der Elemente zur Schön­ heit der materialischen und doch auch zugleich zu den Vor­ theilen der Geisterwelt, und daß überhaupt die einzelnen Na­ turen der Dinge in dem Felde der ewigen Wahrheiten schon untereinander, so zu sagen, ein System ausmachen, in welchem eine auf die andere beziehend ist; man wird auch alsbald inne werden, daß die Verwandtschaften ihnen von der Gemein­ schaft des Ursprungs eigen ist, aus dem sie insgesammt ihre wesentlichen Bestimmungen geschöpft haben. Und um daher diese wiederholte Betrachtung zu dem vor­ habenden Zwecke anzuwenden: Eben dieselbe allgemeine Bewegungsgesetze, die den obersten Planeten einen entfernten

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Platz von dem Mittelpunkte der Anziehung und der Trägheit in dem Weltsystem angewiesen haben, haben sie dadurch zu­ gleich in die vorcheilhafteste Verfassung gesetzt, ihre Bildungen am weitesten von dem Beziehungspunkte der groben Materie und zwar mit größerer Frecheit anzustellen; sie haben sie aber auch zugleich in ein regelmäßiges Verhältniß zu dem Ein­ flüsse der Wärme versetzt, welche sich nach gleichem Gesetze aus eben dem Mittelpunkte ausbreitet. Da nun eben diese Bestimmungen es sind, welche die Bildung der Weltkörper in diesen entfernten Gegenden ungehinderter, die Erzeugung der davon abhängenden Bewegungen schneller und, kurz zu sagen, das System wohlanständiger gemacht haben, da endlich die geistigen Wesen eine nothwendige Abhängigkeit von der Materie haben, an die sie persönlich verbunden sind: so ist kein Wunder, daß die Vollkommenheit der Natur von beiderlei Orten in einem einzigen Zusammenhange der Ursachen und aus gleichen Gründen bewirkt worden. Diese Übereinstimmung ist also bei genauer Erwägung nichts Plötzliches oder Unerwartetes, und weil die letzteren Wesen durch ein gleiches Principium in die allgemeine Verfassung der materialischen Natur eingeflochten worden: so wird die Geisterwelt aus eben den Ursachen in den entfernten Sphären vollkommener sein, weswegen es die körperliche ist. So hängt denn alles in dem ganzen Umfange der Natur in einer ununterbrochenen Gradfolge zusammen durch die ewige Harmonie, die alle Glieder auf einander beziehend macht. Die Vollkommenheiten Gottes haben sich in unsern Stufen deutlich offenbart und sind nicht weniger herrlich in den niedrigsten Classen, als in den erhabnem. Welch eine Kette, die von Gott den Ansang nimmt, was für Naturen Bon himmlischen und irdischen, von Engeln, Menschen bis zum Bieh, Born Seraphim bis zum Gewürm! O Weite, die das Auge nie Erreichen und betrachten kann, Bon dem Unendlichen zu dir, von dir zum Nichts! Pope.

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Wir haben die bisherige Muthmaßungen treulich an dem Leitfaden der physischen Verhältnisse fortgeführt, welcher sie auf dem Pfade einer vernünftigen Glaubwürdigkeit erhalten hat. Wollen wir uns noch eine Ausschweifung aus diesem Gleise in das Feld der Phantasie erlauben? Wer zeigt uns die Grenze, wo die gegründete Wahrscheinlichkeit aufhört und die willkürlichen Erdichtungen anheben? Wer ist so kühn, eine Beantwortung der Frage zu wagen: ob die Sünde ihre Herr­ schaft auch in den andem Kugeln des Weltbaues ausübe, oder ob die Tugend allein ihr Regiment daselbst aufgeschlagen? Die Sterne sind vielleicht ein Sitz verklärter Geister, Wie hier das Laster herrscht, ist dort die Tugend Meister. v. Haller.

Gehört nicht ein gewisser Mittelstand zwischen der Weis­ heit und Unvernunft zu der unglücklichen Fähigkeit sündigen zu können? Wer weiß, sind also die Bewohner jener entfernten Weltkörper nicht zu erhaben und zu weise, um sich bis zu der Thorheit, die in der Sünde steckt, herabzulassen, diejenigen aber, die in den unteren Planeten wohnen, zu fest an die Materie geheftet und mit gar zu geringen Fähigkeiten des Geistes versehen, um die Verantwortung ihrer Handlungen vor dem Richterstuhle der Gerechtigkeit tragen zu dürfen? Auf diese Weise wäre die Erde und vielleicht noch der Mars (damit der elende Trost uns ja nicht genommen werde, Ge­ fährten des Unglücks zu haben) allein in der gefährlichen Mittelstraße, wo die Versuchung der sinnlichen Reizungen gegen die Oberherrschaft des Geistes ein starkes Vermögen zur Ver­ leitung haben, dieser aber dennoch diejenige Fähigkeit nicht verleugnen kann, wodurch er im Stande ist, ihnen Wider­ stand zu leisten, wenn es seiner Trägheit nicht vielmehr gefiele, sich durch dieselbe hinreißen zu lassen, wo also der gefährliche Zwischenpunkt zwischen der Schwachheit und dem Vermögen

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ist, da eben dieselbe Vorzüge, die ihn über die niederen Classen erheben, ihn auf eine Höhe stellen, von welcher er roiebemm unendlich tiefer unter diese herabsinken kann. In der That sind die beiden Planeten, die Erde und der Mars, die mittelsten Glieder des planetischen Systems, und es läßt sich von ihren Bewohnern vielleicht nicht mit Unwahrscheinlichkeit ein mitt­ lerer Stand der physischen sowohl, als moralischen Beschaffen­ heit zwischen den zwei Endpunkten vermuthen; allein ich will diese Betrachtung lieber denjenigen überlassen, die mehr Be­ ruhigung bei einem unerweislichen Erkenntnisse und mehr Neigung dessen Verantwortung zu übernehmen bei sich finden. Beschluß.

Es ist uns nicht einmal recht bekannt, was der Mensch ansetzt wirklich ist, ob uns gleich das Bewußtsein und die Sinne hievon belehren sollten; wie viel weniger werden wir errathen können, was er dereinst werden soll! Dennoch schnappt die Mßbegierde der menschlichen Seele sehr begierig nach diesem von ihr so entfernten Gegenstände und strebt, in solchem dunkeln Erkenntnisse einiges Licht zu bekommen. Sollte die unsterbliche Seele wohl in der ganzen Unend­ lichkeit ihrer künstigen Dauer, die das Grab selber nicht unter­ bricht, sondern nur verändert, an diesen Punkt des Welt­ raumes, an unsere Erde, jederzeit geheftet bleiben? Sollte sie niemals von den übrigen Wundern der Schöpfung eines näheren Anschauens theilhaftig werden? Wer weiß, ist es ihr nicht zugedacht, daß sie dereinst jene entfernte Kugeln des Welt­ gebäudes und die Trefflichkeit ihrer Anstalten, die schon von weitem ihre Neugierde so reizen, von nahem soll kennen lernen? Vielleicht bilden sich dämm noch einige Kugeln des Planeten­ systems aus, um nach vollendetem Ablaufe der Zeit, die unserem Aufenthalte allhier vorgeschrieben ist, uns in andern

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Himmeln neue Wohnplätze zu bereiten. Wer weiß, laufen nicht jene Trabanten um den Jupiter, um uns dereinst zu leuchten? Es ist erlaubt, es ist anständig, sich mit dergleichen Vor­ stellungen zu belustigen; allein niemand wird die Hoffnung des Künftigen auf so unsichern Bildern der Einbildungskraft gründen. Nachdem die Eitelkeit ihren Antheil an der mensch­ lichen Natur wird abgefordert haben: so wird der unsterbliche Geist mit einem schnellen Schwünge sich über alles, was end­ lich ist, empor schwingen und in einem neuen Verhältnisse gegen die ganze Natur, welche aus einer näheren Verbindung mit dem höchsten Wesen entspringt, sein Dasein fortsetzen. Forthin wird diese erhöhte Natur, welche die Quelle der Glück­ seligkeit in sich selber hat, sich nicht mehr unter den äußeren Gegenständen zerstreuen, um eine Beruhigung bei ihnen zu suchen. Der gesummte Inbegriff der Geschöpfe, welcher eine nothwendige Übereinstimmung zum Wohlgefallen des höchsten Urwesens hat, muß sie auch zu dem seinigen haben und wird sie nicht anders, als mit immerwährender Zufriedenheit rühren. In der That wenn man mit solchen Betrachtungen und mit den vorhergehenden sein Gemüth erfüllt hat: so giebt der Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heitem Nacht eine Art des Vergnügens, welches nur edle Seelen empfinden. Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnißvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache und giebt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen. Wenn es unter den denkenden Geschöpfen dieses Planeten niederträchtige Wesen giebt, die ungeachtet aller Reizungen, womit ein so großer Gegenstand sie anlocken kann, dennoch im Stande sind, sich fest an die Dienstbarkeit der Eitelkeit zu heften: wie unglücklich ist diese Kugel, daß sie so elende Ge-

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schöpfe hat erziehen können! Me glücklich aber ist sie anderer­ seits, da ihr unter den allerannehmungswürdigsten Bedin­ gungen ein Weg eröffnet ist, zu einer Glückseligkeit und Hoheit zu gelangen, welche unendlich weit über die Vorzüge erhaben ist, die die allervortheilhafteste Einrichtung der Natur in allen Weltkörpern erreichen kann!

Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Hochwohlgebornen Herrn,

6etrn Johann Friedrich von Funk.

Hochwohlgeborne Frau Rittmeisterin,

Gnädige Stau! Wenn die Menschen unter das Getümmel chrer Geschäfte und Zerstreuungen gewohnt wären bisweilen emsthafte Augen­ blicke der lehrreichen Bettachtungen zu mengen, dazu sie das tägliche Beispiel der Eitelkeit unserer Absichten in dem Schick­ sale ihrer Mitbürger auffordert: so würden ihre Freuden vielleicht weniger rauschend sein, aber die Stelle derselben würde eine ruhige Heiterkeit der Seele einnehmen, der keine Zufälle mehr unerwartet sind, und selbst die sanfte Schwermuth, dieses zärtliche Gefühl, davon ein edles Herz aufschwillt, wenn es in einsamer Sülle die Nichtswürdigkeit desjenigen erwägt, was bei uns gemeiniglich für groß und wichtig gilt, würde mehr wahre Glückseligkeit enchalten als die ungestüme Belustigung des Leichtsinnigen und das laute Lachen des Thoren. So aber mengt sich der größte Haufe der Menschen sehr begierig in das Gedränge derjenigen, die auf der Brücke, welche die Vorsehung über einen Theil des Abgmndes der Ewigkeit geschlagen hat, und die wir L e b e n heißen, gewissen Wasser­ blasen nachlaufen und sich keine Mühe nehmen auf die Fall­ bretter Acht zu haben, die einen nach dem andem neben chnen in die Tiefe herabsinken lassen, deren Maß Unendlichkeit ist, und wovon sie selbst endlich mitten in ihrem ungestümen Laufe verschlungen werden. Ein gewisser alter Dichter bringt in das 4*

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Gemälde des menschlichen Lebens einen rührenden Zug, in­ dem er den kaum gebornen Menschen abschildert. Das Kind, spricht er, erfüllt alsbald die Lust mit traurigem Winseln, wie es einer Person zusteht, die in eine Welt treten soll, wo so viel Drangsale auf sie warten. Allein in der Folge der Jahre verbindet dieser Mensch mit der Kunst sich elend zu machen noch diejenige, es vor sich selbst zu verbergen durch die Decke, die er aus die traurigen Gegenstände des Lebens wirft, und befleißigt sich einer leichtsinnigen Achtlosigkeit bei der Menge der Übel, die ihn umgeben, und die ihn gleichwohl unwidersetzlich zu einem weit schmerzhaftem Gefühl endlich zurück führen. Ob ihn gleich unter allen Übeln vor dem Tode am meisten grauet, so scheint er doch auf das Beispiel desselben bei seinen Mitbürgem sehr wenig Acht zu haben, außer wenn nähere Verbindungen seine Aufmerksamkeit vorzüglich er­ wecken. Zu einer Zeit, da ein wüthender Krieg die Riegel des schwarzen Abgmndes eröffnet, um alle Trübsale über das menschliche Geschlecht hervorbrechen zu lassen, da sieht man wohl, wie der gewohnte Anblick der Noth und des Todes denen, die selbst mit beiden bedroht werden, eine kaltsinnige Gleich­ gültigkeit einflößt, daß sie auf das Schicksal ihrer Brüder wenig acht haben. Allein wenn in der mhigen Stille des bürgerlichen Lebens aus dem Cirkel derer, die uns entweder nahe angehen oder die wir lieben, die so viel oder mehr ver­ sprechende Hoffnungen hatten als wir, die mit eben dem Eifer ihren Absichten und Entwürfen nachhingen, als wir thun, wenn diese, sage ich, nach dem Rathschlusse dessen, der all* mächtig über alles gebietet, mitten in dem Laufe ihrer Be­ strebungen ergriffen werden, wenn der Tod in feierlicher Stille sich dem Siechbette des Kranken nähert, wenn dieser' Riese, vor dem die Natur schaudert, mit langsamem Tritt heran­ kommt, um ihn in eisernen Armen einzuschließen, alsdann erwacht wohl das Gefühl derer, die es sonst in Zerstreuungen

Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn v. Funk.

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ersticken. Ein schwermüthiges Gefühl spricht aus dem In­ wendigen des Herzens dasjenige, was in einer Versammlung der Römer einsmals mit so viel Beifall gehört wurde, weil es unserer allgemeinen Empfindung so gemäß ist: Ich bin ein Mensch, und was Menschen widerfährt, kann auch mich treffen. Der Freund oder auch der Verwandte spricht zu sich selbst: Ich befinde mich im Getümmel von Ge­ schäften und im Gedränge von Lebenspflichten, und mein Freund befand sich vor kurzem auch in denselben, ich genieße meines Lebens mhig und unbekümmert, aber wer weiß, wie lange? Ich vergnüge mich mit meinen Freunden und suche ihn unter denselben, Ihn aber hält am ernsten Orte, Der nichts zurücke läßt, Die Ewigkeit mit starken Armen fest. Haller.

Zu diesen emsthaften Gedanken erhebt mich, Gnädige F r a u, das frühzeitige Absterben Dero würdigenHerrn Sohnes, welches Sie ansetzt so billig beweinen. Ich empfinde als einer seiner ehmaligen Lehrer diesen Verlust mit schmerzlichem Beileid, ob ich gleich freilich die Größe der Be­ trübniß schwerlich ausdrücken kann, die diejenige betreffen muß, welche mit diesem hoffnungsvollen jungen Herrn durch nähere Bande verknüpft waren. E w. G n a den werden mir erlauben, daß ich zu diesen wenigen Zeilen, dadurch ich die Achtung auszudrücken wachte, die ich für diesen meinen ehemaligen Zuhörer gehegt habe, noch einige Ge­ danken beifüge, welche bei dem gegenwärtigen Zustande meines Gemüths in mir aufsteigen. Ein jeder Mensch macht sich einen eigenen Plan seiner Bestimmung auf dieser Welt. Geschicklichkeiten, die er er­ werben will, Ehre und Gemächlichkeit, die er sich davon aufs künftige verspricht, dauerhafte Glückseligkeiten im ehelichen

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Leben und eine lange Reihe von Vergnügen oder von Unter­ nehmungen machen die Bilder der Zauberlaterne aus, die er sich sinnreich zeichnet und lebhaft nacheinander in seinen Ein­ bildungen spielen läßt; der Tod, der dieses Schattenspiel schließt, zeigt sich nur in dunkeler Feme und wird durch das Licht, das über die angenehmere Stellen verbreitet ist, ver­ dunkelt und unkenntlich gemacht. Während diesen Träumereien führt uns unser wahres Schicksal ganz andere Wege. Das Loos, das uns wirklich zu theil wird, sieht demjenigen selten ähnlich, was wir uns versprachen, wir finden uns bei jedem Schritte, den wir thun, in unseren Erwartungen ge­ täuscht; indessen verfolgt gleichwohl die Einbildung ihr Ge­ schäfte und ermüdet nicht neue Entwürfe zu zeichnen, bis der Tod, der noch immer fern zu sein scheint, plötzlich dem ganzen Spiele ein Ende macht. Wenn der Mensch aus dieser Welt der Fabeln, davon er durch Einbildungen selbst Schöpfer ist und darin er sich so gerne aufhält, in diejenige durch den Ver­ stand zurückgeführt wird, darin ihn die Vorsehung wirklich gesetzt hat, so wird er durch einen wundersamen Widerspmch in Verwirrung gesetzt, den er daselbst antrifft und der seine Plane gänzlich zu nichte macht, indem er seiner Einsicht unauf­ lösliche Räthsel vorlegt. Aufkeimende Verdienste einer hoff­ nungsvollen Jugend verwelken oft frühzeitig unter der Last schwerer Krankheiten, und ein unwillkommener Tod durch­ streicht den ganzen Entwurf der Hoffnung, daraus man ge­ rechnet hatte. Der Mann von Geschicklichkeit, von Verdiensten, von Reichthum ist nicht immer derjenige, welchem die Vor­ sehung das weiteste Ziel des Lebens gesteckt hat, um die Früchte von allen diesen recht zu genießen. Die Freundschaften, die die zärüichsten sind, die Ehen, die die meiste Glückseligkeit ver­ sprechen, werden oft durch den frühesten Tod unerbittlich zer­ rissen; indessen daß Armuth und Elend gemeiniglich an dem Rocken der Parzen einen langen Faden ziehen und viele nur

Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn v. Funk.

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scheinen sich oder anbetn zur Plage so lange zu leben. In diesem scheinbaren Mderspruche theilt gleichwohl der oberste Beherrscher einem jeden das Loos seines Schicksals mit weiser Hand aus. Er verbirgt das Ende unserer Bestimmung auf dieser Welt in unersorschliche Dunkelheit, macht uns durch Triebe geschäftig, durch Hoffnung getrost und durch die glückselige Unwissenheit des Künftigen eben so beflissen auf Ab­ sichten und Entwürfe zu sinnen, wenn sie bald alle sollen ein Ende haben, als wenn wir uns im Anfange derselben befänden: Daß jeder seinen Kreis vollende, den ihm der Himmel ausersehn. Pope.

Unter diesen Betrachtungen richtet der Weise (aber wie selten findet sich ein solcher!) die Aufmerksamkeit vornehmlich auf seine große Bestimmung jenseit dem Grabe. Er verliert die Verbindlichkeit nicht aus den Augen, die chm der Posten auferlegt, auf welchen ihn hier die Vorsehung gesetzt hat. Bemünstig in seinen Entwürfen, aber ohne Eigensinn, zuver­ sichtlich auf die Erfüllung seiner Hoffnung, aber ohne Ungeduld, bescheiden in Wünschen, ohne vorzuschreiben, vertrauend, ohne zu pochen, ist er eifrig in Leistung seiner Pflichten, aber bereit mit einer christlichen Resignation sich in den Befehl des Höchsten zu ergeben, wenn es ihm gefällt, mitten unter allen diesen Bestrebungen ihn von der Bühne abzurufen, worauf er gestellt war. Wir finden die Wege der Vorsehung allemal weise und anbetungswürdig in den Stücken, wo wir sie einiger­ maßen einsehen können; sollten sie es da nicht noch weit mehr sein, wo wir es nicht können? Ein frühzeitiger Tod derer, von benen wir uns viel schmeichelnde Hoffnung machten, setzt uns in Schrecken; aber wie oft mag nicht dieses eben die größte Gunst des Himmels sein! Bestand nicht manches Menschen Unglück vornehmlich in der Verzögerung des Todes, der gar zu säumig war, nach den rühmlichsten Auftritten des Lebens zu rechter Zeit einen Wschnitt zu machen?

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Es stirbt der hoffnungsvolle Jüngling, und wie viel glauben wir nicht abgebrochener Glückseligkeit bei so frühem Verluste zu vermissen? Mein im Buche der Schicksale lautet es vielleicht anders. Verführungen, die sich schon von fern erhoben, um eine noch nicht sehr bewährte Tugend zu stürzen, Trübsale und Widerwärtigkeiten, womit die Zukunft drohte, allem diesem entfloh dieser Glückselige, den ein früher Tod in einer gesegneten Stunde hinweg führte; indessen daß Freunde und Verwandte, unwissend des Künftigen, den Ver­ lust derjenigen Jahre beweinen, von denen sie sich einbilden, daß sie das Leben chres Angehörigen dereinst rühmlich würden gekrönt haben. Ich will, ehe ich diese wenige Zeilen schließe, eine kleine Zeichnung von dem Leben und dem Charaktere des seligVerstorbenen entwerfen. Das, was ich anführe, ist mir aus der Nachricht seines getreuen Herrn Hofmeisters, der chn zärtlich beweint, und aus meiner eigenen Kenntniß bekannt. Wie viel gute Eigenschaften giebt es nicht noch, die nur derjenige kennt, der ins Innerste der Herzen sieht, und die um desto edler sind, je weniger sie bestrebt sind, öffentlich in die Augen zu fallen! Herr Johann Friedrich von Funk war den 4. Octobr. 1738 aus einem vornehmen üblichen Hause in Kur­ land geboren. Er hat von Kindheit an niemals einer voll­ kommenen Gesundheit genossen. Er wurde mit großer Sorg­ falt erzogen, bezeigte viel Fleiß im Studiren und hatte ein Herz, welches von Natur dazu gemacht war, um zu edlen Eigen­ schaften gebildet zu werden. Er kam den 15. Junii 1759 nebst seinem jüngem Herrn Bruder unter der Anführung ihres Herrn Hofmeisters auf hiesige Akademie. Er unterwarf sich mit aller Bereitwilligkeit dem Examen des damaligen Herm Decanus und machte seinem Fleiße und der Unterweisung seines Herm Hofmeisters Ehre. Er wohnte den Vorlesungen des Herm Consistorialraths und Professors Teske, jetziger Zeit

Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben de» Herrn v. Funk.

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Rectoris Magnifici der Universität, imgleichen denen des Herren Doct. der Rechtsgelehrsamkeit Funck und den meinigen mit einer Unverdrossenheit bei, die zum Muster diente. Er lebte eingezogen und still, wodurch Er auch die wenige Kräfte seines zur Abzehrung geneigten Körpers noch erhielt, bis Er gegen das Ende des Februars dieses Jahres davon nach und nach so angegriffen wurde, daß Ihn weder die Pflege und Sorg­ falt, die an Ihn gewandt war, noch der Fleiß eines geschickten Arztes länger erhalten konnte; so daß Er den 4. Mai dieses Jahres, nachdem Er sich mit der Standhaftigkeit und feurigen Andacht eines Christen zu einem erbaulichen Ende vorbereitet hatte, unter dem Beistände seines getreuen Seelsorgers sanft und selig verschied und in der hiesigen Kathedralkirche standes­ mäßig beerdigt ward. Er war von sanfter und gelassener Gemüthsart, leutselig und bescheiden gegen jedermann, gütig und zum allgemeinen Wohlwollen geneigt, eifrig beflissen, um sich zur Zierde seines Hauses und zum Nutzen seines Vaterlandes gehörig auszu­ bilden. Er hat niemals jemand wodurch anders betrübt als durch seinen Tod. Er befliß sich einer ungeheuchelten Frömmig­ keit. Er wäre ein rechtschaffener Bürger für die Welt geworden, allein der Rathschluß des Höchsten wollte, daß er einer im Him­ mel werden sollte. Sein Leben ist ein Fragment, welches uns das übrige hat wünschen lassen, dessen uns ein früher Tod beraubt hat. Er würde verdienen denjenigen zum Muster vorgestellt zu werden, die die Jahre ihrer Erziehung und Jugend rühm­ lich zurückzulegen denken, wenn ein stilles Verdienst auf flatter­ hafte Gemüther eben den Eindmck der Nacheiferung wirkte, als die falsch schimmernde Eigenschaften derjenigen thun, deren Eitelkeit nur auf den Schein der Tugend geht, ohne sich um das Wesen derselben zu bekümmem. Er ist von denen, welchen er angehörte, von seinen Freunden und allen denen, die Ihn kannten, sehr bedauert worden.

Dieses sind, Gnädige Frau, die Züge von dem Charakter Dero vormals im Leben mit Recht so g e l i e b t e n Herren Sohns, welche, so schwach sie auch entworsen worden, gleichwohl viel zu sehr die Wehmuth erneuern wer­ den, die Sie über seinen Berlust empfinden. Aber eben diese bedauerte Eigenschasten sind es, die in solchem Verluste zu nicht geringem Troste gereichen; denn nur denen, welche die wichtigste unter allen Absichten leichtsinnig aus den Augen setzen, kann es gleich viel sein, in welchem Zustande sie die Ihrigen der Ewigkeit überliefern. Ich überhebe mich der Bemühung, Ew. Gnaden weitläuftige Trostgründe in dieser Betrübniß darzulegen. Die demüthige Entsagung unserer eigenen Wünsche, wenn es der weisesten Vorsehung gefällt ein anderes zu beschließen, und die christliche Sehnsucht nach einerlei seligem Ziele, zu welchem andere vor uns gelangt sind, vermögen mehr zur Beruhigung des Herzens, als alle Gründe einer trockenen und kraftlosen Beredsamkeit. Ich habe die Ehre mit größtem Respect zu sein,

Hochwohlgeborne Frau, Gnädige Frau Rittmeisterin, Ew. Gnaden Königsberg, den 6. Jun. 1760.

gehorsamster Diener

3. Rane.

Beobachtungen über

das Gefühl des

Schönen und Erhabenen.

Erster Abschnitt. Von den unterschiedenen Gegenständen des Gefühls vom Erhabenen und Schönen. Die verschiedene Empfindungen des Vergnügens oder des Berdmsses beruhen nicht so sehr auf der Beschaffenheit der äußeren Dinge, die sie erregen, als auf dem jedem Menschen eigenen Gefühle dadurch mit Lust oder Unlust gerührt zu werden. Daher kommen die Freuden einiger Menschen, woran andre einen Ekel haben, die verliebte Leidenschaft, die öfters jedermann ein Räthsel ist, oder auch der lebhafte Wider­ wille, den der eine woran empfindet, was dem andern völlig gleichgültig ist. Das Feld der Beobachtungen dieser Besonder­ heiten der menschlichen Natur erstreckt sich sehr weit und ver­ birgt annoch einen reichen Borrath zu Entdeckungen, die eben so unmuthig als lehrreich sind. Ich werfe für jetzt meinen Blick nur auf einige Stellen, die sich in diesem Bezirke besonders auszunehmen scheinen, und auch auf diese mehr das Auge eines Beobachters als des Philosophen. Weil ein Mensch sich nur in so fern glücklich findet, als er eine Neigung befriedigt, so ist das Gefühl, welches ihn fähig macht große Vergnügen zu genießen, ohne dazu ausneh­ mende Talente zu bedürfen, gewiß nicht eine Kleinigkeit. Wohlbeleibte Personen, deren geistreichster Autor ihr Koch ist und deren Werke von feinem Geschmack sich in ihrem Keller befinden, werden bei gemeinen Zoten und einem plumpen

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Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

Scherz in eben so lebhafte Freude gerathen, als diejenige ist, worauf Personen von edeler Empfindung so stolz thun. Ein bequemer Mann, der die Vorlesung der Bücher liebt, weil es sich sehr wohl dabei einschlafen läßt, der Kaufmann, dem alle Vergnügen läppisch scheinen, dasjenige ausgenommen, was ein kluger Mann genießt, wenn er seinen Handlungsvortheil überschlägt, derjenige, der das andre Geschlecht nur in so fern liebt, als er es zu den genießbaren Sachen zählt, der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen wie Domitian oder wilde Thiere wie A .., alle diese haben ein Gefühl, tvelches sie fähig macht Vergnügen nach ihrer Art zu genießen, ohne daß sie andere beneiden dürfen oder auch von andern sich einen Begriff machen können; allein ich wende für jetzt daraus keine Auf­ merksamkeit. Es giebt noch ein Gefühl von feinerer Art, welches entweder dämm so genannt wird, weil man es länger ohne Sättigung und Erschöpfung genießen kann, oder weil es so zu sagen eine Reizbarkeit der Seele voraussetzt, die diese zugleich zu tugendhaften Regungen geschickt macht, oder weil es Talente und Verstandesvorzüge anzeigt, da im Gegentheil jene bei völliger Gedankenlosigkeit statt finden können. Dieses Gefühl ist es, wovon ich eine Seite bewachten will. Doch schließe ich hievon die Neigung aus, welche aus hohe Verstandes-Einsichten geheftet ist, und den Reiz, dessen ein Kepler fähig war, wenn e r, wie B a y l e berichtet, eine seiner Erfindungen nicht um ein Fürstenthum würde verkauft haben. Diese Empfindung ist gar zu fein, als daß sie in gegenwärtigen Ent­ wurf gehören sollte, welcher nur das sinnliche Gefühl berühren wird, dessen auch gemeinere Seelen fähig sind. Das feinere Gefühl, was wir nun erwägen wollen, ist vomehmlich zwiefacher Art: das Gefühl des Erhabenen und des Schönen. Die Rührung von beiden ist angenehm aber auf sehr verschiedene Weise. Der Anblick eines Gebirges, dessen beschneite Gipfel sich über Wolken erheben, die Be-

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

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schreibung eines rasenden Sturms, oder die Schildemng des höllischen Reichs von M i l t o n erregen Wohlgefallen, aber mit ©laufen; dagegen die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Thäler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von weidenden Heerden, die Beschreibung des Elysium, oder Homers Schildemng von dem Gürtel der Venus veranlassen auch eine angenehme Empfindung, die aber fröhlich und lächlend ist. Damit jener Eindruck auf uns in gehöriger Stärke geschehen könne, so müssen wir ein G e f ü h l des E r h a b e n e n und, um die letztere recht zu genießen, ein Gefühl für das Schöne haben. Hohe Eichen und einsame Schatten im heiligen Haine sind erhaben, Blumenbetten, niedrige Hecken und in Figuren geschnittene Bäume sind schön. Die Nacht ist erh a b e n, der Tag ist s ch ö n. Gemüthsarten, die ein Gefühl für das Erhabene besitzen, werden durch die mhige Stille eines Sommerabendes, wenn das zitternde Licht der Sterne durch die braune Schatten der Nacht hindurch bricht und der einsame Mond im Gesichtskreise steht, allmählig in hohe Emp­ findungen gezogen, von Freundschaft, von Verachtung der Welt, von Ewigkeit. Der glänzende Tag flößt geschäftigen Eifer und ein Gefühl von Lustigkeit ein. Das Erhabene rührt, das Schöne reizt. Die Miene des Menschen, der im vollen Gefühl des Erhabnen sich befindet, ist emsthaft, bis­ weilen starr und erstaunt. Dagegen kündigt sich die lebhafte Empfindung des Schönen durch glänzende Heiterkeit in den Augen, durch Züge des Lächlens und oft durch laute Lustig­ keit an. Das Erhabene ist wiedemm verschiedener Art. Das Gefühl desselben ist bisweilen mit einigem Grausen oder auch Schwermuth, in einigen Fällen blos mit mhiger Bewundemng und in noch andem mit einer über einen erhabenen Plan ver­ breiteten Schönheit begleitet. Das erstere will ich das Schreck­ haft-Erhabene, das zweite das Edle und das dritte das Prächttge nennen. Tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf eine

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Beobachtungen über da- Gefühl des Schönen und Erhabenen,

schreckhafte Art.*) Daher große, weitgestreckte Einöden, wie *) Ich will nur ein Beispiel von dem edlen Grausen geben, welches die Beschreibung einer gänzlichen Einsamkeit einflößen kann, und ziehe um deswillen einige Stellen aus Tarazans Traum im Brem. Ma­ gazin, Band IV, Seite 539 aus. Dieser karge Reiche hatte nach dem Maße, als seine Reichtümer zunahmen, sein Herz dem Mitleiden und der Liebe gegen jeden andern verschlossen. Indessen, so wie die Menschenliebe in ihm erkaltete, nahm die Emsigkeit seiner Gebeter und der Religionshand­ lungen zu. Nach diesem Geständnisse fährt er also fort zu reden: An einem Abende, da ich bei meiner Lampe meine Rechnungen zog und den Handlungsvortheil überschlug, überwältigte mich der Schlaf. In diesem Zu­ stande sah ich den Engel des Todes wie einen Wirbelwind Über mich kom­ men, er schlug mich, ehe ich den schrecklichen Streich abbitten konnte. Ich erstarrte, als ich gewahr ward, daß mein Loos für die Ewigkeit geworfen sei, und daß zu allem Guten, das ich verübt, nichts konnte hinzugethan und von allem Bösen, das ich gethan, nichts konnte hinweggenommen werden. Ich ward vor den Thron dessen, der in dem dritten Himmel wohnt, geführt. Der Glanz, der vor mir flammte, redete mich also an: Carazan, dein Gottesdienst ist verworfen. Du hast dein Herz der Menschen­ liebe verschlossen und deine Schätze mit einer eisernen Hand gehalten. Du hast nur für dich selbst gelebt, und darum sollst du auch günstig in Ewigkeitavein und von aller Gemeinschaft mit der ganzen Schöpfung ausgestoßen leben. In diesem Augenblicke ward ich dmch eine unsichtbare Gewalt fortgerissen und durch das glänzende Gebäude der Schöpfung getrieben. Ich ließ bald unzählige Welten hinter mir. Als ich mich dem äußersten Ende der Natur näherte, merkte ich, daß die Schatten des grenzenlosen Leeren sich in die Tiefe vor mich herabsenkten. Ein fürchterliches Reich von ewiger Stille, Einsamkeit und Finsterniß! Unaussprechliches Grausen überfiel mich bei diesem Anblick. Ich verlor allgemach die letzten Sterne aus dem Gesichte, und endlich erlosch der letzte glimmernde Schein des Lichts in der äußersten Finsterniß. Die Todesängste der Verzweiflung nahmen mit jedem Augen­ blicke zu, so wie jeder Augenblick meine Entfernung von der letzten bewohnten Welt vermehrte. Ich bedachte mit unleidlicher Herzensangst, daß, wenn zehntausendmal tausend Jahre mich jenseit den Grenzen alles Erschaffenen würden weiter gebracht haben, ich doch noch immerhin in den unermeßlichen Abgrund der Finsterniß vorwärts schauen würde ohne Hülfe oder Hoffnung einiger Rückkehr.-------In dieser Betäubung streckte ich meine Hände mit solcher Heftigkeit nach Gegenständen der Wirllichkeit

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Echabenen.

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die ungeheure Wüste Schamo in der Tartarei, jederzeit Anlaß gegeben haben fürchterliche Schatten, Kobolde und Gespenster­ larven dahin zu versetzen. Das Erhabene muß jederzeit groß, das Schöne kann auch klein sein. Das Erhabene muß einfältig, das Schöne kann ge­ putzt und geziert sein. Eine große Höhe ist eben so wohl er­ haben als eine große Tiefe; allein diese ist mit der Empfindung des Schaudems begleitet, jene mit der Bewunderung; daher diese Empfindung schreckhaft erhaben und jene edel sein kann. Der Anblick einer ägyptischen Pyramiden rührt, wie H a s s e I q u i st berichtet, weit mehr, als man sich aus aller Beschreibung es vorstellen kann, aber ihr Bau ist einfältig und edel. Die Peterskirche in Rom ist prächtig. Weil auf diesen Entwurf, der groß und einfältig ist, Schönheit, z. E. Gold, mosaische Arbeit rc. rc. so verbreitet ist, daß die Empfindung des Er­ habenen doch am meisten hindurch wirkt, so heißt der Gegen­ stand prächtig. Ein Arsenal muß edel und einfältig, ein Re­ sidenzschloß prächtig und ein Lustpalast schön und geziert sein. Eine lange Dauer ist erhaben. Ist sie von vergangener Zeit, so ist sie edel; wird sie in einer unabsehlichen Zukunft voraus gesehen, so hat sie etwas vom Schreckhaften an sich. Ein Gebäude aus dem entferntesten Alterthum ist ehrwürdig. Hallers Beschreibung von der künftigen Ewigkeit flößt ein sanftes Grausen und von der vergangenen starre Bewunde­ rung ein. aus, daß ich darüber erwachte. Und nun bin ich belehrt worden, Men­ schen hochzuschätzen; denn auch der Geringste von denjenigen, die ich im Stolze meines Glücks von meiner Thüre gewiesen hatte, würde in jener erschrecklichen Einöde von mir allen Schätzen von Golconda weit sein vorgezogen worden.-------

Zweiter Abschnitt. Bon den Eigenschaften des Erhabenen und Schönen am Menschen überhaupt. Verstand ist erhaben, Witz ist schön. Kühnheit ist erhaben und groß, List ist klein, aber schön. Die Behutsamkeit, sagte (S t o ntto eil, ist eine Bürgermeistertugend. Wahrhaftig» keit und Redlichkeit ist einsaitig und edel, Scherz und gefällige Schmeichelei ist fein und schön. Artigkeit ist die Schönheit der Tugend. Uneigennütziger Diensteifer ist edel, Geschliffenheit (Politesse) und Höflichkeit sind schön. Erhabene Eigenschaften flößen Hochachtung, schöne aber Liebe ein. Leute, deren Ge­ fühl vornehmlich auf das Schöne geht, suchen chre redliche, beständige und ernsthafte Freunde nur in der Noth auf; den scherzhaften, artigen und höflichen Gesellschafter aber erwählen sie sich zum Umgänge. Man schätzt manchen viel zu hoch, als daß man chn lieben könne. Er flößt Bewunderung ein, aber er ist zu weit über uns, als daß wir mit der Vertraulichkeit der Liebe uns ihm zu nähern getrauen. Diejenige, welche beiderlei Gefühl in sich vereinbaren, werden finden: daß die Rührung von dem Erhabenen mäch­ tiger ist wie die vom Schönen, nur daß sie ohne Abwechselung oder Begleitung der letzteren ermüdet und nicht so lange genoflen werden kann.*) Die hohen Empfindungen, zu denen *) Die Empfindungen des Erhabenen spannen die Kräfte der Seele stärker an und ermüden daher eher. Man wird ein Schäfergedichl länger in einer Folge lesen können als Miltons verlorenes Paradies und den de la Bruyere länger wie den Hornig. Es scheint mir sogar ein Fehler des letzteren als eines moralischen Dichters zu sein, daß er gar zu einförmig im erhabenen Tone anhält; denn die Stärke des Eindrucks kann nur durch Abstechungen mit sanfteren Stellen erneuert werden. Bei dem Schönen ermüdet nichts mehr als mühsame Kunst, die sich dabei verräth. Die Be­ mühung zu reizen wird peinlich und mit Beschwerlichkeit empfunden.

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

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die Unterredung in einer Gesellschaft von guter Wahl sich bis­ weilen erhebt, müssen sich dazwischen in heiteren Scherz auf­ lösen, und die lachende Freuden sollen mit der gerührtm, emst­ hasten Mene den schönen Contrast machen, welcher beide Arten von Empfindung ungezwungen abwechseln läßt. Freundschaft hat hauptsächlich den Zug des Erhabenen, Geschlechterliebe aber des Schönen an sich. Doch geben Zärtlichkeit und tiefe Hochachtung der letzteren eine ge­ wisse Würde und Erhabenheit, dagegen gaukelhafter Scherz und Vertraulichkeit das Colorit des Schönen in dieser Emp­ findung erhöhen. Das Trauerspiel unterscheidet sich meiner Meinung nach vom Lustspiele vomehmlich darin: daß in dem ersteren das Gefühl fürs Erhabene, im zweiten für das S ch ö n e gerührt wird. In dem ersteren zeigen sich großmüthige Ausopfemng für fremdes Wohl, kühne Ent­ schlossenheit in Gefahren und geprüfte Treue. Die Liebe ist daselbst schwermüthig, zärtlich und voll Hochachtung; das Un­ glück anderer bewegt in dem Busen des Zuschauers theilnehmende Empfindungen und läßt sein großmüthig Herz für fremde Noth klopfen. Er wird sanft gerührt und fühlt die Würde seiner eigenen Natur. Dagegen stellt das Lustspiel feine Ränke, wunderliche Berwirmngen und Witzige, die sich herauszuziehen wissen, Narren, die sich betrügen lassen, Spaße und lächerliche Charaktere vor. Die Liebe ist hier nicht so grämisch, sie ist lustig und vertraulich. Doch können so wie in andem Fällen, also auch in diesen das Edle mit dem Schönen in gewissem Grade vereinbart werden. Selbst die Laster und moralische Gebrechen führen öfters gleichwohl einige Züge des Erhabenen oder Schönen bei sich; wenigstens so wie sie unserem sinnlichen Gefühl erscheinen, ohne durch Vemunft geprüft zu sein. Der Zorn eines Furchtbaren ist erhaben, wie Achilles' Zom in der Jliade. Überhaupt ist der Held des Homers schrecklich erhaben, des

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Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

Virgils seiner dagegen edel. Offenbare dreiste Rache nach großer Beleidigung hat etwas Großes an sich, und jo unerlaubt sie auch sein mag, so rührt sie in der Erzählung gleichwohl mit Grausen und Wohlgefallen. Als Schach Nadir zur Nachtzeit von einigen Verschworenen in seinem Zelte über­ fallen ward, so rief er, wie Hanway erzählt, nachdem er schon einige Wunden bekommen und sich voll Verzweifelung wehrte: Erbarmung! ich will euch allen vergeben. Einer unter chnen antwortete, indem er den Säbel in die Höhe hob: Du ha st keine Erbarmung bewiesen und verdien st auch keine. Entschlossene Verwegen­ heit an einem Schelmen ist höchst gefährlich, aber sie rührt doch in der Erzählung, und selbst wenn er zu einem schänd­ lichen Tode geschleppt wird, so veredelt er ihn noch gewisser­ maßen dadurch, daß er ihm trotzig und mit Verachtung ent­ gegen geht. Von der anbetn Seite hat ein listig ausgedachter Entwurf, wenn er gleich aus ein Bubenstück ausgeht, etwas an sich, was sein ist und belacht wird. Buhlerische Neigung (Coquetterie) im feinen Verstände, nämlich eine Geflissenheit einzunehmen und zu reizen, an einer sonst artigen Person ist vielleicht tadelhast, aber doch schön und wird gemeiniglich dem ehrbaren, emsthasten Anstande vorgezogen. Die Gestalt der Personen, die durch ihr äußeres Ansehen gefallen, schlägt bald in eine, bald in die andere Art des Gefühls ein. Eine große Statur erwirbt sich Ansehen und Achtung, eine kleine mehr Vertraulichkeit. Selbst die bräunliche Farbe und schwarze Augen sind dem Erhabenen, blaue Augen und blonde Farbe dem Schönen näher verwandt. Ein etwas größeres Alter vereinbart sich mehr mit den Eigenschaften des Erhabenen, Jugend aber mit denen des Schönen. So ist es auch mit dem Unterschiede der Stände bewandt, und in allen diesen nur er­ wähnten Beziehungen müssen sogar die Kleidungen auf diesen Unterschied des Gefühls eintreffen. Große, ansehnliche Per-

Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

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fönen müssen Einfalt, höchstens Pracht in ihrer Kleidung be­ obachten, kleine können geputzt und geschmückt sein. Dem, Alter geziemen dunklere Farben und Einförmigkeit im Anzuge, die Jugend schimmert durch hellere und lebhaft abstechende Kleidungsstücke. Unter den Ständen muß bei gleichem Ver­ mögen und Range der Geistliche die größte Einfalt, der Staats­ mann die meiste Pracht zeigen. Der Cicisbeo kann sich aus­ putzen, wie es ihm beliebt. Auch in äußerlichen Glücksumständen ist etwas, das wenig­ stens nach dem Wahne der Menschen in diese Empfindungen einschlägt. Geburt und Titel finden die Menschen gemeiniglich zur Achtung geneigt. Reichchum auch ohne Verdienste wird selbst von Uneigennützigen geehrt, vermuthlich weil sich mit seiner Vorstellung Entwürfe von großen Handlungen vereinbaren, die dadurch könnten ausgeführt werden. Diese Achtung trifft gelegentlich auch manchen reichen Schurken, der solche Hand­ lungen niemals ausüben wird und von dem edlen Gefühl keinen Begriff hat, welches Reichthümer einzig und allein schätzbar machen kann. Was das Übel der Armuth vergrößert, ist die Geringschätzung, welche auch nicht durch Verdienste gänzlich kann überwogen werden, wenigstens nicht vor ge­ meinen Augen, wo nicht Rang und Titel dieses plumpe Gefühl täuschen und einigermaßen zu dessen Vortheil hintergehen. In der menschlichen Natur finden sich niemals rühmliche Eigenschaften, ohne daß zugleich Abartungen derselben durch unendliche Schattierungen bis zur äußersten Unvollkommenheit übergehen sollten. Die Eigenschaft des SchrecklichErhabenen, wenn sie ganz unnatürlich wird, ist a b e n tcuetlicf).*) Unnatürliche Dinge, in so fern das Erhabene darin gemeint ist, ob es gleich wenig oder gar nicht angetroffen *> In so fern die Erhabenheit oder Schönheit das bekannte Mittelmaß überschreitet, so pflegt man sie romanisch zu nennen.

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Beobachtungen über das Gesühl des Schönen und Erhabenen.

wird, sind Fratzen. Wer das Abenteuerliche liebt und glaubt, ist ein Phantast, die Neigung zu Fratzen macht den Grillenfänger. Andererseits artet das Gefühl des Schönen aus, wenn das Edle dabei gänzlich mangelt, und man nennt es läppisch. Eine Mannsperson von dieser Eigenschaft, wenn sie jung ist, heißt ein Lasse; ist sie im mittleren Alter, so ist es ein G e ck. Weil dem höheren Alter das Erhabene am nothwendigsten ist, so ist ein a l t e r G e ck das verächtlichste Geschöpf in der Natur, so wie ein junger Grillenfänger das widrigste und unleidlichste ist. Scherze und Munterkeit schlagen in das Gefühl des Schönen ein. Gleich­ wohl kann noch ziemlich viel Verstand hindurchscheinen, und in so fern können sie mehr oder weniger dem Erhabenen ver­ wandt sein. Der, in dessen Munterkeit diese Dazumischung unmerklich ist, f a s e l t. Der beständig faselt, ist albern. Man merkt leicht, daß auch kluge Leute bisweilen faseln, und daß nicht wenig Geist dazu gehöre den Verstand eine kurze Zeit von seinem Posten abzurufen, ohne daß dabei etwas ver­ sehen wird. Derjenige, dessen Reden oder Handlungen weder belustigen noch rühren, istlangweilig. Der Langweilige, in so fern er gleichwohl beides zu thun geschäftig ist, ist ab­ geschmackt. Der Abgeschmackte, wenn er aufgeblasen ist, ist ein Rar r.*) Ich will diesen wunderlichen Abriß der menschlichen *) Man bemerkt bald, daß diese ehrwürdige Gesellschaft sich in zwei Logen theile, in die der Grillenfänger und die der Gecken. Ein gelehrter Grillenfänger wird bescheidentlich ein Pedant genannt. Wenn er die trotzige Weisheitsmiene annimmt, wie die D u n s e alter und neuer Zeiten, so steht ihm die Kappe mit Schellen gut zum Gesichte. Die Classe der Gecken wird mehr in der großen Welt angetroffen. Sie ist vielleicht noch besser als die erstere. Man hat an ihnen viel zu verdienen und viel zu lachen. In dieser Caricatur macht gleichwohl einer dem andern ein schief Maul und stößt mit seinem leeren Kopf an den Kops seines Bruder-.

Beobacktungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

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Schwachheiten durch Beispiele etwas verständlicher machen; denn der, welchem Hogarths Grabstichel fehlt, muß, was der Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beschreibung ersetzen. Kühne Übernehmung der Gefahren für unsere, des Vater­ landes, oder unserer Freunde Rechte ist erhaben. Die Kreuz­ züge, die alte Ritterschaft waren abenteuerlich; die Duelle, ein elender Rest der letztem aus einem verfehlten Begriff des Ehrenmfs, sind Fratzen. Schwermüthige Entfemung von dem Geräusche der Welt aus einem rechtmäßigen Überdmsse ist e d e l. Der alten Eremiten einsiedlerische An­ dacht war abenteuerlich. Klöster und dergleichen Gräber, um lebendige Heilige einzusperren, sind Fratzen. Bezwin­ gung seiner Leidenschaften durch Gmndsätze ist erhaben. Kasteiungen, Gelübde und andere Mönchstugenden mehr sind Fratzen. Heilige Knochen, heiliges Holz und aller dergleichen Plunder, den heiligen Stuhlgang des gwßen Lama von Tibet nicht ausgeschlossen, sind Fratzen. Bon den Werfen des Witzes und des feinen Gefühls fallen die epische Gedichte des Virgils und Klopstocks ins Edle, Homers und Miltons ins A b e n t e u e r l i ch e. Die Berwandelungen des Ovids sind Fratzen, die Feenmärchen des ftanzösischen Aberwitzes sind die elendesten Fratzen, die jemals ausgeheckt worden. Anakreontische Gedichte sind gemeiniglich sehr nahe beim Läppischen. Die Werke des Verstandes und Scharfsinnigfeit, in so fem ihre Gegenstände auch etwas für das Gefühl enthalten, nehmen gleichfalls einigen Antheil an den gedachten Ver­ schiedenheiten. Die mathematische Vorstellung von der uner­ meßlichen Größe des Weltbaues, die Betrachtungen der Meta­ physik von der Ewigkeit, der Vorsehung, der Unsterblichkeit unserer Seele enthalten eine gewisse Erhabenheit und Würde. Hingegen wird die Weltweisheit auch durch viel leere Spitz­ findigkeiten entstellt, und der Anschein der Gründlichkeit hindert

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Beobachtungen über das Befühl des Schönen und Erhabenen.

nicht, daß die vier syllogistischen Figuren nicht zu Schulfratzen gezählt zu werden verdienten. In moralischen Eigenschaften ist wahre Tugend allein erhaben. Es giebt gleichwohl gute sittliche Qualitäten, die liebenswürdig und schön sind und, in so fern sie mit der Tugend harmoniren, auch als edel angesehen werden, ob sie gleich eigentlich nicht zur tugendhaften Gesinnung gezählt werden können. Das Urtheil hierüber ist fein und verwickelt. Man kann gewiß die Gemüchsverfassung nicht tugendhaft nennen, die ein Quell solcher Handlungen ist, auf welche zwar auch die Tugend hinauslaufen würde, allein aus einem Grunde, der nur zufälliger Weise damit übereinstimmt, seiner Natur nach aber den allgemeinen Regeln der Tugend auch öfters wider­ streiten kann. Eine gewisse Weichmüthigkeit, die leichtlich in ein warmes Gefühl des M i t l e i d e n s gesetzt wird, ist schön und liebenswürdig; denn es zeigt eine gütige Theilnehmung an dem Schicksale anderer Menschen an, woraus Grundsätze der Tugend gleichsalls hinausführen. Allein diese gutartige Leidenschaft ist gleichwohl schwach und jederzeit blind. Denn setzet, diese Empfindung bewege euch, mit eurem Aufwande einem Nochleidenden aufzuhelfen, allein ihr seid einem andern schuldig und setzt euch dadurch außer Stand, die strenge Pflicht der Gerechtigkeit zu erfüllen, so kann offenbar die Handlung aus keinem tugendhaften Vorsatze entspringen, denn ein solcher könnte euch unmöglich anreizen eine höhere Verbindlichkeit dieser blinden Bezauberung aufzuopfern. Wenn dagegen die allgemeine Wohlgewogenheit gegen das menschliche Geschlecht in euch zum Grundsätze geworden ist, welchem ihr jederzeit eure Handlungen unterordnet, alsdann bleibt die Liebe gegen den Nothleidenden noch, allein sie ist jetzt aus einem höhern Standpunkte in das wahre Verhältniß gegen eure gesammte Pflicht versetzt worden. Die allgemeine Wohlgewogenheit ist ein Grund der Theilnehmung an seinem Übel, aber auch zu-

Beobachtungen über das Gefühl deS Schönen und Erhabenen.

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gleich der Gerechtigkeit, nach deren Vorschrift ihr jetzt diese Handlung unterlassen müsset. So bald nun dieses Gefühl zu seiner gehörigen Allgemeinheit gestiegen ist, so ist es erhaben, aber auch kälter. Denn es ist nicht möglich, daß unser Busen für jedes Menschen Antheil von Zärtlichkeit aufschwelle und bei jeder fremden Noth in Wehmuth schwimme, sonst würde der Tugendhafte, unaufhörlich in mitleidigen Thränen wie Heraklit schmelzend, bei aller dieser Gutherzigkeit gleichwohl nichts weiter als ein weichmüthiger Müßiggänger werden.*) Die zweite Art des gütigen Gefühls, welches zwar schön und liebenswürdig, aber noch nicht die Grundlage einer wahren Tugend ist, ist die Gefälligkeit, eine Neigung, andern durch Freundlichkeit, durch Einwilligung in ihr Verlangen und durch Gleichförmigkeit unseres Betragens mit ihren Ge­ sinnungen angenehm zu werden. Dieser Grund einer reizenden GeseNigkeit ist schön und die Biegsamkeit eines solchen Herzens gutartig. Allein sie ist so gar keine Tugend, daß, wo nicht höhere Grundsätze ihr Schranken setzen und sie schwächen, alle Laster daraus entspringen können. Denn nicht zu gedenken, daß diese Gefälligkeit gegen die, mit welchen wir umgehen, sehr oft eine Ungerechtigkeit gegen andre ist, die sich außer diesem lleinen Zirkel befinden, so wird ein solcher Mann, wenn *) Bei näherer Erwägung findet man, daß, so liebenswürdig auch die mitleidige Eigenschaft sein mag, sie doch die Würde der Tugend nicht an sich habe. Ein leidendes Kind, ein unglückliches und artiges Frauen­ zimmer wird unser Herz mit dieser Wehmuth anfüllen, indem wir zu gleicher Zeit die Nachricht von einer großen Schlacht mit Kaltsinn ver­ nehmen, in welcher, wie leicht zu erachten, ein ansehnlicher Theil des menschlichen Geschlechts unter grausamen Übeln unverschuldet erliegen muß. Mancher Prinz, der sein Gesicht von Wehmuth für eine einzige unglückliche Person wegwandte, gab gleichwohl aus einem öfters eitlen Bewegungsgrunde zu gleicher Zeit den Besebl zum Kriege. Es ist hier gar keine Proportion in der Wirkung, wie kann man denn sagen, daß die allgemeine Menschenliebe die Ursache sei?

74 Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

man diesen Antrieb allein nimmt, alle Laster haben können, nicht aus unmittelbarer Neigung, sondem weil er gerne zu gefallen lebt. Er wird aus liebreicher Geselligkeit ein Lügner, ein Müßiggänger, ein Säufer rc. rc. sein, denn er handelt nicht nach den Regeln, die auf das Wohlverhalten überhaupt gehen, sondern nach einer Neigung, die an sich schön, aber, indem sie ohne Haltung und ohne Gmndsätze ist, läppisch wird. Demnach kann wahre Tugend nur aus Grundsätze ge­ pfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desw erhabener und edler wird sie. Diese Gmndsätze sind nicht speculativische Regeln, sondem das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besondere Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit erstreckt. Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage, es sei das

Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Ratnr. Das erstere ist ein Gmnd der allgemeinen Wohlgewogenheit, das zweite der allgemeinen Achtung, und wenn dieses Gefühl die größte Vollkommenheit in irgend einem menschlichen Herzen hätte, so würde dieser Mensch sich zwar auch selbst lieben und schätzen, aber nur in so fem er einer von allen ist, auf die sein ausgebreitetes und edles Gefühl sich ausdehnt. Nur indem man einer so erweiterten Neigung seine besondere unterordnet, können unsere gütige Triebe proportionirt angewandt werden und den edlen Anstand zu­ wege bringen, der die Schönheit der Tugend ist. In Ansehung der Schwäche der menschlichen Natur und der geringen Macht, welche das allgemeine moralische Gefühl über die mehrste Herzen ausüben würde, hat die Vorsehung dergleichen hülfleistende Triebe als Supplemente der Tugend in uns gelegt, die, indem sie einige auch ohne Gmndsätze zu schönen Handlungen bewegen, zugleich andem, die durch diese letztere regiert werden, einen größeren Stoß und einen stärkem Antrieb dazu geben können. Mitleiden und Gefälligkeit sind

Beobachtungen über das Gesühl des Schönen und Erhabenen.

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Gründe von schönen Handlungen, die vielleicht durch das Über­ gewicht eines gröberen Eigennutzes insgesammt würden erstickt werden, allein nicht unmittelbare Gründe der Tugend, wie wir gesehen haben, obgleich, da sie durch die Verwandtschaft mit ihr geadelt werden, sie auch ihren Namen erwerben. Ich kann sie daher adoptirte Tugenden nennen, die­ jenige aber, die auf Grundsätzen beruht, die ä ch t e T u g e n d. Jene sind schön und reizend, diese allein ist erhaben und ehr­ würdig. Man nennt ein Gemüth, in welchem die erstere Empfindungen regieren, eingutesHerz und den Menschen von solcher Art gutherzig; dagegen man mit Recht dem Tugendhaften aus Grundsätzen ein edles Herz beilegt, ihn selber aber einen rechtschaffenen nennt. Diese adoptirte Tugenden haben gleichwohl mit den wahren Tugenden große Ähnlichkeit, indem sie das Gefühl einer unmittelbaren Lust an gütigen und wohlwollenden Handlungen enthalten. Der Gutherzige wird ohne weitere Absicht aus unmittelbarer Gefälligkeit friedsam und höflich mit euch umgehen und auf­ richtiges Beileid bei der Noth eines andern empfinden. Allein da diese moralische Sympathie gleichwohl noch nicht genug ist, die träge menschliche Natur zu gemeinnützigen Handlungen anzutreiben, so hat die Vorsehung in uns noch ein gewisses Gefühl gelegt, welches fein ist und uns in Be­ wegung setzen, oder auch dem gröberen Eigennutze und der gemeinen Wollust das Gleichgewicht leisten kann. Dieses ist das Gefühl für Ehre und dessen Folge die Scham. Die Meinung, die andere von unserm Werthe haben mögen, und ihr Urtheil von unsern Handlungen ist ein Bewegungs­ grund von großem Gewichte, der uns manche Aufopferungen ablockt, und was ein guter Theil der Menschen weder aus einer unmittelbar auffteigenden Regung der Gutherzigkeit, noch aus Grundsätzen würde gethan haben, geschieht oft genug bloß um des äußeren Scheines willen aus einem Wahne, der sehr

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Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.

nützlich, obzwar an sich selbst sehr seicht ist, als wenn das Urtheil anderer den Werth von uns und unsern Handlungen bestimmte. Was aus diesem Antriebe geschieht, ist nicht im mindesten tugendhaft, weswegen auch ein jeder, der für einen solchen gehalten werden will, den Bewegungsgrund der Ehrbegierde wohlbedächtig verhehlt. Es ist auch diese Neigung nicht einmal so nahe wie die Gutherzigkeit der ächten Tugend verwandt, weil sie nicht unmittelbar durch die Schönheit der Handlungen, sondern durch den in fremde Augen fallenden Anstand der­ selben bewegt werden kann. Ich kann demnach, da gleichwohl das Gefühl für Ehre fein ist, das Tugendähnliche, was dadurch veranlaßt wird, den Tugendschimmer nennen. Vergleichen wir die Gemüthsarten der Menschen, in so fern eine von diesen drei Gattungen des Gefühls in ihnen herrscht und den moralischen Charakter bestimmt, so finden wir, daß eine jede derselben mit einem der gewöhnlichermaßen eingetheilten Temperamente in näherer Verwandtschaft stehe, doch so, daß über dieses ein größerer Mangel des mora­ lischen Gefühls dem phlegmatischen zum Antheil werden würde. Nicht als wenn das Hauptmerkmal in dem Charakter dieser verschiedenen Gemüthsarten aus die gedachte Züge ankäme: denn das gröbere Gefühl, z. E. des Eigennutzes, der gemeinen Wollust rc. rc., erwägen wir in dieser Abhandlung gar nicht, und auf dergleichen Neigungen wird bei der gewöhnlichen Eintheilung gleichwohl vorzüglich gesehen; sondern weil die erwähnte feinere moralische Empfindungen sich leichter mit einem oder dem andern dieser Temperamente vereinbaren lassen und wirklich meistentheils damit vereinigt sind. Ein innigliches Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur und eine Fassung und Stärke des Ge­ müths, hierauf als auf einen allgemeinen Grund seine gesammte Handlungen zu beziehen, ist ernsthaft und gesellt sich nicht wohl mit einer flatterhaften Lustigkeit, noch mit dem Unbestand

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eines Leichtsinnigen. Es nähert sich sogar der Schwermuth, einer sanften und edlen Empfindung, in so fern sie sich auf dasjenige Grausen gründet, das eine eingeschränkte Seele fühlt, wenn sie, von einem großen Borsatze voll, die Gefahren sieht, die sie zu überstehen hat, und den schweren, aber großen Sieg der Selbstüberwindung vor Augen hat. Die ächte Tugend also aus Grundsätzen hat etwas an sich, was am meisten mit der melancholischen Gemüthsversassung im gemilderten Verstände zusammenzustimmen scheint. Die Gutherzigkeit, eine Schönheit und feine Reizbarkeit des Herzens, nach dem Anlaß, der sich vorfindet, in einzelnen Fällen mit Mitleiden oder Wohlwollen gerührt zu werden, ist dem Wechsel der Umstände sehr unterworfen, und indem die Bewegung der Seele nicht auf einem allgemeinen Grund­ sätze beruht, so nimmt sie leichtlich veränderte Gestalten an, nachdem die Gegenstände eine oder die andere Seite darbieten. Und da diese Neigung auf das Schöne hinausläuft, so scheint sie sich mit derjenigen Gemüthsart, die man sanguinisch nennt, welche flatterhaft und den Belustigungen ergeben ist, am natürlichsten zu vereinbaren. In diesem Temperamente werden wir die beliebte Eigenschaften, die wir adoptirte Tugenden nannten, zu suchen haben. Das Gefühl für die Ehre ist sonst schon gewöhnlich als ein Merkmal der cholerischen Complexion angenommen worden, und wir können dadurch Anlaß nehmen die moralische Folgen dieses feinen Gefühls, welche mehrenteils nur aufs Schimmem abgezielt sind, zu Schilderung eines solchen Cha­ rakters aufzusuchen. Niemals ist ein Mensch ohne alle Spuren der feineren Empfindung, allein ein größerer Mangel derselben, der ver­ gleichungsweise auch Fühllosigkeit heißt, kommt in den Cha­ rakter des phlegmatischen, den man sonst auch sogar der gröbern Triebfedern, als der Geldbegierde rc. ’C., beraubt.

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Beobachtungen über

das

Gefühl des Schönen und Erhabenen.

die wir aber zusammt anbetn, verschwisterten Neigungen ihm allenfalls lassen können, weil sie gar nicht in diesen Plan gehören. Laßt uns ansetzt die Empfindungen des Erhabenen und Schönen, vornehmlich so fern sie moralisch sind, unter der angenommenen Eintheilung der Temperamente näher be­ trachten. Der, dessen Gefühl ins Melancholische einschlägt, wird nicht darum so genannt, weil er, der Freuden des Lebens beraubt, sich in finsterer Schwermuth härmt, sondern weil seine Empfindungen, wenn sie über einen gewissen Grad ver­ größert würden, oder durch einige Ursachen eine falsche Rich­ tung bekämen, auf dieselbe leichter als einen andern Zustand auslaufen würden. Er hat vorzüglich ein G e f ü h l für das Erhabene. Selbst die Schönheit, für welche er eben so wohl Empfindung hat, muß ihn nicht allein reizen, sondern, indem sie ihm zugleich Bewunderung einflößt, rühren. Der Genuß der Vergnügen ist bei ihm ernsthafter, aber um deswillen nicht geringer. Alle Rührungen des Erhabenen haben mehr Bezauberndes an sich als die gaukelnde Reize des Schönen. Sein Wohlbefinden wird eher Zufriedenheit als Lustigkeit sein. Er ist standhaft. Um deswillen ordnet er seine Empfindungen unter Gmndsätze. Sie sind desto weniger dem Unbestande und der Veränderung unterworfen, je all­ gemeiner dieser Grundsatz ist, welchem sie untergeordnet werden, und je erweiterter also das hohe Gefühl ist, welches die niedere unter sich befaßt. Alle besondere Gründe der Neigungen sind vielen Ausnahmen und Ändemngen unter­ worfen, wofern sie nicht aus einem solchen oberen Grunde abgeleitet sind. Der muntere und freundliche Alcest sagt: Ich liebe und schätze meine Frau, denn sie ist schön, schmeichel­ haft und klug. Wie aber, wenn sie nun durch Krankheit entstellt, durch Alter mürrisch und, nachdem die erste Bezauberung ver-

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schwanden, euch nicht klüger scheinen würde wie jede andere? Wenn der Gmnd nicht mehr da ist, was kann aus der Neigung werden? Nehmet dagegen den wohlwollenden und gesetzten Adrast, welcher bei sich denkt: Ich werde dieser Person liebreich und mit Achtung begegnen, denn sie ist meine Frau. Diese Gesinnung ist edel und großmüchig. Nunmehr mögen die zufällige Reize sich ändern, sie ist gleichwohl noch immer seine Frau. Der edle Grund bleibt und ist nicht dem Unbestande äußerer Dinge so sehr unterworfen. Von solcher Beschaffenheit sind Gmndsätze in Vergleichung der Regungen, die blos bei einzelnen Veranlassungen aufwallen, und so ist der Mann von Grundsätzen in Gegenhalt mit demjenigen, welchem gelegent­ lich eine gutherzige und liebreiche Bewegung anwandelt. Wie aber wenn sogar die geheime Sprache seines Herzens also lautete: Ich muß jenem Menschen da zu Hülfe kommen, denn er leidet; nicht daß er etwa mein Freund oder Gesellschafter wäre, oder daß ich ihn fähig hielte dereinst Wohlthat mit Dank­ barkeit zu erwidern. Es ist jetzt keine Zeit zu vernünfteln und sich bei Fragen aufzuhalten: er ist ein Mensch, und was Menschen widerfährt, das trifft auch mich. Alsdann stützt sich sein Ver­ fahren auf den höchsten Gmnd des Wohlwollens in der mensch­ lichen Natur und ist äußerst erhaben, sowohl seiner Untier* änderlichkeit nach, als um der Allgemeinheit seiner Anwendung willen. Ich fahre in meinen Anmerkungen fort. Der Mensch von melancholischer Gemüthsverfassung bekümmert sich wenig dar­ um, was andere urtheilen, was sie für gut oder für wahr halten, er stützt sich desfalls blos auf seine eigene Einsicht. Weil die Bewegungsgründe in ihm die Natur der Gmndsätze annehmen, so ist er nicht leicht auf andere Gedanken zu bringen: seine Standhaftigkeit artet auch bisweilen in Eigensinn aus. Er sieht den Wechsel der Moden mit Gleichgültigkeit und ihren Schimmer mit Verachtung an. Freundschaft ist erhaben und

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daher für sein Gefühl. Er kann vielleicht einen veränderlichen Freund verlieren, allein dieser verliert ihn nicht eben so bald. Selbst das Andenken der erloschenen Freundschaft ist ihm noch ehrwürdig. Gesprächigkeit ist schön, gedankenvolle Ver­ schwiegenheit erhaben. Er ist ein guter Verwahrer seiner und anderer Geheimnisse. Wahrhaftigkeit ist erhaben, und er haßt Lügen oder Verstellung. Er hat ein hohes Gefühl von der Würde der menschlichen Natur. Er schätzt sich selbst und hält einen Menschen für ein Geschöpf, das da Achtung verdient. Er erduldet keine verworfene Unterthänigkeit und athmet Frei­ heit in einem edlen Busen. Alle Ketten von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer und nicht selten seiner sowohl als der Welt überdrüssig. In der Ausartung dieses Charakters neigt sich die Ernst­ haftigkeit zur Schwermuth, die Andacht zur Schwärmerei, der Freiheitseifer zum Enchusiasmus. Beleidigung und Unge­ rechtigkeit zünden in ihm Rachbegierde an. Er ist alsdann sehr zu fürchten. Er trotzt der Gefahr und verachtet den Tod. Bei der Verkehrtheit seines Gefühls und dem Mangel einer auf­ geheiterten Vernunft verfällt er aufs Abenteuerliche. Eingebungen, Erscheinungen, Anfechtungen. Ist der Verstand noch schwächer, so geräth er aus Fratzen. Bedeutende Träume, Ahndungen und Wunderzeichen. Er ist in Gefahr ein Phantast oder ein Grillenfänger zu werden. Der von sanguinischer Gemüthsverfassung hat ein herrschendes Gefühl für das Schöne. Seine Freuden sind daher lachend und lebhaft. Wenn er nicht lustig ist, so ist er mißvergnügt und kennt wenig die zusriedene Stille. Mannigsaltigkeit ist schön, und er liebt die Veränderung. Er sucht die Freude in sich und um sich, belustigt andere und ist ein guter Gesellschafter. Er hat viel moralische Sympathie. Anderer

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Fröhlichkeit macht ihn vergnügt und ihr Leid weichherzig. Sein sittliches Gefühl ist schön, allein ohne Grundsätze und hängt jederzeit unmittelbar von dem gegenwärtigen Eindrücke ab, den die Gegenstände auf ihn machen. Er ist ein Freund von allen Menschen oder, welches einerlei sagen will, eigentlich niemals ein Freund, ob er zwar gutherzig und wohlwollend ist. Er verstellt sich nicht. Er wird euch heute mit seiner Freundlich­ keit und guten Art unterhalten, morgen, wenn ihr krank oder im Unglücke seid, wahres und ungeheucheltes Beileid empfinden, aber sich sachte davon schleichen, bis sich die Umstände geändert haben. Er muß niemals Richter sein. Die Gesetze sind ihm gemeiniglich zu strenge, und er läßt sich durch Thränen be­ stechen. Er ist ein schlimmer Heiliger, niemals recht gut und niemals recht böse. Er schweift öfters aus und ist lasterhaft, mehr aus Gefälligkeit als aus Neigung. Er ist freigebig und wohlthätig, aber ein schlechter Zahler dessen, was er schuldig ist, weil er wohl viel Empfindung für Güte, aber wenig für Gerechtigkeit hat. Niemand hat eine so gute Meinung von seinem eigenen Herzen als er. Wenn ihr ihn gleich nicht hoch­ achtet, so werdet ihr ihn doch lieben müssen. In dem größeren Verfall seines Charakters geräth er ins L ä p p i s ch e, er ist tändelnd und kindisch. Wenn nicht das Alter noch etwa die Lebhaftigkeit mindert, oder mehr Verstand herbeibringt, so ist er in Gefahr ein alter G e ck zu werden. Der, welchen man unter der cholerischen Gemüthsbeschasfenheit meint, hat ein herrschendes Gefühl für die­ jenige Art des Erhabenen, welche man das Prächtige nennen kann. Sie ist eigentlich nur der Schimmer der Er­ habenheit und eine stark abstechende Farbe, welche den inneren Gehalt der Sache oder Person, der vielleicht nur schlecht und gemein ist, verbirgt und durch den Schein täuscht und rührt. So wie ein Gebäude durch eine Übertünchung, welche ge­ hauene Steine vorstellt, einen eben so edlen Eindmck macht, Kant- populäre Schriften.

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als wenn es wirklich daraus bestände, und geklebte Gesimse und Pilastern die Meinung von Festigkeit geben, ob sie gleich wenig Haltung haben und nichts unterstützen: also glänzen auch wmbackene Tugenden, Flittergold von Weisheit und gemaltes Verdienst. Der Cholerische betrachtet seinen eigenen Werth und den Werth seiner Sachen und Handlungen aus dem Anstande oder dem Scheine, womit er in die Augen fällt. In An­ sehung der innern Beschaffenheit und der Bewegungsgründe, die der Gegenstand selber enthält, ist er kalt, weder erwärmt durch wahres Wohlwollen, noch gerührt durch Achtung.*) Sein Bettagen ist künstlich. Er muß allerlei Standpunkte zu nehmen wissen, um seinen Anstand aus der verschiedenen Stellung der Zuschauer zu beurtheilen; denn er frägt wenig darnach, was er sei, sondern nur was er scheine. Um deswillen muß er die Wirkung auf den allgemeinen Geschmack und die mancherlei Eindrücke wohl kennen, die sein Verhalten außer ihm haben wird. Da er in dieser schlauen Aufmerksamkeit durchaus kalt Blut bedarf und nicht durch Liebe, Mitleiden und Theilnehmung seines Herzens sich muß blenden lassen, so wird er auch vielen Thorheiten und Verdrießlichkeiten ent­ gehen, in welche ein Sanguinischer geräth, der durch seine unmittelbare Empfindung bezaubert wird. Um deswillen scheint er gemeiniglich verständiger, als er wirklich ist. Sein Wohlwollen ist Höflichkeit, seine Achtung Ceremonie, seine Liebe ausgesonnene Schmeichelei. Er ist jederzeit voll von sich selbst, wenn er den Anstand eines Liebhabers oder eines Freundes annimmt, und ist niemals weder das eine noch das andere. Er sucht durch Moden zu schimmem; aber weil alles an ihm künstlich und gemacht ist, so ist er darin steif und un*) Er hält sich auch sogar nur in so fern für glücklich, als er ver­ muthet, daß er dafür von andern gehalten wird.

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das

Gefühl

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Schönen

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Erhabenen.

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gewandt. Er handelt weit mehr nach Grundsätzen als der Sanguinische, der blos durch gelegentliche Eindrücke bewegt wird; aber diese sind nicht Grundsätze der Tugend, sondern der Ehre, und er hat kein Gefühl für die Schönheit oder den Werth der Handlungen, sondern für das Urtheil der Welt, das sie davon fällen möchte. Weil sein Verfahren, in so fern man nicht auf die Quelle sieht, daraus es entspringt, übrigens fast eben so gemeinnützig als die Tugend selbst ist, so erwirbt er vor gemeinen Augen eben die Hochschätzung als der Tugend­ hafte, aber vor feineren Augen verbirgt er sich sorgfältig, weil er wohl weiß, daß die Entdeckung der geheimen Triebfeder der Ehrbegierde ihn um die Achtung bringen würde. Er ist daher -er Verstellung sehr ergeben, in der Religion heuchlerisch, im Umgänge ein Schmeichler, in Staatsparteien wetterwendisch nach den Umständen. Er ist gerne ein Sklave der Großen, um dadurch ein Tyrann über Geringere zu werden. Die Nai­ vetät, diese edle oder schöne Einfalt, welche das Siegel der Natur und nicht der Kunst auf sich trägt, ist ihm gänzlich fremde. Daher wenn sein Geschmack ausartet, so wird sein Schimmer s ch r e i e n d, d. i. auf eine widrige Art prahlend. Er geräth alsdann sowohl seinem Stil als dem Ausputze nach in den Gallimathias (das Übertriebene), eine Art Fratzen, die in An­ sehung des Prächtigen dasjenige ist, was das Abenteuerliche oder Grillenhafte in Ansehung des Emsthaft-Erhabenen. In Beleidigungen fällt er alsdann auf Zweikämpfe oder Processe und in dem bürgerlichen Verhältnisse auf Ahnen, Vortritt und Titel. So lange er nur noch eitel ist, d. i. Ehre sucht und be­ müht ist in die Augen zu fallen, so kann er rwch wohl geduldet werden, allein wenn bei gänzlichem Mangel wirllicher Vorzüge und Talente er aufgeblasen wird, so ist er das, wofür er am mindesten gerne möchte gehalten werden, nämlich ein N a r r. Da in der p h l e g m a t i s ch e n Mischung keine Ingre­ dienzien vom Erhabenen oder Schönen in sonderlich merk6*

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lichem Grade hineinzukommen Pflegen, so gehört diese Ge­ müthseigenschaft nicht in den Zusammenhang unserer Er­ wägungen. Bon welcher Art auch diese feinere Empfindungen sein mögen, von denen wir bis daher gehandelt haben, es mögen erhabene oder schöne sein, so haben sie doch das Schicksal ge­ mein, daß sie in dem Urtheil desjenigen, der kein darauf ge­ stimmtes Gefühl hat, jederzeit verkehrt und ungereimt scheinen. Ein Mensch von einer ruhigen und eigennützigen Emsigkeit hat so zu reden gar nicht die Organen, um den edlen Zug in einem Gedichte oder in einer Heldentugend zu empfinden, er liest lieber einen Robinson als einen Grandison und hält den Cato für einen eigensinnigen Ranen. Eben so scheint Personen von etwas emsthafter Gemüthsart dasjenige läppisch, was andern reizend ist, und die gaukelnde Naivetät einer Schäfer­ handlung ist ihnen abgeschmackt und kindisch. Auch selbst wenn das Gemüth nicht gänzlich ohne ein einstimmiges feineres Ge­ fühl ist, sind doch die Grade der Reizbarkeit desselben sehr verschieden, und man sieht, daß der eine etwas edel und anständig findet, was dem andern zwar groß, aber abenteuerlich vor­ kommt. Die Gelegenheiten, die sich darbieten, bei unmora­ lischen Dingen etwas von dem Gefühl des andem auszu­ spähen, können uns Anlaß geben mit ziemlicher Wahrschein­ lichkeit auch auf seine Empfindung in Ansehung der höheren Gemüthseigenschaften und selbst derer des Herzens zu schließen. Wer bei einer schönen Musik lange Weile hat, giebt starke Permuthung, daß die Schönheiten der Schreibart und die feine Bezauberungen der Liebe wenig Gewalt über ihn haben werden. Es ist ein gewisser Geist der Kleinigkeiten (esprit des bagatelles), welcher eine Art von seinem Gefühl anzeigt, welches aber gerade auf das Gegentheil von dem Erhabenen abzielt. Ein Geschmack für etwas, weil es sehr k ü n st l i ch

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und mühsam ist, Verse, die sich vor- und rückwärts lesen lassen, Rächsel, Uhren in Ringen, Flohletten rc. rc. Ein Geschmack für alles, was abgezirkelt und auf peinliche Weise ordent­ lich, obzwar ohne Nutzen ist, z. E. Bücher, die fein zierlich in langen Reihen im Bücherschränke stehen, und ein leerer Kopf, der sie ansieht und sich erfreut, Zimmer, die wie optische Kasten geziert und überaus sauber gewaschen sind, zusammt einem ungastsreien und mürrischen Wrte, der sie bewohnt. Ein Geschmack an allem demjenigen, was selten ist, so wenig wie es auch sonst innern Weich haben mag. EpiktetS Lampe, ein Handschuh von König Karl dem Zwölften; in ge­ wisser Art schlägt die Münzensucht mit hierauf ein. Solche Personen stehen sehr im Verdacht, daß sie in den Wissenschaften Grübler und Grillenfänger, in den Sitten aber für alle das, was aus freie Art schön oder edel ist, ohne Gesühl sein werden. Man thut einander zwar Unrecht, wenn man denjenigen, der den Werth, oder die Schönheit dessen, was uns rührt, ober reizt, nicht einsieht, damit abfertigt, daß er es nicht v e r st e h e. Es kommt hiebei nicht so sehr darauf an, was der V e r st a n d einsehe, sondern was das Gesühl empfinde. Gleichwohl haben die Fähigkeiten der Seele einen so großen Zusammenhang: daß man mehrentheils von der Erscheinung der Empfindung auf die Talente der Einsicht schließen kann. Denn es würden demjenigen, der viele Verstandesvorzüge hat, diese Talente vergeblich ertheilt sein, wenn er nicht zugleich starke Empfindung für das wahrhaftig Edle oder Schöne hätte, welche die Triebfeder sein muß, jene Gemüthsgaben wohl und regelmäßig anzuwenden. *) *) Man sieht auch, daß eine gewisse Feinigkeit des Gefühls einem Menschen zum Verdienste angerechnet wird. Daß jemand in Fleisch oder Kuchen eine gute Mahlzeit thun kann, imgleichen daß er unvergleichlich wohl schläft, das wird man ihm wohl als ein Zeichen eines guten Magens, aber nicht als ein Verdienst auslegen. Dagegen wer einen Theil seiner

Es ist einmal gebräuchlich, nur dasjenige nützlich zu nennen, was unserer gröberen Empfindung ein Gnüge leisten kann, was uns Überfluß im Essen und Trinken, Aufwand in Kleidung und in Hausgeräthe, imgleichen Verschwendung in Gastereien verschaffen kann, ob ich gleich nicht sehe, warum nicht alles, was nur immer meinem lebhaftesten Gefühl er­ wünscht ist, eben so wohl den nützlichen Dingen sollte beigezählt werden. Mein alles gleichwohl aus diesen Fuß genommen, so ist derjenige, welchen der Eigennutz beherrscht, ein Mensch, mit welchem man über den feineren Geschmack nie­ mals vernünfteln muß. Ein Huhn ist freilich in solchem Be­ tracht besser als ein Papagei, ein Kochtopf nützlicher als ein Porcellängeschirr, alle witzige Köpfe in der Welt gelten nicht den Werth eines Bauren, und die Bemühung die Weite der Fixsterne zu entdecken kann so lange ausgesetzt bleiben, bis man übereingekommen sein wird, wie der Pflug auf das vortheilhafteste könne geführt werden. Allein welche Thorheit ist es, sich in einen solchen Streit einzulassen, wo es unmöglich ist sich einander auf einstimmige Empfindungen zu führen, weil das Gefühl gar nicht einstimmig ist! Gleichwohl wird doch ein Mensch von der gröbsten und gemeinsten Empfindung wahmehmen können: daß die Reize und Annehmlichkeiten des Lebens, welche die entbehrlichste zu sein scheinen, unsere meiste Sorgfalt auf sich ziehen, und daß wir wenig Triebfedern zu so vielfältigen Bemühungen übrig haben würden, wenn wir jene ausschließen wollten. Jmgleichen ist wohl niemand so grob, daß er nicht empfinde, daß eine sittliche Handlung wenigstens an einem andern um beste mehr rühre, je weiter Mahlzeit dem Anhören einer Musik aufopfert oder bei einer Schilderei sich in eine angenehme Zerstreuung vertiefen kann, oder einige witzige Sachen, wenn es auch nur poetische Kleinigkeiten wären, gerne liest, hat doch fast in jedermanns Augen den Anstand eines feineren Menschen, von dem man eine vorteilhaftere und für ihn rühmlichere Meinung hat.

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sie vom Eigennutze ist, und je mehr jene edlere Antriebe in ihr hervorstechen. Wenn ich die edele und schwache Seite der Menschen wechselsweise bemerke, so verweise ich es mir selbst, daß ich nicht denjenigen Standpunkt zu nehmen vermag, von wo diese Abstechungen das große Gemälde der ganzen menschlichen Natur gleichwohl in einer rührenden Gestalt darstellen. Denn ich bescheide mich gerne: daß, so fern es zu dem Entwürfe der großen Natur gehört, diese groteske Stellungen nicht anders als einen edelen Ausdruck geben können, ob man schon viel zu kurzsichtig ist, sie in diesem Verhältnisse zu übersehen. Um indessen doch einen schwachen Blick hierauf zu werfen: so glaube ich folgendes anmerken zu können. Derjenigen unter den Menschen, die nach Grundsätzen verfahren, sind nur sehr wenige, welches auch überaus gut ist, da es so leicht geschehen kann, daß man in diesen Gmndsätzen irre und alsdann der Nachtheil, der daraus erwächst, sich um desto weiter erstreckt, je allgemeiner der Grundsatz und je standhafter die Person ist, die ihn sich vorgesetzt hat. Derer, so aus g u t. herzigen Trieben handeln, sind weit mehrere, welches äußerst vortrefflich ist, ob es gleich einzeln nicht als ein sonderliches Verdienst der Person kann angerechnet werden; denn diese tugendhafte Jnstincte fehlen wohl bisweilen, allein int Durchschnitte leisten sie eben so wohl die große Absicht der Natur, wie die übrige Jnstincte, die so regelmäßig die thierische Welt bewegen. Derer, die ihr allerliebstes Selbst als den einzigen Beziehungspunkt ihrer Bemühungen starr vor Augen haben, und die um den E i g e n n u tz als um die große Achse alles zu drehen suchen, giebt es die m e i st e, worüber auch nichts Vortheilhasteres sein kann, denn diese sind die emsigsten, ordentlichsten und behutsamsten; sie geben dem Ganzen Hal­ tung und Festigkeit, indem sie auch ohne ihre Absicht gemein­ nützig werden, die nothwendigen Bedürfnisse herbeischaffen

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und die Grundlage liefern, über welche feinere Seelen Schön­ heit und Wohlgereimtheit verbreiten können. Endlich ist die Ehrliebe in aller Menschen Herzen, obzwar in un­ gleichem Maße, verbreitet worden, welches dem Ganzen eine bis zur Bewunderung reizende Schönheit geben muß. Denn wiewohl die Ehrbegierde ein thörichter Wahn ist, so fern et zur Regel wird, der man die übrigen Neigungen unterordnet, so ist sie doch als ein begleitender Trieb äußerst vortrefflich. Denn indem ein jeder auf der großen Bühne feinen herrschenden Neigungen gemäß die Hand­ lungen verfolgt, so wird er zugleich durch einen geheimen Antrieb bewogen, in Gedanken außer sich selbst einen Stand­ punkt zu nehmen, um den Anstand zu beurtheilen, den fein Betragen hat, wie es aussehe und dem Zuschauer in die Augen falle. Dadurch vereinbaren sich die verschiedene Gruppen in ein Gemälde von prächtigem Ausdruck, wo mitten unter großer Mannigfaltigkeit Einheit hervorleuchtet, und das Ganze der moralischen Natur Schönheit und Würde an sich zeigt.

Dritter Abschnitt. Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältniß beider Geschlechter. Derjenige, so zuerst das Frauenzimmer unter dem Namen des schönen Geschlechts begriffen hat, kann vielleicht etwas Schmeichelhaftes haben sagen wollen, aber er hat es besser getroffen, als et wohl selbst geglaubt haben mag. Denn ohne in Erwägung zu ziehen, daß ihre Gestalt überhaupt feiner, ihre Züge zarter und sanfter, ihre Miene im Ausdrucke der Freundlichkeit, des Scherzes und der Leutseligkeit bedeu­ tender und einnehmender ist, als bei dem männlichen Ge­ schlecht, ohne auch dasjenige zu vergessen, was man für die

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geheime Zauberkraft abrechnen muß, wodurch sie unsere Leidenschaft zum vortheilhasten Urtheile sür sie geneigt machen, so liegen vornehmlich in dem Gemüthscharakter dieses Ge­ schlechts eigenthümliche Züge, die es von dem unseren deutlich unterscheiden und die darauf hauptsächlich hinauslaufen, sie durch das Merkmal des Schönen kenntlich zu machen. Andererseits könnten wir auf die Benennung des edlen Geschlechts Anspruch machen, wenn es nicht auch von einer edlen Gemüthsart erfordert würde, Ehrennamen abzu­ lehnen und sie lieber zu ertheilen als zu empfangen. Hiedurch wird nun nicht verstanden: daß das Frauenzimmer edeler Eigenschaften ermangelte, oder das männliche Geschlecht der Schönheiten gänzlich entbehren müßte, vielmehr erwartet man, daß ein jedes Geschlecht beide vereinbare, doch so, daß von einem Frauenzimmer alle andere Vorzüge sich nur dazu vereinigen sollen, um den Charakter des S ch ö n e n zu erhöhen, welcher der eigentliche Beziehungspunkt ist, und dagegen unter den männlichen Eigenschaften das Erhabene als das Kenn­ zeichen seiner Art deutlich hervorsteche. Hierauf müssen alle Urtheile von diesen zwei Gattungen, sowohl die rühmliche als die des Tadels, sich beziehen, alle Erziehung und Unter­ weisung muß dieses vor Augen haben und alle Bemühung, die sittliche Vollkommenheit des einen oder des andern zu befördern, wo man nicht den reizenden Unterschied unkenntlich machen will, den die Natur zwischen zwei Menschengattungen hat treffen wollen. Denn es ist hier nicht genug sich vorzustellen, daß man Menschen vor sich habe, man muß zugleich nicht aus der Acht lassen, daß diese Menschen nicht von einerlei Art sind. Das Frauenzimmer hat ein angebornes stärkeres Gefühl sür alles, was schön, zierlich und geschmückt ist. Schon in der Kindheit sind sie gerne geputzt und gefallen sich, wenn sie geziert sind. Sie sind reinlich und sehr zärtlich in Ansehung alles dessen, was Ekel verursacht. Sie lieben den Scherz und

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können durch Kleinigkeiten, wenn sie nur munter und lachend sind, unterhalten werden. Sie haben sehr srüh ein sittsames Wesen an sich, wissen sich einen seinen Anstand zu geben und besitzen sich selbst; und dieses in einem Wter, wenn unsere wohlerzogene männliche Jugend noch unbändig, tölpisch und verlegen ist. Sie haben viel theilnehmende Empfindungen, Gutherzigkeit und Mitleiden, ziehen das Schöne dem Nütz­ lichen vor und werden den Überfluß des Unterhalts gerne in Sparsamkeit verwandeln, um den Aufwand auf das Schim­ mernde und den Putz zu unterstützen. Sie sind von sehr zärt­ licher Empfindung in Ansehung der mindesten Beleidigung und überaus sein, den geringsten Mangel der Aufmerksamkeit und Achtung gegen sie zu bemerken. Kurz, sie enthalten in der menschlichen Natur den Hauptgmnd der Abstechung der schönen Eigenschaften mit den edelen und verfeinern selbst das männliche Geschlecht. Man wird mir hoffentlich die Herzählung der männlichen Eigenschaften, in so fern sie jenen parallel sind, schenken und sich befriedigen beide nur in der Gegeneinanderhaltung zu betrachten. Das schöne Geschlecht hat eben so wohl Verstand als das männliche, nur es ist ein schöner V e r st a n d, der unsrige soll ein tiefer Verstand sein, welches ein Ausdruck ist, der einerlei mit dem Erhabenen bedeutet. Zur Schönheit aller Handlungen gehört vornehmlich, daß sie Leichtigkeit an sich zeigen und ohne peinliche Bemühung scheinen vollzogen zu werden; dagegen Bestrebungen und überwundene Schwierigkeiten Bewunderung erregen und zum Erhabenen gehören. Tiefes Nachsinnen und eine lange fort, gesetzte Betrachtung sind edel, aber schwer und schicken sich nicht wohl für eine Person, bei der die ungezwungene Reize nichts anders als eine schöne Natur zeigen sollen. Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln, wenn es gleich ein Frauen­ zimmer darin hoch bringen sollte, vertilgen die Vorzüge, die

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ihrem Geschlechte eigenthümlich sind, und können dieselbe wohl um der Seltenheit willen zum Gegenstände einer kalten Bewunderung machen, aber sie werden zugleich die Reize schwächen, wodurch sie ihre große Gewalt über das andere Geschlecht ausüben. Ein Frauenzimmer, das den Kopf voll Griechisch hat, wie die Frau D a c i e r, oder über die Mechanik gründliche Streitigkeiten führt, wie die Marquisin von CH a fiel et, mag nur immerhin noch einen Bart dazu haben; denn dieser würde vielleicht die Miene des Tiefsinns noch kenntlicher ausdrücken, um welchen sie sich bewerben. Der schöne Verstand wählt zu seinen Gegenständen alles, was mit dem feineren Gefühl nahe verwandt ist, und überläßt abstracte Speculationen oder Kenntnisse, die nützlich, aber trocken sind, dem emsigen, gründlichen und tiefen Verstände. Das Frauenzimmer wird demnach keine Geometrie lernen; es wird vom Satze des zureichenden Grundes, oder den Mo­ naden nur so viel wissen, als da nöthig ist, um das Salz in den Spottgedichten zu vernehmen, welche die seichte Grübler unseres Geschlechts durchgezogen haben. Die Schönen können den Cartesius seine Wirbel immer drehen lassen, ohne sich darum zu bekümmern, wenn auch der artige F o n t e n e l l e ihnen unter den Wandelsternen Gesellschaft leisten wollte, und die Anziehung ihrer Reize verliert nichts von ihrer Gewalt, wenn sie gleich nichts von allem dem wissen, was Algar o t t i zu ihrem Besten von den Anziehungskräften der groben Materien nach dem Newton aufzuzeichnen bemüht gewesen. Sie werden in der Geschichte sich nicht den Kopf mit Schlachten und in der Erdbeschreibung nicht mit Festungen anfüllen; denn es schickt sich für sie eben so wenig, daß sie nach Schießpulver, als für die Mannspersonen, daß sie nach Bisam riechen sollen. Es scheint eine boshafte List der Mannspersonen zu sein, daß sie das schöne Geschlecht zu diesem verkehrten Geschmacke haben verleiten wollen. Denn wohl bewußt ihrer Schwäche

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in Ansehung der natürlichen Reize desselben, und daß ein ein­ ziger schalkhafter Blick sie mehr in Verwirrung setze als die schwerste Schulfrage, sehen sie sich, so bald das Frauenzimmer in diesen Geschmack einschlägt, in einer entschiedenen Über­ legenheit und sind in dem Vortheile, den sie sonst schwerlich haben würden, mit einer großmüthigen Nachsicht den Schwächen ihrer Eitelkeit aufzuhelfen. Der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist vielmehr der Mensch und unter den Menschen der Mann. Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden. Bei der Gelegenheit, die man ihnen geben will ihre schöne Natur auszubilden, muß man dieses Verhältniß jederzeit vor Augen haben. Man wird ihr gesammtes moralisches Gefühl und nicht ihr Gedächtniß zu erweitern suchen und zwar nicht durch allgemeine Regeln, sondern durch einiges Urtheil über das Betragen, welches sie um sich sehen. Die Beispiele, die man aus andern Zeiten entlehnt, um den Einfluß einzusehen, den das schöne Geschlecht in die Welt­ geschäfte gehabt hat, die mancherlei Verhältnisse, darin es in andern Zeitaltern oder in fremden Landen gegen das männ­ liche gestanden, der Charakter beider, so fern er sich hiedurch erläutern läßt, und der veränderliche Geschmack der Ver­ gnügungen machen ihre ganze Geschichte und Geographie aus. Es ist schön, daß einem Frauenzimmer der Anblick einer Karte, die entweder den ganzen Erdkreis oder die vornehmste Theile der Welt vorstellt, angenehm gemacht werde. Dieses geschieht dadurch, daß man sie nur in der Absicht vorlegt, um die unter­ schiedliche Charaktere der Völker, die sie bewohnen, die Ver­ schiedenheiten ihres Geschmacks und sittlichen Gefühls, vor­ nehmlich in Ansehung der Wirkung, die diese aus die Ge­ schlechterverhältnisse haben, dabei zu schildern, mit einigen leichten Erläuterungen aus der Verschiedenheit der Himmels­ striche, ihrer Freiheit oder Sklaverei. Es ist wenig daran gelegen, ob sie die besondere Abtheilungen dieser Länder, ihr

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Gewerbe, Macht und Beherrscher wissen oder nicht. Eben so werden sie von dem Weltgebäude nichts mehr zu kennen nöthig haben, als nöthig ist, den Anblick des Himmels an einem schönen Abende ihnen rührend zu machen, wenn sie einigermaßen begrifsen haben, daß noch mehr Welten und daselbst noch mehr schöne Geschöpfe anzutteffen sind. Gefühl für Schildereien von Ausdruck und für die Tonkunst, nicht in so fern sie Kunst, sondern Empfindung äußert, alles dieses verfeinert oder erhebt den Geschmack dieses Geschlechts und hat jederzeit einige Verknüpfung mit sittlichen Regungen. Niemals ein kalter und speculativer Unterricht, jederzeit Empsindungen, und zwar die so nahe wie möglich bei ihrem Geschlechtverhältnisse bleiben. Diese Unterweisung ist darum so selten, weil sie Talente, Erfahrenheit und ein Herz voll Gefühl erfordert, und jeder andern kann das Frauenzimmer sehr wohl entbehren, wie es denn auch ohne diese sich von selbst gemeiniglich sehr wohl ausbildet. Die Tugend des Frauenzimmers ist eine schöne Tu­ gend.*) Die des männlichen Geschlechts soll eine edele Tugend sein. Sie werden das Böse vermeiden, nicht weil es unrecht, sondern weil es häßlich ist, und tugendhafte Hand­ lungen bedeuten bei ihnen solche, die sittlich schön sind. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit. Das Frauenzimmer ist aller Besehle und alles mürrischen Zwanges unleidlich. Sie thun etwas nur darum, weil es ihnen so be­ liebt, und die Kunst besteht darin zu machen, daß ihnen nur dasjenige beliebe, was gut ist. Ich glaube schwerlich, daß das schöne Geschlecht der Gmndsätze fähig sei, und ich hoffe dadurch nicht zu beleidigen, denn diese sind auch äußerst selten beim *) Diese wurde oben, S. 75, in einem strengen Urtheil adoptirte Tugend genannt; hier, da sie um des Geschlechtscharakters willen eine günstige Rechtfertigung verdient, heißt sie überhaupt eine schöne Tugend.

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männlichen. Dafür aber hat die Vorsehung in ihren Busen gütige und wohlwollende Empfindungen, ein feines Gefühl für Anständigkeit und eine gefällige Seele gegeben. Man fordere ja nicht Aufopferungen und großmüthigen Selbst­ zwang. Ein Mann muß es seiner Frauen niemals sagen, wenn er einen Theil seines Vermögens um einen Freund in Gefahr setzt. Warum will er ihre muntere Gesprächigkeit fesseln, dadurch daß er ihr Gemüth mit einem wichtigen GeHeimnisse belästigt, dessen Aufbewahrung ihm allein obliegt? Selbst viele von ihren Schwachheiten sind so zu reden schöne Fehler. Beleidigung oder Unglück bewegen ihre zarte Seele zur Wehmuth. Der Mann muß niemals andre als groß­ müthige Thränen weinen. Die, so er in Schmerzen oder über Glücksumstände vergießt, machen ihn verächtlich. Die Eitel­ keit, die man dem schönen Geschlechte so vielfältig vorrückt, wofern sie ja an demselben ein Fehler ist, so ist sie nur ein schöner Fehler. Denn zu geschweigen, daß die Mannspersonen, die dem Frauenzimmer so gerne schmeicheln, übel daran sein würden, wenn dieses nicht geneigt wäre es wohl aufzunehmen, so beleben sie dadurch wirklich ihre Reize. Diese Neigung ist ein Antrieb, Annehmlichkeiten und den guten Anstand zu zeigen, ihren munteren Witz spielen zu lassen, imgleichen durch die veränderliche Erfindungen des Putzes zu schimmern und ihre Schönheit zu erhöhen. Hierin ist nun so gar nichts Belei­ digendes für andere, sondern vielmehr, wenn es mit gutem Geschmacke gemacht wird, so viel Artiges, daß es sehr ungezogen ist dagegen mit mürrischem Tadel loszuziehen. Ein Frauenzimmer, das hierin gar zu flatterhaft und gaukelnd ist, heißt^eine Närrin; welcher Ausdruck gleichwohl keine so harte Bedeutung hat, als mit veränderter Endsilbe beim Manne, so gar daß, wenn man sich untereinander versteht, es wohl bisweilen eine vertrauliche Schmeichelei anzeigen kann. Wenn die Eitelkeit ein Fehler ist, der an einem Frauenzimmer

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sehr wohl Entschuldigung verdient, soistdasaufgeblasene SB e i e n an ihnen nicht allein, so wie an Menschen überhaupt tadelhaft, sondem vemnstaltet gänzlich ihren Geschlechts­ charakter. Denn diese Eigenschaft ist überaus dumm und häßlich und dem einnehmenden bescheidenen Reize gänzlich entgegen gesetzt. Msdann ist eine solche Person in einer schlüpfrigen Stellung. Sie wird sich gefallen lassen ohne alle Nachsicht und scharf beurtheilt zu werden; denn wer auf Hoch­ achtung pocht, fordert alles um sich zum Tadel auf. Eine jede Entdeckung auch des mindesten Fehlers macht jedermann eine wahre Freude, und das Wort Närrin verliert hier seine gemilderte Bedeutung. Man muß Eitelkeit und Auf­ geblasenheit jederzeit unterscheiden. Die erstere sucht Beifall und ehrt gewissermaßen diejenige, um deren willen sie sich diese Bemühung gibt, die zweite glaubt sich schon in dem völligen Besitze desselben, und indem sie keinen zu erwerben bestrebt, so gewinnt sie auch keinen. Wenn einige Ingredienzien von Eitelkeit ein Frauen­ zimmer in den Augen des männlichen Geschlechts gar nicht verunzieren, so dienen sie doch, je sichtbarer sie sind, um desto mehr das schöne Geschlecht unter einander zu veruneinigen. Sie beurtheilen einander alsdann sehr scharf, weil eine der anderen Reize zu verdunkeln scheint, und es sind auch wirklich diejenige, die noch starke Anmaßungen auf Erobemng machen, selten Freundinnen von einander im wahren Verstände. Dem Schönen ist nichts so sehr entgegengesetzt als der Ekel, so wie nichts tiefer unter das Erhabene sinkt als das Lächerliche. Daher kann einem Manne kein Schimpf empfindlicher sein, als daß er ein N a r r, und einem Frauenzimmer, daß sie e k e l h a f t genannt werde. Der englische Zuschauer hält dafür: daß einem Manne kein Vorwurf könne gemacht werden, der kränkender sei, als wenn er für einen Lügner, und einem Frauenzimmer kein bittrerer, als wenn sie für

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unkeusch gehalten wird. Ich will dieses, in so sein es nach der Strenge der Moral beurtheilt wird, in seinem Werthe lassen. Allein hier ist die Frage nicht, was an sich selbst den größten Tadel verdiene, sondern was wirklich am allerhärtesten empsunden werde. Und da frage ich einen jeden Leser, ob, wenn er sich in Gedanken aus diesen Fall setzt, er nicht meiner Meinung beistimmen müsse. Die Jungfer Ninon Lenclos machte nicht die mindesten Ansprüche auf die Ehre der Keusch­ heit, und gleichwohl würde sie unerbittlich beleidigt worden sein, wenn einer ihrer Liebhaber sich in seinem Urtheile so weit sollte vergangen haben: und man weiß das grausame Schicksal des Monaldeschi um eines beleidigenden Ausdrucks willen von solcher Art bei einer Fürstin, die eben keine Lucretia hat vorstellen wollen. Es ist unausstehlich, daß man nicht einmal sollte Böses thun können, wenn man gleich wollte, weil auch die Unterlassung desselben alsdann jederzeit nur eine sehr zweideutige Tugend ist. Um von diesem Ekelhaften sich so weit als möglich zu ent­ fernen, gehört die Reinlichkeit, die zwar einem jeden Menschen wohl ansteht, bei dem schönen Geschlechte unter die Tugenden vom ersten Range und kann schwerlich von dem­ selben zu hoch getrieben werden, da sie gleichwohl an einem Manne bisweilen zum Übermaße steigt und alsdann läppisch wird. Die S ch a m h a s t i g k e i t ist ein Geheimniß der Natur sowohl einer Neigung Schranken zu setzen, die sehr unbändig ist, und indem sie den Ruf der Natur für sich hat, sich immer mit guten, sittlichen Eigenschaften zu vertragen scheint, wenn sie gleich ausschweift. Sie ist demnach als ein Supplement der Grundsätze höchst nöthig; denn es giebt keinen Fall, da die Neigung so leicht zum Sophisten wird, gefällige Grundsätze zu erklügeln, als hier. Sie dient aber auch zugleich, um einen ge­ heimnißvollen Vorhang selbst vor die geziemendsten und nöthig-

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sten Zwecke der Natur zu ziehen, damit die gar zu gemeine Bekanntschaft mit denselben nicht Ekel oder zum mindesten Gleichgültigkeit veranlasse in Ansehung der Endabsichten eines Triebes, worauf die feinsten und lebhaftesten Neigungen der menschlichen Natur gepsropst sind. Diese Eigenschaft ist dem schönen Geschlecht vorzüglich eigen und chm sehr anständig. Es ist auch eine plumpe und verächtliche Ungezogenheit, durch die Art pöbelhafter Scherze, welche man Zoten nennt, die zärtliche Sittsamkeit desselben in Verlegenheit oder Unwillen zu setzen. Weil indessen, man mag nun um das Geheimniß so weit hemmgehen, als man immer will, die Geschlechter­ neigung doch allen den übrigen Reizen endlich zum Gmnde liegt, und ein Frauenzimmer immer als ein Frauenzimmer der angenehme Gegenstand einer wohlgesitteten Unterhaltung ist, so möchte daraus vielleicht zu erklären sein, wamm sonst artige Mannspersonen sich bisweilen die Freiheit nehmen, durch den kleinen Muchwillen chrer Scherze einige feine An­ spielungen durchscheinen zu lassen, welche machen, daß man sie l o s e oder schalkhaft nennt, und wo, indem sie weder durch ausspähende Blicke beleidigen, noch die Achtung zu ver­ letzen gedenken, sie glauben berechttgt zu sein, die Person, die es mit unwilliger oder spröder Mene aufnimmt, eine Ehr­ barkeitspedantin zu nennen. Ich führe dieses nur an, weil es gemeiniglich als ein etwas kühner Zug vom schönen Umgänge angesehen wird, auch in der That von je her viel Witz darauf ist verschwendet worden; was aber das Urcheil nach moralischer Sttenge anlangt, so gehört das nicht hieher, da ich in der Empfindung des Schönen nur die Erscheinungen zu beobachten und zu erläutern habe. Die edle Eigenschaften dieses Geschlechts, welche jedoch, wie wir schon angemertt haben, niemals das Gefühl des Schönen unkenntlich machen müssen, kündigen sich durch nichts deutlicher und sicherer an als durch die Bescheidenheit Kant» populäre Schriften.

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einer Art von edler Einfalt und Naivetät bei großen Vorzügen. Aus derselben leuchtet eine ruhige Wohlgewogenheit und Achtung gegen andere hervor, zugleich mit einem gewissen e d l e n Z u t r a u e n auf sich selbst und einer billigen Selbstschätzung verbunden, welche bei einer erhabenen Gemüthsart jederzeit anzutreffen ist. Indem diese feine Mischung zugleich durch Reize einnimmt und durch Achtung rührt, so stellt sie alle übrige schimmernde Eigenschaften wider den Muthwillen des Tadels und der Spottsucht in Sicherheit. Personen von dieser Gemüthsart haben auch ein Herz zur Freundschaft, welches an einem Frauenzimmer niemals kann hoch genug geschätzt werden, weil es so gar selten ist und zugleich so überaus reizend sein muß. Da unsere Absicht ist über Empfindungen zu urtheilen, so kann es nicht unangenehm sein die Verschiedenheit des Ein­ drucks, den die Gestalt und Gesichtszüge des schönen Geschlechts auf das männliche machen, wo möglich unter Begrisfe zu bringen. Diese ganze Bezauberung ist im Grunde über den Geschlechter­ trieb verbreitet. Die Natur verfolgt ihre große Absicht, und alle Feinigkeilen, die sich hinzugesellen, sie mögen nun so weit davon abzustehen scheinen, wie sie wollen, sind nur Ver­ brämungen und entlehnen ihren Reiz doch am Ende aus eben derselben Quelle. Ein gesunder und derberGeschmack, der sich jederzeit sehr nahe bei diesem Triebe hält, wird durch die Reize des Anstandes, der Gesichtszüge, der Augen rc. rc. an einem Frauenzimmer wenig angefochten, und indem er eigenllich nur aufs Geschlecht geht, so sieht er mehrentheils die Delicatesse anderer als leere Tändelei an. Wenn dieser Geschmack gleich nicht fein ist, so ist er des­ wegen doch nicht zu verachten. Denn der größte Theil der Menschen befolgt vermittelst desselben die große Ordnung der Natur auf eine sehr einfältige und sichere Art. *) Dadurch *) Me alle Dinge in der Welt auch ihre schlimme Seite haben, so

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werden die meisten Ehen bewirkt und zwar von dem emsigsten Theile des menschlichen Geschlechts, und indem der Mann den Kopf nicht von bezaubernden Mienen, schmachtenden Augen, edlem Anstande rc. rc. voll hat, auch nichts von allem diesem versteht, so wird er desto aufmerksamer auf haushäl­ terische Tugenden, Sparsamkeit rc. rc. und auf das Eingebrachte. Was den etwas feineren Geschmack anlangt, um dessentwillen es nöthig sein möchte einen Unterschied unter den äußerlichen Reizen des Frauenzimmers zu machen, so ist derselbe ent­ weder auf das, was in der Gestalt und dem Ausdrucke des Ge­ sichts moralisch ist, oder auf das Unmoralische ge­ heftet. Ein Frauenzimmer wird in Ansehung der Annehm­ lichkeiten von der letzteren Art hübsch genannt. Ein proportionirlicher Bau, regelmäßige Züge, Farben von Auge und Gesicht, die zierlich abstechen, lauter Schönheiten, die auch an einem Blumensträuße gefallen und einen kalten Beifall er­ werben. Das Gesicht selber sagt nichts, ob es gleich hübsch ist, und redet nicht zum Herzen. Was den Ausdruck der Züge, der Augen und der Mienen anlangt, der moralisch ist, so geht er entweder auf das Gefühl des Erhabenen, oder des Schönen. Ein Frauenzimmer, an welchem die Annehmlichkeiten, die ihrem Geschlecht geziemen, vornehmlich den moralischen Aus­ druck des Erhabenen hervorstechen lassen, heißt schön im eigentlichen Verstände, diejenige, deren moralische Zeichnung, so fern sie in den Mienen oder GesichtSzügen sich kennbar macht, die Eigenschaften des Schönen ankündigt, istannehml i ch und, wenn sie es in einem höhern Grade ist, r e i z e n d. Die erstere läßt unter einer Mene von Gelassenheit und einem edlen Anstande den Schimmer eines schönen Verstandes aus ist bei diesem Geschmacke nur zu bedauern, daß er leichter wie ein anderer in Lüderlichkeit ausartet. Denn weil das Feuer, das eine Person ent­ zündet hat, eine jede andre wieder löschen tarnt, so sind nicht genug Schwierigkeiten da, die eine unbändige Neigung einschränken könnten.

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bescheidenen Micken Hervorspielen, und indem sich in ihrem Gesicht ein zärtlich Gesühl und wohlwollendes Herz abmalt, so bemächtigt sie sich sowohl der Neigung als der Hochachtung eines männlichen Herzens. Die zweite zeigt Munterkeit und Witz in lachenden Augen, etwas feinen Muthwillen, das Schäkerhaste der Scherze und schalkhafte Sprödigkeit. Sie reizt, wenn die erstere rührt, und das Gefühl der Liebe, dessen sie fähig ist und welche sie anderen einflößt, ist flatterhaft, aber schön, dagegen die Empfindung der ersteren zärtlich, mit Achtung verbunden und beständig ist. Ich mag mich nicht in gar zu ausführliche Zergliederungen von dieser Art ein­ lassen; denn in solchen Fällen scheint der Verfasser jederzeit seine eigene Neigung zu malen. Indessen berühre ich noch: daß der Geschmack, den viele Damen an einer gesunden, aber blassen Farbe finden, sich hier verstehen lasse. Denn diese be­ gleitet gemeiniglich eine Gemüthsart von mehr innerem Ge­ fühl und zärtlicher Empfindung, welches zur Eigenschaft des Erhabenen gehört, dagegen die rothe und blühende Farbe weniger von der ersteren, allein mehr von der fröhlichen und muntern Gemüthsart ankündigt; es ist aber der Eitelkeit gemäßer zu rühren und zu fesseln als zu reizen und anzulocken. Es können dagegen Personen ohne alles moralische Gefühl und ohne einigen Ausdruck, der auf Empfindungen deutete, sehr hübsch sein, allein sie werden weder rühren noch reizen, es sei bettn denjenigen derben Geschmack, von dem wir Erwähnung gethan haben, welcher sich bisweilen etwas verfeinert und dann nach seiner Art auch wählt. Es ist schlimm, daß dergleichen schöne Geschöpfe leichtlich in den Fehler der Aufgeblasenheit verfallen durch das Bewußtsein der schönen Figur, die ihnen ihr Spiegel zeigt, und aus einem Mangel feinerer Empfindungen; da sie dann alles gegen sich kaltsinnig machen, den Schmeichler ausgenommen, der aus Ab­ sichten ausgeht und Ränke schmiedet.

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Man kann nach diesen Begriffen vielleicht etwas von der so verschiedenen Mrkung verstehen, die die Gestalt eben des­ selben Frauenzimmers auf den Geschmack der Männer chut. Dasjenige, was in diesem Eindrücke sich zu nahe auf den Ge­ schlechtertrieb bezieht und mit dembesondernwollüstigen Wahne, darin sich eines jeden Empfindung einkleidet, ein» stimmig sein mag, berühre ich nicht, weil es außer betn Bezirke des feinem Geschmackes ist; und es kann vielleicht richtig sein, was der Herr v. Bufson vermuthet, daß diejenige Gestalt, die den ersten Eindmck macht, zu der Zeit, wenn dieser Trieb noch neu ist und sich zu entwickeln anfängt, das Urbild bleibe, worauf in der künftigen Zeit alle weibliche Bildungen mehr oder weniger einschlagen müssen, welche die phantastische Sehnsucht rege machen können, dadurch eine ziemlich grobe Neigung unter den verschiedenen Gegenständen eines Ge­ schlechts zu wählen genöthigt wird. Was den etwas feineren Geschmack anlangt, so behaupte ich, daß diejenige Art von Schönheit, welche wir die hübsche Gestalt genannt haben, von allen Männem ziemlich gleichförmig beurtheüt werde, und daß darüber die Meinungen nicht so verschieden seien, wie man wohl gemeiniglich dafür hält. Die cir­ ca s s i s ch e und georgische Mädchen sind von allen Europäem, die durch ihre Länder reisen, jederzeit für überaus hübsch gehalten worden. Die Türken, die A r a b e r, die Perser müssen wohl mit diesem Geschmacke sehr einstimmig sein, weil sie sehr begierig sind ihre Völkerschaft durch so feines Blut zu verschönem, und man merkt auch an, daß der persischen Race dieses wirllich gelungen ist. Die Kaufleute von I n d o st a n ermangeln gleichfalls nicht, von einem boshaften Handel mit so schönen Geschöpfen großen Vortheil zu ziehen, indem sie solche den leckerhaften Reichen ihres Landes zuführen, und man sieht, daß, so sehr auch der Eigensinn des Geschmacks in diesen verschiedenen Weltgegenden abweichend sein mag, dennoch

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dasjenige, was einmal in einer derselben als vorzüglich hübsch erkannt wird, in allen übrigen auch dafür gehalten werde. Wo aber sich in das Urcheil über die feine Gestalt dasjenige ein­ mengt, was in den Zügen moralisch ist, so ist der Geschmack bei verschiedenen Mannspersonen jederzeit sehr verschieden, sowohl nachdem ihr sittliches Gefühl selbst unterschieden ist, als auch nach der verschiedenen Bedeutung, die der Ausdruck des Gesichts in eines jeden Wahne haben mag. Man findet, daß diejenige Bildungen, die beim ersten Anblicke nicht sonder­ liche Wirkung thun, weil sie nicht auf eine entschiedene Art hübsch sind, gemeiniglich, so bald sie bei näherer Bekanntschaft zu gefallen anfangen, auch weit mehr einnehmen und sich deständig zu verschönern scheinen; dagegen das hübsche Ansehen, was sich auf einmal ankündigt, in der Folge mit größerem Kaltsinn wahrgenommen wird, welches vermuthlich daher kommt, daß moralische Reize, wo sie sichtbar werden, mehr fesseln, imgleichen weil sie sich nur bei Gelegenheit sittlicher Em­ pfindungen in Wirksamkeit setzen und sich gleichsam entdecken lassen, jede Entdeckung eines neuen Reizes aber immer noch mehr derselben vermuthen läßt; anstatt daß alle Annehmlich­ keiten, die sich gar nicht verhehlen, nachdem sie gleich Anfangs ihre ganze Wirkung ausgeübt haben, in der Folge nichts weiter thun können, als den verliebten Vorwitz abzukühlen und ihn allmählig zur Gleichgültigkeit zu bringen. Unter diesen Beobachtungen bietet sich ganz natürlich fol­ gende Anmerkung dar. Das ganz einfältige und grobe Gefühl in den Geschlechterneigungen führt zwar sehr grade zum großen Zwecke der Natur, und indem es ihre Forderungen erfüllt, ist es geschickt die Person selbst ohne Umschweife glücklich zu machen, allein um der großen Allgemeinheit willen artet es leichüich in Ausschweifung und Lüderlichkeit aus. An der anderen Seite dient ein sehr Borseinigtet Geschmack zwar dazu, einer ungestümen Neigung die Wildheit zu benehmen und,

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indem er solche nur auf sehr wenig Gegenstände einschränkt, sie sittsam und anständig zu machen, allein sie verfehlt gemeinig­ lich die große Endabsicht der Natur, und da sie mehr fordert oder erwartet, als diese gemeiniglich leistet, so pflegt sie die Person von so delicater Empfindung sehr selten glücklich zu machen. Die erstere Gemüthsart wird ungeschlacht, weil sie auf alle von einem Geschlechte geht, die zweite grüblerisch, in­ dem sie eigentlich auf keinen geht, sondern nur mit einem Gegenstände beschäftigt ist, den die verliebte Neigung sich in Gedanken schafft und mit allen edlen und schönen Eigen­ schaften ausziert, welche die Natur selten in einem Menschen vereinigt und noch seltner demjenigen zuführt, der sie schätzen kann und der vielleicht eines solchen Besitzes würdig sein würde. Daher entspringt der Aufschub und endlich die völlige Entsagung auf die eheliche Verbindung, oder, welches vielleicht eben so schlimm ist, eine grämische Reue nach einer getroffenen Wahl, welche die großen Erwartungen nicht erfüllt, die man sich ge­ macht hatte; denn nicht selten findet der äsopische Hahn eine Perle, welchem ein gemeines Gerstenkorn besser würde ge­ ziemt haben. Wir können hiebei überhaupt bemerken, daß, so reizend auch die Eindrücke des zärtlichen Gefühls sein mögen, man doch Ursache habe in der Berfeinigung desselben behutsam zu sein, roofem wir uns nicht durch übergroße Reizbarkeit nur viel Unmuth und eine Quelle von Übel erllügeln wollen. Ich möchte edleren Seelen wohl vorschlagen, das Gefühl in Ansehung der Eigenschaften, die ihnen selbst zukommen, oder der Handlungen, die sie selber thun, so sehr zu verfeineren, als sie können, dagegen in Ansehung dessen, was sie genießen, oder von anbetn erwarten, den Geschmack in seiner Einfalt zu erhalten: wenn ich nur einsähe, wie dieses zu leisten möglich sei. In dem Falle aber, daß es anginge, würden sie andere glücklich machen und auch selbst glücklich sein. Es ist niemals aus den Augen zu

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lassen: daß, in welcher Art es auch sei, man keine sehr hohe Ansprüche auf die Glückseligkeiten des Lebens und die Voll­ kommenheit der Menschen machen müsse; denn derjenige, welcher jederzeit nur etwas Mittelmäßiges erwartet, hat den Vortheil, daß der Erfolg selten seine Hoffnung widerlegt, da­ gegen bisweilen ihn auch wohl unvermuthete Vollkommen­ heiten überraschen. Allen diesen Reizen droht endlich das Alter, der große. Verwüster der Schönheit, und es müssen, wenn es nach der natürlichen Ordnung gehen soll, allmählig die erhabenen und edlen Eigenschaften die Stelle der schönen einnehmen, um eine Person, so wie sie nachläßt liebenswürdig zu sein, immer einer größeren Achtung werth zu machen. Meiner Meinung nach sollte in der schönen Einfalt, die durch ein verfeinertes Gefühl an allem, was reizend und edel ist, erhoben worden, die ganze Vollkommenheit des schönen Geschlechts in der Blüthe der Jahre bestehen. Allmählig, so wie die Ansprüche auf Reizungen nachlassen, könnte das Lesen der Bücher und die Erweiterung der Einsicht unvermerkt die erledigte Stelle der Grazien durch die Musen ersetzen, und der Ehemann sollte der erste Lehrmeister sein. Gleichwohl wenn selbst die allem Frauenzimmer so schreckliche Epoche des Altwerdens heran­ kommt, so gehört es doch auch alsdann noch immer zum schönen Geschlecht, und es verunziert sich selbst, wenn es in einer Art von Verzweiflung diesen Charakter länger zu erhalten sich einer mürrischen und grämischen Laune überläßt. Eine bejahrte Person, welche mit einem sittsamen und freundlichen Wesen der Gesellschaft beiwohnt, aus eine muntere und vernünftige Art gesprächig ist, die Vergnügen der Jugend, darin sie selbst nicht Antheil nimmt, mit Anstand begünstigt und, indem sie für alles sorgt, Zufriedenheit und Wohlgefallen an der Freude, die um sie vorgeht, verräth, ist noch immer eine feinere Person, als ein Mann in gleichem Alter und vielleicht

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noch liebenswürdiger als ein Mädchen, wiewohl in einem anderen Verstände. Zwar möchte die platonische Liebe wohl etwas zu mystisch sein, welche ein alter Philosoph vorgab, wenn er von dem Gegenstände seiner Neigung sagte: Die Grazien residiren in ihren Runzeln, und meine Seele scheint auf meinen Lippen zu schweben, wenn ich ihren welken Mund küsse; allein dergleichen Ansprüche müssen alsdann auch aufgegeben werden. Ein alter Mann, der verliebt thut, ist ein Geck, und die ähnliche Anmaßungen des andern Geschlechts sind alsdann ekelhaft. An der Natur liegt es niemals, wenn wir nicht mit einem guten Anstande erscheinen, sondern daran, daß man sie verkehren will. Damit ich meinen Text nicht aus den Augen verliere, so will ich noch einige Betrachtungen über den Einfluß anstellen, den ein Geschlecht aufs andere haben kann, dessen Gefühl zu verschönern oder zu veredlen. Das Frauenzimmer hat ein vor­ zügliches Gefühl für das S ch ö n e, so fern esihnenselbst zukommt, aber für das Edle, in so weit' es am m ä n n lichen Geschlechte angetroffen wird. Der Mann da­ gegen hat ein entschiedenes Gefühl für das Edle, was zu seinen Eigenschaften gehört, für das Schöne aber, in so fern es an dem Frauenzimmer anzutreffen ist. Da­ raus muß folgen, daß die Zwecke der Natur darauf gehen, den Mann durch die Geschlechterneigung noch mehr zu v e r edlen und das Frauenzimmer durch eben dieselbe noch mehr zu v e r s ch ö n e r n. Ein Frauenzimmer ist darüber wenig verlegen, daß sie gewisse hohe Einsichten nicht besitzt, daß sie furchtsam und zu wichtigen Geschäften nicht auferlegt ist rc. rc., sie ist schön und nimmt ein, und das ist genug. Dagegen for­ dert sie alle diese Eigenschaften am Manne, und die Erhaben­ heit ihrer Seele zeigt sich nur darin, daß sie diese edle Eigen­ schaften zu schätzen weiß, so fern sie bei ihm anzutreffen sind.

106 Beobachtungen übn das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Wie würde es sonst wohl möglich sein, daß so viel männliche Fratzengesichter, ob sie gleich Verdienste besitzen mögen, so artige und seine Frauen bekommen könnten! Dagegen ist der Mann viel delicater in Ansehung der schönen Reize des Frauenzimmers. Er ist durch die seine Gestalt desselben, die muntere Naivetät und die reizende Freundlichkeit genugsam schadlos gehalten wegen des Mangels von Büchergelehrsam­ keit und wegen anderer Mängel, die er durch seine eigene Talente ersetzen muß. Eitelkeit und Moden können wohl diesen natürlichen Trieben eine salsche Richtung geben und aus man­ cher Mannsperson einen süßenHerren, aus dem Frauen­ zimmer aber eine Pedantin oder Amazone machen, allein die Natur sucht doch jederzeit zu ihrer Ordnung zurück­ zuführen. Man kann daraus urtheilen, welche mächtige Ein­ flüsse die Geschlechterneigung vornehmlich auf das männliche Geschlecht haben könnte, um es zu veredle», wenn anstatt vieler trockenen Unterweisungen das moralische Gefühl des Frauenzimmers zeitig entwickelt würde, um dasjenige gehörig zu empfinden, was zu der Würde und den erhabenen Eigen­ schaften des anderen Geschlechts gehört, und dadurch vor­ bereitet würde, den läppischen Zieraffen mit Verachtung an­ zusehen und sich keinen anbetn Eigenschaften als den Verdien­ sten zu ergeben. Es ist auch gewiß, daß die Gewalt ihrer Reize dadurch überhaupt gewinnen würde; denn es zeigt sich, daß die Bezauberung derselben mehrentheils nur auf edlere Seelen wirke, die andere sind nicht fein genug, sie zu empfinden. Eben so sagte der Dichter S i m o n i d e s, als man ihm riech vor den T h e s s a l i e r n seine schöne Gesänge hören zu lassen: Diese Kerle sind zu dummdazu, als daß sie von einem solchen Manne, wie ich bin, könn­ ten betrogen werden. Man hat es sonst schon als eine Wirkung des Umganges mit dem schönen Geschlecht- an­ gesehen, daß die männliche Sitten sanfter, ihr Betragen ar-

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tiger und geschliffener und ihr Anstand zierlicher geworden; allein dieses ist nur ein Bortheil in der Nebensache.*) Es liegt am meisten daran, daß der Mann als Mann vollkommner werde und die Frau als ein Weib, d. i. daß die Triebfedem der Geschlechterneigung dem Winke der Natur gemäß wirken, den einen noch mehr zu veredlen und die Eigenschaften der andren zu verschönern. Wenn alles aufs Äußerste kommt, so wird der Mann, dreist auf seine Verdienste, sagen können: Wenn ihr mich gleich nicht liebt, so will ich euch zwingen, mich hochzuachten, und das Frauen­ zimmer, sicher der Macht chrer Reize, wird antworten: Wenn ihr uns gleich nicht innerlich hochschätzet, so zwingen wir euch doch uns zu lieben. In Ermangelung solcher Gmndsätze sieht man Männer Weiblich­ keiten annehmen, um zu gefallen, und Frauenzimmer biswellen (wiewohl viel seltner) einen männlichen Anstand künstlen, um Hochachtung einzuflößen; was man aber wider den Dank der Natur macht, das macht man jederzeit sehr schlecht. In dem ehelichen Leben soll das vereinigte Paar gleichsam eine einzige moralische Person ausmachen, welche durch den Verstand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird. Tenn nicht allein daß man jenem mehr auf Erfahrung gegründete Einsicht, diesem aber mehr Freiheit und Richtigkeit in der Empfindung zutrauen kann, so ist eine Gemüthsart, je erhabener sie ist, auch um desto geneigter die größte Absicht der Bemühungen in der Zufriedenheit eines *) Dieser Vortheil selbst wird gar sehr gemindert durch die Beobach­ tung, welche man gemacht haben will, daß diejenige Mannspersonen, welche zu früh und zu häufig in solchen Gesellschaften eingeflochten sind, denen das Frauenzimmer den Ton giebt, gemeiniglich etwas läppisch werden und im männlichen Umgänge langweilig oder auch verächtlich sind, weil sie den Geschmack an einer Unterhaltung verloren haben, die zwar munter, aber doch auch von wirllichem Gehalt, zwar scherzhaft, aber auch durch ernsthafte Gespräche nützlich sein muß.

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geliebten Gegenstandes zu setzen, und andererseits je schöner sie ist, desto mehr sucht sie durch Gefälligkeit diese Bemühung zu erwiedern. Es ist also in einem solchem Verhältnisse ein Borzugsstreit läppisch und, wo er sich eräugnet, das sicherste Merkmal eines plumpen oder ungleich gepaarten Geschmackes. Wenn es dahin kommt, daß die Rede vom Rechte des Befehls­ habers ist, so ist die Sache schon äußerst verderbt; denn wo die ganze Verbindung eigentlich nur auf Neigung errichtet ist, da ist sie schon halb zerrissen, so bald sich das Sollen anfängt hören zu lassen. Die Anmaßung des Frauenzimmers in diesem harten Tone ist äußerst häßlich und des Mannes im höchsten Grade unedel und verächtlich. Indessen bringt es die weise Ordnung der Dinge so mit sich: daß alle diese Feinigkeiten und Zärt­ lichkeiten der Empfindung nur im Anfange ihre ganze Stärke haben, in der Folge aber durch Gemeinschaft und häus­ liche Angelegenheit allmählig stumpfer werden und dann in vertrauliche Liebe ausarten, wo endlich die große Kunst darin besteht, noch genügsame Reste von jenen zu erhalten, damit Gleichgültigkeit und Überdruß nicht den ganzen Werth des Vergnügens aufheben, um dessentwillen es einzig und allein verlohnt hat eine solche Verbindung einzugehen.

Vierter Abschnitt. Von den Nationalcharaktern,*) in so fern sie auf dem unterschiedlichen Gefühl des Erhabenen und Schönen beruhen. Unter den Völkerschaften unseres Welttheils sind meiner Meinung nach die Italiä ner und Franzosen die*) Meine Absicht ist gar nicht, die Charaktere der Völkerschaften aus­ führlich zu schildern, sondern ich entwerfe nur einige Züge, die das Gefühl des Erhabenen und Schönen an ihnen ausdrücken. Man kann leicht erachten, daß an dergleichen Zeichnung nur eine leidlicke Richtigkeit könne

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jenige, welche int Gefühl des Schönen, die Deutsche aber, Engländer und Spanier, die durch das Gefühl des E r h a b e n e n sich unter allen übrigen am meisten ausnehmen. Holland kann für dasjenige Land gehalten wer­ den, wo dieser feinere Geschmack ziemlich unmerklich wird. Das Schöne selbst ist entweder bezaubernd und rührend, oder lachend und reizend. Das erstere hat etwas von betn Erhabenen an sich, und das Gemüth in diesem Gefühl ist tiefsinnig und entzückt, in dem Gefühl der zweiten Art aber lächlend und fröhlich. Den Jtaliänern scheint die erstere, den Franzosen die zweite Art des schönen Gefühls vorzüglich angemessen zu sein. In dem Nationalcharaktere, der den Ausdruck des Er­ habenen an sich hat, ist dieses entweder das von der schreck­ haftem Art, das sich ein wenig zum Abenteuerlichen neigt, oder es ist ein Gefühl für das Edle, oder für das Prächtige. Ich glaube Gründe zu haben das Gefühl der ersteren Art dem Spanier, der zweiten dem Engländer und der dritten dem Deutschen beilegen zu können. Das Gefühl fürs Prächtige ist seiner Natur nach nicht original, so wie die übrigen Arten des Geschmacks, und obgleich ein Nachahmungsgeist mit jedem andem Gefühl kann verbunden sein, so ist er doch dem für das Schimmemd-Erhabene mehr eigen, denn es ist dieses eigent­ lich ein gemischtes Gefühl aus dem des Schönen und des Edlen, wo jedes, für sich betrachtet, kälter ist, und daher das Gemüth frei genug ist, bei der Verknüpfung desselben auf Beispiele verlangt werden, daß die Urbilder davon nur in dem großen Hausen derjenigen, die auf ein feineres Gefühl Anspruch machen, hervorstechen, und daß es keiner Nation an Gemüthsarten fehle, welche die vortrefflichste Eigenschaften von dieser Art vereinbaren. Um deswillen tonn der Tadel, der gelegentlich auf ein Volk fallen möchte, keinen beleidigen, wie er denn von solcher Natur ist, daß ein jeglicher ihn wie einen Ball auf seinen Nach­ bar schlagen kann. Ob diese Nationalunterschiede zufällig seien und von den Zeitläuften und der Regierungsart abhängen, oder mit einer gewissen Nothwendigkeit an das Klima gebunden seien, das untersuche ich hier nicht.

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zu merken, und auch deren Antrieb Vonnöthen hat. Der Deutsche wird demnach weniger Gefühl in Ansehung des Schönen haben als der Franzose und weniger von demjenigen, was auf das Erhabene geht, als der Engländer, aber in den Fällen, wo beides verbunden erscheinen soll, wird es seinem Gefühl mehr gemäß sein, wie er denn auch die Fehler glücklich vermeiden wird, in die eine ausschweifende Stärke einer jeden dieser Arten des Gefühls allein gerathen könnte. Ich berühre nur flüchtig die Mnste und die Wissenschaften, deren Wahl den Geschmack der Nationen bestätigen kann, welchen wir ihnen beigemessen haben. Das italiänische Genie hat sich vornehmlich in der Tonkunst, der Malerei, Bildhauer­ kunst und der Architektur hervorgethan. Alle diese schöne Künste finden einen gleich feinen Geschmack in Frankreich für sich, obgleich die Schönheit derselben hier weniger rührend ist. Der Geschmack in Ansehung der dichterischen oder redneri­ schen Vollkommenheit fällt in Frankreich mehr in das Schöne, in England mehr in das Erhabene. Die feine Scherze, das Lustspiel, die lachende Satire, das verliebte Tändeln und die leicht und natürlich fließende Schreibart sind dort original. In England dagegen Gedanken von tiefsinnigem Inhalt, das Trauerspiel, das epische Gedicht und überhaupt schweres Gold von Witze, welches unter französischem Hammer zu dünnen Blättchen von großer Oberfläche kann gedehnt wer­ den. In Deutschland schimmert der Witz noch sehr durch die Folie. Ehedem war er schreiend, durch Beispiele aber und den Verstand der Nation ist er zwar reizender und edler ge­ worden, aber jenes mit weniger Naivetät, dieses mit einem minder kühnen Schwünge, als in den erwähnten Völkerschaften. Der Geschmack der holländischen Nation an einer peinlichen Ordnung und einer Zierlichkeit, die in Bekümmerniß und Verlegenheit setzt, läßt auch wenig Gefühl in Ansehung der ungekünstelten und freien Bewegungen des Genies vermuthen.

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dessen Schönheit durch die ängstliche Verhütung der Fehler nur würde entstellt werden. Nichts kann allen Künsten und Mssenschaften mehr entgegen sein als ein abenteuerlicher Ge­ schmack, weil dieser die Natur verdreht, welche das Urbüd alles Schönen und Edlen ist. Daher hat die spanische Nation auch wenig Gefühl für die schönen Künste und Mssenschaften an sich gezeigt. Die Gemüthscharaktere der Böllerschaften sind am kennt­ lichsten bei demjenigen, was an ihnen moralisch ist; um deswillen wollen wir noch das verschiedene Gefühl derselben in Ansehung des Erhabenen und Schönen aus diesem Gesichtspunkte in Erwägung ziehen.*) Der Spanier ist ernsthaft, verschwiegen und wahr­ haft. Es giebt wenig redlichere Kaufleute in der Welt als die spanischen. Er hat eine swlze Seele und mehr Gefühl für große als für schöne Handlungen. Da in seiner Mschung wenig von dem gütigen und sanften Wohlwollen anzutreffen ist, so ist er öfters hart und auch wohl grausam. Das Auto da F e erhält sich nicht sowohl durch den Aberglauben, als durch die abenteuerliche Neigung der Nation, welche durch einen ehrwürdig-schrecklichen Aufzug gerührt wird, worin es den mit Teufelsgestalten bemalten S a n B e n i t o den Flammen, die eine wüthende Andacht entzündet hat, überliefern sieht. Man kann nicht sagen, der Spanier sei hochmüthiger, oder verliebter als jemand aus einem andem Volke, allein er ist beides auf eine abenteuerliche Art, die seltsam und ungewöhn­ lich ist. Den Pflug stehen lassen und mit einem langen Degen unb Mantel so lange auf dem Ackerfelde spazieren, bis der *) Es ist kaum nöthig, daß ich hier meine vorige Entschuldigung wiederhole. In jedem Bolle enthält der feinste Theil rühmliche Charaktere von aller Art, und wen ein oder anderer Tadel treffen sollte, der wird, wenn er fein genug ist, seinen Bortheil verstehen, der darauf ankommt, daß er jeden andem seinem Schicksale überläßt, sich selbst aber ausnimmt.

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vorüber reisende Fremde vorbei ist, oder in einem Stiergefechte, wo die Schönen des Landes einmal unverschleiert gesehen werden, seine Beherrscherin durch einen besonderen Gmß an­ kündigen und dann ihr zu Ehren sich in einen gefährlichen Kampf mit einem wilden Thiere wagen, sind ungewöhnliche unb seltsame Handlungen, die von dem Natürlichen weit ab­ weichen. Der Jtaliäner scheint ein gemischtes Gefühl zu haben von dem eines Spaniers und dem eines Franzosen; mehr Gefühl für das Schöne als der erstere und mehr für das Erhabene als der letztere. Auf diese Art können, wie ich meine, die übrige Züge seines moralischen Charakters erklärt werden. Der Franzose hat ein herrschendes Gefühl für das moralisch Schöne. Er ist artig, höflich und gefällig. Er wird sehr geschwinde vertraulich, ist scherzhaft und frei im Um­ gänge, und der Ausdruck ein M a n n oder eine D a m e v o n gutem Tone hat nur eine verständliche Bedeutung für den, der das artige Gefühl eines Franzosen erworben hat. Selbst seine erhabene Empfindungen, deren er nicht wenige hat, sind dem Gefühle des Schönen untergeordnet und be­ kommen nur ihre Stärke durch die Zusammenstimmung mit dem letzteren. Er ist sehr gerne witzig und wird einem Ein­ falle ohne Bedenken etwas von der Wahrheit aufopfern. Da­ gegen, wo man nicht witzig sein kann,*) zeigt er eben so wohl gründliche Einsicht, als jemand aus irgend einem andern Volke z. E. in der Mathematik und in den übrigen trockenen *) In der Metaphysik, der Moral und den Lehren der Religion kann man bei den Schriften dieser Nation nicht behutsam genug fein. Es herrscht darin gemeiniglich viel schönes Blendwerk, welches in einer kalten Unter­ suchung die Probe nicht hält. Der Franzose liebt das Kühne in seinen Aussprüchen; allein um zur Wahrheit zu gelangen, muß man nicht kühn, sondern behutsam sein. In der Geschichte hat er gerne Anekdoten, denen nichts weiter fehlt, als daß zu wünschen ist, daß sie nur wahr wären.

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oder tiefsinnigen Künsten und Wissenschaften. Ein Bon M o t hat bei ihm nicht den flüchtigen Werth als anderwärts, es wird begierig verbreitet und in Büchern aufbehalten, wie die wichtigste Begebenheit. Er ist ein ruhiger Bürger und rächt sich wegen der Bedrückungen der Generalpächter durch Satiren, oder durch Parlaments-Remonstrationen, welche, nachdem sie ihrer Absicht gemäß den Vätern des Volks ein schönes patriotisches Ansehen gegeben haben, nichts weiter thun, als daß sie durch eine rühmliche Verweisung gekrönt und in sinnreichen Lobgedichten besungen werden. Der Ge­ genstand, auf welchen sich die Verdienste und Nationalfähig­ keiten dieses Volks am meisten beziehen, ist das Frauen­ zimmer.*) Nicht als wenn es hier mehr als anderwärts geliebt oder geschätzt würde, sondern weil es die beste Veran­ lassung giebt die beliebteste Talente des Witzes, der Artigkeit *) Das Frauenzimmer giebt in Frankreich allen Gesellschaften und allem Umgänge den Ton. Nun ist wohl nicht zu lüugnen, daß die Gesell­ schaften ohne das schöne Geschlecht ziemlich schmacklos und langweilig sind; allein wenn die Dame darin den schönen Ton angiebt, so sollte der Mann seinerseits den edlen angeben. Widrigenfalls wird der Umgang eben so wohl langweilig, aber aus einem entgegengesetzten Grunde: weil nichts so sehr verekelt als lauter Süßigkeit. Nach dem französischen Geschmacke heißt es nicht: Ist der Herr zu Hause?, sondern: Ist Madame zu Hause? Madame ist vor der Toilette, Madame hat Vapeurs (eine Art schöner Grillen); kurz, mit Madame und von Madame beschäftigen sich alle Unterredungen und alle Lustbarkeiten. Indessen ist das Frauenzimmer dadurch gar nicht mehr geehrt. Ein Mensch, welcher tändelt, ist jederzeit ohne Gefühl sowohl der wahren Achtung als auch der zärtlichen Liebe. Ich möchte wohl, um wer weiß wie viel, dasjenige nicht gesagt haben, was Rousseau so verwegen behauptet: daß ein Frauen­ zimmer niemals etwas mehr als ein großes Kind werde. Mein der scharfsichtige Schweizer schrieb dieses in Frankreich, und vermuthlich empfand er es als ein so großer Vertheidiger des schönen Geschlechts mit Entrüstung, daß man demselben nicht mit mehr wirklicher Achtung daselbst begegnet. KantS populäre Schriften. 8

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und der guten Manieren in ihrem Lichte zu zeigen: übrigens liebt eine eitle Person eines jeden Geschlechts jederzeit nur sich selbst; die andere ist blos ihr Spielwerk. Da es den Franzosen an edlen Eigenschaften gar nicht gebricht, nur daß diese durch die Empfindung des Schönen allein können belebt werden, so würde das schöne Geschlecht hier einen mächtigern Ein­ fluß haben können, die edelste Handlungen des männlichen zu erwecken und rege zu machen, als irgend sonst in der Welt, wenn man bedacht wäre, diese Richtung des Nationalgeistes ein wenig zu begünstigen. Es ist Schade, daß die Lilien nicht spinnen. Der Fehler, woran dieser Nationalcharakter am nächsten gränzt, ist das Läppische, oder mit einem höflicheren Ausdrucke das Leichtsinnige. Wichtige Dinge werden als Spaße behandelt, und Kleinigkeiten dienen zur emsthaftesten Be­ schäftigung. Im Mer singt der Franzose alsdann noch lustige Lieder und ist, so viel er kann, auch galant gegen das Frauen­ zimmer. Bei diesen Anmerkungen habe ich große Gewährs­ männer aus eben derselben Bölkerschast aus meiner Seite und ziehe mich hinter einen Montesquieu und D'Alembert, um wider jeden besorglichen Unwillen sicher zu sein. Der E n g l ä n d e r ist im Anfange einer jeden Bekannt­ schaft kaltsinnig und gegen einen Fremden gleichgültig. Er hat wenig Neigung zu kleinen Gefälligkeiten; dagegen wird er, so bald er ein Freund ist, zu großen Dienstleistungen auf­ erlegt. Er bemüht sich wenig im Umgänge witzig zu sein, oder einen artigen Anstand zu zeigen, dagegen ist er verständig und gesetzt. Er ist ein schlechter Nachahmer, frägt nicht viel darnach, was andere urtheilen, und folgt lediglich seinem eigenen Geschmacke. Er ist in Verhältniß auf das Frauen­ zimmer nicht von französischer Artigkeit, aber bezeigt gegen dasselbe weit mehr Achtung und treibt diese vielleicht zu weit, indem er im Ehestände seiner Frauen gemeiniglich ein un-

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umschränktes Ansehen einräumt. Er ist standhaft, bisweilen bis zur Hartnäckigkeit, kühn und entschlossen, oft bis zur Ver­ messenheit und handelt nach Grundsätzen gemeiniglich bis zum Eigensinne. Er wird leichtlich ein Sonderling, nicht aus Eitel­ keit, sondern weil er sich wenig um andre bekümmert und seinem Geschmacke aus Gefälligkeit oder Nachahmung nicht leichtlich Gewalt thut; um deswillen wird er selten so sehr geliebt als der Franzose, aber, wenn er gekannt ist, gemeinig­ lich mehr hochgeachtet. Der D e u t s ch e hat ein gemischtes Gefühl aus dem eines Engländers und dem eines Franzosen, scheint aber dem ersteren am nächsten zu kommen, und die größere Ähnlichkeit mit dem letzteren ist nur gekünstelt und nachgeahmt. Er hat eine glück­ liche Mischung in dem Gefühle sowohl des Erhabenen und des Schönen; und wenn er in dem ersteren es nicht einem Eng­ länder, im zweiten aber dem Franzosen nicht gleich thut, so übertrifft er sie beide, in so fern er sie verbindet. Er zeigt mehr Gefälligkeit im Umgänge als der erstere, und wenn er gleich nicht so viel angenehme Lebhaftigkeit und Witz in die Gesellschaft bringt, als der Franzose, so äußert er doch darin mehr Bescheidenheit und Verstand. Er ist, so wie in aüer Art des Geschmacks, also auch in der Liebe ziemlich methodisch, und indem er das Schöne mit dem Edlen verbindet, so ist er in der Empfindung beider kalt genug, um seinen Kopf mit den Überlegungen des Anstandes, der Pracht und des Auf­ sehens zu beschäftigen. Daher sind Familie, Titel und Rang bei ihm sowohl im bürgerlichen Verhältnisse als in der Liebe Sachen von großer Bedeutung. Er frägt weit mehr als die vorige darnach, was dieLeutevonihmurtheilen möchten, und wo etwas in seinem Charaktere ist, das den Wunsch einer Haupwerbesserung rege machen könnte, so ist es diese Schwachheit, nach welcher er sich nicht erkühnt original zu sein, ob er gleich dazu alle Talente hat, und daß er sich zu 8«

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viel mit der Meinung anderer einläßt, welches den sittlichen Eigenschaften alle Haltung nimmt, indem es sie wetterwendisch und falsch gekünstelt macht. Der H o I l ä n d e r ist von einer ordentlichen und emsigen Gemüthsart, und indem er lediglich aus das Mtzliche sieht, so hat er wenig Gefühl für dasjenige, was im feineren Verstände schön oder erhaben ist. Ein großer Mann bedeutet bei ihm eben so viel als ein reicher Mann, unter dem Freunde versteht er seinen Correspondenten, und ein Besuch ist ihm sehr lang­ weilig, der ihm nichts einbringt. Er macht den Contrast sowohl gegen den Franzosen als den Engländer und ist gewissermaßen ein sehr phlegmatisirter Deutsche. Wenn wir den Versuch dieser Gedanken in irgend einem Falle anwenden, um z. E. das Gefühl der Ehre zu erwägen, so zeigen sich folgende Nationalunterschiede. Die Empfindung für die Ehre ist am Franzosen E i t e l k e i t, an dem Spanier Hochmuth, an dem Engländer Stolz, an dem Deut­ schen Hoffart und an dem Holländer Aufgeblasen­ heit. Diese Ausdrücke scheinen beim ersten Anblicke einerlei zu bedeuten, allein sie bemerken nach dem Reichthum unserer deutschen Sprache sehr kenntliche Unterschiede. Die Eitel­ keit buhlt um Beifall, ist flatterhaft und veränderlich, ihr äußeres Betragen aber ist höflich. Der Hochmüthige ist voll von fälschlich eingebildeten großen Vorzügen und be­ wirbt sich nicht viel um den Beifall anderer, seine Aufführung ist steif und hochtrabend. Der Stolz ist eigentlich nur ein größeres Bewußtsein seines eigenen Werthes, der öfters sehr richtig sein kann (um deswillen er auch bisweilen ein edler Stolz heißt; niemals aber kann ich jemanden einen edlen Hochmuth beilegen, weil dieser jederzeit eine unrichtige und übertriebene Selbstschätzung anzeigt), das Betragen des Stolzen gegen andere ist gleichgültig und kaltsinnig. Der Hoffärtige ist ein Stolzer, der zugleich eitel

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ist.*) Der Beifall aber, den er bei anbetn sucht, besteht in Ehrenbezeugungen. Daher schimmert er gerne durch Titel, Ahnenregister und Gepränge. Der Deutsche ist vornehmlich von dieser Schwachheit angesteckt. Die Wörter: Gnädig, Hoch­ geneigt, Hoch- und Wohlgeb. und dergleichen Bombast mehr, machen seine Sprache steif und ungewandt und verhindern gar sehr die schöne Einfalt, welche andere Völker chrer Schreib­ art geben können. Das Bettagen eines Hoffärtigen in dem Umgänge ist Ceremonie. Der Aufgeblasene ist ein Hochmüthiger, welcher deutliche Merkmale der Verach­ tung anderer in seinem Bettagen äußert. In der Auffühmng ist er g r o b. Diese elende Eigenschaft entfernt sich am wei­ testen vom feineren Geschmacke, weil sie offenbar dumm ist; denn das ist gewiß nicht das Mittel, dem Gefühl für Ehre ein Gnüge zu leisten, daß man durch offenbare Verachtung alles um sich zum Hasse und zur beißenden Spötterei auffordert. In der Liebe haben der Deutsche und der Engländer einen ziemlich guten Magen, etwas fein von Empfindung, mehr aber von gesundem und derbem Geschmacke. Der Jtaliäner ist in diesem Punkte grüblerisch, der Spanier p h a n t a st i s ch, der Franzose vernascht. Die Religion unseres Welttheils ist nicht die Sache eines eigenwilligen Geschmacks, sondern von ehrwürdigerem Ur­ sprünge. Daher können auch nur die Ausschweifungen in derselben und das, was darin den Menschen eigenthümlich angehört, Zeichen von den verschiedenen Nattonaleigenschaften abgeben. Ich bringe diese Ausschweifungen unter folgende Hauptbegriffe: Leichtgläubigkeit (Credulität), A b e r *) Es ist nicht nöthig, daß ein Hoffärtiger zugleich hochmüthig sei, d. i. sich eine übertriebene, falsche Einbildung von seinen Borzügen mache, sondem er kann vielleicht sich nicht höher schätzen, als er werth ist, er hat aber nur einen falschen Geschmack, diesen seinen Werth äußerlich geltend zu machen.

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glaube (Superstition), Schwärmerei (Fanaticism) und Gleichgültigkeit (Jndifserentism). Leicht­ gläubig ist mehrentheils der unwissende Theil eine jeden Nation, ob er gleich kein merkliches feineres Gefühl hat. Die Überredung kommt lediglich auf das Hörensagen und das scheinbare Ansehen an, ohne daß einige Art des feinern Ge­ fühls dazu die Triebfeder enthielte. Die Beispiele ganzer Völker von dieser Art muß man in Norden suchen. Der Leicht­ gläubige, wenn er von abenteuerlichem Geschmack ist, wird abergläubisch. Dieser Geschmack ist sogar an sich selbst ein Grund etwas leichter zu glauben *), und von zwei Men­ schen, deren der eine von diesem Gefühl angesteckt, der andere aber von kalter und gemäßigter Gemüthsart ist, wird der erstere, wenn er gleich wirklich mehr Verstand hat, dennoch durch seine herrschende Neigung eher verleitet werden etwas Unnatür­ liches zu glauben, als der andere, welchen nicht seine Einsicht, sondern sein gemeines und phlegmatisches Gefühl vor dieser Ausschweifung bewahrt. Der Abergläubische in der Religion stellt zwischen sich und dem höchsten Gegenstände der Ver­ ehrung gerne gewisse mächtige und erstaunliche Menschen, Riesen so zu reden der Heiligkeit, denen die Natur gehorcht und deren beschwörende Stimme die eiserne Thore des Tar­ tarus auf- oderzuschließt, die, indem sie mit ihrem Haupte den Himmel berühren, ihren Fuß noch auf der niederen Erde stehen haben. Die Unterweisung der gesunden Vernunft wird dem*) Man hat sonst bemerkt, daß die Engländer als ein so kluges Volk gleichwohl leichtlich durch eine dreiste Ankündigung einer wunderlichen und ungereimten Sache können berückt werden sie ansänglich zu glaubenwovon man viele Beispiele hat. Allein eine kühne Gemüthsart, vorbe­ reitet durch verschiedene Erfahrungen, in welchen manche seltsame Dinge gleichwohl wahr befunden worden, bricht geschwinde durch die kleine Be­ denklichkeiten, von denen ein schwacher und mißtrauischer Kops bald aus­ gehalten wird und so ohne sein Berdienst bisweilen vor dem Irrthum ver­ wahrt wird.

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nach in Spanien große Hindernisse zu überwinden haben, nicht darum weil sie die Unwissenheit daselbst zu vertreiben hat, sondern weil ein seltsamer Geschmack ihr entgegensteht, welchem das Natürliche gemein ist, und der niemals glaubt in einer erhabenen Empfindung zu sein, wenn sein Gegenstand nicht abenteuerlich ist. Die S ch w ä r m e r e i ist so zu sagen eine andächtige Vermessenheit und wird durch einen gewissen Swlz und ein gar zu großes Zutrauen zu sich selbst veranlaßt, um den himmlischen Naturen näher zu treten und sich durch einen erstaunlichen Flug über die gewöhnliche und vorgeschrie­ bene Ordnung zu erheben. Der Schwärmer redet nur von unmittelbarer Eingebung und vom beschaulichen Leben, in­ dessen daß der Abergläubische vor den Bildern großer wunderthätiger Heiligen Gelübde thut und sein Zutrauen auf die eingebildete und unnachahmliche Vorzüge anderer Personen von seiner eigenen Natur setzt. Selbst die Ausschweifungen führen, wie wir oben bemerkt haben, Zeichen des National­ gefühls bei sich, und so ist der Fanaticismus *) wenigstens in den vorigen Zeiten am meisten in Deutschland und England anzutreffen gewesen und ist gleichsam ein unnatürlicher Aus­ wuchs des edlen Gefühls, welches zu dem Charakter dieser Völker gehört, und überhaupt bei weitem nicht so schädlich, als die abergläubische Neigung, wenn er gleich im Anfange ungestüm ist, weil die Erhitzung eines schwärmerischen Geistes allmählig verkühlt und seiner Natur nach endlich zur ordent­ lichen Mäßigung gelangen muß, anstatt daß der Aberglaube *) Der Fanaticism muß vom Enthusiasmus jederzeit unter» schieden werden. Jener glaubt eine unmittelbare und außerordentliche Gemeinschajt mit einer höheren Natur zu fühlen, dieser bedeutet den Zu­ stand des Gemüths, da dasselbe durch irgend einen Grundsatz über den geziemenden Grad erhitzt worden, es sei nun durch die Maxime der patrio­ tischen Tugend, oder der Freundschaft, oder der Religion, ohne daß hiebei die Einbildung einer übernatürlichen Gemeinschaft etwas zu schaffen hat.

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sich in einer ruhigen und leidenden Gemüthsbeschaffenheit un­ vermerkt tiefer einwurzelt und dem gefesselten Menschen das Zutrauen gänzlich benimmt, sich von einem schädlichen Wahne jemals zu befreien. Endlich ist ein Eiteler und Leichtsinniger jederzeit ohne stärkeres Gefühl für das Erhabene, und seine Religion ist ohne Rührung, mehrenteils nur eine Sache der Mode, welche er mit aller Artigkeit begeht und kalt bleibt. Dieses ist der praktische Jndifferentismus, zu wel­ chem der französische Nationalgeist am meisten geneigt zu sein scheint, wovon bis zur frevelhaften Spötterei nur ein Schritt ist und der im Grunde, wenn auf den inneren Werth gesehen wird, von einer gänzlichen Absagung wenig voraus hat. Gehen wir mit einem flüchtigen Blicke noch die andere Welttheile durch, so treffen wir den A r a b e r als den edelsten Menschen im Oriente an, doch von einem Gefühl, welches sehr in das Abenteuerliche ausartet. Er ist gastfrei, groß­ müthig und wahrhaft; allein seine Erzählung und Geschichte und überhaupt seine Empfindung ist jederzeit mit etwas Wunderbarem durchflochten. Seine erhitzte Einbildungskraft stellt ihm die Sachen in unnatürlichen und verzogenen Bildern dar, und selbst die Ausbreitung seiner Religion war ein großes Abenteuer. Wenn die Araber gleichsam die Spanier des Orients sind, so sind die Perser die Franzosen von Asien. Sie sind gute Dichter, höflich und von ziemlich feinem Geschmacke. Sie sind nicht so strenge Befolger des Islam und erlauben ihrer zur Lustigkeit aufgelegten Gemüthsart eine ziemlich milde Auslegung des Koran. Die Japoneser könnten gleichsam als die Engländer dieses Welttheils angesehen wer­ den, aber kaum in einer andern Eigenschaft, als ihrer Stand­ haftigkeit, die bis zur äußersten Halsstarrigkeit ausartet, ihrer Tapferkeit und Verachtung des Todes. Übrigens zeigen sie wenig Merkmale eines feineren Gefühls an sich. Tie I n -dianer haben einen herrschenden Geschmack von Fratzen

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von derjenigen Art, die ins Abenteuerliche einschlägt. Ihre Religion besteht aus Fratzen. Götzenbilder von ungeheurer Gestalt, der unschätzbare Zahn des mächtigen Assen Hanuman, die unnatürliche Büßungen der Fakirs (heidnischer Bettel­ mönche) u. s. w. sind in diesem Geschmacke. Die willkürliche Aufopferung der Weiber in eben demselben Scheiterhaufen, der die Leiche ihres Mannes verzehrt, ist ein scheusliches Aben­ teuer. Welche läppische Fratzen enthalten nicht die weitschich­ tige und ausstudirte Complimente der Chineser; selbst ihre Gemälde sind fratzenhaft und stellen wunderliche und un­ natürliche Gestalten vor, dergleichen nirgend in der Welt an­ zutreffen sind. Sie haben auch ehrwürdige Fratzen, dämm weil sie von uraltem Gebrauch sind,*) und keine Völkerschaft in der Welt hat deren mehr als diese. Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Ge­ fühl, welches über das Läppische stiege. Herr H u m e fordert jedermann aus, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den hundert­ tausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländem anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben. So wesentlich ist der Unterschied zwischen diesen zwei Menschengeschlechtern, und er scheint eben so groß in Ansehung der Gemüthsfähig*) Man begeht noch in Peking die Ceremonie, bei einer Sonnenoder Mondfinsterniß durch großes Geräusch den Drachen zu verjagen, der diese Himmelskörper verschlingen will, und behält einen elenden Gebrauch aus den ältesten Zeiten der Unwissenheit bei, ob man gleich jetzt besser belehrt ist.

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leiten, als bei Farbe nach zu sein. Die unter ihnen weit aus­ gebreitete Religion der Fetische ist vielleicht eine Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt, als es nur immer von bet menschlichen Natur möglich zu sein scheint. Eine Bogelfebet, ein Kuhhorn, eine Muschel, ober jede andere gemeine Sache, so bald sie durch einige Worte eingeweiht worden, ist ein Gegenstand der Verehrung und der Anrufung in Eidschwüren. Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart und so plauder­ hast, daß sie mit Prügeln müssen aus einander gejagt werden. Unter allen SB i 1 b e n ist leine Völkerschaft, welche einen so erhabenen Gemüthscharakter an sich zeigte, als die von Nordamerika. Sie haben ein starkes Gefühl für Ehre, und indem sie, um sie zu erjagen, wilde Abenteuer Hunderte von Meilen weit aufsuchen, so sind sie noch äußerst aufmerk­ sam den mindesten Abbruch derselben zu verhüten, wenn ihr eben so harter Feind, nachdem er sie ergriffen hat, durch grau­ same Qualen feige Seufzer von ihnen zu erzwingen sucht. Der canadische Wilde ist übrigens wahrhaft und redlich. Die Freundschaft, die er errichtet, ist eben so abenteuerlich und enthusiastisch, als was jemals aus den ältesten und fabelhaften Zeiten davon gemeldet worden. Er ist äußerst stolz, empfindet den ganzen Werth der Freiheit und erduldet selbst in der Erziehung keine Begegnung, welche ihm eine niedrige Unter­ werfung empfinden ließe. L Y k u r g u s hat wahrscheinlicher Weise eben dergleichen Wilden Gesetze gegeben, und wenn ein Gesetzgeber unter den sechs Nationen ausstände, so würde man eine spartanische Republik sich in der neuen Welt erheben sehen; wie denn die Unternehmung der Argonauten von den Kriegeszügen dieser Indianer wenig unterschieden ist, und Jason vor dem Attakakullakulla nichts als die Ehre eines griechischen Namens voraus hat. Alle diese Wilde haben wenig Gefühl für das Schöne im moralischen Verstände, und die großmüthige Vergebung einer Beleidigung, die zu-

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gleich edel und schön ist, ist als Tugend unter den Wilden völlig unbekannt, sondern wird wie eine elende Feigheit ver­ achtet. Tapferkeit ist das größte Verdienst des Wilden und Rache seine süßeste Wollust. Die übrigen Eingeborne dieses Welttheils zeigen wenig Spuren eines Gemüthscharakters, welcher zu feineren Empfindungen aufgelegt wäre, und eine außerordentliche Fühllosigkeit macht das Merkmal dieser Men­ schengattungen aus. Bettachten wir das Geschlechter-Berhältniß in diesen Welt­ theilen, so finden wir, daß der E u r o p ä e r einzig und allein das Geheimniß gefunden hat, den sinnlichen Reiz einer mäch­ tigen Neigung mit so viel Blumen zu schmücken und mit so viel Moralischem zu durchflechten, daß er die Annehmlichkeiten desselben nicht allein überaus erhöht, sondern auch sehr an­ ständig gemacht hat. Der Bewohner des Orients ist in diesem Punkte von sehr falschem Geschmacke. Indem er keinen Begriff hat von dem sittlich Schönen, das mit diesem Triebe kann verbunden werden, so büßt er auch sogar den Werth des sinnlichen Vergnügens ein, und sein Haram ist ihm eine beständige Quelle von Unruhe. Er gerät auf allerlei verliebte Fratzen, worunter das eingebildete Kleinod eins der vornehm­ sten ist, dessen er sich vor allem zu versichern sucht, dessen ganzer Werth nur darin besteht, daß man es zerbricht, und von welchem man überhaupt in unserem Welttheil viel hämischen Zweifel hegt, und zu dessen Erhaltung er sich sehr unbilliger und öfters ekelhafter Mittel bedient. Daher ist die Frauens­ person daselbst jederzeit im Gefängnisse, sie mag nun ein Mädchen sein, oder einen barbarischen, untüchtigen und jeder­ zeit argwöhnischen Mann haben. In den Ländern der Schwarzen was kann man da Besseres erwarten, als was durchgängig daselbst angetroffen wird, nämlich das weibliche Geschlecht in der tiefsten Sllaverei? Ein Verzagter ist allemal ein strenger Herr über den Schwächeren, so wie auch bei uns

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derjenige Mann jederzeit ein Tyrann in der Küche ist, welcher außer seinem Hause sich kaum erkühnt jemanden unter die Augen zu treten. Der Pater Labat meldet zwar, daß ein Negerzimmermann, dem er das hochmüthige Verfahren gegen seine Weiber vorgeworfen, geantwortet habe: Ihr Weiße seid rechte Narren, denn zuerst räumet ihr euren Weibern so viel ein, und hernach klagt ihr, wenn sie euch den Kopf toll machen; es ist auch, als wenn hierin so etwas wäre, was vielleicht verdiente in Überlegung gezogen zu werden, allein kurzum, dieser Kerl war vom Kops bis auf die Füße ganz schwarz, ein deutlicher Beweis, daß das, was er sagte, dumm war. Unter allen Wilden sind keine, bei denen das weibliche Geschlecht in größerem wirklichen Ansehen stände, als die von Canada. Vielleicht übertreffen sie darin sogar unseren gesitteten Welt­ theil. Nicht als wenn man den Frauen daselbst demüthige Aufwartungen machte; das sind nur Complimente. Nein sie haben wirklich zu befehlen. Sie versammlen sich und be­ rathschlagen über die wichtigste Anordnungen der Nation, über Krieg und Frieden. Sie schicken darauf ihre Abgeordnete an den männlichen Rath, und gemeiniglich ist ihre Stimme die­ jenige, welche entscheidet. Aber sie erkaufen diesen Vorzug theuer genug. Sie haben alle häußliche Angelegenheiten auf dem Halse und nehmen an allen Beschwerlichkeiten der Männer mit Antheil. Wenn wir zuletzt noch einige Blicke aus die Geschichte werfen, so sehen wir den Geschmack der Menschen wie einen Proteus stets wandelbare Gestalten annehmen. Die alten Zeiten der Griechen und Römer zeigten deutliche Merkmale eines ächten Gefühls für das Schöne sowohl als das Erhabene in der Dichtkunst, der Bildhauerkunst, der Architektur, der Gesetzgebung und selbst in den Sitten. Die Regierung der römischen Kaiser veränderte die edle sowohl als die schöne

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Einfalt in das Prächtige und dann in den falschen Schimmer, wovon uns noch die Überbleibsel ihrer Beredsamkeit, Dicht­ kunst und selbst die Geschichte ihrer Sitten belehren können. Allmählig erlosch auch dieser Rest des feinem Geschmacks mit dem gänzlichen Verfall des Staats. Die Barbaren, nachdem sie ihrerseits ihre Macht befestigten, führten einen gewissen verkehrten Geschmack ein, den man den gochischen nennt, und der auf Fratzen auslief. Man sah nicht allein Fratzen in der Baukunst, sondern auch in den Wissenschaften und den übrigen Gebräuchen. Das vemnartete Gefühl, da es einmal durch falsche Kunst geführt ward, nahm eher eine jede andere natür­ liche Gestalt, als die alte Einfalt der Natur an und war ent­ weder beim Übertriebenen, oder beim Läppischen. Der höchste Schwung, den das menschliche Genie nahm, um zu dem Er­ habenen aufzusteigen, bestand in Abenteuem. Man sah geist­ liche und weltliche Wenteurer und oftmals eine widrige und ungeheure Bastardart von beiden. Mönche mit dem Meßbuch in einer und der Kriegessahne in der andem Hand, denen ganze Heere bettogener Schlachtopfer folgten, um in andem Himmelsgegenden und in einem heiligeren Boden ihre Gebeine verscharren zu lassen, eingeweihte Krieger, durch feierliche Gelübde zur Gewaltthätigkeit und Mssethaten geheiligt, in der Folge eine seltsame Art von heroischen Phantasten, welche sich Ritter nannten und Wenteuer aufsuchten, Turniere, Zwei­ kämpfe und romanische jpmtblungen. Während dieser Zeit ward die Religion zusammt den Wissenschaften und Sitten durch elende Fratzen entstellt, und man bemerkt, daß der Ge­ schmack nicht leichtlich auf einer Seite ausartet, ohne auch in allem übrigen, was zum feineren Gefühl gehört, deutliche Zeichen seiner Verderbniß darzulegen. Die Klostergelübde machten aus einem großen Theil nutzbarer Menschen zahl­ reiche Gesellschaften emsiger Müßiggänger, deren grüblerische Lebensart sie geschickt machte, tausend Schulfratzen auszu-

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Hecken, welche von da in größere Welt ausgingen und ihre Art verbreiteten. Endlich nachdem das menschliche Genie von einer fast gänzlichen Zerstörung sich durch eine Art von Palingenesie glücklich wiederum erhoben hat, so sehen wir in unsern Tagen den richtigen Geschmack des Schönen und Edlen sowohl in den Künsten und Wissenschaften als in Ansehung des Sitt­ lichen ausblühen, und es ist nichts mehr zu wünschen, als daß der falsche Schimmer, der so leichtlich täuscht, uns nicht un­ vermerkt von der edlen Einfalt entferne, vornehmlich aber, daß das noch unentdeckte Geheimniß der Erziehung dem alten Wahne entrissen werde, um das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer thätigen Empfindung zu erhöhen, damit nicht alle Feinigkeit blos auf das flüchtige und müßige Vergnügen hinauslaufe, dasjenige, was außer uns vorgeht, mit mehr oder weniger Geschmacke zu beurtheilen.

Träume eines Geistersehers, erläutert durch

Träume der Metaphysik.

▼elut aegri somnia, vanae Finguntur species.

Ein Vorbericht, der sehr wenig für die Ausführung verspricht. Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier sinden sie ein unbegränztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauen können. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln. Die Philosophen zeichnen den Grundriß und ändern chn wiederum oder verwerfen ihn, wie ihre Gewohnheit ist. Nur das heilige Rom hat daselbst einträgliche Provinzen; die zwei Kronen des unsichtbaren Reichs stützen die dritte, als das hinfällige Diadem seiner irdischen Hoheit, und die Schlüssel, welche die beide Pforten der andem Welt aufthun, öffnen zugleich sympathetisch die Kasten der gegenwärtigen. Der­ gleichen Rechtsame des Geisterreichs, in so fern es durch die Gründe der Staatsklugheit bewiesen ist, erheben sich weit über alle ohnmächtige Einwürfe der Schulweisen, und chr Gebrauch oder Mißbrauch ist schon zu ehrwürdig, als daß er sich einer so verworfenen Prüfung auszusetzen nöthig hätte. Mein die gemeine Erzählungen, die so viel Glauben finden und wenigstens so schlecht bestritten sind, weswegen laufen die so ungenützt oder ungeahndet umher und schleichen sich selbst in die Lehrversassungen ein, ob sie gleich den Beweis vom Vortheil hergenommen (argumentum ab utili) nicht für sich haben, welcher der überzeugendste unter allen ist? Wel­ cher Philosoph hat nicht einmal zwischen den Betheumngen eines vernünftigen und fest überredeten Augenzeugen und der inneren Gegenwehr eines unüberwindlichen Zweifels die einfältigste Figur gemacht, die man sich vorstellen kann? Soll er «ant- populäre Schriften.

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die Richtigkeit aller solcher Geistererscheinungen gänzlich abläugnen? Was kann er sür Gründe anführen, sie zu widerlegen? Soll er auch nur eine einzige dieser Erzählungen als wahrscheinlich einräumen? Wie wichtig wäre ein solches Geständniß, und in welche erstaunliche Folgen sieht man hinaus, wenn auch nur eine solche Begebenheit als bewiesen vor­ ausgesetzt werden könnte! Es ist wohl noch ein dritter Fall übrig, nämlich sich mit dergleichen vorwitzigen oder müßigen Fragen gar nicht zu bemengen und sich an das Nützliche zu halten. Weil dieser Anschlag aber vernünftig ist, so ist er jederzeit von gründlichen Gelehrten durch die Mehrheit der Stimmen verworfen worden. Da es eben so wohl ein dummes Vomrtheil ist, von vielem, das mit einigem Schein der Wahrheit erzählt wird, ohne Grund Nichts zu glauben, als von dem, was das ge­ meine Gerücht sagt, ohne Prüfung Alles zu glauben, so ließ sich der Verfasser dieser Schrift, um dem ersten Vorurtheile auszuweichen, zum Theil von dem letzteren fortschleppen. Er bekennt mit einer gewissen Demüthigung, daß er so treu­ herzig war, der Wahrheit einiger Erzählungen von der er­ wähnten Art nachzuspüren. Er fand----------- wie gemeinig­ lich, wo man nichts zu suchen hat------------er fand nichts. Nun ist dieses wohl an sich selbst schon eine hinlängliche Ursache, ein Buch zu schreiben; allein es kam noch dasjenige hinzu, was bescheidenen Verfassern schon mehrmals Bücher abgedrungen hat, das ungestüme Anhalten bekannter und unbekannter Freunde. Überdem war ein großes Werk gekauft und, welches noch schlimmer ist, gelesen worden, und diese Mühe sollte nicht verloren sein. Daraus entstand nun die gegenwärtige Ab­ handlung, welche, wie man sich schmeichelt, den Leser nach der Beschaffenheit der Sache völlig beftiedigen soll, indem er das Vornehmste nicht verstehen, das andere nicht glauben, das übrige aber belachen wird.

Der erste Theil, welcher dogmatisch ist. Erstes Hauptstück. Ein verwickelter metaphysischer Knoten, den man nach Belieben auflösen oder ab­ hauen kann. Wenn alles dasjenige, was von Geistern der Schulknabe herbetet, der große Haufe erzählt und der Philosoph demonstrirt, zusammen genommen wird, so scheint es keinen flehten Theil von unserm Wissen auszumachen. Nichts destoweniger getraue ich mich zu behaupten, daß, wenn es jemand einfiele, sich bei der Frage etwas zu verweilen, was denn das eigentlich für ein Ding sei, wovon man unter dem Namen eines G e i st e s so viel zu verstehen glaubt, er alle diese Vielwisser in die be­ schwerlichste Verlegenheit versetzen würde. Das methodische Geschwätz der hohen Schulen ist oftmals nur ein Einverständniß, durch veränderliche Wortbedeutungen einer schwer zu lösenden Frage auszuweichen, weil das bequeme und mehrentheils ver­ nünftige: Ich weiß nicht, aus Akademien nicht leichtlich gehört wird. Gewisse neuere Weltweisen, wie sie sich gerne nennen lassen, kommen sehr leicht über diese Frage hinweg. Ein Geist, heißt es, ist ein Wesen, welches Vernunft hat. So ist es denn also keine Wundergabe Geister zu sehen; denn wer Menschen sieht, der sieht Wesen, die Vernunft haben. Mein, fährt man fort, dieses Wesen, was im Menschen Vernunft 9*

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hat, ist nur ein Theil vom Menschen, und dieser Theil, der ihn belebt, ist ein Geist. Wohlan denn: ehe ihr also beweiset, daß nur ein geistiges Wesen Vemunft haben könne, so sorget doch, daß ich zuvörderst verstehe, was ich mir unter einem geistigen Wesen für einen Begriff zu machen habe. Diese Selbsttäuschung, ob sie gleich grob genug ist, um mit halb offenen Augen bemerkt zu werden, ist doch von sehr begreiflichem Ursprünge. Denn wovon man frühzeitig als ein Kind sehr viel weiß, davon ist man sicher, später hin und im Alter nichts zu wissen, und der Mann der Gründlichkeit wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahnes. Ich weiß also nicht, ob es Geister gebe, ja was noch mehr ist, ich weiß nicht einmal, was das Wort G e i st bedeute. Da ich es indessen oft selbst gebraucht oder andere habe brauchen hören, so muß doch etwas darunter verstanden werden, es mag nun dieses Etwas ein Hirngespinst oder was Wirkliches sein. Um diese versteckte Bedeutung auszuwickeln, so halte ich meinen schlecht verstandenen Begriff an allerlei Fälle der Anwendung, und dadurch, daß ich bemerke, aus welchen er trifft und welchem er zuwider ist, verhoffe ich dessen verborgenen Sinn zu ent­ falten.*) *) Wenn der Begriff eines Geistes von unfern eignen Erfahrungs­ begriffen abgesondert wäre, so würde das Verfahren ihn deutlich zu machen leicht sein, indem man nur diejenigen Merkmale anzuzeigen hätte, welche uns die Sinne an dieser Art Wesen offenbarten, und wodurch wir sie von materieNen Dingen unterscheiden. Nun aber wird von Geistern ge­ redet, selbst alsdann, wenn man zweifelt, ob es gar dergleichen Wesen gebe. Also kann der Begriff von der geistigen Natur nicht als ein von der Er­ fahrung abstrahirter behandelt werden. Fragt ihr aber: Wie ist man denn zu diesem Begriff überhaupt gekommen, wenn es nicht durch Abstraktion geschehen ist? Ich antworte: Viele Begriffe entspringen durch geheime und dunkele Schlüsse bei Gelegenheit der Erfahrungen und pflanzen sich nachher auf andere fort ohne Bewußtsein der Erfahrung selbst oder des Schlusses, welcher den Begriff über dieselbe errichtet hat. Solche Begriffe

Erster Theil.

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Nehmet etwa einen Raum von einem Kubikfuß und setzet, es sei etwas, das diesen Raum erfüllt, d. i. dem Eindringen jedes andern Dinges widersteht, so wird niemand das Wesen, was auf solche Weise int Raum ist, geistig nennen. Es würde offenbar materiell heißen, weil es ausgedehnt, undurchdringlich und wie alles Körperliche der Theilbarkeit und den Gesetzen des Stoßes unterworfen ist. Bis dahin sind wir noch auf dem gebühnten Gleise anderer Philosophen. Allein denket euch ein einfaches Wesen und gebet ihm zu­ gleich Vernunft; wird dies alsdann die Bedeutung des Wortes (Seift gerade ausfüllen? Damit ich dieses entdecke, so will ich die Vernunft dem besagten einfachen Wesen als eine innere Eigenschaft lassen, für jetzt es aber nur in ä u ß e r e n Verhältnissen betrachten. Und nunmehr frage ich: wenn ich diese einfache Substanz in jenen Raum vom Kubikfuß, der voll Materie ist, setzen will, wird alsdann ein einfaches Ele­ ment derselben den Platz räumen müssen, damit ihn dieser Geist erfülle? Meinet ihr, ja? Wohlan, so wird der gedachte Raum, um einen zweiten Geist einzunehmen, ein zweites Elementartheilchen verlieren müssen, und so wird endlich, wenn man fortfährt, ein Kubikfuß Raum von Geistern erfüllt sein, deren Klumpe eben so wohl durch Undurchdringlichkeit widersteht, als wenn er voll Materie wäre, und eben so wie diese der Gesetze des Stoßes fähig sein muß. Nun würden aber dergleichen Substanzen, ob sie gleich in sich Vernunfttonn man erschlichene nennen. Dergleichen sind viele, die zum Theil nichts als ein Wahn der Einbildung, zum Theil auch wahr sind, indem auch dunkele Schlüsse nicht immer irren. Der Redegebrauch und die Verbindung eines Ausdrucks mit verschiedenen Erzählungen, in denen jederzeit einerlei Hauptmerkmal anzutreffen ist, geben ihm eine bestimmte Bedeutung, welche folglich nur dadurch kann entfaltet werden, daß man diesen versteckten Sinn durch eine Vergleichung mit allerlei Fällen der Anwendung, die mit ihm einstimmig sind, oder ihm widerstreiten, aus seiner Dunkelheit hervorzieht.

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kraft haben mögen, doch äußerlich von den Elementen der Materie gar nicht unterschieden sein, bei denen man auch nur die Kräfte ihrer äußeren Gegenwart kennt und, was zu ihren inneren Eigenschaften gehören mag, gar nicht weiß. Es ist also außer Zweifel, daß eine solche Art einsacher Substanzen nicht geistige Wesen heißen würden, davon Klumpen zusam­ mengeballt werden könnten. Ihr werdet also den Begriff eines Geistes nur beibehalten können, wenn ihr euch Wesen gedenkt, die sogar in einem von Materie erfüllten Raume gegenwärtig sein können: *) Wesen also, welche die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit nicht an sich haben, und deren so viele, als man auch will, vereinigt nienrals ein solides Ganze aus­ machen. Einfache Wesen von dieser Art werden immaterielle Wesen und, wenn sie Vernunft haben, Geister genannt werden. Einfache Substanzen aber, deren Zusammensetzung ein un­ durchdringliches und ausgedehntes Ganze giebt, werden ma­ terielle Einheiten, ihr Ganzes aber Materie heißen. Entweder der Name eines Geistes ist ein Wort ohne allen Sinn, oder seine Bedeutung ist die angezeigte. Von der Erklärung, was der Begriff eines Geistes ent­ halte, ist der Schritt noch ungemein weit zu dem Satze, daß solche Naturen wirklich, ja auch nur möglich seien. Man findet in den Schriften der Philosophen recht gute Beweise, darauf *) Man wird hier leichtlich gewahr: daß ich nur von Geistern, die als Theile zum Weltganzen gehören, und nicht von dem unendlichen Geiste rede, der der Urheber und Erhalter desselben ist. Denn der Begriff von der geistigen Natur des letzteren ist leicht, weil er lediglich negativ ist und darin besteht, daß man die Eigenschaften der Materie an ihm verneint, die einer unendlichen und schlechterdings nothwendigen Substanz widerstrei­ ten. Dagegen bei einer geistigen Substanz, die mit der Materie in Bereini­ gung sein soll, wie z. E. der menschlichen Seele, äußert sich die Schwierig­ keit: daß ich eine wechselseitige Verknüpfung derselben mit körperlichen Wesen zu einem Ganzen denken und dennoch die einzige bekannte Art der Verbindung, welche unter materiellen Wesen statt findet, aufheben soll.

Erster Theil.

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man sich verlassen kann: daß alles, was da denkt, einfach sein müsse, daß eine jede vernünftig denkende Substanz eine Einheit der Natur sei, und das untheilbare Ich nicht könne in einem Ganzen von viel verbundenen Dingen vertheilt sein. Meine Seele wird also eine einfache Substanz sein. Wer es bleibt durch diesen Beweis noch immer unausgemacht, ob sie von der Art derjenigen sei, die in dem Rauine vereinigt ein aus­ gedehntes und undurchdringliches Ganze geben, und also materiell, oder ob sie immateriell und folglich ein Geist sei, ja sogar, ob eine solche Art Wesen als diejenige, so man g e i stige nennt, nur möglich sei. Und hiebei kann ich nicht umhin vor übereilten Entschei­ dungen zu warnen, welche in den tiefsten und dunkelsten Fragen sich am leichtesten eindringen. Was nämlich zu den gemeinen Erfahrungsbegrifsen gehört, das Pflegt man gemeiniglich so an­ zusehen, als ob man auch seine Möglichkeit einsehe. Dagegen was von ihnen abweicht und durch keine Erfahmng auch nicht einmal der Analogie nach verständlich gemacht werden kann, davon kann man sich freilich keinen Begriff machen, und darum pflegt man es gerne als unmöglich sofort zu verwerfen. Alle Materie widersteht in dem Raume ihrer Gegenwart und heißt dämm undurchdringlich. Daß dieses geschehe, lehrt die Er­ fahmng, und die Abstraction von dieser Erfahmng bringt in uns auch den allgemeinen Begriff der Materie hewor. Dieser Widerstand aber, den Etwas in dem Raume seiner Gegenwart leistet, ist auf solche Weise wohl erkannt, allein dämm nicht begriffen. Denn es ist derselbe, so wie alles, was einer Thätigkeit entgegenwirkt, eine wahre Kraft, und da ihre Richtung derjenigen entgegen steht, wornach die fortgezogne Linien der Annäherung zielen, so ist sie eine Kraft der Zurück st oßung, welche der Materie und folglich auch ihren Elementen muß beigelegt werden. Nun wird sich ein jeder Vernünftige bald bescheiden, daß hier die menschliche

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eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

Einsicht zu Ende sei. Denn nur durch die Erfahrung kann man inne werden, daß Dinge der Welt, welche wir mate­ riell nennen, eine solche Kraft haben, niemals aber die Mög­ lichkeit derselben begreifen. Wenn ich nun Substanzen an­ derer Art setze, die mit andern Kräften im Raume gegenwärtig sind, als mit jener treibenden Kraft, deren Folge die Undurchdringlichkeit ist, so kann ich freilich eine Thätigkeit der­ selben, welche keine Analogie mit meinen Erfahrungsvorstellungen hat, gar nicht in concreto denken, und indem ich ihnen die Eigenschaft nehme, den Raum, in dem sie wirken, zu e r f ü l l e n, so steht mir ein Begriff ab, wodurch mir sonst die Dinge denklich sind, welche in meine Sinne fallen, und es muß daraus nothwendig eine Art von Undenklichkeit entsprin­ gen. Allein diese kann darum nicht als eine erkannte Unmög­ lichkeit angesehen werden, eben dämm weil das Gegentheil seiner Möglichkeit nach gleichfalls uneingesehen bleiben wird, obzwar dessen Wirklichkeit in die Sinne fällt. Man kann demnach die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorgniß widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunftgründe beweisen zu können. Solche geistige Naturen würden im Raume gegenwärtig sein, so daß derselbe dem ungeachtet für körper­ liche Wesen immer durchdringlich bliebe, weil ihre Gegenwart wohl eine Wirksamkeit im Raume, aber nicht dessen Erfüllung, d.i. einen Widerstand, als den Gmnd der Solidität enthielte. Nimmt man nun eine solche einfache geistige Substanz an, so würde man unbeschadet ihrer Untheilbarkeit sagen können: daß der Ort ihrer unmittelbaren Gegenwart nicht ein Punkt, sondem selbst ein Raum sei. Denn um die Analogie zu Hülfe zu mfen, so müssen nothwendig selbst die einfachen Elemente der Körper ein jegliches ein Räumchen in dem Körper erfüllen, der ein proportionirter Theil seiner ganzen Ausdehnung ist, weil Punkte gar nicht

Erster Theil.

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Theile, sondern Grenzen des Raumes sind. Da diese Erfüllung des Raumes vermittelst einer wirksamen Kraft (der Zurückstoßung) geschieht und also nur einen Umfang der größeren Thätigkeit, nicht aber eine Vielheit der Bestandcheile des wirk­ samen Subjects anzeigt, so widerstreitet sie gar nicht der ein­ fachen Natur desselben, obgleich freilich die Möglichkeit hievon nicht weiter kann deutlich gemacht werden, welches niemals bei den ersten Verhältnissen der Ursachen und Wrkungen an­ geht. Eben so wird mir zum wenigsten keine erweisliche Un­ möglichkeit entgegen stehen, obschon die Sache selbst unbe­ greiflich bleibt, wenn ich behaupte: daß eine geistige Substanz, ob sie gleich einfach ist, dennoch einen Raum einnehme (b. i. in ihm unmittelbar thätig sein könne), ohne ihn zu er­ füllen (d. i. materiellen Substanzen darin Wderstand zu leisten). Auch würde eine solche immaterielle Substanz nicht ausgedehnt genannt werden müssen, so wenig wie es die Ein­ heiten der Materie sind; denn nur dasjenige, was abgesondert von allem und für sich allein existirend einen Raum ein­ nimmt, ist ausgedehnt; die Substanzen aber, welche Elemente der Materie sind, nehmen einen Raum nur durch die äußere Mrkung in andere ein, für sich besonders aber, wo keine andre Dinge in Verknüpfung mit ihnen gedacht werden, und da in ihnen selbst auch nichts außer einander Befindliches anzutreffen ist, enthalten sie keinen Raum. Dieses gilt von Körperelementen. Dieses würde auch von geistigen Naturen gelten. Die Grenzen der Ausdehnung bestimmen die Figur. An ihnen würde also keine Figur gedacht werden können. Dieses sind schwer einzusehende Gründe der ver­ mutheten Möglichkeit immaterieller Wesen in dem Welt­ ganzen. Wer im Besitze leichterer Mittel ist, die zu dieser Einsicht führen können, der versage seinen Unterricht einem Lehrbegierigen nicht, vor dessen Augen im Fortschritt der Untersuchung sich öfters Alpen erheben, wo andere einen

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ebenen und gemächlichen Fußsteig vor sich sehen, den sie fort­ wandern oder zu wandern glauben. Gesetzt nun, man hätte bewiesen, die Seele des Menschen sei ein Geist (wiewohl aus dem vorigen zu sehen ist, daß ein solcher Beweis noch niemals geführt worden), so würde die nächste Frage, die man thun könnte, etwa diese sein: Wo ist der Ort dieser menschlichen Seele tu der Körperwelt? Ich würde ant­ worten: Derjenige Körper, dessen Veränderungen meine Veränderungen sind, dieser Körper ist mein Körper, und der Ort desselben ist zugleich mein Ort. Setzt man die Frage weiter fort: Wo ist denn dein Ort (der Seele) in diesem Körper?, so würde ich etwas Verfängliches in dieser Frage vermuthen. Denn man bemerkt leicht, daß darin etwas schon vorausgesetzt werde, was nicht durch Erfahrung bekannt ist, sondern vielleicht auf eingebildeten Schlüssen bemht: näm­ lich daß mein denkendes Ich in einem Orte sei, der von den Ortern anderer Theile desjenigen Körpers, der zu meinem Selbst gehört, unterschieden wäre. Niemand aber ist sich eines be­ sondern Orts in seinem Körper unmittelbar bewußt, sondern desjenigen, den er als Mensch in Ansehung der Welt umher einnimmt. Ich würde mich also an der gemeinen Erfahrung halten und vorläufig sagen: Wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin eben so unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich bin es selbst, der in der Ferse leidet und welchem das Herz im Affecte klopft. Ich fühle den schmerzhaften Ein­ druck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich mein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich einige Theile meiner Empfindung von mir für ent­ fernt zu halten, mein untheilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen des Gehirnes zu versperren, um von da aus den Hebezeug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden. Daher würde ich einen strengen Beweis verlangen, um dasjenige ungereimt zu sin-

Erster Theil.

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den, was die Schullehrer sagten: Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und ganz in jedem seiner Theile. Der gesunde Verstand bemerkt oft die Wahrheit eher, als er die Gründe einsieht, dadurch er sie beweisen oder erläutern kann. Der Einwurf würde mich auch nicht gänzlich irre machen, wenn man sagte, daß ich auf solche Art die Seele ausgedehnt und durch den ganzen Körper verbreitet gedächte, so ungefähr wie sie den Kindem in der g e m a l t e n W e l t abgebildet wird. Denn ich würde diese Hinderniß dadurch wegräumen, daß ich bemerkte: die unmittelbare Gegenwart in einem ganzen Raume beweise nur eine Sphäre der äußeren Wirksamkeit, aber nicht eine Vielheit innerer Theile, mithin auch keine Ausdehnung oder Figur, als welche nur statt finden, wenn in einem Wesen fürsichalleingesetztein Raum ist, d. i. Theile anzutreffen sind, die sich außerhalb einander befinden. Endlich würde ich entweder dieses wenige von der geistigen Eigenschaft meiner Seele wissen, oder, wenn man es nicht einwilligte, auch zufrieden sein, davon gar nichts zu wissen. Wollte man diesen Gedanken die Unbegreiflichkeit, oder, welches bei den meisten für einerlei gilt, ihre Unmöglichkeit vorrücken, so könnte ich es auch geschehen lassen. Alsdann würde ich mich zu den Füßen dieser Weisen niederlassen, um sie also reden zu hören: Die Seele des Menschen hat ihren Sitz im Gehime, und ein unbeschreiblich Heiner Platz in dem­ selben ist ihr Aufenthalt.*) Daselbst empfindet sie wie die *) Man hat Beispiele von Verletzungen, dadurch ein guter Theil des Gehirns verloren worden, ohne daß es dem Menschen da- Leben oder die Gedanken gekostet hat. Nach der gemeinen Vorstellung, die ich hier anführe, würde ein Atomus desselben haben dürfen entführt, oder aus der Stelle gerückt werden, um in einem Augenblick den Menschen zu entseelen. Die herrschende Meinung der Seele einen Platz im Gehime anzuweisen, scheint hauptsächlich ihren Ursprung darin zu haben, daß man bei starkem Nachsinnen deutlich fühlt, daß die Gehimnerven angestrengt werden. Allein wenn dieser Schluß richtig wäre, so würde er auch noch andere

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Spinne im Mittelpunkte ihres Gewebes. Die Nerven des Gehirnes stoßen oder erschüttern sie, dadurch verursachen sie aber, daß nicht dieser unmittelbare Eindruck, sondern der, so auf ganz entlegene Theile des Körpers geschieht, jedoch als ein außerhalb dem Gehirne gegenwärtiges Object vorgestellt wird. Aus diesem Sitze bewegt sie auch die Seile und Hebel der ganzen Maschine und verursacht willkürliche Bewegungen nach ihrem Belieben. Dergleichen Sätze lassen sich nur sehr seichte, oder gar nicht beweisen und, weil die Natur der Seele im Grunde nicht bekannt gnug ist, auch nur eben so schwach widerlegen. Ich würde also mich in keine Schulgezänke ein­ lassen, wo gemeiniglich beide Theile alsdann am meisten zu sagen haben, wenn sie von ihrem Gegenstände gar nichts ver­ stehen; sondern ich würde lediglich den Folgerungen nachgehen, auf die mich eine Lehre von dieser Art leiten kann. Weil also Orter dec Seele beweisen. In der Bangigkeit oder der Freude scheint die Empfindung ihren Sitz im Herzen zu haben. Biele Affecten, ja die mehrsten äußern ihre Hauptstärke im Zwerchfell. Das Mitleiden bewegt die Eingeweide, und andre Instinkte äußern ihren Ursprung und Empfind­ samkeit in andern Organen. Die Ursache, die da macht, daß man die nachdenkende Seele vornehmlich im Gehirne zu empfinden glaubt, ist vielleicht diese. Alles Nachsinnen erfordert die Bermittelung der Z e i ch e n für die zu erweckende Ideen, um in deren Begleitung und Unter­ stützung diesen den erforderlichen Grad Klarheit zu geben. Die Zeichen unserer Vorstellungen aber sind vornehmlich solche, die entweder durchs Gehör oder das Gesicht empfangen sind, welche beide Sinne durch die Eindrücke im Gehirne bewegt werden, indem ihre Organen auch diesem Theile am nächsten liegen. Wenn nun die Erweckung dieser Zeichen, welche Eartesius ideas materiales nennt, eigentlich eine Reizung der Nerven zu einer ähnlichen Bewegung mit derjenigen ist, welche die Empfindung ehedem hervorbrachte, so wird das Gewebe des Gehirns im Nachdenken vornehmlich genöthigt werden mit vormaligen Eindrücken harmonisch zu beben und dadurch ermüdet werden. Denn wenn das Denken zugleich afsectvoll ist, so empfindet man nicht allem Anstrengungen des Gehirnes sondern zugleich Angriffe der reizbaren Theile, welche sonst mit den Bor­ steNungen der in Leidenschaft versetzten Seele in Sympathie stehen.

Erster Theil.

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nach den mir angepriesenen Sätzen meine Seele, in der Art wie sie im Raume gegenwärtig ist, von jedem Element der Materie nicht unterschieden wäre, und die Berstandeskraft eine innere Eigenschaft ist, welche ich in diesen Elementen doch nicht wahrnehmen könnte, wenn gleich selbige in ihnen allen angetroffen würde, so könnte kein tauglicher Grund an­ geführt werden, weswegen nicht meine Seele eine von den Substanzen sei, welche die Materie ausmachen, und warum nicht ihre besondere Erscheinungen lediglich von dem Orte herrühren sollten, den sie in einer künsllichen Maschine, wie der thierische Körper ist, einnimmt, wo die Nervenvereinigung der inneren Fähigkeit des Denkens und der Willkür zu statten kommt. Alsdann aber würde man kein eigenthümliches Merk­ mal der Seele mehr mit Sicherheit erkennen, welches sie von dem rohen Grundstoffe der körperlichen Naturen unterschiede, und Leibnizens scherzhafter Einfall, nach welchem wir viel­ leicht im Kaffee Atomen verschluckten, woraus Menschenseelen werden sollen, wäre nicht mehr ein Gedanke zum Lachen. Würde aber auf solchen Fall dieses denkende Ich nicht dem gemeinen Schicksale materieller Naturen unterworfen sein, und, wie es durch den Zufall aus dem Chaos aller Elemente gezogen worden, um eine thierische Maschine zu beleben, wa­ rum sollte es, nachdem diese zufällige Vereinigung aufgehört hat, nicht auch künftig dahin wiederum zurückkehren? Es ist bisweilen nöthig den Denker, der auf unrechtem Wege ist, durch die Folgen zu erschrecken, damit er aufmerksamer auf die Grundsätze werde, durch welche er sich gleichsam träumend hat fortführen lassen. Ich gestehe, daß ich sehr geneigt sei das Dasein imma­ terieller Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen.*) Alsdann aber, *) Der Grund hievon, der mir selbst sehr dunkel ist und wahrschein­ licher Weise auch wohl so bleiben wird, trifft zugleich auf das empfindende

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wie geheimnißvoll wird nicht die Gemeinschaft zwischen einem Geiste und einem Körper? Wer wie natürlich ist nicht zugleich diese Unbegreiflichkeit, da unsere Begriffe äußerer Handlungen von denen der Materie abgezogen worden und jederzeit mit den Bedingungen des Druckes oder Stoßes verbunden sind, die hier nicht statt finden? Denn wie sollte wohl eine imma­ terielle Substanz der Materie im Wege liegen, damit diese in ihrer Bewegung aus einen Geist stoße, und wie können kör­ perliche Dinge Wirkungen auf ein fremdes Wesen ausüben, das ihnen nicht Undurchdringlichkeit entgegen stellt, oder welches sie auf keine Weise hindert, sich in demselben Raume, darin es gegenwärtig ist, zugleich zu befinden? Es scheint, ein gei­ stiges Wesen sei der Materie innigst gegenwärtig, mit der es verbunden ist, und wirke nicht auf diejenige Kräfte der Ele­ mente, womit diese untereinander in Verhältnissen sind, son­ dern auf das innere Principium ihres Zustandes. Denn eine jede Substanz, selbst ein einfaches Element der Materie muß doch irgend eine innere Thätigkeit als den Grund der äußerWesen in den Thieren. Was in der Welt ein Principium des Lebens enthält, scheint immaterieller Natur zu sein. Denn alles Leben beruht auf dem inneren Vermögen, sich selbst nach Willkür zu bestimmen. Da hingegen das wesentliche Merkmal der Materie in der Erfüllung des Raumes durch eine nothwendige Kraft besteht, die durch äußere Gegen­ wirkung beschränkt ist; daher der Zustand alles dessen, was materiell ist, äußerlich abhängend und gezwungen ist, diejenigen Naturen aber, die s e l b st thätig und aus ihrer innern Kraft wirksam den Grund des Lebens enthalten sollen, kurz diejenige, deren eigene Willkür sich von selber zu bestimmen und zu verändern vermögend ist, schwerlich materieller Natur sein können. Man kann vernünftiger Weise nicht ver­ langen, daß eine so unbekannte Art Wesen, die man mehrentheils nur hypothetisch erkennt, in den Abtheilungen ihrer verschiedenen Gattungen sollte begriffen werden; zum wenigsten sind diejenige immateriellen Wesen, die den Grund des thierischen Lebens enthalten, von denjenigen unter­ schieden, die in ihrer Selbstlhatigkeit Vernunft begreifen und Geister ge­ nannt werden.

Erster Theil

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lichen Mrksamkeit haben, wenn ich gleich nicht anzugeben weiß, worin solche bestehe.*) Andererseits würde bei solchen Grundsätzen die Seele auch in diesen inneren Bestimmungen als Wirkungen den Zustand des Universum anschauend er­ kennen, der die Ursache derselben ist. Welche Nothwendigkeit aber verursache, daß ein Geist und ein Körper zusammen Eines ausmache, und welche Gründe bei gewissen Zerstömngen diese Einheit wiedemm aufheben, diese Fragen übersteigen nebst verschiedenen andern sehr weit meine Einsicht, und wie wenig ich auch sonst dreiste bin, meine Verstandesfähigkeit an den Geheimnissen der Natur zu messen, so bin ich gleich­ wohl zuversichtlich gnug, keinen noch so fürchterlich ausgerüsteten Gegner zu scheuen (wenn ich sonst einige Neigung zum Streiten hätte), um in diesem Falle mit ihm den Versuch der Gegen­ gründe im Widerlegen zu machen, der bei den Gelehrten eigentlich die Geschicklichkeit ist, einander das Nichtwissen zu demonstriren. *) Leibniz sagte, dieser innere Grund aller seiner äußeren Berhältnisse und ihrer Veränderungen sei eine Borstellungskraft, und spätere Philosophen empfingen diesen unausgeführten Gedanken mit Gelächter. Sie hätten aber nicht übel gethan, wenn sie vorher bei sich über­ legt hätten, ob denn eine Substanz, wie ein einfacher Theil der Materie ist, ohne allen inneren Zustand möglich sei, und wenn sie dann diesen etwa nicht ausschließen wollten, so würde ihnen obgelegen haben, irgend einen andern möglichen innern Zustand zu ersinnen, als den der Borstellungen und der Thätigkeiten, die von ihnen abhängend sind. Jedermann sieht von selber, daß, wenn man auch den einfachen Elementartheilen der Materie ein Vermögen dunNer Vorstellungen zugesteht, daraus noch keine Vorstellungskrast der Materie selbst erfolge, weil viele Substanzen von solcher Art, in einem Ganzen verbunden, doch niemals eine denkende Einheit ausmachen können.

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

Zweites Hauptstück. Ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu

eröffnen. Der Initial hat schon den groben und an den äußerlichen Sinnen klebenden Verstand zu höhem und abgezogenen Be­ griffen gewöhnt, und nun kann er geistige und von körperlichem Zeuge enthüllte Gestalten in derjenigen Dämmerung sehen, womit das schwache Licht der Metaphysik das Reich der Schatten sichtbar macht. Wir wollen daher nach der beschwerlichen Vorbereitung, welche überstanden ist, uns auf den gefähr­ lichen Weg wagen. lbant obscuri sola sub nocte per umbras, Perque domos Ditis vacuas vt inania regna. VIRGILIUS.

Die todte Materie, welche den Weltraum erfüllt, ist ihrer eigenthümlichen Natur nach im Stande der Trägheit und der Beharrlichkeit in einerlei Zustande, sie hat Solidität, Aus­ dehnung und Figur, und ihre Erscheinungen, die auf allen diesen Gründen beruhen, lassen eine physische Erklärung zu, die zugleich mathematisch ist, und zusammen mechanisch genannt wird. Wenn man andererseits seine Achtsamkeit auf diejenige Art Wesen richtet, welche den Grund des L e b e n s in dem Weltganzen enthalten, die um deswillen nicht von der Art sind, daß sic als Bestandtheile den Klumpen und die Aus­ dehnung der leblosen Materie vermehren, noch von ihr nach den Gesetzen der Berühmng und des Stoßes leiden, sondern vielmehr durch innere Thätigkeit sich selbst und überdem den todten Stoss der Natur rege machen, so wird man, wo nicht mit der Deutlichkeit einer Demonstration, doch wenigstens mit der Vorempfindung eines nicht ungeübten Verstandes sich

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Erster Theil.

von betn Dasein immaterieller Wesen überredet finden, deren besondere Wirkungsgesetze pneumatisch und, so fern die körperliche Wesen Mittelursachen chrer Wirkungen in der materiellen Welt sind, organisch genannt werden. Da diese immaterielle Wesen selbstthätige Principien sind, mithin Substanzen und für sich bestehende Naturen, so ist diejenige Folge, aus die man zunächst geräth, diese: daß sie untereinander, unmittelbar vereinigt, vielleicht ein großes Ganze ausmachen mögen, welches man die immaterielle Welt (mundus int UigibiJis) nennen kann. Denn mit welchem Grunde der Wahr­ scheinlichkeit wollte man wohl behaupten, daß dergleichen Wesen von einander ähnlicher Natur nur vermittelst anderer (körper­ lichen Dinge) von fremder Beschaffenheit in Gemeinschaft stehen könnten, indem dieses letztere noch viel räthselhafter als das erste ist? Diese immaterielle Welt kann also als ein für sich bestehendes Ganze angesehen werden, deren Theile unter­ einander in wechselseitiger Verknüpfung und Gemeinschaft stehen, auch ohne Vermittelung körperlicher Dinge, so daß dieses letztere Verhältniß zufällig ist und nur einigen zukommen darf, ja, wo es auch angetroffen wird, nicht hindert, daß nicht eben die immaterielle Wesen, welche durch die Vermittelung der Materie ineinander wirken, außer diesem noch in einer b.'sondern und durchgängigen Verbindung stehen und jeder­ zeit untere.nander als immaterielle Wesen wechselseitige Ein­ flüsse ausüben, so daß das Verhältniß derselben vermittelst der Materie nur zufällig und auf einer besonderen göttlichen Anstalt beruht, jene hingegen natürlich und unauflöslich ist. Indem man denn auf solche Weise alle Principien des Lebens in der ganzen Natur als so viel unkörperliche Sub­ stanzen untereinander in Gemeinschaft, aber auch zum Theil mit der Materie vereinigt zusammennimmt, so gedenkt man sich ein großes Ganze der immateriellen Welt, eine unermeßKants populäre Schriften.

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liche, aber unbekannte Stufenfolge von Wesen und thätigen Naturen, durch welche der todte Stoff der Körperwelt allein belebt wird. Bis auf welche Glieder aber der Natur Leben ausgebreitet sei, und welche diejenigen Grade desselben seien, die zunächst an die völlige Leblosigkeit grenzen, ist vielleicht unmöglich jemals mit Sicherheit auszumachen. Der Hylo­ zoismus belebt alles, der Materialismus dagegen, wenn er genau erwogen wird, tobtet alles. Maupertuis maß den organischen Nahrungstheilchen aller Thiere den niedrigsten Grad Leben bei; andere Philosophen sehen an ihnen nichts als todte Klumpen, welche nur dienen, den Hebezeug der thierischen Maschinen zu vergrößem. Das ungezweifelte Merk­ mal des Lebens an dem, was in unsere äußere Sinne fällt, ist wohl die freie Bewegung, die da blicken läßt, daß sie aus Willkür entsprungen sei; allein der Schluß ist nicht sicher, daß, wo dieses Merkmal nicht angetroffen wird, auch kein Grad des Lebens befindlich sei. Boerhaave sagt an einem Orte: Das Thier ist eine Pflanze, die ihre Wurzel im Magen (inwendig) hat. Vielleicht könnte ein anderer eben so ungetadelt mit diesen Begriffen spielen und sagen: DiePflanzeisteinThier,dasseinenMagen inderWurzel (äußerlich) hat. Daher auch den letzteren die Organen der willkürlichen Bewegung und mit ihnen die äußerliche Merkmale des Lebens fehlen können, die doch den ersteren nothwendig sind, weil ein Wesen, welches die Werk­ zeuge seiner Ernährung in sich hat, sich selbst seinem Bedürf­ niß gemäß muß bewegen können, dasjenige aber, an welchem dieselbe außerhalb und in dem Elemente seiner Unterhaltung eingesenkt sind, schon gnugsam durch äußere Kräfte erhalten wird und, wenn es gleich ein Principium des inneren Lebens in der Vegetation enthält, doch keine organische Einrichtung zur äußerlichen willkürlichen Thätigkeit bedarf. Ich verlange nichts von allem diesem auf Beweisgründen, denn außerdem

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Erster Theil.

daß ich sehr wenig zum Vortheil von dergleichen Btuthmaßungen würde zu sagen haben, so haben sie noch als bestäubte veraltete Grillen den Spott der Mode wider sich. Die Men glaubten nämlich dreierlei Art vom Leben annehmen zu können, das pflanzenartige, das thierische und das vernünftige. Wenn sie die drei immaterielle Prin­ cipien derselben in dem Menschen vereinigten, so möchten sie wohl Unrecht haben, wenn sie aber solche unter die dreierlei Gattungen der wachsenden und ihres Gleichen erzeugenden Geschöpfe vertheilten, so sagten sie freilich wohl etwas Uner­ weisliches, aber dämm noch nicht Ungereimtes, vornehmlich in dem Urtheile desjenigen, der das besondere Leben der von einigen Thieren abgetrennten Theile, die Irritabilität, diese so wohl erwiesene, aber auch zugleich so unerklärliche Eigenschaft der Fasem eines thierischen Körpers und einiger Gewächse, und endlich die nahe Verwandtschaft der Polypen und anderer Zoophyten mit den Gewächsen in Betracht ziehen wollte. Übrigens ist die Bemfung auf immaterielle Principien eine Zuflucht der faulen Philosophie und dämm auch die Erklämngsart in diesem Geschmacke nach aller Möglichkeit zu vermeiden, damit diejenigen Gründe der Welterscheinungen, welche auf den Bewegungsgesetzen der bloßen Materie beruhen, und welche auch einzig und allein der Begreiflichkeit fähig sind, in ihrem ganzen Umfange erkannt werden. Gleichwohl bin ich überzeugt, daß S t a h l, welcher die thierische Berändemngen gerne organisch erklärt, oftmals der Wahrheit näher sei, als H o f m a n n, B o e r h a a v e u. a. m., welche die imma­ terielle Kräfte aus dem Zusammenhange lassen, sich an die mechanische Gründe halten und hierin einer mehr philosophi­ schen Methode folgen, die wohl bisweilen fehlt, aber mehrmals zutrifft, und die auch allein in der Wissenschaft von nützlicher Anwendung ist, wenn anderseits von dem Einflüsse der Wesen von unkörperlicher Natur höchstens nur erkannt werden kann, 10*

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daß er da fei, niemals aber, wie er zugehe und wie weit sich seine Wirksamkeit erstrecke. So würde denn also die immaterielle Welt zuerst alle erschaffene Intelligenzen, deren einige mit der Materie zu einer Person verbunden sind, andere aber nicht, in sich be­ fassen, überdem die empfindende Subjecte in allen Thierarten und endlich alle Principien des Lebens, welche sonst noch in der Natur wo sein mögen, ob dieses sich gleich durch keine äußerliche Kennzeichen der willkürlichen Bewegung offenbarte. Alle diese immaterielle Naturen, sage ich, sie mögen nun ihre Einflüsse in der Körperwelt ausüben oder nicht, alle vernünf­ tige Wesen, deren zufälliger Zustand thierisch ist, es sei hier auf der Erde oder in anbetn Himmelskörpern, sie mögen den rohen Zeug der Materie jetzt oder künftig beleben, oder ehedem belebt haben, würden nach diesen Begriffen in einer ihrer Natur gemäßen Gemeinschaft stehen, die nicht auf den Be­ dingungen beruht, wodurch das Verhältniß der Körper ein­ geschränkt ist, und wo die Entfernung der Orter oder der Zeit­ alter, welche in der sichtbaren W:lt die große Kluft ausmacht, die alle Gemeinschaft aufhebt, verschwindet. Die menschliche Seele würde daher schon in dem gegenwärtigen Leben als verknüpft mit zwei Welten zugleich müssen angesehen werden, von welchen sie, so fern sie zu persönlicher Einheit mit einem Körper verbunden ist, die materielle allein klar empfindet, dagegen als ein Glied der Geisterwelt die reine Einflüsse im­ materieller Naturen empfängt und ertheilt, so daß, so bald jene Verbindung aufgehört hat, die Gemeinschaft, darin sie jederzeit mit geistigen Naturen steht, allein übrig bleibt und sich ihrem Bewußtsein zum klaren Anschauen eröffnen müßte.*) *) 98 nn man von b:m Himmel als dem Sitze der Seligen redet so setzt die gemeine Vorstellung ihn gerne über sich, hoch in dem unermeß­ lichen Welträume. Man bed-nkt aber nicht, daß unsre Erde, aus diesen Gegenden gesehen, auch als einer von den Sternen des Himmels erscheine,

Es wird nachgerade beschwerlich, immer die behutsame Sprache der Vernunst zu führen. Warum sollte es mir nicht auch erlaubt sein im akademischen Tone zu reden, der entschei­ dender ist und sowohl den Verfasser als den Leser des Nach­ denkens überhebt, welches über lang oder kurz beide nur zu einer verdrießlichen Unentschlossenheit führen muß. Es ist demnach so gut als demonstrirt, oder es könnte leichtlich be­ wiesen werden, wenn man weitläustig sein wollte, oder noch besser, es wird künftig, ich weiß nicht wo oder wenn, noch be­ wiesen werden: daß die menschliche Seele auch in diesem Leben in einer unauflöslich verknüpften Gemeinschaft mit allen im­ materiellen Naturen der Geisterwelt stehe, daß sie wechsel­ weise in diese wirke und von ihnen Eindrücke empfange, deren sie sich aber als Mensch nicht bewußt ist, so lange alles wohl steht. Andererseits ist es auch wahrscheinlich, daß die geistige Naturen unmittelbar keine sinnliche Empfindung von der Körperwelt mit Bewußtsein haben können, weil sie mit keinem Theil der Materie zu einer Person verbunden sind, um sich vermittelst desselben ihres Orts in dem materiellen Weltganzen und durch künstliche Organen des Verhältnisses der ausgedehnund daß die Bewohner anderer Welten mit eben so gutem Grunde nach uns hin zeigen könnten und sagen: Sehet da den Wohnplatz ewiger Freuden und einen himmlischen Aufenthalt, welcher zubereitet ist, uns dereinst zu empfangen. Ein wunderlicher Wahn nämlich macht, daß der hohe Flug, den die Hoffnung nimmt, immer mit dem Begriffe des Steigens verbunden ist, ohne zu bedenken, daß, so hoch man auch gestiegen ist, man doch wieder sinken müsse, um allenfalls in einer andern Welt festen Fuß zu fassen. Nach den angeführten Begriffen aber würde der Himmel eigentlich die Geisterwelt sein, oder, wenn man will, der selige Theil derselben, und diese würde man weder über sich noch unter sich zu suchen haben, weil ein solches immaterielle Ganze nicht nach den Entfernungen oder Naheiten gegen körperliche Dinge, sondern in geistigen Verknüpfungen seiner Theile untereinander vorgestellt werden muß, wenigstens die Glieder derselben sich nur nach solchen Verhältnissen ihrer selbst bewußt sind.

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ten Wesen gegen sich und gegen einander bewußt zu werden, daß sie aber wohl in die Seelen der Menschen als Wesen von einerlei Natur einfließen können und auch wirklich jeder­ zeit mit ihnen in wechselseitiger Gemeinschaft stehen, doch so, daß in der Mittheilung der Vorstellungen diejenige, welche die Seele als ein von der Körperwelt abhängendes Wesen in sich enthält, nicht in andere geistige Wesen und die Begriffe der letzteren, als anschauende Vorstellungen von immateriellen Dingen, nicht in das klare Bewußtsein des Menschen übergehen können, lvenigstens nicht in ihrer eigentlichen Beschaffenheit, weil die Materialien zu beiderlei Ideen von verschiedener Art sind. Es würde schön sein, wenn eine dergleichen systematische Verfassung der Geisterwelt, als wir sie vorstellen, nicht ledig­ lich aus dem Begriffe von der geistigen Natur überhaupt, der gar zu sehr hypothetisch ist, sondern aus irgend einer wirk­ lichen und allgemein zugestandenen Beobachtung könnte ge­ schlossen, oder auch nur wahrscheinlich vermuthet werden. Daher wage ich es aus die Nachsicht des Lesers, einen Versuch von dieser Art hier einzuschalten, der zwar etwas außer meinem Wege liegt und auch von der Evidenz weit gnug entfernt ist, gleichwohl aber zu nicht unangenehmen Vermuthungen An­ laß zu geben scheint. *

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Unter den Kräften, die das menschliche Herz bewegen, scheinen einige der mächtigsten außerhalb demselben zu liegen, die also nicht etwa als bloße Mittel sich auf die Eigennützig, keit und Privatbedürfniß als auf ein Ziel, das innerhalb dem Menschen selbst liegt, beziehen, sondern welche machen, daß die Tendenzen unserer Regungen den Brennpunkt ihrer Vereinigung außerunsin andere vernünftige Wesen ver­ setzen; woraus ein Streit zweier Kräfte entspringt, nämlich

Erster Theil.

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der Eigenheit, die alles auf sich bezieht, und der Gemein­ nützigkeit, dadurch das Gemüth gegen andere außer sich ge­ trieben oder gezogen wird. Ich halte mich bei dem Triebe nicht auf, vermöge dessen wir so stark und so allgemein am Urtheile anderer hängen und fremde Billigung oder Beifall zur Vollendung des unsrigen von uns selbst so nöchig zu sein erachten, woraus, wenn gleich bisweilen ein übelverstandener Ehrenwahn entspringt, dennoch selbst in der uneigennützigsten und wahrhaftesten Gemüthsart ein geheimer Zug verspürt wird, dasjenige, was man für sich selbst als gut oder wahr erkennt, mit betn Urtheil anderer zu vergleichen, um beide einstimmig zu machen, imgleichen eine jede menschliche Seele auf dem Erkenntnißwege gleichsam anzuhalten, wenn sie einen andern Fußsteig zu gehen scheint, als den wir eingeschlagen haben, welches alles vielleicht eine empfundene Whängigkeit unserer eigenen Urtheile vom allgemeinen menschlichenBer stände ist und ein Mittel wird, dem Ganzen denkender Wesen eine Art von Vernunfteinheit zu verschaffen. Ich übergehe aber diese sonst nicht unerhebliche Bettach­ tung und halte mich für jetzt an eine andere, welche einleuch­ tender und bettächtlicher ist, so viel es unsere Absicht betrifft. Wenn wir äußere Dinge auf unser Bedürfniß beziehen, so können wir dieses nicht thun, ohne uns zugleich durch eine gewisse Empfindung gebunden und eingeschränkt zu fühlen, die uns merken läßt, daß in uns gleichsam ein fremder Wille wirksam sei, und unser eigen Belieben die Bedingung von äußerer Beistimmung nöthig habe. Eine geheime Macht nöthigt uns unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten, ob dieses gleich öfters ungern geschieht und der eigennützigen Neigung stark widerstreitet, und der Punkt, wohin die Richtungslinien unserer Triebe zu­ sammenlaufen, ist also nicht bloß in uns, sondern es sind noch Kräfte, die uns bewegen, in dem Wollen anderer außer uns.

152 Träumc eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Daher entspringen die sittlichen Antriebe, die uns ost wider den Dank des Eigennutzes sortteißen, das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit, deren jedes uns manche Ausopserung abbringt, und obgleich beide dann und wann durch eigennützige Neigungen überwogen werden, doch nirgend in der menschlichen Natur ermangeln, ihre Wirk­ lichkeit zu äußern. Dadurch sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Regel des allge­ meinen Willens, und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Ein­ heit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Ge­ setzen. Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen. So nannte New­ ton das sichere Gesetz der Bestrebungen aller SDZaterie sich einander zu nähern die Gravitation derselben, indem er seine mathematische Demonstrationen nicht in eine verdrieß­ liche Theilnehmung an philosophischen Sttcitigkeiten verflechten wollte, die sich über die Ursache derselben eräugnen könnten. Gleichwohl trug er kein Bedenken diese Gravitation als eine wahre Wirkung einer allgemeinen Thätigkeit der Materie ineinander zu behandeln und gab ihr daher auch den Namen der A n z i e h u n g. Sollte es nicht möglich sein die Erschei­ nung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich auf einander wechselsweise beziehen, gleichsalls als die Folge einer wahrhaftig thätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einstießen, vorzustellen, so daß das sitt­ liche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich

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nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet? Wenn man diesen Gedanken so viel Scheinbarkeit zugesteht, als erforder­ lich ist, um die Mühe zu verdienen sie an ihren Folgen zu messen, so wird man vielleicht durch den Reiz derselben unver­ merkt in einige Parteilichkeit gegen sie verflochten werden. Denn cs scheinen in diesem Falle die Unregelmäßigkeiten mehrentheils zu verschwinden, die sonst bei dem Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen hier auf der Erde so befremdlich in die Augen fallen. Mle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkung in dem leiblichen Leben des Menschen haben, wohl aber in der Geisterwelt nach pneumatischen Ge­ setzen. Die wahre Absichten, die geheime Beweggründe vieler aus Ohnmacht fruchtlosen Bestrebungen, der Sieg über sich selbst, oder auch bisweilen die verborgene Tücke bei scheinbarlich guten Handlungen sind mehrentheils für den physischen Erfolg in dem körperlichen Zustande verloren, sie würden aber auf solche Weise in der immateriellen Welt als fruchtbare Gründe angesehen werden müssen und in Ansehung ihrer nach pneumatischen Gesetzen zu Folge der Verknüpfung des Privatwillens und des allgemeinen Willens, d. i. der Einheit und des Ganzen der Geisterwelt, eine der sittlichen Beschaffen­ heit der freien Willkür angemessene Wirkung ausüben oder auch gegenseitig empfangen. Denn weil das Sittliche der That den inneren Zustand des Geistes betrifft, so kann es auch natür­ licher Weise nur in der unmittelbaren Gemeinschaft der Geister die der ganzen Moralität adäquate Wirkung nach sich ziehen. Dadurch würde es nun geschehen, daß die Seele des Menschen schon in diesem Leben dem sittlichen Zustande zufolge ihre ©teile unter den geistigen Substanzen des Universum ein­ nehmen müßte, so wie nach den Gesetzen der Bewegung die Materien des Weltraums sich in solche Ordnung gegeneinander

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setzen, die ihren Körperkräften gemäß ist.*) Wenn denn end­ lich durch den Tod die Gemeinschaft der Seele mit der Körper­ welt aufgehoben worden, so würde das Leben in der andern Welt nur eine natürliche Fortsetzung derjenigen Verknüpfung sein, darin sie mit ihr schon in diesem Leben gestanden war, und die gesammte Folgen der hier ausgeübten Sittlichkeit würden sich dort in den Wirkungen wieder finden, die ein mit der ganzen Geisterwelt in unauflöslicher Gemeinschaft stehendes Wesen schon vorher daselbst nach pneumatischen Gesetzen aus­ geübt hat. Die Gegenwart und die Zukunft würden also gleichsam aus einem Stücke sein und ein stetiges Ganze aus­ machen, selbst nach der Ordnung der Natur. Dieser letztere Umstand ist von besonderer Erheblichkeit. Denn in einer Vermuthung nach bloßen Gründen der Vernunft ist es eine große Schwierigkeit, wenn man, um den Übelstand zu heben, der aus der unvollendeten Harmonie zwischen der Mo­ ralität und ihren Folgen in dieser Welt entspringt, zu einem außerordentlichen göttlichen Willen seine Zuflucht nehmen muß: weil, so wahrscheinlich auch das Urtheil über denselben nach unseren Begriffen von der göttlichen Weisheit sein mag, immer ein starker Verdacht übrig bleibt, daß die schwache Begriffe unseres Verstandes vielleicht auf den Höchsten sehr verkehrt überwogen worden, da des Menschen Obliegenheit nur ist, von dem göttlichen Willen zu urtheilen aus der Wohlgereimtheit, die er wirklich in der Welt wahrnimmt, oder *) Die aus dem Grunde der Moralität entspringende Wechselwir­ kungen des Menschen und der Geisterwelt nach den Gesetzen des pneu­ matischen Einflusses könnte man darin setzen, daß daraus natürlicher Weise eine nähere Gemeinschaft einer guten oder bösen Seele mit guten und bösen Geistern entspringe, und jene dadurch sich selbst dem Theile der geistigen Republik zugesellten, der ihrer sittlichen Beschaffenheit gemäß ist, mit der Theilnehmung an allen Folgen, die daraus nach der Ordnung der Natur entstehen mögen.

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Erster Theil.

welche er nach der Regel der Analogie gemäß der Naturord­ nung darin vermuthen kann, nicht aber nach dem Entwürfe seiner eigenen Weisheit, den er zugleich dem göttlichen Willen zur Vorschrift macht, befugt ist, neue und willkürliche An­ ordnungen in der gegenwärtigen oder künftigen Welt zu er­ sinnen.



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Wir lenken nunmehr unsere Betrachtung wiedemm in den vorigen Weg ein und nähem uns dem Ziele, welches wir uns vorgesetzt hatten. Wenn es sich mit der Geisterwelt und dem Antheile, den unsere Seele an ihr hat, so verhält, wie der Abriß, den wir ertheilten, ihn vorstellt: so scheint fast nichts befremdlicher zu sein, als daß die Geistergemeinschaft nicht eine ganz allgemeine und gewöhnliche Sache ist, und das Außerordentliche betrifft fast mehr die Seltenheit der Erschei­ nungen, als die Möglichkeit derselben. Diese Schwierigkeit läßt sich indessen ziemlich gut heben und ist zum Theil auch schon gehoben worden. Denn die Vorstellung, die die Seele des Menschen von sich selbst als einem Geiste durch ein immaterieNes Anschauen hat, indem sie sich in Verhältniß gegen Wesen von ähnlicher Natur betrachtet, ist von derjenigen ganz verschieden, da ihr Bewußtsein sich selbst als einen Men­ schen vorstellt durch ein Bild, das seinen Ursprung aus dem Eindrucke körperlicher Organen hat, und welches in Verhält­ niß gegen keine andere als materielle Dinge vorgestellt wird. Es ist demnach zwar einerlei Subject, was der sichtbaren und unsichtbaren Welt zugleich als ein Glied angehört, aber nicht eben dieselbe Person, weil die Vorstellungen der einen ihrer verschiedenen Beschaffenheit wegen keine begleitende Ideen von denen der andem Welt sind, und daher, was ich als Geist denke, von mir als Mensch nicht erinnert wird, und umgekehrt mein Zustand als eines Menschen in die Vorstellung meiner

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selbst als eines Geistes gar nicht hinein kommt. Übrigens mögen die Vorstellungen von der Geisterwelt so klar und an­ schauend sein, wie man will,*) so ist dieses doch nicht hinläng­ lich, um mich deren als Mensch bewußt zu werden; wie denn sogar die Vorstellung seiner selbst (d. i. der Seele) als eines Geistes wohl durch Schlüsse erworben wird, bei keinem Men­ schen aber ein anschauender und Erfahrungsbegriff ist. Diese Ungleichartigkeit der geistigen Vorstellungen und derer, die zum leiblichen Leben des Brenschen gehören, darf indessen nicht als eine so große Hinderniß angesehen werden, *) Man kann dieses durch eine gewisse Art von zwiefacher Persön­ lichkeit, die der Seele selbst in Ansehung dieses Lebens zukommt, erläutern. Gewisse Philosophen glauben, sich ohne den mindesten besorglichen Ein­ spruch auf den Zustand des festen Schlafes berufen zu können, wenn sie die Wirklichkeit dunkeler Vorstellungen beweisen wollen, da sich doch nichts weiter hievon mit Sicherheit sagen läßt, als daß wir uns im Wachen keiner von denjenigen erinnern, die wir im festen Schlafe etwa mochten gehabt haben, und daraus nur so viel folgt, daß sie beim Erwachen nicht klar vor­ gestellt worden, nicht aber, daß sie auch damals, als wir schliefen, dunkel waren. Ich vermuthe vielmehr, daß dieselbe klärer und ausgebreiteter sein mögen, als selbst die klärsten im Wachen: weil dieses bei der völligen Ruhe äußerer Sinne von einem so thätigen Wesen, als die Seele ist, zu erwarten ist, wiewohl, da der Körper des Menschen zu der Zeit nicht mit empfunden ist, beim Erwachen die begleitende Idee desselben ermangelt, welche den vorigen Zustand der Gedanken als zu eben derselben Person gehörig zum Bewußtsein verhelfen könnte. Die Handlungen einiger Schlaswanderer, welche bisweilen in solchem Zustande mehr Verstand als sonst zeigen, ob sie gleich nichts davon beim Erwachen erinnern, be­ stätigen die Möglichkeit dessen, was ich vom festen Schlafe vermuthe. Die Träume dagegen, das ist, die Vorstellungen des Schlafenden, deren er sich beim Erwachen erinnert, gehören nicht hieher. Denn alsdann schläft der Mensch nicht völlig; er empfindet in einem gewissen Grade klar und webt seine Geisteshandlungen in die Eindrücke der äußeren Sinne. Daher er sich ihrer zum Theil nachher erinnert, aber auch an ihnen lauter wilde und abgeschmackte Chimären antrifft, wie sie es denn nothwendig sein müssen, da in ihnen Ideen der Phantasie und die der äußeren Empfindung untereinander geworfen werden.

Erster Theil.

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daß sie alle Möglichkeit aufhebe, sich bisweilen der Einflüsse von Seiten der Geisterwelt sogar in diesem Leben bewußt zu werden. Denn sie können in das persönliche Bewußtsein des Menschen zwar nicht unmittelbar, aber doch so übergehen, daß sie nach dem Gesetz der vergesellschafteten Begriffe die­ jenige Bilder rege machen, die mit ihnen verwandt sind und analogische Vorstellungen unserer Sinne erwecken, die wohl nicht der geistige Begriff selber, aber doch deren Symbolen sind. Denn es ist doch immer eben dieselbe Substanz, die zu dieser Welt sowohl als zu der andern wie ein Glied gehört, und beiderlei Art von Vorstellungen gehören zu demselben Subjecte und sind mit einander verknüpft. Die Möglichkeit hievon können wir einigermaßen dadurch faßlich machen, wenn wir bet achten, wie unsere höhere Vernunftbegrisfe, welche sich den geistigen ziemlich nähern, gewöhnlichermaßen gleichsam ein körperlich Kleid annehmen, um sich in Klarheit zu setzen. Daher die moralische Eigenschaften der Gottheit unter den Vorstellungen des Zorns, der Eifersucht, der Barmherzigkeit, der Rache, u. d. g. vorgestellt werden; daher personificiren Dichter die Tugenden, Laster oder andere Eigenschaften der Natur, doch so, daß die wahre Idee des Verstandes hindurch­ scheint; so stellt der Geometra die Zeit durch eine Linie vor, obgleich Raum und Zeit nur eine Übereinkunft in Verhältnissen haben und also wohl der Analogie nach, niemals aber der Qualität nach mit einander übereintreffen; daher nimmt die Vorstellung der göttlichen Ewigkeit selbst bei Philosophen den Schein einer unendlichen Zeit an, so sehr wie man sich auch hütet beide zu vermengen, und eine große Ursache, weswegen die Mathematiker gemeiniglich abgeneigt sind, die Leibnizische Monaden einzuräumen, ist wohl diese, daß sie nicht umhin können sich an ihnen kleine Klümpchen vorzustellen. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, daß geistige Empfindungen in das Bewußtsein übergehen könnten, wenn sie Phantasien er-

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regen, die mit ihnen verwandt sind. Auf diese Art würden Ideen, die durch einen geistigen Einfluß mitgecheilt sind, sich in die Zeichen derjenigen Sprache einkleiden, die der Mensch sonst im Gebrauch hat, die empfundene Gegenwart eines Geistes in das Bild einer menschlichenFigur, Ordnung und Schönheit der immateriellen Welt in Phantasien, die unsere Sinne sonst im Leben vergnügen, u. s. w. Diese Art der Erscheinungen kann gleichwohl nicht etwas Gemeines und Gewöhnliches sein, sondern sich nur bei Personen eräugnen, deren Organen*) eine ungewöhnlich große Reiz­ barkeit haben, die Bilder der Phantasie dem innern Zustande der Seele gemäß durch harmonische Bewegung mehr zu ver­ stärken, als gewöhnlicher Weise bei gesunden Menschen ge­ schieht und auch geschehen soll. Solche seltsame Personen würden in gewissen Augenblicken mit der Apparenz mancher Gegenstände als außer ihnen angefochten sein, welche sie für eine Gegenwart von geistigen Naturen halten würden, die auf ihre körperliche Sinne fiele, obgleich hiebei nur ein Blendwerk der Einbildung vorgeht, doch so, daß die Ursache davon ein wahrhafter geistiger Einfluß ist, der nicht unmittelbar empfun­ den werden kann, sondern sich nur durch verwandte Bilder der Phantasie, welche den Schein der Empfindungen an­ nehmen, zum Bewußtsein offenbart. Die Erziehungsbegrisfe, oder auch mancherlei sonst ein­ geschlichene Wahn würden hiebei ihre Rolle spielen, wo Ver­ blendung mit Wahrheit untermengt wird, und eine wirkliche geistige Empsindung zwar zum Grunde liegt, die doch in Schattenbilder der sinnlichen Dinge umgeschasfen worden. *) Ich verstehe hierunter nicht die Organen der äußeren Empfindung, sondern das Sensorium der Seele, wie man es nennt, d. i. denjenigen Theil des Gehirnes, dessen Bewegung die mancherlei Bilder und Borstellungen der denkenden Seele zu begleiten pflegt, wie die Philosophen dafür halten.

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Man wird aber auch zugeben, daß die Eigenschaft auf solche Weise die Eindrücke der Geisterwelt in diesem Leben zum klaren Anschauen auszuwickeln schwerlich wozu nützen könne; weil dabei die geistige Empsindung nothwendig so genau in das Hirngespenst der Einbildung verwebt wird, daß es unmög­ lich sein muß in derselben das Wahre von den groben Blend­ werken, die es umgeben, zu unterscheiden. Jmgleichen würde ein solcher Zustand, da er ein verändertes Gleichgewicht in den Nerven voraussetzt, welche sogar durch die Wirksamkeit der bloß geistig empfindenden Seele in unnatürliche Bewe­ gung versetzt werden, eine wirkliche Krankheit anzeigen. End­ lich würde es gar nicht beftemdlich sein, an einem Geisterseher zugleich einen Phantasten anzutreffen, zum wenigsten in Ansehung der begleitenden Bilder von diesen seinen Erschei­ nungen, weil Vorstellungen, die ihrer Natur nach ftemd und mit denen im leiblichen Zustande des Menschen unvereinbar sind, sich hervordrängen, und übelgepaarte Bilder in die äußere Empfindung hereinziehen, wodurch wilde Chimären und wunderliche Fratzen ausgeheckt werden, die in langem Geschleppe den betrogenen Sinnen vorgaukeln, ob sie gleich einen wahren geistigen Einfluß zum Grunde haben mögen. Nunmehr kann man nicht verlegen sein, von den Gespenstererzählungen, die den Philosophen so oft in den Weg kommen, imgleichen allerlei Geistereinflüssen, von denen hie oder da die Rede geht, scheinbare Bernunftgründe anzugeben. Abgeschiedene Seelen und reine Geister können zwar niemals unfern äußeren Sinnen gegenwärtig sein, noch sonst mit der Materie in Gemeinschaft stehen, aber wohl auf den Geist des Menschen, der mit ihnen zu einer großen Republik gehört, wirken, so daß die Vorstellungen, welche sie in ihm erwecken, sich nach dem Gesetze seiner Phantasie in verwandte Bilder einkleiden und die Apparenz der ihnen gemäßen Gegenstände als außer ihm erregen. Diese Täuschung kann einen jeden Sinn

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betreffen, und so sehr dieselbe auch mit ungereimten Hirn­ gespinsten untermengt wäre, so dürfte man sich dieses nicht abhalten lassen, hierunter geistige Einflüsse zu vermuthen. Ich würde der Scharfsichtigkeit des Lesers zu nahe treten, wenn ich mich bei der Anwendung dieser Erklärungsart noch aufhalten wollte. Denn metaphysische Hypothesen haben eine jo ungemeine Biegsamkeit an sich, daß man sehr ungeschickt sein müßte, wenn man die gegenwärtige nicht einer jeden Erzählung bequemen könnte, sogar ehe man ihre Wahrhaftig­ keit untersucht hat, welches in vielen Fällen unmöglich und in noch mehreren sehr unhöslich ist. Wenn indessen die Vortheile und Nachtheile in einander gerechnet werden, die demjenigen erwachsen können, der nicht allein für die sichtbare Welt, sondern auch für die unsicht­ bare in gewissem Grade organisirt ist (wofern es jemals einen solchen gegeben hat), so scheint ein Geschenk von dieser Art demjenigen gleich zu sein, womit Juno den Tiresias beehrte, die ihn zuvor blind machte, damit sie ihm die Gabe zu weissagen ertheilen könnte. Denn nach den obigen Sätzen zu urtheilen, kaim die anschauende Kenntniß der andern Welt allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Ver­ stände einbüßt, welchen man für die gegenwärtige nöthig hat. Ich weiß auch nicht, ob selbst gewisse Philosophen gänzlich von dieser harten Bedingung frei sein sollten, welche so fleißig und vertieft ihre metaphysische Gläser nach jenen entlegenen Gegenden hinrichten und Wunderdinge von da­ her zu erzählen wissen, zum wenigsten mißgönne ich ihnen keine von ihren Entdeckungen; nur besorge ich: daß ihnen irgend ein Mann von gutem Verstände und wenig Feinigkeit eben dasselbe dürfte zu verstehen geben, was dem T y ch o de Brahe sein Kutscher antwortete, als jener meinte zur Nachtzeit nach den Stemen den kürzesten Weg fahren zu können: Guter Herr, auf den Himmel mögt

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ihr euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr.

Drittes Hauptstück. Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben. A r i st o t e l e s sagt irgendwo: Wennwirwachen, so haben wir eind gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne. Mich dünkt, man sollte wohl den letzteren Satz um­ kehren und sagen können: wenn von verschiedenen Menschen ein jeglicher seine eigene Welt hat, so ist zu vermuthen, daß sie träumen. Auf diesen Fuß, wenn wir die L u f t b a u meister der mancherlei Gedankenwelten betrachten, deren jeglicher die seinige mit Ausschließung anderer ruhig bewohnt, denjenigen etwa, welcher die Ordnung der Dinge, so wie sie von W o l f f e n aus wenig Bauzeug der Erfahrung, aber mehr erschlichenen Begriffen gezimmert, oder die, so von C r u s i u s durch die magische Kraft einiger Sprüche vom Denklichen und Undenklichen aus Nichts hervor­ gebracht worden, bewohnt, so werden wir uns bei dem Wider­ sprüche ihrer Visionen gedulden, bis diese Henen ausgeträumt haben. D.mn wenn sie einmal, so Gott will, völlig wachen, d. i. zu einem Blicke, der die Einstimmung mit anderem Men­ schenverstände nicht ausschließt, die Augen aufthun werden, so wird niemand von ihnen etwas sehen, was nicht jedem andern gleichfalls bei dem Lichte ihrer Beweisthümer augen­ scheinlich und gewiß erscheinen sollte, und die Philosophen werden zu derselbigen Zeit eine gemeinschaftliche Welt be­ wohnen, dergleichen die Größenlehrer schon längst inne gehabt haben, welche wichtige Begebenheit nicht lange mehr anKant- populäre Schriften.

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stehen kann, wofern gewissen Zeichen und Vorbedeutungen zu trauen ist, die seit einiger Zeit über dem Horizonte der Wissenschaften erschienen sind. In gewisser Verwandtschaft mit den Träumern der Vernunft stehen die Träumer der Empfindung, und unter dieselbe werden gemeiniglich diejenige, so bis­ weilen mit Geistern zu thun haben, gezählt und zwar aus dem nämlichen Grunde wie die vorigen, weil sie etwas sehen, was kein anderer gesunder Mensch sieht, und ihre eigene Ge­ meinschaft mit Wesen haben, die sich niemanden sonst offen­ baren, so gute Sinne er auch haben mag. Es ist auch die Be­ nennung der Träumereien, wenn man voraussetzt, daß die gedachte Erscheinungen auf bloße Hirngespenster auslaufen, in so fern passend, als die eine so gut wie die andere selbst ausgeheckte Bilder sind, die gleichwohl als wahre Gegenstände die Sinne betrügen; allein wenn man sich einbildet, daß beide Täuschungen übrigens in ihrer Entstehungsart sich ähnlich gnug wären, um die Quelle der einen auch zur Erklärung der andern zureichend zu finden, so betrügt man sich sehr. Der­ jenige, der im Wachen sich in Erdichtungen und Chimären, welche seine stets fruchtbare Einbildung ausheckt, dermaßen vertieft, daß er auf die Empfindung der Sinne wenig Acht hat, die ihm jetzt am meisten angelegen sind, wird mit Recht ein wachender Träumer genannt. Denn es dürfen nur die Empfindungen der Sinne noch etwas mehr in ihrer Stärke nachlassen, so wird er schlafen, und die vorige Chimären werden wahre Träume sein. Die Ursache, weswegen sie es nicht schon im Wachen sind, ist diese, weil er sie zu der Zeit als i n s i ch, andere Gegenstände aber, die er empfindet, als außer sich vorstellt, folglich jene zu Wirkungen seiner eignen Thätigkeit, diese aber zu demjenigen zählt, was er von außen empfängt und erleidet. Denn hiebei kommt es alles aus das Verhältniß an, darin die Gegenstände auf ihn selbst als einen Menschen,

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folglich auch auf seinen Körper gedacht werden. Daher können die nämliche Bilder ihn im Wachen wohl sehr beschäftigen, aber nicht betrügen, so klar sie auch sein mögen. Denn ob er gleich alsdann eine Vorstellung von sich selbst und seinem Körper auch im Gehirne hat, gegen die er seine phantastische Bilder in Verhältniß setzt, so macht doch die wirkliche Empfin­ dung seines Körpers durch äußere Sinne gegen jene Chimären einen Contrast oder Abstechung, um jene als von sich ausgeheckt, diese aber als empfunden anzusehen. Schlummert er hiebei ein, so erlischt die empfundene Vorstellung seines Körpers, und es bleibt bloß die selbstgedichtete übrig, gegen welche die andre Chimären als in äußerem Verhältniß gedacht wer­ den und auch, so lange man schläft, den Träumenden betrügen müssen, weil keine Empfindung da ist, die in Vergleichung mit jener das Urbild vom Schattenbilde, nämlich das Außere vom Innern, unterscheiden ließe. Von wachenden Träumern sind demnach die Geisterseher nicht bloß dem Grade, sondem der Art nach'gänzlich unter­ schieden. Denn diese referiren im Wachen und oft bei der größten Lebhaftigkeit anderer Empfindungen gewisse Gegen­ stände unter die äußerliche Stellen der andern Dinge, die sie wirklich um sich wahmehmen, und die Frage ist hier nur, wie es zugehe, daß sie das Blendwerk ihrer Einbildung außer sich versetzen und zwar in Verhältniß auf ihren Körper, den sie auch durch äußere Sinne empfinden. Die große Klarheit ihres Hirngespinstes kann hievon nicht die Ursache sein, denn es kommt hier auf den Ort an, wohin es als ein Gegenstand versetzt ist, und daher verlange ich, daß man zeige, wie die Seele ein solches Bild, was sie doch als in sich enthalten vor­ stellen sollte, in ein ganz ander Verhältniß, nämlich in einen Ort äußerlich und unter die Gegenstände, versetze, die sich ihrer wirklichen Empfindung darbieten. Auch werde ich mich durch die Anführung anderer Fälle, die einige Ähnlichkeit

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mit solcher Täuschung haben und etwa im fieberhaften Zustande vorfallen, nicht abfertigen lassen; denn gesund oder krank, wie der Zustand des Bewogenen auch sein mag, so will man nicht wissen, ob dergleichen auch sonst geschehe, sondern wie dieser Betrug möglich sei. Wir finden aber bei dem Gebrauch der äußeren Sinne, daß über die Klarheit, darin die Gegenstände vorgestellt werden, man in der Empfindung auch ihren Ort mit begreife, vielleicht bisweilen nicht allemal mit gleicher Richtigkeit, dennoch als eine nothwendige Bedingung der Empfindung, ohne welche es unmöglich wäre die Dinge als außer uns vorzustellen. Hiebei wird es sehr wahrscheinlich: daß unsere Seele das emp­ fundene Object dahin in ihrer Vorstellung versetze, wo die verschiedene Richtungslinien des Eindrucks, die dasselbe gemacht hat, wenn sie fortgezogen werden, zusammenstoßen. Daher sieht man einen swahlenden Punkt an demjenigen Orte, wo die von dem Auge in der Richtung des Einfalls der Licht­ skahlen zurückgezogene Linien sich schneiden. Dieser Punkt, welchen man den Sehepunkt nennt, ist zwar in der Wirkung der Zerstreuungspunkt, aber in der Vorstellung der 'Sammlungspunkt der Direcwonslinien, nach welchen die Empfindung eingedrückt wird (focus imaginarius). So bestimmt man selbst durch ein einziges Auge einem sichtbaren Objecte den Ort, wie unter andern geschieht, wenn das Spec­ trum eines Körpers vermittelst eines Hohlspiegels in der Luft gesehen wird, gerade da, wo die Swahlen, welche aus einem Punkte des Objects ausfließen, sich schneiden, ehe sie ins Auge fallen.*) *) So wird das Urtheil, welches wir von dem scheinbaren Orte naher Gegenstände fällen, in der Sehekunst gemeiniglich vorgestellt, und es stimmt auch sehr gut mit der Erfahrung. Indessen tteffen eben dieselbe Lichtstrahlen, die aus einem Punkte auslaufen, vermöge der Brechung in den Augenfeuchtigkeiten nicht divergirend auf den Sehenerven, son-

Vielleicht kann man eben so bei den Eindrücken des Schalles, weil dessen Stöße auch nach geraden Linien geschehen, annehmen: daß die Empfindung desselben zugleich mit der Vorstellung eines foci imaginär» begleitet sei, der dahin ge­ setzt wird, wo die gerade Linien des in Bebung gesetzten Nervengebäudes, im Gehirne äußerlich fortgezogen, zusammen­ stoßen. Denn man bemerkt die Gegend und Weite eines schallenden Objects einigermaßen, wenn der Schall gleich leise ist und hinter uns geschieht, obschon die gerade Linien, die von da gezogen werden können, eben nicht die Eröffnung des Ohrs wessen, sondern auf andere Stellen des Haupts fallen, so daß man glauben muß, die Richtungslinien der Erschütterung werden in der Vorstellung der Seele äußerlich fortgezogen und das schallende Object in den Punkt ihres Zusammenstoßes versetzt. Eben dasselbe kann, wie mich dünkt, auch von den übrigen drei Sinnen gesagt werden, welche sich darin von dem Gesichte und Gehör unterscheiden, daß der Gegenstand der Empfindung mit den Organen in unmittelbarer Berührung steht, und die Richtungslinien des sinnlichen Reizes daher in diesen Organen selbst ihren Punkt der Bereinigung haben. Um dieses aus die Bilder der Einbildung anzuwenden, so erlaube man mir dasjenige, was Cartesius annahm und die mehrsten Philosophen nach ihm billigten, zum Gmnde zu legen: nämlich daß alle Vorstellungen der Einbildungs­ kraft zugleich mit gewissen Bewegungen in dem Nervengewebe oder Nervengeiste des Gehirnes begleitet sind, welche man ideas materiales nennt, d. i. vielleicht mit der Erschüttebetn vereinigen sich daselbst in einem Punkte. Daher, wenn die Empfing düng lediglich in diesem Nerven vorgeht, der focus imaginarius nicht außer dem Körper, sondern im Boden des Auges gesetzt werden müßte, welches eine Schwierigkeit macht, die ich jetzt nicht auslösen kann, und die mit den obigen Sätzen sowohl als mit der Erfahrung unvereinbar scheint.

166 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der MetayhiM, rung oder Bebung des feinen Elements, welches von ihnen abgesondert wird, und die derjenigen Bewegung ähnlich ist, welche der sinnliche Eindruck machen könnte, wovon er die Copie ist. Nun verlange ich aber mir einzuräumen: daß der vornehmste Unterschied der Nervenbewegung in den Phan­ tasien von der in der Empfindung darin bestehe, daß die Rich­ tungslinien der Bewegung bei jener sich innerhalb dem Ge­ hirne, bei dieser aber außerhalb schneiden: daher, weil der focus imaginarius, darin das Object vorgestellt wird, bei den klaren Empfindungen des Wachens außer mir, der von den Phantasien aber, die ich zu der Zeit etwa habe, in mir gesetzt wird, ich, so lange ich wache, nicht schien kann die Einbildungen als meine eigene Hirngespinste von dem Eindruck der Sinne zu unterscheiden. Wenn man dieses einräumt, so dünkt mich, daß ich über diejenige Art von Störung des Gemüths, die man den Wahn­ sinn und im höhern Grade die Verrückung nennt, etwas Be­ greifliches zur Ursache anführen könne. Das Eigenthümliche dieser Krankheit besteht darin: daß der verworrene Mensch bloße Gegenstände seiner Einbildung außer sich versetzt und als wirklich vor ihm gegenwärtige Dinge ansieht. Nun habe ich gesagt: daß nach der gewöhnlichen Ordnung die Directionslinien der Bewegung, die in dem Gehirne als materielle Hülfsmittel die Phantasie begleiten, sich innerhalb demselben durchschneiden müssen, und mithin der Ort, darin er sich seines Bildes bewußt ist, zur Zeit des Wachens in ihm selbst gedacht werde. Wenn ich also setze, daß durch irgend einen Zufall oder Krankheit gewisse Organen des Gehirnes so verzogen und aus ihrem gehörigen Gleichgewicht gebracht seien, daß die Bewegung der Nerven, die mit einigen Phantasien harmonisch beben, nach solchen Richtungslinien geschieht, welche fortge­ zogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen würden, so ist der focus imaginarius außerhalb dem denkenden Subject

Erster Theil.

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gesetzt,*) und das Md, welches ein Werk der bloßen Einbildung ist, wird als ein Gegenstand vorgestellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre. Die Bestürzung über die vermeinte Erscheinung einer Sache, die nach der natürlichen Ordnung nicht zugegen sein sollte, wird, obschon auch anfangs ein solches Schattenbild der Phantasie nur schwach wäre, bald die Auf­ merksamkeit rege machen und der Scheinempfindung eine so große Lebhaftigkeit geben, die den betrogenen Menschen an der Wahrhaftigkeit nicht zweifeln läßt. Dieser Betrug kann einen jeden äußeren Sinn betreffen, denn von jeglichem haben wir copirte Bilder in der Einbildung, und die Verrückung des Nervengewebes kann die Ursache werden, den focum imaginarium dahin zu versetzen, von wo der sinnliche Eindruck eines wirklich vorhandenen körperlichen Gegenstandes kommen würde. Es ist alsdann kein Wunder, wenn der Phantast manches sehr deutlich zu sehen oder zu hören glaubt, was nie­ mand außer ihm wahrnimmt, imgleichen wenn diese Hirn­ gespenster ihm erscheinen und plötzlich verschwinden, oder in*) Man könnte als eine entfernte Ähnlichkeit mit dem angeführten Zusalle die Beschaffenheit der Trunkenen anführen, die in diesem Zustande mit beiden Augen doppelt sehen: dämm weil durch die Anschwellung der Blutgefäße eine Hinderniß entspringt, die Augenachsen so zu richten, daß ihre verlängerte Linien sich im Punkte, worin das Object ist, schneiden. Eben so mag die Berziehung der Himgefäße, die vielleicht nur vorüber­ gehend ist und, so lange sie dauert, nur einige Newen betrifft, dazu dienen, daß gewisse Bilder der Phantasie selbst im Wachen als außer uns erscheinen. Eine sehr gemeine Ersahmng kann mit dieser Täuschung verglichen werden. Wenn man nach vollbrachtem Schlafe mit einer Gemächlichkeit, die einem Schlummer nahe kommt, und gleichsam mit gebrochnen Augen die man­ cherlei Fäden der Bettvochänge oder des Bezuges oder die kleinen Flecken einer nahen Wand ansieht, so macht man sich daraus leichtlich Figuren von Menschengesichtem und dergleichen. Das Blendwerk hört aus, so bald man will und die Ausmerksamkeit anstrengt. Hier ist die Versetzung des foci imaginarii der Phantasien der Willkür einigermaßen unterworfen, da sie bei der Berrückung durch keine Willkür kann gehindert werden.

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dem sie etwa einem Sinne, z. E. dem Gesichte, vorgaukeln, durch keinen andern, wie z. E. das Gefühl, können empfunden werden und daher durchdringlich scheinen. Die gemeine Geistererzählungen laufen so sehr auf dergleichen Bestimmungen hinaus, daß sie den Verdacht ungemein rechtfertigen, sie könnten wohl aus einer solchen Quelle entsprungen sein. Und so ist auch der gangbare Begriff von geistigen Wesen, den wir oben aus dem gemeinen Redegebrauche herausw Selten, dieser Täuschung sehr gemäß und verläugnet seinen Ursprung nicht: weil die Eigellschaft einer durchdringlichen Gegenwart im Raume das wesentliche Merkmal dieses Begriffes aus­ machen soll. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß die Erziehungsbegriffe von Geistergestalten dem kranken Kopfe die Materialien zu den täuscheiüien Einbildungen geben, und daß ein von allen solchen Borurtheilen leeres Gehirn, wenn ihm gleich eine Verkehrtheit anwandelte, wohl nicht so leicht Bilder von solcher Art aushecken würde. Femer sieht man daraus auch, daß, da die Krankheit des Phantasten nicht eigentlich den Verstand, sondern die Täuschung der Sinne betrifft, der Unglückliche seine Blendwerke durch kein Vernünfteln heben könne: well die wahre oder scheinbare Empfindung der Sinne selbst vor allem Urtheil des Verstandes vorhergeht und eine unmittelbare Evidenz hat, die alle andere Überredung weit übertrifft. Die Folge, die sich aus diesen Betrachtungen ergiebt, hat dieses Ungelegene an sich, daß sie die tiefe Vermuthungen des vorigen Hauptstücks ganz entbehrlich macht, und daß der Leser, so bereitwlllig er auch sein mochte, den idealischen Entwürfen desselben einigen Beifall einzuräumen, dennoch den Begriff vorziehen wird, welcher mehr Gemächlichkeit und Kürze im Entscheiden bei sich führt und sich einen allgemeineren Beifall versprechen kann. Denn außer dem, daß es einer vemünftigen Denkungsart gemäßer zu sein scheint, die Gründe der Erklärung

Erster Theil.

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aus dem Stoffe herzunehmen, den die Erfahrung uns dar­ bietet, als sich in schwindlichten Begriffen einer halb dichtenden, halb schließenden Vernunft zu verlieren, so äußert sich noch dazu auf dieser Seite einiger Anlaß zum Gespötte, welches, es mag nun gegründet sein oder nicht, ein kräftigeres Mittel ist als irgend ein anderes, eitele Nachforschungen zurückzuhalten. Denn auf eine ernsthafte Art über die Hirngespenstcr de: Phantasten Auslegungen machen zu wollen, giebt schon eine schlimme Vermuthung, und die Philosophie setzt sich in Ver­ dacht, welche sich in so schlechter Gesellschaft betreffen läßt. Zwar habe ich oben den Wahnsinn in dergleichen Erscheinung nicht bestritten, vielmehr ihn, zwar nicht als die Ursache einer eingebildeten Geistergemeinschaft, doch als eine natürliche Folge derselben damit verknüpft; allein was für eine Thorheit giebt es doch, die nicht mit einer bodenlosen Weltweisheit könnte in Einstimmung gebracht werden? Daher verdenke ich es dem Leser keinesweges, wenn er, anstatt die Geisterseher für Halbbürger der andern Welt anzusehen, sie kurz und gut als Candidaten des Hospitals abfertigt und sich dadurch alles weiteren Nachsorschens überhebt. Wenn nun aber alles auf solchen Fuß genommen wird, so muß auch die Art dergleichen Adepten des Geisterreichs zu behandeln von derjenigen nach den obigen Begriffen sehr verschieden sein, und da man es sonst nöthig fand, bisweilen einige derselben zu brennen, so wird es jetzt gnug sein, sie nur zu p u r g i r e n. Auch wäre es bei dieser Lage der Sachen eben nicht nöthig gewesen, so weit auszuholen und in dem fieberhaften Gehirne betrogen« Schwärmer durch Hülfe der Metaphysik Geheimnisse aufzu­ suchen. Der scharfsichtige H u d i b r a s hätte uns allein das Räthsel auflösen können, denn nach seiner Meinung: wenn ein hypochondrischer Wind in den Ein­ geweiden tobt, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt, geht er abwärts,

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so wird daraus einF—, steigt er aber auf­ wärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung.

Viertes Hauptstück. Theoretischer Schluß aus den gesummten Betrachtungen des ersten Theils. Die Trüglichkeit einer Wage, die nach bürgerlichen Gesetzen ein Maß der Handlung sein soll, wird entdeckt, wenn man Waare und Gewichte ihre Schalen vertauschen läßt, und die Parteilichkeit der Verstandeswage offenbart sich durch eben denselben Kunstgriff, ohne welchen man auch in philosophischen Urtheilen nimmermehr ein einstimmiges Facit aus den ver­ glichenen Abwiegungen herausbekommen kann. Ich habe meine Seele von Vorurtheilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt, welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten Wissen in mir Eingang zu verschaffen. Jetzt ist mir nichts angelegen, nichts ehrwürdig, als was durch den Weg der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und für alle Gründe zugänglichen Gemüthe Platz nimmt; es mag mein voriges Urtheil bestätigen oder aufheben, mich bestimmen oder unentschieden lassen. Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne ich es mir zu. Das Urtheil desjenigen, der meine Gründe widerlegt, ist mein Urtheil, nachdem ich es vorerst g e g e n die Schale der Selbstliebe und nachher in der­ selben gegen meine vermeintliche Gründe abgewogen und in ihm einen größeren Gehalt gefunden habe. Sonst betrachtete ich den allgemeinen menschlichen Verstand blos aus dem Stand­ punkte des meinigen: jetzt setze ich mich in die Stelle einer frem­ den und äußeren Vernunft und beobachte meine Urtheile sammt ihren geheimsten Anlässen aus dem Gesichtspunkte anderer. Die Vergleichung beider Beobachtungen giebt zwar starke

Erster Theil.

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Parallaxen, aber sie ist auch das einzige Mittel, den optischen Betrug zu verhüten und die Begriffe an die wahre Stellen zu setzen, darin sie in Ansehung der Erkenntnißvermögen der menschlichen Natur stehen. Man wird sagen, daß dieses eine sehr emsthafte Sprache sei für eine so gleichgültige Aufgabe, als wir abhandeln, die mehr ein Spielwerk als eine emstliche Beschäftigung genannt zu werden verdient, und man hat nicht Unrecht so zu urtheilen. Allein ob man zwar über eine Kleinig­ keit keine große Zurüstung machen darf, so kann man sie doch gar wohl bei Gelegenheit derselben machen, und die entbehr­ liche Behutsamkeit beim Entscheiden in Kleinigkeiten kann zum Beispiele in wichtigen Fällen dienen. Ich finde nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit, oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Gemüthe die Lenksamkeit nach allerlei Gründen für oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Berstandeswage ist doch nicht ganz unpar­ teiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoff­ nung der Zukunft, hat einen mechanischen Vortheil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größerem Gewichte auf der andem Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann, und die ich in der That auch niemals heben will. Nun gestehe ich, daß alle Erzählungen vom Erscheinen abgeschiedener Seelen oder von Geistereinflüssen und alle Theorien von der muthmaßlichen Natur geistiger Wesen und ihrer Verknüpfung mit uns nur in der Schale der Hoffnung merklich wiegen: dagegen in der der Speculation aus lauter Luft zu bestehen scheinen. Wenn die Ausmittelung der aufgegebenen Frage nicht mit einer vorher schon entschiedenen Neigung in Sym­ pathie stände, welcher Vemünftige würde wohl unschlüssig sein, ob er mehr Möglichkeit darin finden sollte, eine Art Wesen anzunehmen, die mit allem, was ihm die Sinne lehren, gar

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nichts Ähnliches haben, als einige angebliche Erfahrungen dem Selbstbetrugs und der Erdichtung beizumessen, die in mehreren Fällen nicht ungewöhnlich sind. Ja dieses scheint auch überhaupt von der Beglaubigung der Geistererzählungen, welche so allgemeinen Eingang finden, die vornehmste Ursache zu sein, und selbst die erste Täuschungen von vermeinten Erscheinungen abgeschiedener Menschen sind vermuthlich aus der schmeichelhaften Hoffnung entsprungen, daß man noch auf irgend eine Art nach dem Tode übrig sei, da denn bei nächtlichen Schatten oftmals der Wahn die Sinne betrog und aus zweideutigen Gestalten Blendwerke schuf, die der vorhergehenden Meinung gemäß waren, woraus denn endlich die Philosophen Anlaß nahmen die Vernunftidee von Geistern auszudenken und sie in Lehrversassung zu bringen. Man sieht es auch wohl meinem anmaßlichen Lehrbegriff von der Geistergemeinschaft an, daß er eben dieselbe Richtung nehme, in den die gemeine Neigung einschlägt. Denn die Sätze vereinbaren sich sehr merklich nur dahin, um einen Begriff zu geben, wie der Geist des Menschen aus dieser Welt herausgehe,*) d. i. vom Zustande nach dem Tode; wie er aber hineinkomme, d. i. von der Zeugung und Fortpflanzung, davon erwähne ich nichts; ja sogar nicht einmal, wie er in dieser Welt gegenwärtig sei, d. i. wie eine immaterielle Natur in einem Körper und durch denselben wirksam sein könne; alles um einer sehr gültigen Ursache willen, welche diese ist, *) Das Sinnbild der alten Ägypter für die Seele war ein Papilion, und die griechische Benennung bedeutete eben dasselbe. Man sieht leicht, daß die Hofsnung, welche aus dem Tode nur eine Berwandlung macht, eine solche Idee sammt ihren Zeichen veranlaßt habe. Indessen hebt dieses keineswegs das Zutrauen zu der Richtigkeit der hieraus ent­ sprungenen Begriffe. Unsere innere Empfindung und die darauf gegründete Urtheile des Bernunftähnlichen führen, fo lange sie unverderbt sind, eben dahin, wo die Vernunft hin leiten würde, wenn sie erleuchteter und ausgebreiteter wäre.

Erster Theil.

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daß ich hievon insgesammt nichts verstehe und folglich mich wohl hätte bescheiden können, eben so unwissend in Ansehung des künftigen Zustandes zu sein, wofern nicht die Parteilichkeit einer Lieblingsmeinung den Gründen, die sich darboten, so schwach sie auch sein mochten, zur Empfehlung gedient hätte. Eben dieselbe Unwissenheit macht auch, daß ich mich nicht unterstehe so gänzlich alle Wahrheit an den mancherlei Geister­ erzählungen abzuleugnen, doch mit dem gewöhnlichen, obgleich wunderlichen Vorbehalt, eine jede einzelne derselben in Zweifel zu ziehen, allen zusammen genommen aber einigen Glauben beizumessen. Dem Leser bleibt das Urtheil frei; was mich aber anlangt, so ist zum wenigsten der Ausschlag auf die Seite der Gründe des zweiten Hauptstücks bei mir groß gnug, mich bei Anhörung der mancherlei befremdlichen Erzählungen dieser Art ernsthaft und unentschieden zu erhalten. Indessen da es niemals an Gründen der Rechtfertigung fehlt, wenn das Gemüth vorher eingenommen ist, so will ich dem Leser mit keiner weiteren Vertheidigung dieser Denkungsart beschwerlich fallen. Da ich mich jetzt beim Schlüsse der Theorie von Geistern befinde, so unterstehe ich mir noch zu sagen: daß diese Be­ ttachtung, wenn sie von dem Leser gehörig genutzt wird, alle philosophische Einsicht von dergleichen Wesen vollende, und daß man davon vielleicht künftighin noch allerlei meinen, niemals aber mehr wissen könne. Dieses Vorgeben Ringt ziemlich ruhmräthig. Denn es ist gewiß kein den Sinnen bekannter Gegenstand der Natur, von dem man sagen könnte, man habe ihn durch Beobachtung oder Bemunst jemals erschöpft, wenn es auch ein Wasserköpfen, ein Sandkorn oder etwas noch Einfacheres wäre; so unermeßlich ist die Man­ nigfaltigkeit desjenigen, was die Natur in ihren geringsten Theilen einem so eingeschränkten Verstände, wie der menschliche ist, zur Auflösung darbietet. Mein mit dem philosophischen

174 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

Lehrbegriff von geistigen Wesen ist es ganz anders bewandt. Er kann vollendet sein, aber im negativen Verstände, indem er nämlich die Grenzen unserer Einsicht mit Sicherheit festsetzt und uns überzeugt: daß die verschiedene Erscheinungen des L e b e n s in der Natur und deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergönnt ist, das Principium dieses Lebens aber, d. i. die geistige Natur, welche man nicht kennt, sondern vermuthet, niemals positiv könne gedacht werden, weil keine data hiezu in unseren gesammten Empfindungen anzutreffen seien, und daß man sich mit Verneinungen behelfen müsse, um etwas von allem Sinnlichen so sehr Unterschiedenes zu denken, daß aber selbst die Möglichkeit solcher Verneinungen weder auf Erfahrung, noch auf Schlüssen, sondern auf einer Erdichtung beruhe, zu der eine von allen Hülfsmitteln entblößte Vernunft ihre Zuflucht nimmt. Aus diesen Fuß kann die Pneumawlogie der Menschen ein Lehrbegriff ihrer nothwendigen Unwissenheit in Absicht aus eine vermuthete Art Wesen genannt werden und als ein solcher der Aufgabe leichtlich adäquat sein. Nunmehr lege ich die ganze Materie von Geistern, ein ivcitläustig Stück der Metaphysik, als abgemacht und vollendet bei Seite. Sie geht mich künftig nichts mehr an. Indem ich den Plan meiner Nachforschung auf diese Art besser zusammen­ ziehe und mich einiger gänzlich vergeblichen Untersuchungen entschlage, jo hofse ich meine geringe Berstandesfähigkeit auf die übrige Gegenstände vortheilhafter anlegen zu können. Es ist mehrentheils umsonst das Heine Maß seiner Kraft aus alle windichte Entwürfe ausdehnen zu wollen. Daher gebeut die Klugheit sowohl in diesem als in andern Fällen, den Zu­ schnitt der Entwürfe den Kräften angemessen zu machen und, wenn man das Große nicht füglich erreichen kann, sich auf das Mittelmäßige einzuschränken.

Der zweite Theil, welcher historisch ist. Erstes Hauptstück. Eine Erzählung, deren Wahrheit der be­ liebigen Erkundigung des Lesers empfohlen wird. Sit mihi fas audita loqui.-----------VIRG.

Die Philosophie, deren Eigendünkel macht, daß sie sich selbst allen eiteln Fragen bloß stellt, sieht sich oft bei dem An­ lasse gewisser Erzählungen in schlimmer Verlegenheit, wenn sie entweder an einigem in denselben ungestraft nicht zwei­ feln oder manches davon unausgelacht nicht glauben darf. Beide Beschwerlichkeiten finden sich in gewisser Maße bei den herumgehenden Geistergeschichten zusammen, die erste bei An­ hörung desjenigen, der sie betheuret, und die zweite in Bettacht derer, auf die man sie weiter bringt. In der That ist auch kein Vorwurf dem Philosophen bitterer, als der der Leichtgläubig­ keit und der Ergebenheit in den gemeinen Wahn, und da die­ jenigen, welche sich darauf verstehen, gutes Kaufs klug zu scheinen, ihr spöttisches Gelächter auf alles werfen, was die Un­ wissenden und die Weisen gewissermaßen gleich macht, indem es beiden unbegreiflich ist: so ist kein Wunder, daß die so häufig vorgegebene Erscheinungen großen Eingang finden, öffentlich aber entweder abgeleugnet oder doch verhehlt werden. Man

176 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

kann sich daher darauf verlassen: daß niemals eine Akademie der Wissenschaften diese Materie zur Preisfrage machen werde; nicht als wenn die Glieder derselben gänzlich von aller Er­ gebenheit in die gedachte Meinung frei wären, fonbetn weil die Regel der Klugheit den Fragen, welche der Vorwitz und die eitle Wißbegierde ohne Unterschied aufwirst, mit Recht Schran­ ken setzt. Und so werden die Erzählungen von dieser Art wohl jederzeit nur heimliche Gläubige haben, öffentlich aber durch die herrschende Mode des Unglaubens verworfen werden. Da mir indessen diese ganze Frage weder wichtig noch vorbereitet gnug scheint, um über dieselbe etwas zu entscheiden, so trage ich kein Bedenken hier eine Nachricht der erwähnten Art anzuführen und sie mit völliger Gleichgültigkeit dem geneigten oder ungeneigten Urtheile der Leser preis zu geben. Es lebt zu Stockholm ein gewisser Herr Schwedenberg ohne Amt oder Bedienung von seinem ziemlich ansehnlichen Vermögen. Seine ganze Beschäftigung besteht darin, daß er, wie er selbst sagt, schon seit mehr als zwanzig Jahren mit Geistern und abgeschiedenen Seelen im genauesten Umgänge steht, von ihnen Nachrichten aus der andern Welt einholt und ihnen dagegen welche aus der gegenwärtigen ertheilt, große Bände über seine Entdeckungen abfaßt und bisweilen nach London reiset, um die Ausgabe derselben zu besorgen. Er ist eben nicht zurückhaltend mit seinen Geheimnissen, spricht mit jedermann frei davon, scheint vollkommen von dem, was er vorgiebt, überredet zu sein ohne einigen Anschein eines an­ gelegten Betruges oder Charlatanerei. So wie er, wenn man ihm selbst glauben darf, der Erzgeisterseher unter allen Geister­ sehern ist, so ist er auch sicherlich der Erzphantast unter allen Phantasten, man mag ihn nun aus der Beschreibung derer, welche ihn kennen, oder aus seinen Schriften beurtheilen. Doch kann dieser Umstand diejenige, welche den Geistereinflüssen sonst günstig sind, nicht abhalten, hinter solcher Phantasterei

Zweiter Theil,

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noch etwas Wahres zu vermuthen. Well indessen das Ereditiv aller Bevollmächtigten aus der andern Welt in den Beweisthümern besteht, die sie durch gewisse Proben in der gegen­ wärtigen von ihrem außerordenüichen Beruf ablegen, so muß ich von demjenigen, was zur Beglaubigung der außerordentlichen Eigenschaft des gedachten Mannes hemmgetragen wird, wenigstens dasjenige anführen, was noch bei den meisten einigen Glauben findet. Gegen das Ende des Jahres 1761 wurde Herr Schweden­ berg zu einer Fürstin gemfen, deren großer Verstand und Ein­ sicht es beinahe unmöglich machen sollte in dergleichen Fällen hintergangen zu werden. Die Veranlassung dazu gab das allgemeine Gerücht von den vorgegebenen Visionen dieses Mannes. Nach einigen Fragen, die mehr darauf abzielten, sich mit seinen Einbildungen zu belustigen, als wirlliche Nach­ richten aus der andem Welt zu vemehmen, verabschiedete ihn die Fürstin, indem sie ihm vorher einen geheimen Auftrag that, der in seine Geistergemeinschaft einschlug. Nach einigen Tagen erschien Herr Schwedenberg mit der Antwort, welche von der Art war, daß solche die Fürstin ihrem eigenen Geständnisse nach in das größte Erstaunen versetzte, indem sie solche wahr befand, und ihm gleichwohl solche von keinem lebendigen Menschen konnte ertheilt sein. Diese Erzählung ist aus dem Berichte eines Gesandten an dem dortigen Hofe, der damals zugegen war, an einen andem ftemden Gesandten in Kopen­ hagen gezogen worden, stimmt auch genau mit dem, was die besondere Nachftage darüber hat erkundigen können, zusammen. Folgende Erzählungen haben keine andere Gewährleistung als die gemeine Sage, deren Beweis sehr mißlich ist. Madame M a r t e v i l l e, die Mttwe eines holländischen Envoyä an dem schwedischen Hofe, wurde von den Angehörigen eines Goldschmiedes um die Bezahlung des Rückstandes für ein ver­ fertigtes Silbersemice gemahnt. Die Dame, welche die regel»ant- populäre Schriften.

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178 Träume eines Geistessehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. mäßige Wrthschast ihres verstorbenen Gemahls kannte, war überzeugt, daß diese Schuld schon bei seinem Leben abgemacht sein müßte; allein sie fand in seinen hinterlassenen Papieren gar keinen Beweis. Das Frauenzimmer ist vorzüglich geneigt den Erzählungen der Wahrsagerei, der Traumdeutung und allerlei anderer wunderbarer Dinge Glauben beizumessen. Sie entdeckte daher ihr Anliegen dem Herrn Schwedenberg mit dem Ersuchen, wenn es wahr wäre, was man von ihm sagte, daß er mit abgeschiedenen Seelen im Umgänge stehe, ihr aus der anbetn Welt von ihrem verstorbenen Gemahl Nachricht zu verschaffen, wie es mit der gedachten Anforderung bewandt sei. Herr Schwedenberg versprach solches zu thun und stellte der Dame nach wenig Tagen in ihrem Hause den Bericht ab, daß er die verlangte Kundschaft eingezogen habe, daß in einem Schrank, den er anzeigte und der chrer Meinung nach völlig ausgeräumt war, sich noch ein verborgenes Fach befinde, welches die erforderliche Quittungen enthielte. Man suchte sofort seiner Beschreibung zufolge und fand nebst der geheimen holländischen Correspondence die Quittungen, wodurch alle gemachte Ansprüche völlig getilgt wurden. Die dritte Geschichte ist von der Art, daß sich sehr leicht ein vollständiger Beweis ihrer Richtigkeit oder Unrichtigkeit muß geben lassen. Es war, wo ich recht berichtet bin, gegen das Ende des 1759ten Jahres, als Herr Schwedenberg, aus Eng­ land kommend, an einem Nachmittage zu Gothenburg ans Land trat. Er wurde denselben Abend zu einer Gesellschaft bei einem dortigen Kaufmann gezogen und gab ihr nach einigem Aufenthalt mit allen Zeichen der Bestürzung die Nach­ richt, daß eben jetzt in Stockholm im Südermalm eine erschreckliche Feuersbrunst wüthe. Nach Verlauf einiger Stunden, binnen welchen er sich dann und wann entfernte, berichtete er der Gesellschaft, daß das Feuer gehemmt sei, imgleichen wie weit es um sich gegriffen habe. Eben denselben

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Abend verbreitete sich schon diese wunderliche Nachricht und war den andern Morgen in der gongen Stadt herumgetragen; allein nach zwei Tagen allererst kam der Bericht davon aus Stockholm in Gothenburg an, völlig einstimmig, wie man sagt, mit Schwedenbergs Visionen. Man wird vermuthlich fragen, was mich doch immer habe bewegen können ein so verachtetes Geschäfte zu übernehmen, als dieses ist, Märchen weiter zu bringen, die ein Vernünftiger Bedenken trägt mit Geduld anzuhören, ja solche gar zum Text philosophischer Untersuchungen zu machen. Allein da die Philosophie, welche wir voranschickten, eben so wohl ein Mär­ chen war aus dem Schlaraffenlande der Metaphysik, so sehe ich nichts Unschi«kliches darin, beide in Verbindung auftreten zu lassen; und warum sollte es auch eben rühmlicher sein, sich durch das blinde Vertrauen in die Scheingründe der Vernunft, als durch unbehutsamen Glauben an betrügliche Erzählungen hintergehen zu lassen? Thorheit und Verstand haben so unkenntlich bezeichnete Grenzen, daß man schwerlich in dem einen Gebiete lange fortgeht, ohne bisweilen einen kleinen Streif in das andre zu thun; aber was die Treuherzigkeit anlangt, die sich bereden läßt, vielen festen Betheurungen selbst wider die Gegenwehr des Verstandes bisweilen etwas einzuräumen, so scheint sie ein Rest der alten Stammehrlichkeit zu sein, die fteilich auf den jetzigen Zustand nicht recht paßt und daher oft zur Thorheit wird, aber dämm doch eben nicht als ein natürliches Erbstück der Dummheit angesehen werden muß. Daher überlasse ich es dem Belieben des Lesers bei der wunderlichen Erzählung, mit welcher ich mich bemenge, jene zweideutige Mschung von Vernunft und Leichtgläubigkeit in ihre Elemente aufzulösen und die Proportion beider Jngredientien für meine Denkungs­ art auszurechnen. Denn da es bei einer solchen Kritik doch nur um die Anständigkeit zu thun ist, so halte ich mich gnugsam vor 12»

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der

Metaphysik.

dem Spott gesichert, dadurch daß ich mit dieser Thorheit, wenn man sie so nennen will, mich gleichwohl in recht guter und zahlreicher Gesellschaft befinde, welches schon gnug ist, wie Fontenelle glaubt, um wenigstens nicht für unklug ge­ halten zu werden. Denn es ist zu allen Zeiten so gewesen und wird auch wohl künftighin so bleiben, daß gewisse widersinnige Dinge selbst bei Vernünftigen Eingang finden, bloß darum weil allgemein davon gesprochen wird. Dahin gehören die Sympathie, die Wünschelruthe, die Ahndungen, die Wirkung der Einbildungsk äst schwangerer Frauen, die Einflüsse der Mondwechsel auf Thiere und Pflanzen u. d. g. Ja hat nicht vor kurzem das gemeine Landvolk den Gelehrten die Spötterei gut vergolten, welche sie gemeiniglich auf dasselbe der Leicht­ gläubigkeit wegen zu werfen pflegen? Denn durch vieles Hörensagen brachten Kinder und Weiber endlich einen großen TheU kluger Männer dahin, daß sie einen gemeinen Wolf für eine Hyäne hielten, obgleich jetzt ein jeder Vernünftige leicht einsieht, daß in den Wäldern von Frankreich wohl kein afri­ kanisches Raubthier hemmlausen werde. Die Schwäche des menschlichen Verstandes in Verbindung mit seiner Wißbegierde macht, daß man anfänglich Wahrheit und Betmg ohne Unter­ schied aufrafft. Aber nach und nach läutern sich die Begriffe, ein kleiner Theil bleibt, das übrige wird als Auskehricht weg­ geworfen. Wem also jene Geistererzählungen eine Sache von Wichtig­ keit zu sein scheinen, der kann immerhin, im Fall er Geld gnug und nichts Besseres zu thun hat, eine Reise auf eine nähere Erkundigung derselben wagen, so wie A r t e m i d o r zum Besten der Traumdeutung in Kleinasien hemmzog. Es wird ihm auch die Nachkommenschaft von ähnlicher Denkungsart dafür höchlich verbunden sein, daß er verhütete, damit nicht der­ einst ein anderer P h i l o st r a t aufstünde, der nach Verlaus vieler Jahre aus unserm Schwedenberg einen neuen Apollo-

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niusvonTyane machte, wenn das Hörensagen zu einem förmlichen Beweise wird gereift sein, und das ungelegene, obzwar höchstnöthige Verhör der Augenzeugen dereinst un­ möglich geworden sein wird.

Zweites Hauptstück. Ekstatische Reise eines Schwärmers durch die Geisterwelt. Somnia, terrores magicos, mir&cula, sagas, Noctumos lemurcs, portentaque Thessala —. HORATIUS.

Ich kann es dem behutsamen Leser auf keinerlei Weise übel nehmen, wenn sich im Fortgange dieser Schrift einiges Bedenken bei ihm geregt hätte über das Verfahren, das der Verfasser für gut gefunden hat darin zu beobachten. Denn k>a ich den dogmatischen Theil vor dem historischen und also die Vernunftgründe vor der Erfahrung voranschickte, so gab ich Ursache zu dem Argwohn, als wenn ich mit Hinterlist umginge und, da ich die Geschichte schon vielleicht zum Voraus im Kopfe gehabt haben mochte, mich nur so angestellt hätte, als wüßte ich von nichts, als von reinen, abgesonderten Betrachtungen, damit ich den Leser, der sich nichts dergleichen besorgt, am Ende mit einer erfreulichen Bestätigung aus der Erfahrung überraschen könnte. Und in der That ist dieses auch ein Kunst­ griff, dessen die Philosophen sich mehrmals sehr glücklich bedient haben. Denn man muß wissen, daß alle Erkenntniß zwei Enden habe, bei denen man sie fassen kann, das eine a priori, das andere a posteriori. Zwar haben verschiedene Naturlehrer neuerer Zeiten vorgegeben, man müsse es bei dem letzteren anfangen, und glauben den Aal der Wissenschaft beim Schwänze zu erwischen, indem sie sich gnugsamer Erfahrungskenntnisse versichern und dann so allmählig zu allgemeinen und höheren

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Begriffen Hinaufrücken. Mein ob dieses zwar nicht unklug gehandelt sein möchte: so ist es doch bei weitem nicht gelehrt und philosophisch gnug, denn man ist auf diese Art bald bei einem Warum, worauf keine Antwort gegeben werden kann, welches einem Philosophen gerade so viel Ehre macht als einem Kaufmann, der bei einer Wechselzahlung freundlich bittet, ein andermal wieder anzusprechen. Daher haben scharfsinnige Männer, um diese Unbequemlichkeit zu vermeiden, von der entgegengesetzten äußersten Grenze, nämlich dem obersten Punkte der Metaphysik, angefangen. Es findet sich aber hiebei eine neue Beschwerlichkeit, nämlich daß man an­ sängt, ich weiß nicht w o, und kommt, ich weiß nicht wohin, und daß der Fortgang der Gründe nicht auf die Erfahmng treffen will, ja daß es scheint, die Atomen des E p i k u r s dürften eher, nachdem sie von Ewigkeit her immer gefallen, einmal von ungefähr zusammenstoßen, um eine Welt zu bilden, als die allgemeinsten und abstractesten Begriffe, um sie zu erklären. Da also der Philosoph wohl sah, daß seine Bernunftgründe einerseits und die wirkliche Erfahmng oder Erzählung andererseits, wie ein Paar Parallellinien wohl ins Undenkliche neben einander fortlaufen würde, ohne jemals zusammen zu treffen, so ist er mit den übrigen, gleich als wenn sie darüber Abrede genommen hätten, übereingekommen ein jeder nach seiner Art den Anfangspunkt zu nehmen und daraus nicht in der geraden Linie der Schlußsolge, sondem mit einem un­ merklichen C l i n a m e n der Beweisgründe, dadurch daß sie nach dem Ziele gewisser Erfahmngen oder Zeugnisse ver­ stohlen hinschielten, die Vernunft so zu lenken, daß sie gerade dahin treffen mußte, wo der treuherzige Schüler sie nicht vermuthet hatte, nämlich dasjenige zu beweisen, wovon man schon vorher wußte, daß es sollte bewiesen werden. Diesen Weg nannten sie alsdann noch den Weg a priori, ob er wohl unvermerkt durch ausgesteckte Stäbe nach dem Punkte a poste»

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riori gezogen war, wobei aber billigermaßen der, so die Kunst versteht, den Meister nicht verrathen muß. Nach dieser sinn­ reichen Lehrart haben verschiedene verdienstvolle Männer auf dem bloßen Wege der Vernunft sogar Geheimnisse der Religion ertappt, so wie Romanschreiber die Heldin der Geschichte in entfernte Länder fliehen lassen, damit sie chrem Anbeter durch ein glückliches Abenteuer von ungefähr aufstoße: et fugit ad salices et se cupit ante videri. VIRG. Ich würde mich also bei so gepriesenen Vorgängern in der That nicht zu schämen Ursache haben, wenn ich gleich wirllich eben dasselbe Kunststück gebraucht hätte, um meine Schrift zu einem erwünschten Ausgange zu verhelfen. Allein ich bitte den Leser gar sehr der­ gleichen nicht von mir zu glauben. Was würde es mir auch jetzt helfen, da ich keinen mehr hintergehen kann, nachdem ich das Geheimniß schon ausgeplaudert habe? Zudem habe ich das Unglück, daß das Zeugniß, worauf ich stoße und was meiner philosophischen Hirngeburt so ungemein ähnlich ist, verzweifelt mißgeschaffen und albern aussieht, so daß ich viel eher vermuthen muß, der Leser werde um der Verwandtschaft mit solchen Beistimmungen willen meine Vernunftgründe für ungereimt, als jene um dieser mitten für vernünftig halten. Ich sage demnach ohne Umschweif, daß, was solche anzügliche Vergleichungen anlangt, ich keinen Spaß verstehe, und erlläre kurz und gut, daß man entweder in Schwedenbergs Schriften mehr Klugheit und Wahrheit vermuthen müsse, als der erste Anschein blicken läßt, oder daß es nur so von ungefähr komme, wenn er mit meinem System zusammentrifft, wie Dichter bisweilen, wenn sie rasen, weissagen, wie man glaubt, oder wenigstens wie sie selbst sagen, wenn sie dann und wann mit betn Erfolge zusammentreffen. Ich komme zu meinem Zwecke, nämlich zu den Schriften meines Helden. Wenn manche jetzt vergessene, oder dereinst doch namenlose Schriftsteller kein geringes Verdienst haben.

184 Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

daß sie in der Ausarbeitung großer Werke den Aufwand ihres Verstandes nicht achteten, so gebührt dem Herren Schweden­ berg ohne Zweifel die größte Ehre unter allen. Denn gewiß, seine Flasche in der Mondenwelt ist ganz voll und weicht keiner einzigen unter denen, die A r i o st o dort mit der hier verlornen Vernunft angefüllt gesehen hat, und die ihre Besitzer dereinst werden wiedersuchen müssen, so völlig entleert ist das große Werk von einem jeden Tropfen derselben. Nichts deswweniger herrscht darin eine so wundersame Übereinkunft mit dem­ jenigen, was die feinste Ergrübelung der Vernunft über den ähnlichen Gegenstand herausbringen kann, daß der Leser mir es verzeihen wird, wenn ich hier diejenige Seltenheit in den Spielen der Einbildung finde, die so viel andere Sammler in den Spielen der Natur angetroffen haben, als wenn sie etwa im fleckichten Marmor die heilige Familie, oder in Bildungen von Tropfstein Mönche, Taufstein und Orgeln, oder sogar wie der Spötter L i s c o w auf einer gefrorenen Fensterscheibe die Zahl des Thieres und die dreifache Krone entdecken; lauter Tinge, die niemand sonst sieht, als dessen Kopf schon vorher damit angefüllt ist. Das große Werk dieses Schriftstellers enthält acht Quart bände voll Unsinn, welche er unter dem Titel: Arcanaeaelem.i, der Welt als eine neue Offenbarung vorlegt, und wo seine Erscheinungen mehrentheils auf die Entdeckung des geheimen Sinnes in den zwei ersten Büchem Mosis und eine ähnliche Erklärungsart der ganzen H. Schrift angewendet werden. Wie diese schwärmende Auslegungen gehen mich hier nichts an; man kann aber, wenn man will, einige Nachrichten von den selben in des Herrn Docwr Ernesti Theol. Bibliothek int ersten Bande aufsuchen. Nur die audita et visa, d. i. was seine eigne Augen sollen gesehen und eigene Ohren gehört haben, sind alles, was wir vornehmlich aus den Beilagen zu seinen Capiteln ziehen wollen, weil sie allen übrigen Träumereien zum Grunde

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liegen und auch ziemlich in das Abenteuer einschlagen, das wir oben aus dem Luftschiffe der Metaphysik gewagt haben. Der Stil des Verfassers ist platt. Seine Erzählungen und chre Zusammenordnung scheinen in der That aus f a n a t i s ch e m Anschauen entsprungen zu sein und geben gar wenig Ver­ dacht, daß speculative Hirngespinste einer verkehrt grüblenden Bemunft ihn bewogen haben sollten, dieselbe zu erdichten und zum Bettuge anzulegen. In so fern haben sie also einige Wichtigkeit und verdienen wirklich in einem Keinen Auszuge vorgestellt zu werden, vielleicht mehr, als so manche Spielwerke hirnloser Vernünftler, welche unsere Journale anschwellen, weil eine zusammenhängende Täuschung der Sinne überhaupt ein viel merkwürdiger Phänomenon ist, als der Betrug der Vernunft, dessen Gründe bekannt genug sind, und der auch großen Theils durch willkürliche Richtung der Gemüthskräste und etwas mehr Bändigung eines leeren Vorwitzes könnte verhütet werden, da hingegen jene das erste Fundament aller Urtheile betrifft, dawider, wenn es unrichtig ist, die Regeln her Logik wenig vermögen! Ich sondere also bei unserm Verfasser den Wahnsinn vom Wahnwitze ab und übergehe dasjenige, was er auf eine verkehrte Weise klügelt, indem er nicht bei seinen Visionen stehen bleibt, eben so wie man sonst vielfälttg bei einem Philosophen dasjenige, >vas er beochachtet, von dem absondern muß, was er vernünftelt, und sogar Scheinerfahrungen inehrentheils lehrreicher sind, als die S ch e i n g r ü n d e aus der Vernunft. Indem ich also dem Leser einige von den Augenblicken raube, die er sonst vielleicht mit nicht viel größerem Nutzen auf die Lesung gründlicher Schriften von eben der Materie würde verwandt haben, so sorge ich zugleich für die Zärtlichkeit seines Geschmacks, da ich mit Weglassung vieler wilden Chimären die Quintessenz des Buchs auf wenig Tropfen bringe, wofür ich mir von ihm eben so viel Dank verspreche,

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eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

als ein gewisser Patient glaubte den Ärzten schuldig zu sein, daß sie ihn nur die Rinde von der Quinquina verzehren ließen, da sie ihn leichtlich hätten nöthigen können den ganzen Baum aufzuessen. Herr Schwedenberg theilt seine Erscheinungen in drei Arten ein, davon die erste ist, vom Körper befreiet zu werden: ein mittlerer Zustand zwischen Schlafen und Wachen, worin er Geister gesehen, gehört, ja gefühlt hat. Dergleichen ist chm nur drei- oder viermal begegnet. Die z w e i t e ist, vom Geist weggeführt zu werden, da er etwa aus der Sttaße geht, ohne sich zu verwirren, indessen daß er im Geiste in ganz anderen Gegenden ist und anderwärts Häuser, Menschen, Wälder u. d. g. deutlich sieht, und dieses wohl einige Stunden lang, bis er sich plötzlich wiederum an seinem rechten Orte gewahr wird. Dieses ist ihm zwei- bis dreimal zugestoßen. Die dritte Art der Erscheinungen ist die gewöhnliche, welche er täglich im völligen Wachen hat, und davon auch hauptsächlich diese seine Erzählungen hergenommen sind. Alle Menschen stehen seiner Aussage nach in gleich innig­ licher Verbindung mit der Geisterwelt; nur sie empfinden es nicht, und der Unterschied zwischen ihm und den andern besteht nur darin, daß sein Innerstes aufgethan ist, von welchem Geschenke er jederzeit mit Ehrerbietigkeit redet (datum mihi cst ex divina Domini misericordia). Man sieht aus dem Zusammenhange, daß diese Gabe darin bestehen soll, sich der dunkelen Vorstellungen bewußt zu werden, welche die Seele durch ihre beständige Verknüpfung mit der Geisterwelt empfängt. Er unterscheidet daher an dem Menschen das äußere und innere Gedächtniß. Jenes hat er als eine Person, die zu der sichtbaren Welt gehört, dieses aber kraft seines Zu­ sammenhanges mit der Geisterwelt. Darauf gründet sich auch der Unterschied des äußeren und inneren Menschen, und sein eigener Vorzug besteht darin, daß er schon in diesem Leben als

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eine Person sich in der Gesellschaft der Geister sieht und von ihnen auch als eine solche erkannt wird. In diesem innern Gedächtniß wird auch alles aufbehalten, was aus dem äußeren verschwunden war, und es geht nichts von allen Vorstellungen eines Menschen jemals verloren. Nach dem Tode ist die Ertnntung alles desjenigen, was jemals in seine Seele kam und was ihm selbst ehedem verborgen blieb, das vollständige Buch seines Lebens. Die Gegenwart der Geister trifft zwar nur seinen innern Sinn. Dieses erregt ihm aber die Apparenz derselben als außer ihm und zwar unter einer menschlichen Figur. Die Geister­ sprache ist eine unmittelbare Mittheilung der Ideen, sie ist aber jederzeit mit der Apparenz derjenigen Sprache verbunden, die er sonst spricht, und wird vorgestellt als außer ihm. Ein Geist liest in eines andem Geistes Gedächtniß die Vorstellungen, die diaser darin mit Klarheit enthält. So sehen die Geister in Schwedenbergen seine Vorstellungen, die er von dieser Welt hat, mit so klarem Anschauen, daß sie sich dabei selbst hinter­ gehen und sich öfters einbilden, sie sehen unmittelbar die Sachen, welches doch unmöglich ist, denn kein reiner Geist hat die mindeste Empfindung von der körperlichen Welt; allein durch die Gemeinschaft mit andern Seelen lebender Menschen können sie auch keine Vorstellung davon haben, well chr Innerstes nicht aufgethan ist, d. i. ihr innerer Sinn gänzlich dunkele Vor­ stellungen enthält. Daher ist Schwedenberg das rechte Orakel der Geister, welche eben so neugierig sind in ihm den gegen­ wärtigen Zustand der Welt zu beschauen, als er es ist in ihrem Gedächtniß wie in einem Spiegel die Wunder der Geisterwelt zu betrachten. Obgleich diese Geister mit allen andern Seelen lebender Menschen gleichfalls in der genauesten Verbindung stehen und in dieselbe wirken oder von ihnen leiden, so wissen sie doch dieses eben so wenig, als es die Menschen wissen, weil dieser ihr innerer Sinn, welcher zu ihrer geistigen Persönlich-

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Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

feit gehört, ganz dunkel ist. Es meinen also die Geister: daß dasjenige, was aus dem Einflüsse der Menschenseelen in chnen gewirkt worden, von ihnen allein gedacht sei, so wie auch die Menschen in diesem Leben nicht anders glauben, als daß alle ihre Gedanken und Willensregungen aus ihnen selbst ent­ springen, ob sie gleich in der That oftmals aus der unsichtbaren Welt in sie übergehen. Indessen hat eine jede menschliche Seele schon in diesem Leben chre Stelle in der Geisterwelt und gehört zu einer gewissen Societät, die jederzeit ihrem innern Zustande des Wahren und Guten, d. i. des Verstandes und Willens, ge­ mäß ist. Es haben aber die Stellen der Geister untereinander nichts mit dem Raume der körperlichen Welt gemein; daher die Seele eines Menschen in Indien mit der eines andern in Europa, was die geistige Lagen bettisst, oft die nächste Mach­ baren sind, und dagegen die, so dem Körper nach in einem Hause wohnen, nach jenen Verhältnissen weit gnug von ein­ ander entfernt sein können. Sttrbt der Mensch, so verändert die Seele nicht ihre Stelle, sondem empfindet sich nur in der­ selben, darin sie in Ansehung anderer Geister schon in diesem Leben war. Übrigens, obgleich das Verhältniß der Geister untereinander kein wahrer Raum ist, so hat dasselbe doch bei ihnen die Apparenz desselben, und ihre Verknüpfungen werden unter der begleitenden Bedingung der Naheiten, ihre Ver­ schiedenheiten aber als Weiten vorgestellt, so wie die Geister selber wirklich nicht ausgedehnt sind, einander aber doch die Apparenz einer menschlichen Figur geben. In diesem ein­ gebildeten Raume ist eine durchgängige Gemeinschaft der geistigen Naturen. Schwedenberg spricht mit abgeschiedenen Seelen, wenn es ihm beliebt, und lieft in ihrem Gedächtniß (Vorstellungskraft) denjenigen Zustand, darin sie sich selbst beschauen, und sieht diesen eben so klar als mit leiblichen Augen. Auch ist die ungeheure Entfernung der vernünftigen Bewohner der Welt in Absicht aus das geistige Weltganze für nichts zu

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halten, und mit einem Bewohner des Saturns zu reden, ist ihm eben so leicht, als eine abgeschiedene Menschenseele zu sprechen. Mes kommt auf das Verhältniß des innern Zu­ standes und auf die Verknüpfung an, die sie untereinander nach ihrer Übereinstimmung im Wahren und im Guten haben; die entferntere Geister aber können leichtlich durch Bermittelung anderer in Gemeinschaft kommen. Daher braucht der Mensch auch nicht in den übrigen Weltkörpern wirklich gewohnt zu haben, um dieselbe dereinst mit allen ihren Wundem zu kennen. Seine Seele liefet in dem Gedächtnisse anderer abgeschiedenen Weltbürger ihre Vorstellungen, die diese von ihrem Leben und Wohnplatze haben, und sieht darin die Gegen­ stände so gut wie durch ein unmittelbares Anschauen. Ein Hauptbegrisf in Schwedenbergs Phantasterei ist dieser: Die körperliche Wesen haben keine eigene Subsistenz, sondem bestehen lediglich durch die Geisterwelt, wiewohl ein jeder Körper nicht durch einen Geist allein, sondem durch alle zusammengenommen. Daher hat die Erkenntniß der mate­ riellen Dinge zweierlei Bedeutung, einen äußerlichen Sinn in Verhältniß der Materie aufeinander und einen innern, in so fern sie als Wirkungen die Kräfte der Geisterwelt be­ zeichnen, die ihre Ursachen sind. So hat der Körper des Men­ schen ein Verhältniß der Theile untereinander nach materiellen Gesetzen; aber in so fern er durch den Geist, der in ihm lebt, erhalten wird, haben seine verschiedene Gliedmaßen und ihre Funktionen einen bezeichnenden Werth für diejenige Seelen­ kräfte, durch deren Wirkung sie ihre Gestalt, Thätigkeit und Beharrlichkeit haben. Dieser innere Sinn ist den Menschen unbekannt, und den hat Schwedenberg, dessen Innerstes auf* gethan ist, den Menschen bekannt machen wollen. Mt allen anbetn Dingen der sichtbaren Welt ist es eben so bewandt, sie haben, wie gesagt, eine Bedeutung als Sachen, welches wenig ist, und eine andere als Zeichen, welches mehr ist. Dieses

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ist auch der Ursprung der neuen Auslegungen, die er von der Schrift hat machen wollen. Denn der innere Sinn, nämlich die symbolische Beziehung aller darin erzählten Dinge auf die Geisterwelt, ist, wie er schwärmt, der Kern ihres Werths, das übrige ist nur die Schale. Was aber wiederum in dieser symbolischen Verknüpfung körperlicher Dinge als Bilder mit dem innern geistigen Zustande wichtig ist, besteht darin: We Geister stellen sich einander jederzeit unter dem Anschein aus­ gedehnter Gestalten vor, und die Einflüsse aller dieser geistigen Wesen untereinander erregen ihnen zugleich die Apparenz von noch andern ausgedehnten Wesen und gleichsam von einer materialen Welt, deren Bilder doch nur Symbolen ihres inneren Zustandes sind, aber gleichwohl eine so flöte und dauerhafte Täuschung des Sinnes verursachen, daß solche der wirklichen Empfindung solcher Gegenstände gleich ist. (Ein künftiger Ausleger wird daraus schließen: daß Schwedenberg ein Idealist sei, weil er der Materie dieser Welt auch die eigne Subsistenz abspricht und sie daher vielleicht nur für eine zu­ sammenhängende Erscheinung halten mag, welche aus der Verknüpfung der Geisterwelt entspringt.) Er redet also von Gärten, weitläustigen Gegenden, Wohnplätzen, Gallerien und Arcaden der Geister, die er mit eigenen Augen in dem Hörsten Lichte sähe, und versichert: daß, da er mit allen seinen Freunden nach ihrem Tode vielfältig gesprochen, er an denen, die nur kürzlich gestorben, fast jederzeit gefunden hätte, daß sie sich kaum hätten überreden können geswrben zu sein, weil sie eine ähnliche Welt um sich sähen; imgleichen, daß Geistergesellschasten von einerlei innerem Zustande einerlei Apparenz der Gegend und anderer daselbst befindlichen Singe hätten, die Veränderung ihres Zustandes aber sei mit dem Schein der Veränderung des Orts verbunden. Weil nun jederzeit, wenn die Geister den Menschenseelen ihre Gedanken mittheilen, diese mit der Apparenz materieller Dinge verbunden sind, welche

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im Grunde nur kraft einer Beziehung auf den geistigen Sinn, doch mit allem Schein der Wirklichkeit sich demjenigen vor­ malen, der solche empfängt, so ist daraus der Vorrath der wilden und unaussprechlich albernen Gestalten herzuleiten, welche unser Schwärmer bei seinem täglichen Geisterumgange in aller Klarheit zu sehen glaubt. Ich habe schon angeführt, daß nach unserm Verfasser die mancherlei Kräfte und Eigenschaften der Seele mit den ihrer Regiemng untergeordneten Organen des Körpers in Sym­ pathie stehen. Der ganze äußere Mensch correspondirt also dem ganzen innern Menschen, und wenn daher ein merklicher geistiger Einfluß aus der unsichtbaren Welt eine oder andere dieser seiner Seelenkräfte vorzüglich trifft, so empfindet er auch harmonisch die apparente Gegenwart desselben an den Gliedmaßen seines äußeren Menschen, die diesen correspondiren. Dahin bezieht er nun eine große Mannigfaltigkeit von Empfindungen an seinem Körper, die jederzeit mit der geistigen Beschauung verbunden sind, deren Ungereimtheit aber zu groß ist, als daß ich es wagen dürfte nur eine einzige derselben an­ zuführen. Hieraus kann man sich nun, wofern man es der Mühe werth hält, einen Begriff von der abenteuerlichsten und seitsamsten Einbildung machen, in welche sich alle seine Träume­ reien vereinbaren. So wie nämlich verschiedene Kräfte und Fähigkeiten diejenige Einheit ausmachen, welche die Seele oder der innere Mensch ist, so machen auch verschiedene Geister (deren Hauptcharaktere sich eben so aus einander beziehen, wie die mancherlei Fähigkeiten eines Geistes untereinander) eine Societät aus, welche die Apparenz eines großen Menschen an sich zeigt, und in welchem Schattenbilde ein jeder Geist sich an demjenigen Orte und in den scheinbaren Gliedmaßen sieht, die seiner eigenthümlichen Verrichtung in einem solchen geistigen Körper gemäß sind. We Geistersocietäten aber zu-

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sammen und die ganze Welt aller dieser unsichtbaren Wesen erscheint zuletzt selbst wiederum in der Apparenz des g r ö ß t e n Menschen. Eine ungeheure und riesenmäßige Phantasie, zu welcher sich vielleicht eine alte kindische Vorstellung aus­ gedehnt hat, wenn etwa in Schulen, um dem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, ein ganzer Welttheil unter dem Bilde einer sitzenden Jungfrau u. d. g. den Lehrlingen vorgemalt wird. In diesem unermeßlichen Menschen ist eine durchgängige innigste Gemeinschaft eines Geistes mit allen und aller mit einem, und wie auch immer die Lage der lebenden Wesen gegeneinander in dieser Welt, oder deren Veränderung be­ schaffen sein mag, so haben sie doch eine ganz andere Stelle im größten Menschen, welche sie niemals verändern und welche nur dem Scheine nach ein Ort in einem unermeßlichen Raume, in der That aber eine bestimmte Art ihrer Verhältnisse und Einflüsse ist. Ich bin es müde die wilden Hirngespinste des ärgsten Schwärmers unter allen zu copiren, oder solche bis zu seinen Beschreibungen vom Zustande nach dem Tode fortzusetzen. Ich habe auch noch andere Bedenklichkeiten. Denn obgleich ein Naturfammler unter den präparirten Stücken thierischer Zeugungen nicht nur solche, die in natürlicher Form gebildet sind, sondern auch Mißgeburten in seinem Schranke aufstellt, so muß er doch behutsam sein, sie nicht jedermann und nicht gar zu deutlich sehen zu lassen. Denn es könnten unter den Vorwitzigen leichtlich schwangere Personen sein, bei denen es einen schlimmen Eindruck machen dürste. Und da unter meinen Lesern einige in Ansehung der idealen Empsängniß eben so­ wohl in andern Umständen sein mögen, so würde mir es leid thun, wenn sie sich hier etwa woran sollten versehen haben. Indessen weil ich sie doch gleich anfangs gewarnt habe, so stehe ich für nichts und hoffe, man werde mir die Mondkälber nicht aufbürden, die bei dieser Veranlassung von ihrer fruchtbaren Einbildung möchten geboren werden.

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Übrigens habe ich den Träumereien unseres Verfassers keine eigene unterschoben, sondern solche durch einen getreuen Auszug dem bequemen und wirchschaftlichen Leser (der einem kleinen Vorwitze nicht so leicht 7 Pfund Sterlinge aufopfern möchte) dargeboten. Zwar sind die unmittelbare Anschauungen mehrentheils von mir weggelaffen worden, weil dergleichen wilde Hirngespinste nur den Nachtschlaf des Lesers stören würden; auch ist der verworrene Sinn seiner Eröffnungen hin und wieder in eine etwas gangbare Sprache eingekleidet worden; allein die Hauptzüge des Abrisses haben dadmch in ihrer Richtigkeit nicht gelitten. Gleichwohl ist es nur umsonst es verhehlen zu woNen, weil es Jedermann doch so in die Augen fällt, daß alle diese Arbeit am Ende auf nichts heraus­ laufe. Denn da die vorgegebene Privaterscheinungen des Buchs sich selbst nicht beweisen können, so konnte der Bewe­ gungsgrund, sich mit ihnen abzugeben, nur in der Vermuthung liegen, daß der Verfasser zur Beglaubigung derselben sich viel­ leicht aus Vorfälle von der oben erwähnten Art, die durch lebende Zeugen bestätigt werden könnten, berufen würde. Dergleichen aber findet man nirgend. Und so ziehen wir uns mit einiger Beschämung von einem thörichten Versuche zurück mit der vernünfttgen, obgleich etwas späten Anmerkung: daß das Klug­ denken mehrentheils eine leichte Sache sei, aber leider nur, nachdem man sich eine Zeit lang hat hintergehen laffen. *

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Ich habe einen undankbaren Stoff bearbeitet, den mir die Nachfrage und Zudringlichkeit vorwitziger und müßiger Freunde unterlegte. Indem ich diesem Leichtsinn meine Be­ mühung unterwarf, so habe ich zugleich dessen Erwartung be­ wogen und weder dem Neugierigen durch Nachrichten, noch dem Forschenden durch Bernunftgründe etwas zur Befriedigung KanIS populäre Schriften.

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ausgerichtet. Wenn keine andere Absicht diese Arbeit beseelte, so habe ich meine Zeit verloren; ich habe das Zutrauen des Lesers verloren, dessen Erkundigung und Wißbegierde ich durch einen langwelligen Umweg zu demselben Punkte der Unwissen­ heit geführt habe, aus welchem er herausgegangen war. Mein ich hatte in der That einen Zweck vor Augen, der mir wichtiger scheint als der, welchen ich vorgab, und diesen meine ich er­ reicht zu haben. Die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe verliebt zu sein, ob ich mich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen kann, leistet zweierlei Borthelle. Der erste ist, den Aufgaben ein Gnüge zu thun, die das forschende Gemüth auswirft, wenn es verborgenem Eigen­ schaften der Dinge durch Bemunft nachspäht. Aber hier täuscht der Ausgang nur gar zu oft die Hoffnung und ist diesmal auch unfern begierigen Händen entgangen. Ter frustra comprenaa manus effugit imago Par levibus ventis volucrique simillima somno. VIRG,

Der andre Vortheil ist der Natur des menschlichen Ver­ standes mehr angemessen und besteht darin: einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch be­ stimmt sei und welches Verhältniß die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsre Urtheile jederzeit stützen müssen. In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft, und da ein kleines Land jederzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr daran liegt seine Beschungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Erobemngen auszugehen, so ist dieser Nutze der erwähnten Mssenschaft der unbekannteste und zugleich der wichtigste, wie er denn auch nur ziemlich spät und nach langer Erfahmng erreicht wird. Ich habe diese Grenze hier zwar nicht genau bestimmt, aber doch in so weit angezeigt, daß der Leser bei weiterem Nachdenken finden wird.

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er könne sich aller vergeblichen Nachforschung überheben in Ansehung einer Frage, wozu die data in einer andern Welt, als in welcher er empfindet, anzutreffen find. Ich habe also meine Zeit verloren, damit ich sie gewönne. Ich habe meinen Leser hintergangen, damit ich ihm nutzte, und wenn ich chm gleich keine neue Einsicht darbot, so vertilgte ich doch den Wahn und das titele Wissen, welches den Verstand aufbläht und in seinem engen Raume den Platz ausfüllt, den die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung einnehmen könnten. Wen die bisherigen Betrachtungen ermüdet haben, ohne ihn zu belehren, dessen Ungeduld kann sich nunmehr damit ausrichten, was Diogenes, wie man sagt, seinen gähnen­ den Zuhörem zusprach, als er das letzte Blatt eines lang­ weiligen Buchs sah: Courage, meine Herren, ich sehe Land. Vorher wandelten wir wie Demokrit im leeren Raume, wohin uns die Schmetterlingsflügel der Metaphysik gehoben hatten, und unterhielten uns daselbst mit geistigen Gestalten. Jetzt, da die st i p t i s ch e Kraft der SelbsterkennMiß die seidene Schwingen zusammengezogen hat, sehen wir uns wieder auf dem niedrigen Boden der Erfahmng und des gemeinen Verstandes; glücklich! wenn wir denselben als unseren angewiesenen Platz bettachten, aus welchem wir niemals ungestraft hinausgehen, und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, so lange wir uns am Nützlichen halten.

Drittes Hauptstück. PraktischerSchlußausderganzenAbhandlung. Einem jeden Vorwitze nachzuhängen und der Erkenntniß­ sucht keine andre Grenzen zu verstatten als das Unvermögen, ist ein Eifer, welcher der Gelehrsamkeit nicht übel an13*

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steht. Mein unter unzähligen Aufgaben, die sich selbst dar­ bieten, diejenige auswählen, deren Auflösung dem Menschen angelegen ist, ist das Verdienst der Weisheit. Wenn die Wissenschaft ihren Kreis durchlaufen hat, so gelangt sie natür­ licher Weise zu dem Punkte eines bescheidenen Mißtrauens und sagt, unwillig über sich selbst: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich nicht einsehe! Aber die durch Erfahrung gereifte Vernunft, welche zur Weisheit wird, spricht in dem Munde des Sokrates mitten unter den Waaren eines Jahrmarkts mit heiterer Seele: Wie viel Dinge giebt es doch, die ich alle nicht brauche ! Auf solche Art fließen endlich zwei Bestrebungen von so unähnlicher Natur in eine zusammen, ob sie gleich an­ fangs nach sehr verschiedenen Richtungen ausgingen, indem die erste eitel und unzufrieden, die zweite aber gesetzt und gnügsam ist. Denn um vernünftig zu wählen, muß man vorher selbst das Entbehrliche, ja das Unmögliche kennen; aber endlich gelangt die Wissenschaft zu der Bestimmung der ihr durch die Natur der menschlichen Vernunft gesetzten Grenzen; alle bodenlose Entwürfe aber, die vielleicht an sich selbst nicht unwürdig sein mögen, nur daß sie außer der Sphäre des Menschen liegen, fliehen auf den L i m b u s der Eitel­ keit. Alsdann wird selbst die Metaphysik dasjenige, wovon sie jetzt noch ziemlich weit entfernt ist, und was man von ihr am wenigsten vermuthen sollte, die. Begleiterin der Weisheit. Denn so lange die Meinung einer Möglichkeit, zu so entfernten Einsichten zu gelangen, übrig bleibt, so tust die weise Einfalt vergeblich, daß solche große Bestre­ bungen entbehrlich seien. Die Annehmlichkeit, welche die Er­ weiterung des Wissens begleitet, wird sehr leicht den Schein der Pflichtmäßigkeit annehmen und aus jener vorsetzlichen und überlegten Gnügsamkeit eine dumme Einfalt machen, die sich der Veredelung unserer Natur entgegensetzen

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will. Die Fragen von der geistigen 92atur, von der Freiheit und Borherbestimmung, dem künftigen Zustande u. d. g. bringen anfänglich alle Kräfte des Verstandes in Bewegung und ziehen den Menschen durch ihre Bortresflichkeit in den Wetteifer der Speculation, welche ohne Unterschied klügelt und entscheidet, lehrt oder widerlegt, wie es die Scheineinsicht jedesmal mit sich bringt. Wenn diese Nachforschung aber in Philosophie ausschlägt, die über ihr eigen Verfahren urtheüt, und die nicht die Gegenstände allein, sondern deren Verhält­ niß zu dem Verstände des Menschen kennt, so ziehen sich die Grenzen enger zusammen, und die Marksteine werden gelegt, welche die Nachforschung aus ihrem eigenthümlichen Be­ zirke niemals mehr ausschweifen lassen. Wir haben einige Philosophie nöthig gehabt, um die Schwierigkeiten zu kennen, welche einen Begriff umgeben, den man gemeiniglich als sehr bequem und alltägig behandelt. Etwas mehr Philosophie entfernt dieses Schattenbild der Einsicht noch mehr und über­ zeugt uns, daß es gänzlich außer dem Gesichtskreise der Men­ schen liege. Denn in den Verhältnissen der Ursache und Wir­ kung, der Substanz und der Handlung dient anfänglich die Philosophie dazu, die verwickelte Erscheinungen aufzulösen und solche auf einfachere Vorstellungen zu bringen. Ist man aber endlich zu den Grundverhältnissen gelangt, so hat das Geschäfte der Philosophie ein Ende, und wie etwas könne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmöglich jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung genommen werden. Denn unsere Vernunfttegel geht nur auf die Vergleichung nach der Iden­ tität und dem Widersprüche. So fern aber etwas eine Ursache ist, so wird durch Etwas etwas Anders gesetzt, und es ist also kein Zusammenhang vermöge der Ein­ stimmung anzutreffen: wie denn auch, wenn ich eben dasselbe nicht als eine Ursache ansehen will, niemals ein Widerspruch

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entspringt, weil es sich nicht contradicirt, wenn etwas gesetzt ist, etwas anderes aufzuheben. Daher die Grundbegriffe der Dinge als Ursachen, die der Kräfte und Handlungen, wenn sie nicht aus der Erfahrung hergenommen sind, gänzlich will» kürlich sind und weder bewiesen noch widerlegt werden können. Ich weiß wohl, daß das Denken und Wollen meinen Körper bewege, aber ich kann diese Erscheinung als eine einfache Er­ fahrung niemals durch Zergliedemng auf eine andere bringen und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen. Daß mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn jemand sagte, daß derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte; der Unterschied ist nur dieser: daß ich jenes erfahre, dieses aber niemals in meine Sinne gekommen ist. Ich erkenne in mir Veränderungen als in einem Sub­ jecte, was lebt, nämlich Gedanken, Willkür rc. rc., und weil diese Bestimmungen von anderer Art sind als alles, was zu­ sammengenommen meinen Begriff vom Körper macht, so denke ich mir billigermaßen ein unkörperliches und beharr­ liches Wesen. Ob dieses auch ohne Verbindung mit dem Körper denken werde, kann vermittelst dieser aus Erfahrung erkannten Natur niemals geschlossen werden. Ich bin mit meiner Art Wesen durch Vermittelung körperlicher Gesetze in Verknüpfung, ob ich aber auch sonst nach anbetn Gesetzen, welche ich pneumatisch nennen will, ohne die Bermittelung der Materie in Verbindung stehe, oder jemals stehen werde, kann ich auf keinerlei Weise aus demjenigen schließen, was mir gegeben ist. Me solche Urtheile, wie diejenige von der Art, wie meine Seele den Körper bewegt, oder mit anbetn Wesen ihrer Art jetzt oder künftig in Verhältniß steht, können niemals etwas mehr als Erdichtungen sein und zwar bei weitem nicht einmal von demjenigen Werthe, als die in der Natur­ wissenschaft, welche man Hypothesen nennt, bei welchen man keine Grundkräste ersinnt, sondern diejenige, welche man

Zweiter Theil.

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durch Erfahrung schon kennt, nur auf eine den Erscheinungen angemessene Art verbindet, und deren Möglichkeit sich also jederzeit muß können beweisen lassen; dagegen im ersten Falle selbst neue Fundamentalverhältniste von Ursache und Wirkung angenommen werden, in welchen man niemals den mindesten Begriff ihrer Möglichkeit haben kann und also nur schöpferisch oder chimärisch, wie man es nennen will, dichtet. Die Be­ greiflichkeit verschiedener wahren, oder angeblichen Erschei­ nungen aus dergleichen angenommenen Grundideen dient diesen zu gar keinem Vortheile. Denn man kann leicht von allem Grund angeben, wenn man berechtigt ist, Thätigkeiten und Wirkungsgesetze zu ersinnen, wie man will. Wir müssen also warten, bis wir vielleicht in der künftigen Welt durch neue Erfahrungen und neue Begriffe von den uns noch verborgenen Kräften in unserm denkenden Selbst werden belehrt werden. So haben uns die Beobachtungen späterer Zeiten, nachdem sie durch Mathematik ausgelöset worden, die Kraft der An­ ziehung an der Materie offenbart, von deren Möglichkeit (weil sie eine Gmndkraft zu sein scheint) man sich niemals einigen ferneren Begriff wird machen können. Diejenige, welche, ohne den Beweis aus der Erfahrung in Händen zu haben, vorher sich eine solche Eigenschaft hätten ersinnen wollen, würden als Thoren mit Recht verdient haben ausgelacht zu werden. Da nun die Bernunftgründe in dergleichen Fällen weder zur Erfindung noch zur Bestätigung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von der mindesten Erheblichkeit sind: so kann man nur den Erfahrungen das Recht der Entscheidung einräumen, so wie ich es auch der Zeit, welche Erfahrung bringt, überlaste, etwas über die gepriesene Heilkräfte des Magnets in Zahnkrankheiten auszumachen, wenn sie eben so viel Beobachtungen wird vorzeigen können, daß magnetische Stäbe auf Fleisch und Knochen wirken, als wir schon vor uns haben, daß es auf Eisen und Stahl geschehe. Wenn aber

200 Träume eine? Geistersehers, «läutert durch Träume

der Mete Physik.

gewisse angebliche Erfahrungen sich in kein unter den meisten Menschen einstimmiges Gesetz der Empfindung bringen lassen und also nur eine Regellosigkeit in den Zeugnissen der Sinne beweisen würden (wie es in der That mit den herumgehenden Geistererzählungen bewandt ist), so ist rathsam sie nur abzu­ brechen: weil der Mangel der Einstimmung und Gleichförmig­ keit alsdann der historischen Erkenntniß alle Beweiskraft nimmt und sie untauglich macht, als ein Fundament zu irgend einem Gesetze der Erfahrung zu dienen, worüber der Verstand ur­ theilen könnte. So wie man einerseits durch etwas tiefere Nachforschung einsehen lernt, daß die überzeugende und philosophische Ein­ sicht in dem Falle, wovon wir reden, unmöglich sei, so wird man auch andererseits bei einem ruhigen und vomrtheilfreien Gemüthe gestehen müssen, daß sie entbehrlich und u n n ö t h i g sei. Die Eitelkeit der Wissenschaft entschuldigt gerne ihre Beschäftigung mit dem Vorwände der Wichtigkeit, und so giebt man auch hier gemeiniglich vor, daß die Vernunfteinsicht pon der geistigen Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Bewegungs­ grunde eines tugendhaften Lebens sehr nöthig sei; die müßige Neubegierde aber setzt hinzu, daß die Wahrhaftigkeit der Er­ scheinungen abgeschiedener Seelen von allem diesem sogar einen Beweis aus der Erfahrung abgeben könne. Allein die wahre Weisheit ist die Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstände die Vorschrift giebt, so macht sie ge­ meiniglich die große Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, und ihre Zwecke bedürfen nicht solcher Mittel, die nimmer­ mehr in aller Menschen Gewalt sein können. Wie? ist es denn nur dämm gut tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbare

sittliche Vorschriften, und muß man, um chn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere Welt ansetzen? Kann derjenige wohl redlich, kann er wohl tugendhast heißen, welcher sich gern seinen Lieblings­ lastern ergeben würde, wenn ihn nur keine künftige Strafe schreckte, und wird man nicht vielmehr sagen müssen, daß er zwar die Ausübung der Bosheit scheue, die lasterhafte Ge­ sinnung aber in seiner Seele nähre, daß er den Vortheil der tugendähnlichen Handlungen liebe, die Tugend selbst aber hasse? Und in der That lehrt die Erfahmng auch: daß so viele, welche von der künftigen Welt belehrt und überzeugt sind, gleichwohl dem Laster und der Mederträchtigkeit ergeben, nur auf Mittel sinnen, den drohenden Folgen der Zukunft arglistig auszuweichen; aber es hat wohl niemals eine recht­ schaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Daher scheint es der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der künftigen Welt aus die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als um­ gekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen. So ist auch der moralische Glaube be­ wandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vemünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Men­ schen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt. Laßt uns demnach alle lärmende Lehrverfassungen von so entfernten Gegen­ ständen der Speculation und der Sorge müßiger Köpfe über­ lassen. Sie sind uns in der That gleichgültig, und der augen­ blickliche Schein der Gründe für oder dawider mag vielleicht über den Beifall der Schulen, schwerlich aber etwas über das künftige Schich'al der Redlichen entscheiden. Es war auch die menschliche Vernunft nicht gnugsam dazu beflügelt, daß

202

Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik.

sie so hohe Wollen theilen sollte, die uns die Geheimnisse der anbeut Welt aus den Augen ziehen, und den Wißbegierigen, die sich nach derselben so angelegentlich erkundigen, kann man den einfältigen, aber sehr natürlichen Bescheid geben: daß es wohl am rathsamsten sei, wenn sie sich zu gedul­ den beliebten, bis sie werden dahin kom­ men. Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt ver­ muthlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit dem­ jenigen, was Voltaire seinen ehrlichen C a n d i d e nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten zum Beschlusse sagen läßt: Laßt uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten!

zu einer

llgemeinen Beschicht in weltbürgerlicher Absicht.

Was man sich auch in metaphysischer Absicht für einen Begrisf von der Freiheit des Willens machen mag: so sind doch die Erscheinungen desselben, die mensch­ lichen Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegeben­ heit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt. Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, läßt dennoch von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens imGroßen betrachtet, sie einen regel­ mäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjecten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende, obgleich langsame Entwickelung der ursprüng­ lichen Anlagen derselben werde erkannt werden können. So scheinen die Ehen, die daher kommenden Geburten und das Sterben, da der freie Wille der Menschen auf sie so großen Einfluß hat, keiner Regel unterworfen zu sein, nach welcher man die Zahl derselben zum voraus durch Rechnung bestimmen könne; und doch beweisen die jährlichen Tafeln derselben in großen Ländern, daß sie eben so wohl nach beständigen Natu» gesetzen geschehen, als die so unbeständigen Wittemngen, deren Eräugniß man einzeln nicht vorher bestimmen kann, die aber im Ganzen nicht ermangeln den Wachschum der Pflanzen, den Lauf der Ströme und andere Naturanstalten in einem gleichförmigen, ununterbrochenen Gange zu erhalten. Ein­ zelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sinne und einer pst

206 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in «eltbttrgerlicher Abficht. wider den anbetn, ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt würde, ihnen doch wenig gelegen sein würde. Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß in« stmctmäßig wie Thiere und doch auch nicht wie vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plane im Ganzen ver­ fahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Menen oder den Bibem) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Thun und Lassen auf der großen Weltbühne aufge­ stellt sieht und bei hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen doch endlich alles im Großen aus Thorheit, kindischer Eitelleit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf chre Borzüge so ein­ gebildeten Gattung für einen Begriff machen soll. Es ist hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Men­ schen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigeneAbsicht voraussetzen lann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, demwch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei. — Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden, und wollen es dann der Natur überlassen, den Mann hervorzubringen, der im Stande ist, sie damach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die eccentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf, und einen Newton, der diese Gesetze aus einer allgemeinen Natur­ ursache erklärte.

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. 207

Erster Satz. Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Bei allen Thieren be­ stätigt dieses die äußere sowohl, als die innere oder zergliedernde Beobachtung. Ein Organ, das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die chren Zweck nicht erreicht, ist ein Wider­ spruch in der teleologischen Naturlehre. Denn wenn wir von jenem Grundsätze abgehen, so haben wir nicht mehr eine gesetzmäßige, sondern eine zwecklos spielende Natur; und das trostlose Ungefähr tritt an die Stelle des Leitfadens der Ver­ nunft. Zweiter Satz. Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Ge­ schöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Natur­ anlagen, die auf den Gebrauch seiner Ver­ nunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig ent­ wickeln. Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Ver­ mögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinctmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzu­ schreiten. Daher würde ein jeder Mensch unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen seinen Naturan­ lagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirk­ lich geschehen ist), so bedarf sie einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der anbetn ihre Aufklärung überliefert, um endlich chre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwickelung zu treiben, welche ihrer

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Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

Absicht vollständig angemessen ist. Und dieser Zeitpunkt muß wenigstens in der Idee des Menschen das Ziel seiner Bestre­ bungen sein, weil sonst die Naturanlagen größtentheils als vergeblich und zwecklos angesehen werden müßten; welches alle praktische Principien aufheben und dadurch die Natur, deren Weisheit in Beurtheilung aller übrigen Anstalten sonst zum Grundsätze dienen muß, am Menschen allein eines kin­ dischen Spiels verdächtig machen würde.

Dritter Satz. Die Natur hat gewollt: daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines thierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selb st herausbringe und keiner an­ deren Glückseligkeit oder Vollkommenheit theilhaftig werde, als die er sich selbst frei von Jnstinct, durch eigene Vernunst, ver­ schafft hat. Die Natur thut nämlich nichts überflüssig und ist im Gebrauche der Mittel zu ihren Zwecken nicht ver­ schwenderisch. Da sie dem Menschen Vernunft und darauf sich gründende Freiheit des Willens gab, so war das schon eine llare Anzeige ihrer Absicht in Ansehung seiner Ausstattung. Er sollte nämlich nun nicht durch Jnstinct geleitet, oder durch anerschaffene Kenntniß versorgt und unterrichtet sein ; er sollte vielmehr alles aus sich selbst herausbringen. Die Erfindung seiner Nahrungsmittel, seiner Bedeckung, seiner äußeren Sicher­ heit und Vertheidigung (wozu sie ihm weder die Hörner des Stiers, noch die Klauen des Löwen, noch das Gebiß des Hundes, sondem bloß Hände gab), alle Ergötzlichkeit, die das Leben angenehm machen kann, selbst seine Einsicht und Klugheit und sogar die Gutartigkeit seines Mllens sollten gänzlich sein eigen Werk sein. Sie scheint sich hier in ihrer größten Sparsamkeit selbst gefallen zu haben und ihre thierische Ausstattung so knapp.

Idee

zu

einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

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so genau auf das höchste Bedürfniß einer anfänglichen Existenz abgemessen zu haben, als wollte sie: der Mensch sollte, wenn er sich aus der größten Rohigkeit dereinst zur größten Geschick­ lichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und (so viel es auf Erden möglich ist) dadurch zur Glückseligkeit empor gearbeitet haben würde, hievon das Verdienst ganz allein haben und cs sich selbst nur verdanken dürfen; gleich als habe sie es mehr auf seine vernünftige Selbstschätzung, als auf ein Wohlbefinden angelegt. Denn in diesem Gange der menschlichen Angelegenheit ist ein ganzes Heer von Mühselig­ keiten, die den Menschen erwarten. scheint aber der Natur dämm gar nicht zu thun gewesen zu sein, daß er wohl lebe; sondem daß er sich soweit hervorarbeite, um sich durch sein Verhalten des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen. Befremdend bleibt es immer hiebei: daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr müh­ seliges Geschäfte zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten; und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Antheü nehmen zu können. Allein so räthselhaft dieses auch ist, so nothwendig ist es doch zugleich, wenn man einmal annimmt: eine Thiergattung soll Bemunft haben und als Klasse vemünftiger Wesen, die insgesammt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist, dennoch zu einer Vollständigkeit der Entwickelung ihrer Anlagen gelangen. Vierter Satz. Das Mittel, dessen sich die Natur be­ dient, die Entwickelung aller ihrer AnKantS populäre Schriften.

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210 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

lagen zu Stande zu bringen, ist der LntagouiSm derselben in der Gesellschaft, so fern die­ ser doch am Ende die Ursache einer gesetz­ mäßigen Ordnung derselben wird. Ich ver­ stehe hier unter demAntagonismdie ungesellige Ge­ selligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstände, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung sich zu vergesellschaften: weil er in einem solchen Zu­ stande sich mehr als Mensch, d. i. die Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang sich zu »er einzelnen (ifoliten): weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, daß er seinerseits zum Wider­ stände gegen andere geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt feinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Cultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Werth des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklämng der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Principien und so eine patho­ logisch- abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Ge­ sellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann. Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgcrlicher Wsicht. 211

Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand ent­ springt, den jeder bei seinen selbWchtigen Anmaßungen noth­ wendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäfer­ leben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechsel­ liebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwe«8, als vernünftige Natur, nicht aus­ füllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifemde Eitelkeit, für die nicht zu be­ friedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortreffliche Naturanlagen in der Mensch­ heit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und unthätigen Genügsamkeit hinaus sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letztem heraus zu ziehen. Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele Übel entspringen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithiy zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen antreiben, ver­ rathen also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers; und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe.

Fünfter Satz. Das größte Problem für die Menschen­ gattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer all14*

212 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichcr Absicht.

gemein das Recht verwaltenden bürgerliche« Gesellschaft. Da nur in der Gesellschaft und zwar der­ jenigen, die die größte Freiheit, mithin einen durchgängigen Antagonism ihrer Glieder und doch die genauste Bestimmung und Sicherung der Grenzen dieser Freiheit hat, damit sie mit der Freiheit anderer bestehen könne, — da nur in ihr die höchste Absicht der Natur, nämlich die Entwickelung aller ihrer An­ lagen, in der Menschheit erreicht werden kann, die Natur auch will, daß sie diesen so wie alle Zwecke ihrer Bestimmung sich selbst verschaffen solle: so muß eine Gesellschaft, in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größt­ möglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden an­ getroffen wird, d. i. eine vollkommen gerechte bürger­ liche Verfassung, die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung sein, weil die Natur nur vermittelst der Auflösung und Vollziehung derselben ihre übrigen Absichten mit unserer Gattung erreichen kann. In diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Noth; und zwar die größte unter allen, nämlich die, welche sich Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, daß sie in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können. Allein in einem solchen Gehege, als bürgerliche Vereinigung ist, thun eben dieselben Neigungen hernach die beste Wirkung: so wie Bäume in einem Walde eben dadurch, daß ein jeder dem anbetn Lust und Sonne zu benehmen sucht, einander nöthigen beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Aste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen. Alle Cultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaft­ liche Ordnung sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genöthigt wird sich zu discipliniren und so durch abge­ drungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.

Sechster Satz.

Dieses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der Menschengattungamspätesten ausg e l ö s e t w i r d. Die Schwie­ rigkeit, welche auch die bloße Idee dieser Aufgabe schon vor Augen legt, ist diese: der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen; und ob er gleich als ver­ nünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit Aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige thierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nöthige, einem allgemeingültigen Wllen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen. Wo nimmt er aber diesen Herrn her? Nirgend anders als aus der Menschengattung. Aber dieser ist eben so wohl ein Thier, das einen Herrn nöthig hat. Er mag es also ansangen, wie er will; so ist nicht abzu­ sehen, wie er sich ein Oberhaupt der öffentlichen Gerechtigkeit verschaffen könne, das selbst gerecht sei; er mag dieses nun in einer einzelnen Person, oder in einer Gesellschaft vieler dazu auserlesenen Personen suchen. Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich s e l b st und doch ein M e n s ch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auslösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die An­ näherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auserlegt *). *) Die Rolle des Menschen ist also sehr künstlich. Wie es mit den Einwohnern anderer Planeten und ihrer Natur beschassen sei, wissen wir

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Idee

ju

einer allgemeinen Geschichte in mcltbürgerlichcr Absicht.

Daß sie auch diejenige sei, welche am spätesten ins Werk ge­ richtet wird, folgt überdem auch daraus: daß hiezu richtige Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung, große durch viele Weltläufe geübte Erfahrenheit und über das alles ein zur Annehmung derselben vorbereiteter guter Wille er­ fordert wird; drei solche Stücke aber sich sehr schwer und, wenn es geschieht, nur sehr spät, nach vielen vergeblichen Versuchen, einmal zusammen finden können. Siebenter Satz. Das Problem der Errichtung einer vollkommnen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußere« Staatenverhältniffes abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden. Was Hilsts, an einer gesetzniäßigen bürgerlichen Verfassung unter einzelnen Menschen, d. i. an der Anordnung eines gemeinen Wesens, zu arbeiten? Dieselbe Ungeselligkeit, welche die Menschen hiezu nöthigte, ist wieder die Ursache, daß ein jedes gemeine Wesen in äußerem Verhältnisse, d. i. als ein Staat in Beziehung aus Staaten, in ungebundener Freiheit steht, und folglich einer von dem andern eben die Übel erwarten muß, die die einzelnen Menschen drückten und sie zwangen in einen gesetzmäßigen bürgerlichen Zustand zu treten. Die Natur hat also die Unvertragsamkeit der Menschen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper dieser Art Geschöpfe wieder zu einem Mittel gebraucht, um in dem unvermeidlichen nicht; wenn wir aber diesen Auftrag der Natur gut ausrichten, so können wir uns wohl schmeicheln, daß wir unter unseren Nachbaren im Welt« gebäude einen nicht geringen Rang behaupten dürsten. Vielleicht mag bei diesen ein jedes Individuum seine Bestimmung in seinem Leben völlig erreichen. Bei uns ist es anders; nur die Gattung kann dieses hassen.

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. 215

Antagonism derselben einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden; d. i. sie treibt durch die Kriege, dmch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu den­ selben, durch die Noth, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muß, zu anfänglich unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Ver­ wüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vemunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich: aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurtheilung, sondern allein von diesem großen Völkerbünde (Foedus Amphictyonum), von einer vereinigten Macht und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte. So schwärmerisch biej£ Idee auch zu sein scheint und als eine solche an einem Abbö vonSt. Pierre oder Rousseau verlacht worden (vielleicht, weil sie solche in der Ausführung zu nahe glaubten): so ist es doch der unvermeidliche Ausgang der Noch, worein sich Menschen einander versetzen, die die Staaten zu eben der Entschließung (so schwer es ihnen auch eingeht) zwingen muß, wozu der wilde Mensch eben so ungern gezwungen ward, nämlich: seine brutale Freiheit aufzugeben und in einer gesetz­ mäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit zu suchen. — Me Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Ab­ sicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen und dmch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung aller neue Körper zu bilden, die sich aber wieder entweder in sich selbst oder neben einander nicht erhalten können und daher neue, ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich einmal theils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung inner-

216 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

sich, theils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetz­ gebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der, einem bürger­ lichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann. Ob man es nun von einem epikurischen Zusammen­ lauf wirkender Ursachen erwarten solle, daß die Staaten, so wie die kleinen Stäubchen der Materie durch ihren ungefähren Zusammenstoß allerlei Bildungen versuchen, die durch neuen Anstoß wieder zerstört werden, bis endlich einmal von unge­ fähr eine solche Bildung gelingt, die sich in ihrer Form erhalten kann (ein Glückszufall, der sich wohl schwerlich jemals zutragen wird!); oder ob man vielmehr annehmen solle, die Natur verfolge hier einen regelmäßigen Gang, unsere Gattung von der unteren Stufe der Thierheit an allmählig bis zur höchsten Stufe der Menschheit und zwar durch eigene, obzwar dem Menschen abgedrungene Kunst zu führen, und entwickele in dieser scheinbarlich wilden Anordnung ganz regelmäßig jene ursprüngliche Anlagen; oder ob man lieber will, daß aus allen diesen Wirkungen und Gegenwirkungen der Menschen im Großen überall nichts, wenigstens nichts Kluges herauskomme, daß es bleiben werde, wie es von jeher gewesen ist, und man daher nicht voraus sagen könne, ob nicht die Zwietracht, die unserer Gattung so natürlich ist, am Ende für uns eine Hölle von Übeln in einem noch so gesitteten Zustande vorbereite, indem sie vielleicht diesen Zustand selbst und alle bisherigen Fortschritte in der Cultur durch barbarische Verwüstung wieder vernichten werde (ein Schicksal, wofür man unter der Re­ gierung des blinden Ungefährs nicht stehen kann, mit welcher gesetzlose Freiheit in der That einerlei ist, wenn man ihr nicht einen ingeheim an Weisheit geknüpften Leitfaden der Natur unterlegt!), das läuft ungefähr auf die Frage hinaus: ob es wohl vernünftig sei, Zweckmäßigkeit der Naturanstalt in Theilen und doch Zwecklosigkeit im Ganzen anzu-

Idee

zu

einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

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nehmen. Was also der zwecklose Zustand der Wilden that, daß er nämlich alle Naturanlagen in unserer Gattung zurück hielt, aber endlich durch die Übel, worin er diese versetzte, sie nöthigte, aus diesem Zustande hinaus und in eine bürgerliche Verfassung zu treten, in welcher alle jene Keime entwickelt werden können, das thut auch die barbarische Freiheit der schon gestifteten Staaten, nämlich: daß durch die Verwendung aller Kräste der gemeinen Wesen auf Rüstungen gegen ein­ ander, durch die Verwüstungen, die der Krieg anrichtet, noch mehr aber durch die Nothwendigkeit sich beständig in Bereit­ schaft dazu zu erhalten zwar die völlige Entwickelung der Naturanlagen in ihrem Fortgange gehemmt wird, dagegen aber auch die Übel, die daraus entspringen, unsere Gattung nöthigen, zu dem an sich heilsamen Widerstände vieler Staaten neben einander, der aus ihrer Freiheit entspringt, ein Gesetz des Gleichgewichts auszufinden und eine vereinigte Gewalt, die demselben Nachdruck giebt, mithin einen weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit einzuführen, der nicht ohne alle Gefahr sei, damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen, aber doch auch nicht ohne ein Princip der Gleichheit ihrer wechselseitigen Wirkung und Gegenwirkung, damit sie einander nicht zerstören. Ehe dieser letzte Schritt (nämlich die Staatenverbindung) geschehen, also fast nur auf der Hälfte ihrer Ausbildung, er­ duldet die menschliche Natur die härtesten Übel unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt; und Rousseau hatte so Unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vor­ zog, so bald man nämlich diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat, wegläßt. Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft c u l t i v i r t. Mr sind c i v i l i s i r t bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns für schon m o r a l i s i r t zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität

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Idee

zu

einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichcr Absicht.

gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht blos die Civilisirung aus. So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und ge­ waltsamen Erweiterungsabsichten verwenden und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unter­ stützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten: weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird. Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend. In diesem Zustande wird wohl das menschliche Ge­ schlecht verbleiben, bis es sich auf die Art, wie ich gesagt habe, aus dem chaotischen Zustande seiner Staatsverhältnisse heraus­ gearbeitet haben wird. Achter Satz.

Man kann die Geschichte der Menschen­ gattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur an­ sehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staats­ verfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zu st and, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig ent­ wickeln kann. Der Satz ist eine Folgerung aus dem vorigen. Man sieht: die Philosophie könne auch ihren C h i liasmus haben; aber einen solchen, zu dessen Herbei­ führung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst be­ förderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist. Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von

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einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke. Ich sage: etwasWeniges; denn dieser Kreislauf scheint so lange Zeit zu erfordern, bis er sich schließt, daß man aus dem kleinen Theil, den die Menschheit in dieser Absicht zurückgelegt hat, nur eben so unsicher die Gestalt ihrer Bahn und das Verhältniß der Theile zum Ganzen bestimmen kann, als aus allen bis­ herigen Himmelsbeobachtunzen den Lauf, den unsere Sonne sammt dem ganzen Heere ihrer Trabanten im großen Fixsternensystem nimmt; obgleich doch aus dem allgemeinen Grunde der systematischen Verfassung des Weltbaues und aus dem Wenigen, was man beobachtet hat, zuverlässig genug, um auf die Wirklichkeit eines solchen Kreislaufes zu schließen. Indessen bringt es die menschliche Natur so mit sich: selbst in Ansehung der allerentfemtesten Epoche, die unsere Gattung treffen soll, nicht gleichgültig zu sein, wenn sie nur mit Sicher­ heit erwartet werden kann. Vornehmlich kann es in unserem Falle um desto weniger geschehen, da es scheint, wir könnten durch unsere eigene vernünftige Veranstaltung diesen für unsere Nachkommen so erfreulichen Zeitpunkt schneller herbeiführen. Um deswillen werden uns selbst die schwachen Spuren der Annäherung desselben sehr wichtig. Jetzt sind die Staaten schon in einem so künsüichen Verhältnisse gegen einander, daß keiner in der inneren Cultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren; also ist, wo nicht der Fortschritt, dennoch die Erhaltung dieses Zwecks der Natur selbst durch die ehrsüchtigen Absichten derselben ziemlich gesichert. Ferner: bürgerliche Freiheit kann jetzt auch nicht sehr wohl angetastet werden, ohne den Nachtheil davon in allen Ge­ werben, vornehmlich dem Handel, dadurch aber auch die Ab­ nahme der Kräfte des Staats im äußeren Verhältnisse zu fühlen. Diese Freiheit geht aber allmählig weiter. Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit der Frecheit anderer zusammen

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Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht.

bestehen kann, zu suchen: so hemmt man die Lebhastigkeit des durchgängigen Betriebes und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen. Daher wird die persönliche Einschränkung in seinem Thun und Lassen immer mehr aufgehoben, die allgemeine Freiheit der Religion nachgegeben; und so entspringt allmählig mit unterlaufendem Wahne und Grillen Auf­ klärung, als ein großes Gut, welches das menschliche Geschlecht sogar von der selbstsüchtigen Bergrößerungsabsicht seiner Beherrscher ziehen muß, wenn sie nur ihren eigenen Vortheil verstehen. Diese Aufklärung aber und mit ihr auch ein gewisser Herzensantheil, den der aufgeklärte Mensch am Guten, das er vollkommen begreift, zu nehmen nicht ver­ meiden kann, muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einsluß haben. Obgleich z. B. unsere Weltregierer zu ösfentlichen Erziehungs­ anstalten und überhaupt zu allem, was das Weltbeste betrifft, für jetzt kein Geld übrig haben, weil alles auf den künftigen Krieg schon zum Voraus verrechnet ist: so werden sie doch ihren eigenen Vortheil darin finden, die ob; war schwachen und langsamen eigenen Bemühungen ihres Volks in diesem Stücke wenigstens nicht zu hindern. Endlich wird selbst der Krieg allmählig nicht allein ein so künstliches, int Ausgange von beiden Seiten so unsicheres, sondern auch durch die Nach­ wehen, die der Staat in einer immer anwachsenden Schuldcnlast seiner neuen Erfindung) fühlt, deren Tilgung unabsehlich wird, ein so bedenkliches Unternehmen, dabei der Einfluß, den jede Staatserschütterung in unserem durch seine Gewerbe so sehr verketteten Welttheil auf alle andere Staaten thut, so merklich: daß sich diese, durch ihre eigene Gefahr gedrungen, obgleich ohne gesetzliches Ansehen, zu Schiedsrichtern an­ bieten und so alles von weitem zu einem künftigen großen Staatskörper anschicken, wovon die Vorwelt kein Beispiel aufzuzeigen hat. Obgleich dieser Staatskörper für jetzt nur

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noch sehr im rohen Entwürfe dasteht, so fängt sich dennoch gleichsam schon ein Gefühl in allen ©liebem, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, an zu regen; und dieses giebt Hoffnung, daß nach manchen Revolutionen der Um­ bildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zu st and, als der Schooß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschen­ gattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde. Neunter Satz. Ein philosophischer Versuch, die all­ gemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bür­ gerliche Vereinigung in der Menschen­ gattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selb st für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden. Es ist zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter An­ schlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein sollte, eine Geschichte abfassen zu wollen, es scheint, in einer solchen Absicht könne nur ein R o m a n zu Stande kommen. Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und End­ absicht verfahre, so könnte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung durchzuschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein S y st e m darzustellen. Denn wenn man von der griechischen Geschichte — als derjenigen, wodurch uns jede andere ältere oder gleichzeitige aufbehalten worden,

222 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in wellbürgerlicher Absicht.

wenigstens beglaubigt werden muß *) — anhebt; wenn man derselben Einfluß auf die Bildung und Mißbildung des Staats­ körpers des römischen Volks, das den griechischen Staat verschlang, und des letzteren Einfluß auf die Barbaren, die jenen wiederum zerstörten, bis auf unsere Zeit verfolgt; dabei aber die Staatengeschichte anderer Völker, so wie deren Kenntniß durch eben diese aufgeklärten Nationen allmählig zu uns gelangt ist, episodisch hinzuthut: so wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Welttheile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetze geben wird) entdecken. Indem man seiner allenthalben nur aus die bürgerliche Verfassung und deren Gesetze und aus das Staatsverhältniß Acht hat, in so fern beide durch das Gute, welches sie enthielten, eine Zeitlang dazu dienten, Völker (mit ihnen auch Künste und Wissen­ schaften) empor zu heben und zu verherrlichen, durch das Fehlerhafte aber, das ihnen anhing, sie wiederum zu stürzen, so doch, daß immer ein Keim der Aufklärung übrig blieb, der, durch jede Revolution mehr entwickelt, eine folgende noch höhere Stufe der Verbesserung vorbereitete: so wird sich, wie ich glaube, ein Leitfaden entdecken, der nicht bloß zur Erklärung des so verworrenen Spiels menschlicher Dinge, oder zur politischen Wahrsagerkunst künftiger Staatsveränderungen die*) Nur ein gelehrtes Publicum, das von seinem Anfange an bis zu uns ununterbrochen fortgedauert hat, kann die alte Geschichte beglaubigen, über dasselbe hinaus ist alles terra incognit»; und die Ge­ schichte der Völker, die außer demselben lebten, kann nur von der Zeit angefangen werden, da sie darin eintraten. Dies geschah mit dem jüdi­ schen Volk zur Zeit der Ptolemäer durch die griechische Bibelüber­ setzung, ohne welche man ihren i s o l i r t e n Nachrichten wenig Glauben beimessen würde. Bon da (wenn dieser Anfang vorerst gehörig auSgemittelt worden) kann man auswärts ihren Erzählungen nachgehen. Und so mit allen übrigen Völkern. Das erste Blatt imThucydides (sagt H u m e) ist der einzige Anfang aller wahren Geschichte.

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. 223

nett kann (ein Nutzen, den man schon sonst aus der Geschichte der Menschen, wenn man sie gleich als unzusammenhängende Mrkung einer regellosen Freiheit ansah, gezogen hat!); sondern es wird (was man, ohne einen Naturplan vorauszusetzen, nicht mit Grunde hoffen kann) eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in welcher die Menschengattung in weiter Ferne vorgestellt wird, wie sie sich endlich doch zu bent Zustande empor arbeitet, in welchem alle Keime, die die Natur in sie legte, völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden. Eine solche Recht­ ser t i g u n g der Natur — oder besser der Vorsehung — ist kein unwichtiger Bewegungsgmnd, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was Hilsts, die Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung im ver­ nunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Theil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesem den Zweck enthält, — die Geschichte des menschlichen Geschlechts — ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben soll, dessen Anblick uns nöthigt unsere Augen von ihm mit Unwillen wegzuwenden und, in­ dem wir verzweifeln jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin bringt, sie nur in einer andern Welt zu hoffen? Daß ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewisser­ maßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen wollte: wäre Mißdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte. Überdem muß die sonst rühm­ liche Umständlichkeit, mit der man jetzt die Geschichte seiner Zeit absaßt, doch einen jeden natürlicher Weise auf die Bedenk­ lichkeit bringen: wie es unsere späten Nachkommen anfangen

224 Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher

Absicht.

werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen. Ohne Zweifel werden sie die der ältesten Zeit, von der ihnen die Urkunden längst erloschen sein dürften, nur aus dem Gesichtspunkte dessen, was sie interessirt, nämlich desjenigen, was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben, schätzen. Hieraus aber Rücksicht zu nehmen, imgleichen auf die Ehrbegierde der Staatsoberhäupter sowohl als ihrer Diener, um sie auf das einzige Mittel zu richten, das ihr rühm­ liches Andenken auf die späteste Zeit bringen kann: das kann noch überdem einen kleinen Bewegungsgrund zum Ver­ suche einer solchen philosophischen Geschichte abgeben.

Beantwortung der Frage:

was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Men­ schen aus seiner selbst verschuldeten Un­ mündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andem zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahl­ spruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, wamm ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennee), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und wamm «S Anderen so leicht wird, sich zu deren Bormündem auszu­ werfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, u. s. tu., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöchig zu denken, wenn ich nur bezahlen kanu; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich über­ nehmen. Daß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zm Mündig­ keit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr 16*

Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig ver­ hüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die chnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden dmch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen fer­ neren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu be­ dienen, well man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Natmgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Un­ mündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmälsten Graben einen nur unsicheren Spmng thun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu chun. Daß aber ein Publicum sich selbst aufkläre, ist eher mög­ lich; ja es ist, wenn man chm nur Freiheit läßt, beinahe unaus­ bleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werths und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das Publicum, welches zuvor von chnen unter dieses Joch gebracht worden, sie hernach selbst zwingt darunter zu bleiben.

Was ist Aufklärung?

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wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es Vorurtheile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein Publicum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotisnl und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Resorm der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Borurtheile werden eben sowohl als die alten zum Leitbande des gedanken­ losen großen Haufens dienen. Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonnirt nicht! Der Offizier sagt: räsonnirt nicht, sondem exercirt l Der Finanzrath: räsonnirt nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonnirt nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber chr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufllärung hinderlich? welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? — Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufllärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vemunft denjenigen, den jemand alsGelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum der L e s e r w e l t macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder

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Aas ist Aufklärung?

Amte von seiner Bemunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism nochwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um dmch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zer­ störung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freüich nicht erlaubt, zu räsonniren; sondern man muß ge­ horchen. So fern sich aber dieser Theil der Maschine zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Welt­ bürgergesellschaft ansieht, mithin in der Qualität eines Ge­ lehrten, der sich an ein Publicum im eigentlichen Verstände durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonniren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Theile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbe­ fohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nütz­ lichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß ge­ horchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegsdienste An­ merkungen zu machen und diese seinem Publicum zur Beur­ theilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vor­ witziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlich­ keiten veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt demungeachtet der Pflicht eines Bürgers nicht ent­ gegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken äußert. Eben so ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu thun; denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Ge-

Was ist Aufklärung?

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lehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publicum mitzucheüen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zm Last gelegt werden könnte. Denn was er zu Folge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er oB etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines andern vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Bortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens doch nichts der innern Religion Widersprechendes darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es nieder­ legen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein P r i vatgebrauch: »eil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen ftemden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Ge­ lehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publicum, näm­ lich der Welt, spricht, michin der Geistliche im offen!« lichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer unein­ geschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Stammst zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß die Vor­ münder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder un­ mündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.

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Was ist Aufklärung?

Wer sollte nicht eine Gesellschaft von Geisüichen, etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländem selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschast über jedes chrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Contract, der auf immer alle weitere Aufllärung vom Menschengeschlechte abzuhalten ge­ schlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es chm unmöglich werden muß, seine (vomehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu er­ weitern, von Irrthümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Berbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als un­ befugter und ftevechafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probirstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte. Nun wäre dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines bessem auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung ein­ zuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vor­ nehmlich dem Geisüichen stet ließe, in der Qualität eines Ge­ lehrten öffenüich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen öffenüich so weit gekommen und bewährt worden, daß sie durch Bereini-

Was ist Aufklärung?

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gung ihrer Stimmen (wenn gleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der Lesseren Einsicht zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim Men wollten bewenden lassen. Wer aus eine beharrliche, von Nie­ manden öffentlich zu bezweifelnde Religiorisverfassung auch mit binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Mensch­ heit zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft nachtheilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufllärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu thun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Mensch­ heit verletzen und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gestimmten Volks­ willen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß alle wahre oder vermeinte Verbesserung mit der bürger­ lichen Ordnung zusammen bestehe: so kann er seine Unterthanen übrigens nur selbst machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu thun nöthig finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern gewaltthätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach allem seinem Vermögen zu arbeiten. Es thut selbst seiner Majestät Abbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften, wodurch seine Unterthanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen, seiner Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchsten Einsicht thut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Caesar non cst supra Grammaticos,

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Was ist Aufklärung?

als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichen Despotism einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Unterthanen zu unter­ stützen. Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der A u f k l ä r u n g. Daß die Men­ schen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Andem sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Mein daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählig weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahr­ hundert Friederichs. Ein Fürst, der es feiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Frei­ heit zu lassen, der also selbst den hochmüchigen Namen der Toleranz von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt und ver­ dient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit wenigstens von Seiten der Regierung entschlug und Jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensan­ gelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche unbeschadet ihrer Amtspflicht ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden Urtheile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht ein-

Wa- Ist AuMrung?

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geschränkt ist. Dieser Geist der Frecheit breitet sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Frecheit für die öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesen- nicht das Mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Nohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten. Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Aus­ ganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündig­ keit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: well in An­ sehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Unterthanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schäd­ lichste, also auch die entehrendste unter allen ist. Wer die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Unterthanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Wfassung derselben sogar mit einer freimüthigen Kritik der schon gegebenen der Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren. Wer auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldisciplinirtes zahl­ reiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint

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Was ist Aufklärung?

der Freiheit des Geistes des Bolls Vortheilhast und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten HMe den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählig zurück auf die Sinnesart des Bolls (wodmch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grund» sätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln. Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

Übergang

von der gemeinen sittlichen

Pernunftetf enntniß zur philosophischen.

ES ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, alS allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urtheilskraft und wie die T a l e n t e des Geistes sonst heißen mögen, oder Much, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Borsatze als Eigenschaften des Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wünschenswerth; aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigenthümliche Beschaffenheit dämm Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichchum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der G l ü ck s e l i g k e i t machen Much und hie» dmch öfters auch Übermuch, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüth und hiemit auch das ganze Princip zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, daß ein vemünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohl­ ergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Mllens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Mlle die unerläßliche Bedingung selbst der Würdig­ keit glücklich zu sein auszumachen scheint. Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförderlich und können sein Werk sehr «leichtem, haben aber dem ungeachtet keinen innern unbedingten Werth, sondern setzen

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Übergang von der gemeinen sittlichen

immer noch einen guten Mllen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechchin gut zu halten. Mäßigung in Affecten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchlerne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Theil vom innern Weiche der Person auszumachen; «Nein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefähr­ licher, sondern auch unmittelbar in unsern Augen noch verab­ scheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden. Der gute Wille ist nicht nur das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich dmch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder dmch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht dmchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (frellich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werch in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werche weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um chn im gemeinen Verkehr besser hand­ haben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht

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Bernunfterkenntniß zur philosophischen.

gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um chn Kennern zu empfehlen und seinen Werth zu bestimmen. Es liegt gleichwohl in dieser Idee von dem absoluten Werthe des bloßen Willens, ohne einigen Nutzen bei Schätzung desselben in Anschlag zu bringen, etwas so Befremdliches, daß unerachtet aller Einstimmung selbst der gemeinen Ver­ nunft mit derselben dennoch ein Verdacht entspringen muß, daß vielleicht bloß hochfliegende Phantasterei ingeheim zum Grund liege, und die Natur in ihrer Absicht, warum sie unserm Willen Bemunft zur Regiererin beigelegt habe, falsch verstanden sein möge. Daher wollen wir diese Idee aus diesem Gesichts­ punkte auf die Prüfung stellen. In den Naturanlagen eines organisirten, d. i. zweckmäßig zum Leben eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grund­ satz an, daß kein Werkzeug zu irgend einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist. Wäre nun an einem Wesen, das Vemunft und einen Willen hat, seine Erhal­ tung, sein Wohlergehen, mit einem Worte seine G l ü ck s e l i g k e i t, der eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Ver­ nunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht aus­ zuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit genauer durch Jnstinct vorgezeichnet und jener Zweck weit sicherer dadurch haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft ge chehen kann, und sollte diese ja obenein dem begünstigten Geschöpf ertheilt worden sein, so würde sie ihm nur dazu haben dienen müssen, um über die glückliche Anlage seiner Natur Betrachtungen anzustellen, sie zu bowundern, sich ihrer zu erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar zu sein; nichi aber, um sein Begehrungsver­ mögen jener schwachen und trüglichen Leitung zu unterwerfen «antS populäre Schriften.

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Übergang von der gemeinen sittlichen

und in der Naturabsicht zu pfuschen; mit einem Worte, sie würde verhütet haben, daß Vernunft nicht in praktischen Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte, mit ihren schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der Glück­ seligkeit und der Mittel dazu zu gelangen auszudenken; die Natur würde nicht allein die Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übenwmmen und beide mit weiser Vorsorge lediglich dem Jnstincte anvertraut haben. In der That finden wir auch, daß, je mehr eine cultivirte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, wenn sie nur auf« richtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von M i s o l o g i e, d. i. Haß der Vemunst, entspringt, well sie nach dem Überschlage alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen von der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus, sondern sogar von den Wissenschaften (die ihnen am Ende auch ein Luxus des Verstandes zu sein scheinen) ziehen, den­ noch finden, daß sie sich in der That nur mehr Mühseligkeit aus den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen haben und darüber endlich den gemeinern Schlag der Menschen, welcher der Leitung des bloßen Naturinstincts näher ist, und der seiner Vernunft nicht viel Einfluß auf sein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden als geringschätzen. Und so weit muß man gestehen, daß das Urtheil derer, die die ruhmredige Hoch­ preisungen der Vortheile, die uns die Vemunst in Ansehung der Glückseligkeit und Zuftiedenheit des Lebens verschaffen sollte, sehr mäßigen und sogar unter Null herabsetzen, keinesWeges grämisch, oder gegen die Güte der Weltregierung un­ dankbar sei, sondem daß diesen Urtheilen ingeheim die Idee von einer andem und viel würdigem Absicht ihrer Existenz zum Gmnde liege, zu welcher und nicht der Glückseligkeit die

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Bernunsterkenntniß zur philosophischen.

Vernunft ganz eigentlich bestimmt sei, und welcher dämm als oberster Bedingung die Privatabsicht des Menschen größtentheils nachstehen muß. Denn da die Vernunft dazu nicht tauglich genug ist, um den Willen in Ansehung der Gegenstände desselben und der Befriedigung aller unserer Bedürfnisse (die sie zum Theil selbst vervielfältigt) sicher zu leiten, als zu welchem Zwecke ein eingepflanzter Naturinstinct viel gewisser geführt haben würde, gleichwohl aber uns Bemunft als praktisches Vermögen, d. i. als ein solches, das Einfluß auf den W i l l e n haben soll, dennoch zugetheilt ist: so muß die wahre Bestimmung derselben sein, einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern ansichselbstgutenWillen hervorzubringen, wozu schlechterdings Bemunft nöthig war, wo anders die Natur überall in Austheilung ihrer Anlagen zweckmäßig zu Werke gegangen ist. Dieser Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, aber er muß doch das höchste Gut und zu allem übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung sein, in welchem Falle es sich mit der Weisheit der Natur gar wohl vereinigen läßt, wenn man wahmimmt, daß die Cultur der Bemunft, die zur erstem und unbedingten Absicht erforderlich ist, die Erreichung der zweiten, die jederzeit bedingt ist, nämlich der Glückseligkeit, wenigstens in diesem Leben auf mancherlei Weise einschränke, ja sie selbst unter Nichts herabbringen könne, ohne daß die Natur darin un­ zweckmäßig verfahre, weil die Bemunft, die ihre höchste praktische Bestimmung in der Gründung eines guten Willens erkennt, bei Erreichung dieser Absicht nur einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks, den wiedemm nur Bemunft bestimmt, fähig ist, sollte dieses auch mit manchem Abbmch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein. Um aber den Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden 16*

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und ohne weitere Absicht guten Willens, so wie er schon betn natürlichen gesunden Verstände beiwohnt und nicht sowohl gelehrt als vielmehr nur aufgellärt zu werden bedarf, diesen Begriff, der in der Schätzung des ganzen Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht, zu entwickeln: wollen wir den Begriff der Pflicht vor uns nehmen, der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen, enthält, die aber doch, weit gefehlt daß sie ihn verstecken und unkenntlich machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desw heller hervorscheinen lassen. Ich übergehe hier alle Handlungen, die schon als pflicht­ widrig erkannt werden, ob sie gleich in dieser oder jener Absicht nützlich sein mögen; denn bei denen ist gar nicht einmal die Frage, ob sie aus Pflicht geschehen sein mögen, da sie dieser sogar widerstreiten. Ich setze auch die Handlungen bei Seite, die wirllich pflichtmäßig sind, zu denen aber Men­ schen unmittelbar keine Neigung haben, sie aber den­ noch ausüben, weil sie durch eine andere Neigung dazu getrieben werden. Denn da läßt sich leicht unterscheiden, ob die pflichtmäßige HaMung a u s P f l i ch t oder aus selbstsüchtiger Ab­ sicht geschehen sei. Weit schwerer ist dieser Unterschied zu be­ merken, wo die HaMung pflichtmäßig ist und das Subject noch überdem unmittelbare Neigung zu ihr hat. Z. B. es ist allerdings pflichtmäßig, daß der Krämer seinen unerfahmen Käufer nicht übertheure, und, wo viel Verkehr ist, thut dieses auch der lluge Kaufmann nicht, sondern hält einen festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann, so daß ein Kind eben so gut bei ihm kauft, als jeder andere. Man wird also ehrlich bedient; allein das ist lange nicht genug, um deswegen zu glauben, der Kaufmann habe aus Pflicht und Grundsätzen der Ehrlichkeit so verfahren; sein Vortheil erforderte es; daß er aber überdem noch eine unmittelbare Neigung

Bernunslerkenntmß zur philosophischen."

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zu den Käufem haben sollte, um gleichsam aus Liebe keinem vor dem andern int Preise den Vorzug zu geben, läßt sich hier nicht annehmen. Mso war die Handlung weder aus Pflicht, noch aus unmittelbarer Neigung, sondern bloß in eigennütziger Absicht geschehen. Dagegen sein Leben zu erhalten, ist Pflicht, und Äberdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung. Mer um deswillen hat die oft ängslliche Sorgfalt, die der größte Theil der Menschen dafür trägt, doch keinen innern Werth und die Maxime derselben keinen moralischen Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, aber nicht aus Pflicht. Dagegen wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungs­ loser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche, stark an Seele, über sein Schick­ sal mehr entrüstet als üeinmüthig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt. Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem giebt es manche so theilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen mtbern Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit anderer, so fern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Wer ich behaupte, daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Werth habe, sondern mit andern Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z. E. der Neigung nach Ehre, die, wenn sie glücklicher­ weise aus das trifft, was in der That gemeinnützig und pflicht­ mäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sitt­ liche Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu thun. Gesetzt also, das Gemüth

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Übergang von der gemeinen sittlichen

jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umtob®, der alle Theilnehmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, anbetn Nothleidenden wohlzuthun, aber fremde Noth rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen gnug beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödtlichen Unempfindlich­ keit heraus und thäte die Handlung ohne alle Neigung, ledig­ lich aus Pflicht, alsdann hat sie allererst ihren ächten mora­ lischen Werth. Noch mehr: wenn die Natur diesem oder jenem überhaupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er (übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und gleichgültig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht weil er, selbst gegen seine eigene mit der besondern Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, dergleichen bei jedem anbetn auch voraussetzt, oder gar fordert; wenn die Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes Product sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet hätte, würde er denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit Hähern Werth zu geben, als der eines gutartigen Temperaments sein mag? Allerdings! gerade da hebt der Werth des Charakters an, der moralisch und ohne alle Ver­ gleichung der höchste ist, nämlich daß er wohlthue, nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht. Seine eigene Glüch'eligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zu­ stande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden. Aber auch ohne hier auf Pflicht zu sehen, haben alle Menschen von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit, weil sich gerade in dieser Idee alle Neigungen zu einer Summe vereinigen. Nur ist die Vorschrift der Glück­ seligkeit mehrentheils so beschaffen, daß sie einigen Neigungen

Bernunsterkenntniß zur philosophischen.

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großen Abbruch thut und doch der Mensch sich von der Summe der Befriedigung aller unter dem Namen der Glückseligkeit keinen bestimmten und sichern Begriff machen kann; daher nicht zu verwundem ist, wie eine einzige in Ansehung dessen, was sie verheißt, und der Zeit, worin ihre Befriedigung erhal­ ten werden kann, bestimmte Neigung eine schwankende Idee überwiegen könne, und der Mensch, z. B. ein Podagrist, wählen könne, zu genießen, was ihm schmeckt, und zu leiden, was er kann, weil er nach seinem überschlage hier wenigstensich nicht durch vielleicht grundlose Erwartungen eines Glücks, das in der Gesundheit stecken soll, um den Genuß des gegen­ wärtigen Augenblicks gebracht hat. Aber auch in diesem Falle, wenn die allgemeine Neigung zur Glückseligkeit seinen Mllen nicht bestimmte, wenn Gesundheit für ihn wenigstens nicht so nothwendig in diesen Überschlag gehörte, so bleibt noch hier wie in allen andern Mllen ein Gesetz übrig, nämlich seine Glückseligkeit zu befördern, nicht aus Neigung, sondem aus Pflicht, und da hat sein Verhalten allererst den eigentlichen moralischen Werth. So sind ohne Zweifel auch die Schriftstellen zu verstehen, darin geboten wird, seinen Nächsten, selbst unsern Feind zu lieben. Denn Liebe als Neigung kann nicht geboten werden, aber Wohlthun aus Pflicht selbst, wenn dazu gleich gar keine Neigung treibt, ja gar natürliche und unbezwingliche Abneigung widersteht, ist praktische und nicht pathologische Liebe, die im Mllen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theil« nehmung; jene aber allein kann geboten werden. Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Werth nicht in der Absicht, welche da­ durch erreicht werden soll, sondem in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Hand ung ab, sondem blos von dem P r i n -

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cipdesWollens, nach welchem die Handlung unange­ sehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist. Daß die Absichten, die wir bei Handlungen haben mögen, und ihre Wrkungen, als Zwecke und Triebfedern des Willens, den Handlungen keinen unbedingten und moralischen Werth ertheilen können, ist aus dem vorigen klar. Worin kann al'o dieser Werth liegen, wenn er nicht int Willen in Beziehung auf deren verhoffte Wirkung bestehen soll? Er kann nirgend anders liegen, als im Princip des Willens un­ angesehen der Zwecke, die durch solche Handlung bewirkt wer­ den können; denn der Wille ist mitten inne zwischen se nem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Trieb­ feder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege, und da er doch irgend wodurch muß bestimmt werden, so wird er durch das formelle Princip des Wollens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle Princip entzogen worden. Ten dritten Satz als Folgerung aus beiden vorigen würde ich so ausdrücken: Pflicht ist die Noihwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Ges e tz. Zum Objecte als Wirkung meiner vorhabenden Hand­ lung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung, eben darum weil sie bloß eine Wirkung und nicht Thätigkeit eines Willens ist. Eben so kann ich für Neigung überhaupt, sie mag nun meine oder eines andern seine sein, nicht Achtung haben, ich kann sie höchstens im ersten Fa le billigen, m zweiten bisweilen selbst lieben, d. i. sie als meinem eigenen Vortheile günstig ansehen. Nur das, was bloß als Grund, niemals aber als Wirkung mit meinem Willen ver­ knüpft ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern sie über­ wiegt, wenigstens diese von deren Überschlage bei der Wahl ganz ausschließt mithin das bloße Gesetz für sich 'ann ein

vernunfterlenntniß zur philosophischen.

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Gegenstand der Achtung und hiemit ein Gebot sein. Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was chn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime *), einem sol­ chen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten. Es liegt also der moralische Werth der Handlung nicht in der Mrkung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Princip der Handlung, welches seinen Bewe­ gungsgrund von dieser erwarteten Wirkung zu entlehnen be­ darf. Denn alle diese Wirkungen (Annehmlichkeit seines Zu­ standes, ja gar Beförderung ftemder Glückseligkeit) konnten auch durch andere Ulsachen zu Stande gebracht werden, und es brauchte also dazu nicht des Willens e nes vernünftigen Wesens, worin gleichwohl das höchste und unbedingte Gute allein angetroffen werden kann. Es kann daher nichts anders als die B o r st e l l u n g d e s G e s e tz e s an sich selbst, d i e freilich nur im vernünftigen Wesen statt­ findet, so fern sie, nicht aber die verhosfte Wirkung der Bestimmungsgrund des W.llens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf **). *) Maxime ist das subjektive Princip des Wollens; das objective Princip (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjectiv zum praktischen Princip dienen würde, wenn Bernunst volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz. **) Man könnte mir vorwerfen, als suchte ich hinter dem Worte Achtung nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle, anstatt durch einen Begriff der Vernunft in der Frage deutliche Auskunft zu geben. Mein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluß

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Übergang von der gemeinen sittlichen

Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vor­ stellung, auch ohne auf die daraus erwartete Wirkung Stflcfr sicht zu nehmen, den Willen bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Hand­ lungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. Hier empfangenes, sondern durch einen Vernunftbcgriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, specifisch unterschieden. Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloß das Bewußtsein der Unterordnung meines Willens unter einem Gesetze ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf meinen Sinn bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als W i r k u n g des Gesetzes aufs Subject und nicht als N r s a ch e desselben ange­ sehen wird. Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von einem Wetthe, der meiner Selbstliebe Abbruch thut. 2llso ist es etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht betrachtet wird, obgleich es mit beiden zugleich etwas Analogisches hat. Der G e g e n st a n d der Achtung ist also lediglich das Gesetz und zwar dasjenige, das wir uns selbst unb doch als an sich nothwendig auferlegen. Als Gesetz sind wir ihm unterworfen, ohne die Selbstliebe zu befragen; als uns von uns selbst auferlegt, ist es doch eine Folge unsers Willens und hat in der ersten Rück­ sicht Analogie mit Furcht, in der zweiten mit Neigung. Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit rc), wovon jene uns das Beispiel giebt. Weil wir Erweiterung unserer Talente auch als Pflicht ansehen, so stellen wir uns an einer Person von Talenten auch gleichsam das B e i s p i e l e i n e s G e s e tz e s vor (ihr durch Übung hierin ähnlich zu werden), und das macht unsere Achtung aus. Allemoralische so genannte Interesse besteht lediglich in der A ch t u n g fürs Gesetz.

Bemunsterlenntniß zur philosophischen.

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ist mm die bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum Gmnde zu legen) das, was dem Willen zum Princip dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurtheilung auch voll­ kommen überein und hat das gedachte Princip jederzeit vor Augen. Die Frage sei z. B.: darf ich, wenn ich im Gedränge bin, nicht ein Versprechen thun, in der Absicht, es nicht zu halten? Ich mache hier leicht den Unterschied, den die Bedeutung der Frage haben kann, ob es llüglich, oder ob es pflichtmäßig sei, ein falsches Versprechen zu thun. Das erstere kann ohne Zweifel öfters stattfinden. Zwar sehe ich wohl, daß es nicht gnug sei, mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegen­ wärtigen Verlegenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt wer­ den müsse, ob mir aus dieser Lüge nicht hinterher viel größere Ungelegenheit entspringen könne, als die sind, von denen ich mich jetzt befreie, und, da die Folgen bei aller meiner ver­ meinten Schlauigkeit nicht so leicht vorauszusehen sind, daß nicht ein einmal verlornes Zutrauen mir weit nachtheiliger werden könnte als alles Übel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob es nicht k l ü g l i ch e r gehandelt sei, hiebei nach einer all­ gemeinen Maxime zu verfahren und es sich zur Gewohnheit zu machen, nichts zu versprechen als in der Absicht, es zu halten. Mein es leuchtet mir hier halb ein, daß eine solche Maxime doch immer nur die besorglichen Folgen zum Grunde habe. Nun ist es doch etwas ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgniß der nachtheiligen Folgen: indem im ersten Falle der Begriff der Handlung an sich selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit verbunden sein möchten. Denn wenn ich von dem Princip der Pflicht ab-

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Übergang von der gemeinen sittlichen

weiche, so ist es ganz gewiß böse; werde ich aber meiner Maxime der Klugheit abtrünnig, so kann das mir doch manchmal sehr Vortheilhast sein, wiewohl es fteilich sicherer ist, bei chr zu bleiben. Um indessen mich in Ansehung der Beantwortung dieser Auf­ gabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtgemäß sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl sür mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen thun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich aus andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Ver­ sprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise thäten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse. Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche ich gar keine weit ausholende Scharffinnigleit. Unerfahren in Ansehung des Weltlaufs, unfähig auf alle sich eräugnende Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich und das zwar nicht um eines dir oder auch anderen daraus bevor­ stehenden Nachtheils willen, sondern weil sie nicht als Princip in eine mögliche allgemeine Gesetzgebung passen kann; für diese aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), wenigstens

Bernunsterkeimtniß zur philosophischen.

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aber doch so viel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung ange­ priesen wird, weit überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines a ir s i ch guten Willens ist, dessen Werth über alles geht. So sind wir denn in der moralischen Erkenntniß der ge­ meinen Menschenvernunft bis zu ihrem Princip gelangt, welches sie sich zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht. Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Compasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wifle, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtgemäß, oder pflicht­ widrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates that, aus ihr eigenes Princip aufmerksam macht, und daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein. Das ließe sich auch wohl schon zum voraus vermuthen, daß die Kenntniß dessen, was zu thun, mithin auch zu wissen jedem Menschen obliegt, auch jedes, selbst des gemeinsten Menschen Sache sein werde. Hier kann man es doch nicht ohne Bewun­ derung ansehen, wie das praktische Beurtheilungsvermögen vor dem theoretischen im gemeinen Menschenverstände so gar viel voraus habe. In dem letzteren, wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungsgesetzen und den Wahmehmungen der Sinne abzugehen, geräth sie in lauter Unbegreiflichkeiten und Widersprüche mit sich selbst, wenigstens in ein Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand. Im praktischen aber fängt die Beurtheilungskraft dann eben allererst an, sich recht Vortheilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle

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Übergang von der gemeinen sittlichen

sinnliche Triebfedern von praktischen Gesetzen ausschließt. Er tvird alsdann sogar subtil, es mag sein, daß er mit seinem Ge­ wissen oder anderen Ansprüchen in Beziehung auf das, was recht heißen soll, chicaniren, oder auch den Werth der Hand­ lungen zu seiner eigenen Belehmng aufrichtig bestimmen will, und was das meiste ist, er kann im letzteren Falle sich eben so gut Hoffnung machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph versprechen mag, ja ist beinahe noch sicherer hierin, als selbst der letztere, weil dieser doch kein anderes Princip als jener haben, sein Urtheil aber durch eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen leicht ver­ wirren und von der geraden Richtung abweichend machen kann. Wäre es demnach nicht rathsamer, es in moralischen Dingen bei dem gemeinen Vernunfturthell bewenden zu lassen und höchstens nur Philosophie anzubringen, um das System der Sitten desto vollständiger und faßlicher, imgleichen die Regeln derselben zum Gebrauche (noch mehr aber zum Disputiren) bequemer darzustellen, nicht aber um selbst in praktischer Absicht den gemeinen Menschenverstand von seiner glücklichen Einfalt abzubringen und ihn durch Philosophie auf einen neuen Weg der Untersuchung und Belehmng zu bringen? Es ist eine herrliche Sache um die Unschuld, nur es ist auch wiedemm sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit — die sonst wohl mehr im Thun und Lassen, als im Mssen besteht — doch auch der Wissenschaft, nicht um von chr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftig­ keit zu verschaffen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Ver­ nunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, deren ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt. Nun gebietet die Vemunft, ohne doch dabei den Neigungen etwas zu verheißen.

Lernunfterkenntniß zur philosophischen.

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unnachlaßlich, mithin gleichsam mit Zurücksetzung und Nicht­ achtung jener so ungestümen und dabei so billig scheinenden Ansprüche (die sich durch kein Gebot wollen aufheben lassen) chre Vorschriften. Hieraus entspringt aber eine natür­ lich e D i a l e k t i k, d. i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und chre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und ste wo möglich unfern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und um chre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen kann. So wird also die gemeineMenschenvernunft nicht durch irgend ein Bedürfniß der Speculation (welches ihr, so lange sie sich genügt, bloße gesunde Bemunft zu sein, niemals anwandelt), sondern selbst aus praktischen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen und einen Schritt ins Feld einer praktischen Philosophie zu thun, um daselbst wegen der Quelle ihres Princips und richtigen Be­ stimmung desselben in Gegenhaltung mit den Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fußen, Erkundigung und deutliche Anweisung zu bekommen, damit sie aus der Ver­ legenheit wegen beiderseitiger Ansprüche herauskomme und nicht Gefahr laufe, durch die Zweideutigkeit, in die sie leicht geräth, um alle ächte sittliche Grundsätze gebracht zu werden. Also entspinnt sich eben sowohl in der praktischen gemeinen Vernunft, wenn sie sich cultivirt, unvermerkt eine Dialek­ tik, welche sie nöthigt, in der Philosophie Hülfe zu suchen, als es ihr im theoretischen Gebrauche widerfährt, und die erstere wird daher wohl eben so wenig als die andere irgendwo sonst, als in einer vollständigen Kritik unserer Vernunft Ruhe finden.

Über das Mißlingen aller

philosophischen Versuch in der Theodicee.

Unter einer Theodicee versteht man die Vertheidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt. — Man nennt dieses, die Sache Gottes verfechten; ob es gleich im Grunde nichts mehr als die Sache unserer anmaßenden, hiebei aber chre Schranken verkennenden Vernunft fein möchte, welche zwar nicht eben die beste Sache ist, insofern aber doch gebilligt werden kann, als (jenen Eigen­ dünkel bei Seite gesetzt) der Mensch als ein vernünftiges Wesen berechtigt ist, alle Behauptungen, alle Lehre, welche chm Achtung auferlegt, zu prüfen, ehe er sich ihr unterwirft, damit diese Achtung aufrichtig und nicht erheuchelt sei. Zu dieser Rechtfertigung wird nun erfordert, daß der vermeintliche Sachwalter Gottes entweder beweise: daß das, was wir in der Welt als zweckwidrig beurtheüen, es nicht sei; oder: daß, wenn es auch dergleichen wäre, es doch gar nicht als Factum, sondern als unvermeidliche Folge aus der Natur der Dinge beurtheilt werden müsse; oder endlich: daß es wenigstens nicht als Factum des höchsten Urhebers aller Dinge, sondern bloß der Weltwesen, denen etwas zugegerechnet werden kann, d. i. der Menschen, (allenfalls auch höherer, guter oder böser, geistiger Wesen) angesehen werden müsse. Der Verfasser einer Theodicee wMgt also ein, daß dieser Rechtshandel vor dem Gerichtshöfe der Vernunft anhängig gemacht werde, und macht sich anheischig, den angeklagten 17*

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Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Tbeodicee.

Theil als Sachwalter durch förmliche Mderlegung aller Be­ schwerden des Gegners zu betheten: darf letztern also während des Rechtsganges nicht durch einen Machtspruch der Unstatt­ haftigkeit des Gerichtshofes der menschlichen Vernunft (exceptionem fori) abweisen, d. i. die Beschwerden nicht durch ein dem Gegner auferlegtes Zugeständniß der höchsten Weisheit des Welturhebers, welches sofort alle Zweifel, die sich da­ gegen regen möchten, auch ohne Untersuchung für grundlos erklärt, abfertigen; sondern muß sich auf die Einwürfe ein­ lassen und, wie sie dem Begriff der höchsten Weisheit*) keinesweges Abbruch thun, durch Beleuchtung und Tilgung derselben *) Obgleich der eigenthümliche Begriss einer Weisheit nur die Eigenschaft eines Willens vorstellt, zum höchsten Gut als dem End­ zweck aller Dinge zusammen zu stimmen; hingegen Kunst nur das Vermögen im Gebrauch der tauglichsten Mittel zu beliebigen Zwecken: so wird doch Kunst, wenn sie sich als eine selche beweiset, welche Ideen adäquat ist, deren Möglichkeit alle Einsicht der menschlichen Vernunft übersteigt (z. B. wenn Mttel und Zwecke wie in organischen Körpern einander wechselseitig hervorbringen), als eine göttliche Kunst nicht unrecht auck mit dem Namen der Weisheit belegt werden können; doch, um die Begriffe nicht zu verwechseln, mit dem Namen einer Kunstweisheit de§ Welturhebers zum Unterschiede von dermora lischen Weisheit desselben. Die Teleologie (auck durch sie die Physikotheologie) giebt reichliche Beweise der erstem in der Erfahrung. Mer von ihr gilt kein Schluß auf die moralische Weisheit des Welturhebers, weil Naturgesetz und Sittengesetz ganz ungleichartige Principien erfordern, und der Beweis der letzteren Weisheit gänzlich a priori geführt, also schlechter­ dings nicht auf Erfahrung von dem, was in der Welt vorgeht, gegründet werden muß. Da nun der Begriff von Gott, der für die Religion tauglich sein soll (denn zum Behuf der Naturerklärung, mithin in spekulativer Absicht brauchen wir ihn nicht), ein Begriff von ihm als einem moralischen Wesen sein muß; da dieser Begriff, so wenig als er auf Erfahrung gegründet, eben so wenig auS bloß transscendentalen Begriffen eines schlechthin nothwendigen Wesens, der gar für uns überschwenglich ist, herausge­ bracht werden kann: so leuchtet genugsam ein, daß der Beweis des Daseineines solchen Wesens kein andrer als ein moralischer sein könne.

Übet das Mißlingen aller philosophischen

Versuche in der Theodicee.

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begreiflich machen. — Doch auf eines hat er nicht nöthig sich einzulassen: nämlich daß er die höchste Weisheit Gottes aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt lehrt, auch sogar be­ weise; berat hiermit würde es ihm auch schlechterdings nicht gelingen, well Mwissenheit dazu erforderlich ist, um an einer gegebnen Welt (wie sie sich in der Erfahrung zu erkennen giebt) diejenige Vollkommenheit zu erkennen, von der man mit Gewißheit sagen könne, es sei überall keine größere in der Schöpfung und Regierung derselben möglich. Das Zweckwidrige in der Welt aber, was der Weisheit ihres Urhebers entgegengesetzt werden könnte, ist nun drei­ facher Art: I. Das schlechthin Zweckwidrige, was weder als Zweck, noch als Mittel von einer Weisheit gebilligt und begehrt werden kann. II. Das bedingt Zweckwidrige, welches zwar nie als Zweck, aber doch als Mittel mit der Weisheit eines Willens zusammen besteht. Das erste ist das moralische Zweckwidrige, als das eigentliche Böse (die Sünde); das zweite das physische Zweckwidrige, das Übel (der Schmerz). — Nun giebt es aber noch eine Zweckmäßigkeit in dem Verhältniß der Übel zu dem moralischen Bösen, wenn das letztere einmal da ist und nicht verhindert werden konnte oder sollte: nämlich in der Ver­ bindung der Übel und Schmerzen als Strafen mit dem Bösen als Verbrechen; und von dieser Zweckmäßigkeit in der Welt ftagt es sich, ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt. Folglich muß auch noch eine Ulte Art des Zweckwidrigen in der Welt gedacht werden können, nämlich das Mißverhältniß der Verbrechen und ©trafen in der Welt. Die Eigenschaften der höchsten Weisheit des Welturhebers, wogegen jene Zweckwidrigkeiten als Einwürfe auftreten, sind also auch drei:

262 Übet da- Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

Erstlich die Heiligkeit desselben als Gesetz­ gebers (Schöpfers) im Gegensatze mit dem MoralischBösen in der Welt. Zweitens die Gütigkeit desselben alsRegiererS (Erhalters) im ConKaste mit den zahllosen Übeln und Schmerzen der vernünftigen Weltwesen. Drittens die Gerechtigkeit desselben als R i ch t e r s in Vergleichung mit dem Übelstande, den das Mißverhältniß zwischen der Straflosigkeit der Lasterhaften und ihren Ver­ brechen in der Welt zu zeigen scheint *). *) Diese drei Eigenschaften zusammen, deren eine sich keineswegs auf die andre, wie etwa die Gerechtigkeit aus Güte, und so das Ganze auf eine kleinere Zahl zurückführen läßt, machen den moralischen Begriff von Gott aus. Es läßt sich auch die Ordnung derselben nicht verändern (wie etwa die Gütigkeit zur obersten Bedingung der Weltschöpsung machen, der die Heiligkeit der Gesetzgebung untergeordnet sei), ohne der Religion Abbruch zu thun, welcher eben dieser moralische Begriff zum Grunde liegt. Unsre eigene reine (und zwar praktische) Vernunft bestimmt diese Rangordnung, indem, wenn sogar die Gesetzgebung sich nach der Güte bequemt, es keine Würde derselben und keinen festen Begriff von Pflichten mehr giebt. Der Mensch wünscht zwar zuerst glücklich zu sein; sieht aber doch ein und bescheidet sich (obzwar ungern), daß die Würdigkeit glücklich zu sein, d. i. die Übereinstimmung des Gebrauchs seiner Freiheit mit dem heiligen Gesetze, in dem Rathschluß des Urhebers die Bedingung seiner Gütigkeit sein und also nothwendig vorhergehen müsse. Denn der Wunsch, welcher den subjektiven Zweck (der Selbstliebe) zum Grunde hat, kann nicht den objectiven Zweck (der Weisheit), den das Gesetz vorschreibt, bestimmen, welches dem Willen unbedingt die Regel giebt. — Auch ist die Strafe in der Ausübung der Gerechtigkeit keineswegs als bloßes Mittel, sondern als Zweck in der gesetzgebenden Weisheit gegründet: die Über­ tretung wird mit Übeln verbunden, nicht damit ein anderes Gute heraus­ komme, sondern weil diese Verbindung an sich selbst, d. i. moralisch noth­ wendig und gut ist. Die Gerechtigkeit setzt zwar Güte des Gesetzgebers voraus (denn wenn sein Willen nicht aus das Wohl seiner Unterthanen ginge, so würde dieser sie auch nicht verpflichten können ihm zu gehorchen); aber sie ist nicht Güte, sondern als Gerechtigkeit von dieser wesentlich unterschieden, obgleich im allgemeinen Begriffe der Weisheit enthalten.

Es wird also gegen jene drei Klagen die Berantwortung aus die oben erwähnte dreifach verschiedene Art vorgestellt und ihrer Gültigkeit nach geprüft werden müssen. I. Wider die Beschwerde gegen die Helligkeit des gött­ lichen Willens aus dem Moralisch-Bösen, welches die Welt, sein Werk, vemnstaltet, besteht die erste Rechtfertigung darin: a) Daß es ein solches schlechterdings Zweckwidrige, als wofür wir die Übertretung der reinen Gesetze unserer Ver­ nunft nehmen, gar nicht gebe, fonbent daß es nur Verstöße wider die menschliche Weisheit seien; daß die göttliche sie nach ganz andern, uns unbegreiflichen Regeln beurthelle, wo, was wir zwar beziehungsweise auf unsre praktische Vernunft und deren Bestimmung mit Recht verwerflich finden, doch in Verhältniß auf göttliche Zwecke und die höchste Weisheit vielleicht gerade das schicklichste Mittel sowohl für unser besonderes Wohl, als das Weltbeste überhaupt sein mag; daß die Wege des Höchsten nicht unsre Wege seien (sunt Superie sua iura), und wir darin irren, wenn, was nur relativ für Menschen in diesem Leben Gesetz ist, wir für schlechthin als ein solches beurtheüen und so das, was unsrer Betrachtung der Dinge aus so niedrigem Standpunkte als zweckwidrig erscheint, dafür auch, aus dem höchsten Standpunkte betrachtet, halten. — Diese Apologie, in welcher die Verantwortung ärger ist als die Beschwerde, bedarf keiner Widerlegung und kann sicher der Verabscheuung Daher geht auch die klage übet den Mangel einer Gerechtigkeit, die sich im Loose, welches den Menschen hier in der Welt zu Theil wird, zeige, nicht daraus, daß es den Guten hier nicht wohl, sondern daß ei den Bösen nicht Übel geht (obzwar, wenn das erstere zu dem letztern hinzu kommt, der Contrast diesen Anstoß noch vergrößert). Denn in einer gött­ lichen Regierung kann auch der beste Mensch seinen Wunsch zum Wohl­ ergehen nicht auf die göttliche Gerechtigkeit, sondern muß ihn jederzeit auf seine Güte gründen: weil der, welcher bloß seine Schuldigkeit thut, keinen Rechtsanspruch auf das Wohlthun Gottes haben kann.

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Über

das Mißlingen aller philosophischen

Versuche in der Theodicee.

jedes Menschen, der das mindeste Gefühl für Sittlichkeit hat, frei überlassen werden. b) Die zweite vorgebliche Rechtferttgung würde zwar die Mrklichkeit des Moralisch-Bösen in der Welt einräumen, den Welturheber aber damit entschuldigen, daß es nicht zu verhindern möglich gewesen: well es sich auf den Schranken der Natur der Menschen, als endlicher Wesen, gründe. — Mer dadurch würde jenes Böse selbst gerechtserttgt werden; und man müßte, da es nicht als die Schuld der Menschen ihnen zugerechnet werden kann, aufhören es ein moralisches Böse zu nennen. c) Die dritte Beantwortung: daß, gesetzt auch, es ruhe wirklich mit dem, was wir moralisch böse nennen, eine Schuld auf dem Menschen, doch Gott keine beigemessen werden müsse, weil er jenes als That der Menschen aus weisen Ursachen bloß zugelassen, keineswegs aber für sich gebilligt und gewollt oder veranstaltet hat, — läuft (wenn man auch an dem Begriffe des bloßen Z u l a s s e n s eines Wesens, welches ganz und alleiniger Urheber der Welt ist, keinen Answß nehmen will) doch mit der vorigen Apologie (b) auf einerlei Folge hinaus: nämlich daß, da es selbst Gott unmöglich war dieses Böse zu verhindern, ohne anderweittgen höhern und selbst moralischen Zwecken Abbruch zu thun, der Grund dieses Übels (denn so müßte man es eigentlich nun nennen) unvermeidlich in dem Wesen der Dinge, nämlich den nothwendigen Schranken der Menschheit als endlicher Natur, zu suchen sein müsse, mithin ihr auch nicht zugerechnet werden könne. II. Auf die Beschwerde, die wider die göttliche Güttgkeit aus den Übeln, nämlich Schmerzen, in dieser Welt erhoben wird, besteht nun die Rechtfertigung derselben gleichfalls a) darin: daß in den Schicksalen der Menschen ein Über­ gewicht des Übels über den angenehmen Genuß des Lebens fälschlich angenommen werde, well doch ein Jeder, so schlimm

Über da- Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

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es ihm auch ergeht, lieber leben als todt sein will, und die­ jenigen Wenigen, die das letztere beschließen, so lange sie es selbst aufschoben, selbst dadurch noch immer jenes Übergewicht eingestehen und, wenn sie zum letztem thöricht genug sind, auch alsdann bloß in den Zustand der Nichtempfindung über­ gehen, in welchem ebenfalls kein Schmerz gefühlt werden könne. — Allein man kann die Beantwortung dieser Sophisterei sicher dem Ausspruche eines jeden Menschen von gesundem Verstände, der lange genug gelebt und über den Werth des Lebens nachgedacht hat, um hierüber ein Urtheil fällen zu können, überlassen, wenn man ihn fragt: ob er wohl, ich toül nicht sagen auf dieselbe, sondern auf jede andre ihm beliebige Bedingungen (nur nicht etwa einer Feen-, sondern dieser unserer Erdenwelt) das Spiel des Lebens noch einmal durch­ zuspielen Lust hätte. b) Auf die zweite Rechtfertigung: daß nämlich das Über­ gewicht der schmerzhaften Gefühle über die angenehmen von der Natur eines thierischen Geschöpfes, wie der Mensch ist, nicht könne getrennt werden (wie etwa Graf B e r i in dem Buche über die Natur des Vergnügens behauptet), — würde man erwidern: daß, wenn dem also ist, sich eine andre Frage einfinde, woher nämlich der Urheber unsers Daseins uns überhaupt ins Leben gerufen, wenn es nach unserm richtigen Überschlage für uns nicht wünschenswerth ist. Der Unmuth würde hier, wie jene indianische Frau dem Dschingischan, der ihr wegen erlittener Gewaltthätigkeit keine Ge­ nugthuung, noch wegen der künftigen Sicherheit verschaffen konnte, antworten: „Wenn du uns nicht schützen willst, warum eroberst du uns denn?" c) Die dritte Auflösung des Knotens soll diese sein: daß uns Gott um einer künftigen Glückseligkeit willen, also doch aus Güte, in die Welt gesetzt habe, daß aber vor jener zu hoffenden überschwenglich großen Seligkeit durchaus ein

266 Ober das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

mühe- und trübsalvoller Zustand des gegenwärtigen Lebens vorhergehen müsse, wo wir eben durch den Kampf mit Wider­ wärtigkeiten jener künftigen Herrlichkeit würdig werden sollten. — Mein daß diese Prüfungszeit (der die Meisten unterliegen, und in welcher auch der Beste seines Lebens nicht froh wird) vor der höchsten Weisheit durchaus die Bedingung der dereinst von uns zu genießenden Freuden sein müsse, und daß es nicht thunlich gewesen, das Geschöpf mit jeder Epoche seines Lebens zufrieden werden zu lassen, kann zwar vorge­ geben, aber schlechterdings nicht eingesehen werden, und man kann also freilich diesen Knoten durch Berufung auf die höchste Weisheit, die es so gewollt hat, abhauen, aber nicht auflösen: welches doch die Theodicee verrichten zu können sich anheischig macht. III. Auf die letzte Anllage, nämlich wider die Gerechtigkeit des Weltrichters,*) wird geantwortet: a) Daß das Vorgeben von der Straflosigkeit der Laster­ haften in der Welt keinen Grund habe, weil jedes Verbrechen seiner Natur gemäß schon hier die ihm angemessene Strafe bei sich führe, indem die innern Vorwürfe des Gewissens den Lasterhaften ärger noch als Furien plagen. — Allein in diesem Urtheile liegt offenbar ein Mißverstand. Denn der tugendhafte Mann l.iht hierbei dem lasterhaften seinen Gemüthscharakter, *) Es ist merkwürdig, daß unter allen Schwierigkeiten, den Lauf der Weltbegebenheiten mit der Göttlichkeit ihres Urhebers -u vereinigen, keine sich dem Gemüth so heftig aufdringt, als die von dem Anschein einer darin mangelnden Gerechtigkeit. Trägt es sich zu (ob es zwar selten geschieht), daß ein ungerechter, vornehmlich Gewalt habender Böse­ wicht nicht ungestraft aus der Welt entwischt: so frohlockt der mit dem Himmel gleichsam versöhnte, sonst parteilose Zuschauer. Keine Zweck­ mäßigkeit der Natur wird ihn durch Bewunderung derselben so in Assect setzen und die Hand Gottes gleichsam daran vernehmen lassen. Warum? Sie ist hier moralisch und einzig von der Art, die man in der Welt einiger­ maßen wahrzunehmen hoffen kann.

Übet das Mißlingen aller philosophischen Betsuche in der Lheodicee. 267

nämlich die Gewissenhaftigkeit in ihrer ganzen Strenge, welche, je tugendhafter der Mensch ist, chn desto härter wegen der ge­ ringsten Übereilung, welche das sittliche Gesetz in ihm rntjj. billigt, bestraft. Mein wo diese Denkungsart und mit chr die Gewissenhaftigkeit gar fehlt, da fehlt auch der Peiniger für begangene Berbrechen; und der Lasterhafte, wenn er nur den äußern Züchtigungen wegen seine: Frevelthaten entschlüpfen kann, lacht über die Ängstlichkeit der Redlichen sich mit selbsteigenen Verweisen innerlich zu plagen; die lleinen Vorwürfe aber, die er sich bisweilen machen mag, macht er sich entweder gar nicht durchs Gewissen, oder, hat er davon noch etwas in sich, so werden sie durch das Sinnenvergnügen, als woran er allein Geschmack findet, reichlich ausgewogen und vergütet------Wenn jene Anklage ferner b) dadurch widerlegt werden soll: daß zwar nicht zu leugnen sei, es finde sich schlechterdings kein der Gerechtigkeit gemäßes Verhältniß zwischen Schuld und Strafen in der Welt, und man müsse im Laufe derselben oft ein mit schreiender Ungerechtigkeit geführtes und gleichwohl bis ans Ende glück­ liches Leben mit Unwillen wahrnehmen; daß dieses aber in der Natur liegende und nicht absichtlich veranstaltete, mithin nicht moralische Mißhelligkeit sei, weil es eine Eigenschaft der Tugend sei, mit Widerwärtigkeiten zu ringen (wozu der Schmerz, den der Tugendhafte durch die Vergleichung seines eigenen Unglücks mit dem Glück des Lasterhaften leiden muß, mit­ gehört), und die Leiden den Werth der Tugend nur zu erheben dienen, mithin vor der Vemunft diese Dissonanz der unver­ schuldeten Übel des Lebens doch in den herrlichsten sittlichen Wohllaut aufgelöset werde: — so steht dieser Auflösung ent­ gegen: daß, obgleich diese Übel, wenn sie als Wetzstein der Tugend vor ihr vorhergehen oder sie begleiten, zwar mit ihr als in moralischer Übereinstimmung stehend vorgestellt werden können, wenn wenigstens das Ende des Lebens noch

268 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

die letztere krönt und das Laster bestraft; daß aber, wenn selbst dieses Ende, wie doch die Erfahrung davon viele Beispiele giebt, widersinnig ausfüllt, dann das Leiden dem Tugend­ haften, nicht damit seine Tugend rein sei, fottbem weil sie es gewesen ist (dagegen aber den Regeln der klugen Selbstliebe zuwider war), zugefallen zu sein scheine; welches gerade das Gegentheil der Gerechtigkeit ist, wie sich der Mensch einen Begriff von ihr machen kann. Denn was die Möglichkeit be­ trifft, daß das Ende dieses Erdenlebens doch vielleicht nicht das Ende alles Lebens sein möge: so kann diese Möglichkeit nicht für R e ch t f e r t i g u n g der Vorsehung gelten, sondern ist bloß ein Machtspruch der moralisch-gläubigen Vernunft, wodurch der Zweifelnde zur Geduld verwiesen, aber nicht befriedigt wird. c) Wenn endlich die dritte Auflösung dieses unharmonischen Verhältnisses zwischen dem moralischen Werth der Menschen und dem Loose, das ihnen zu Theil wird, dadurch versucht werden will, daß man sagt: in dieser Welt müsse alles Wohl oder Übel bloß als Erfolg aus dem Gebrauche der Vermögen der Menschen nach Gesetzen der Natur proportionirt ihrer angewandten Geschicklichkeit und Klugheit, zugleich auch den Umständen, darein sie zufälliger Weise gerathen, nicht aber nach ihrer Zusammenstimmung zu übersinnlichen Zwecken beurtheilt werden; in einer künftigen Welt dagegen werde sich eine andere Ordnung der Dinge hervorthun und jedem zu Theil werden, wessen seine Thaten hienieden nach moralischer Beurtheilung werth sind: — so ist diese Voraussetzung auch willkürlich. Vielmehr muß die Vernunft, wenn sie nicht als moralisch gesetzgebendes Vermögen diesem ihrem Interesse gemäß einen Machtspruch thut, nach bloßen Regeln des theo­ retischen Erkenntnisses es wahrscheinlich finden: daß der Lauf der Welt nach der Ordnung der Natur, so wie hier, also auch fernerhin unsre Schicksale bestimmen werde. Denn was hat

über das Mißlingen aller philosophischen

Versuche in der Theodicee.

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die Vernunft für ihre theoretische Vermuthung anders zum Leitfaden, als das Naturgesetz? Und ob sie sich gleich, wie ihr vorher (Nr. b) zugemuthet worden, zur Geduld und Hoffnung eines künftig bessern verweisen ließe: wie kann sie erwarten, daß, da der Lauf der Dinge nach der Ordnung der Natur hier auch für sich selbst weise ist, er nach eben demselben Gesetze in einer künftigen Welt unweise sein würde? Da also nach derselben zwischen den innern Bestimmungsgründen des Willens (nämlich der moralischen Denkungsart) nach Gesetzen der Freiheit und zwischen den (größtentheils äußem) von unserm Willen unabhängigen Ursachen unsers Wohlergehens nach Naturgesetzen gar kein begreifliches Verhältniß ist: so bleibt die Vermuthung, daß die Übereinstimmung des Schick­ sals der Menschen mit einer göttlichen Gerechtigkeit nach den Begriffen, die wir uns von ihr machen, so wenig dort wie hier zu erwarten sei. *



*

Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshöfe der Philosophie ist nun: daß alle bisherige Theodicee das nicht leiste, was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahmng an dieser Welt zu erkennen giebt, gemacht werden, zu rechtfertigen: obgleich freilich diese Zweifel als Einwürfe, so weit unsre Einsicht in die Beschaffenheit unsrer Vernunft in Ansehung der letztem reicht, auch das Gegentheil nicht beweisen können. Ob aber nicht noch etwa mit der Zeit tüchtigere Gründe der Rechtfertigung derselben erfunden werden könnten, die angeklagte Weisheit nicht (wie bisher) bloß ab instantia zu absolviren: das bleibt dabei doch noch immer unentschieden, wenn wir es nicht dahin bringen, mit Gewißheit darzuthun: daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so

270 Übet bas Mißlingen silier philosophischen Versuche in der Theobieee.

wie wir sie durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend sei; denn alsdann sind alle fernere Versuche vermeintlicher menschlicher Weisheit, die Wege der göttlichen einzusehen, völlig abgewiesen. Daß also wenigstens eine negative Weisheit, nämlich die Einsicht der nothwendigen Beschränkung unsrer Anmaßungen in Ansehung dessen, was uns zu hoch ist, für uns erreichbar sei: das muß noch be­ wiesen werden, um diesen Proceß für immer zu endigen; und dieses läßt sich gar wohl thun. Wir haben nämlich von einer Kunst Weisheit in der Einrichtung dieser Welt einen Begriff, dem es für unser speculatives Bernunftvermögen nicht an objectiver Realität mangelt, um zu einer Physikotheologie zu gelangen. Eben so haben wir auch einen Begriff von einer moralischen Weisheit, die in eine Welt überhaupt durch einen voll­ kommensten Urheber gelegt werden könnte, an der sittlichen Idee unserer eigenen praktischen Vernunft. — Aber von der Einheit in der Zusammenstimmung jener Kunstweisheit mit der moralischen Weisheit in einer Sinnen­ welt haben wir keinen Begriff und können auch zu demselben nie zu gelangen hoffen. Denn ein Geschöpf zu sein und als Naturwesen bloß dem Willen seines Urhebers zu folgen; dennoch aber als freihandelndes Wesen (welches seinen vom äußern Einfluß unabhängigen Süllen hat, der dem erstem vielfältig zuwider sein kann) der Zurechnung fähig zu sein und seine eigne That doch auch zugleich als die Wirkung eines höhem Wesens anzusehen: ist eine Vereinbamng von Begriffen, die wir zwar in der Idee einer Welt, als des höchsten Guts, zu­ sammen denken müssen; die aber nur der einsehen kann, welcher bis zur Kenntniß der übersinnlichen (intelligiblen) Welt durchdringt und die Art einsieht, wie sie der Sinnenwelt zum Gmnde liegt: auf welche Einsicht allein der Beweis der

Übet das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee. 271

moralischen Weisheit des Welturhebers in der letztem gegründet werden kann, da diese doch nur die Erscheinung jener erstem Welt darbietet, — eine Einsicht, zu der kein Sterblicher gelangen kann. *

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*

Me Theodicee soll eigentlich Auslegung der Natur sein, sofern Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kund macht. Nun ist jede Auslegung des declarirten Willens eines Gesetzgebers entweder d o e t r i n a l oder authentisch. Die erste ist diejenige, welche jenen Willen aus den Ausdrücken, deren sich dieser bedient hat, in Verbindung mit den sonst bekannten Absichten des Gesetzgebers herausvemünftelt; die zweite macht der Gesetzgeber selbst. Die Welt, als ein Werk Gottes, kann von uns auch als eine göttliche Bekanntmachung der A b s i ch t e n seines Willens bewachtet werden. Mein hierin ist sie für uns o f t ein ver­ schlossenes Buch; jederzeit aber ist sie dies, wenn es darauf angesehen ist, sogar die E n d a b s i ch t Gottes (welche jederzeit moralisch ist) aus ihr, obgleich einem Gegenstände der Erfahmng, abzunehmen. Die philosophischen Versuche dieser Art Auslegung sind doctrinal und machen die eigentliche Theodicee aus, die man daher die doctrinale nennen kann. — Doch kann man auch der bloßen Abfertigung aller Einwürfe wider die göttliche Weisheit den Namen einer Theodicee nicht versagen, wenn sie eingöttlicherMachtspruch, oder (welches in diesem Falle auf Eins hinausläuft) wenn sie ein Ausspmch derselben Vemunft ist, wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen nothwendig und vor aller Erfahmng machen. Denn da wird Gott durch unsre Vemunft selbst der Ausleger seines durch die Schöpfung verkündigten Willens; und diese Auslegung können wir eine authentische Theodicee nennen. Das ist aber alsdann

272 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

nicht Auslegung einer vernünftelnden (spemlativen), sondern einer machthabenden praktischen Vernunft, die, so wie sie ohne weitere Gründe im Gesetzgeben schlechthin ge­ bietend ist, als die unmittelbare Erklärung und Stimme Gottes angesehen werden kann, durch die er dem Buchstaben seiner Schöpfung einen Sinn giebt. Eine solche authenttsche Inter­ pretation finde ich nun in einem alten heiligen Buche alle­ gorisch ausgedrückt. Hiob wird als ein Mann vorgestellt, zu dessen Lebens­ genuß sich Alles vereinigt hatte, was man, um ihn vollkommen zu machen, nur immer ausdenken mag. Gesund, wohlhabend, frei, ein Gebieter über Andre, die er glücklich machen kann, im Schoße einer glücklichen Familie, unter geliebten Freunden; und über das Alles (was das Vornehmste ist) mit sich selbst zufrieden in einem guten Gewissen. Alle diese Güter, das letzte ausgenommen, entriß ihm plötzlich ein schweres über ihn zur Prüfung verhängtes Schicksal. Von der Betäubung über diesen unerwarteten Umsturz allmählig zum Besinnen gelangt, bricht er nun in Klagen über seinen Unstern aus; worüber zwischen ihm und seinen vorgeblich sich zum Trösten ein­ findenden Freunden es bald zu einer Disputation kommt, worin beide Theile, jeder nach seiner Denkungsart (vomehmlich aber nach seiner Lage), seine besondere Theodicee zur moralischen Erllärung jenes schlimmen Schicksals aufstellt. Die Freunde Hiobs bekennen sich zu dem System der Er­ klämng aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerech­ tigkeit, als so vieler ©trafen für begangene Verbrechen; und ob sie zwar keine zu nennen wußten, die dem unglücklichen Mann zu Schulden kommen sollten, so glaubten sie doch a priori urtheilen zu können, er müßte deren auf sich mhen haben, weil es sonst nach der göttlichen Gerechttgkeit nicht möglich wäre, daß er unglücklich sei. Hiob dagegen — der mit Ent­ rüstung betheuert, daß ihm sein Gewissen seines ganzen Lebens

halber keinen Borwurf mache; was aber menschliche unver­ meidliche Fehler betrifft, Gott selbst wissen werde, daß er ihn als ein gebrechliches Geschöpf gemacht habe — erklätt sich für das System des unbedingten göttlichen Rath­ schlusses. „Er ist einig," sagt er, „er machts, wie er will*)." In dem, was beide Theile vemünfteln oder überver­ nünfteln, ist wenig Merkwürdiges; aber der Charatter, in welchem sie es thun, verdient desto mehr Aufmerksamkeit. Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zu Muthe ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Muthe sein würde; seine Freunde sprechen dagegen, wie wenn sie ingeheim von dem Mächtigern, über dessen Sache sie Recht sprechen, und bei dem sich durch ihr Urtheil in Gunst zu setzen ihnen mehr am Herzen liegt als an der Wahrheit, behorcht würden. Diese ihre Tücke, Dinge zum Schein zu behaupten, von denen sie doch gestehen mußten, daß sie sie nicht einsahen, und eine Überzeugung zu heucheln, die sie in der That nicht hatten, sticht gegen Hiobs gerade Freimüthigkeit, die sich so weit von falscher Schmeichelei entfernt, daß sie fast an Vermessenheit gränzt, sehr zum Vortheil des letztem ab. „Wollt ihr," sagt er**), „Gott vertheidigen mit Unrecht? Wollt ihr seine Person ansehen? Wollt ihr Gott betheten? Er wird euch strafen, wenn ihr Personen anseht heimlich! — Es kommt kein Heuchler vor Ihn." Das letztere bestätigt der Ausgang der Geschichte wirklich. Denn Gott würdigt Hiob, ihm die Weisheit seiner Schöpfung vomehmlich von Seiten ihrer Unerforschlichkeit vor Augen zu stellen. Er läßt ihn Blicke auf die schöne Seite der Schöpfung thun, wo dem Menschen begreifliche Zwecke die Weisheit und gütige Vorsorge des Welturhebers in ein unzweideuttges Licht *) Hiob XXIII, 13. **) Hiob XIII, 7 bis 11; 16. Kant- populäre Schriften.

274 Aber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Thcodicee.

stellen; dagegen aber auch auf die abschreckende, indem er ihm Producte seiner Macht und darunter auch schädliche, furchtbare Dinge hemennt, deren jedes für sich und seine Spe­ cies zwar zweckmäßig eingerichtet, in Ansehung anderer aber und selbst der Menschen zerstörend, zweckwidrig und mit einem allgemeinen durch Güte und Weisheit angeordneten Plane nicht zusammenstimmend zu sein scheint; wobei er aber doch die den weisen Welturheber verkündigende Anordnung und Erhaltung des Ganzen beweiset, obzwar zugleich seine für uns unerforschliche Wege selbst schon in der physischen Ordnung der Dinge, wie vielmehr denn in der Verknüpfung derselben mit der moralischen (die unsrer Vernunft noch undurchdring­ licher ist) verborgen sein müssen. — Der Schluß ist dieser: daß, indem Hiob gesteht, nicht etwa frevelhaft, denn er ist sich seiner Redlichkeit bewußt, sondern nur unweislich über Dinge abgesprochen zu haben, die ihm zu hoch sind, und die er nicht versteht, Gott das Verdammungsurtheil wider seine Freunde fällt, weil sie nicht so gut (der Gewissenhastigkeit nach) von Gott geredet hätten als sein Knecht Hiob. Betrachtet man nun die Theorie, die jede von beiden Seiten behauptete: so möchte die seiner Freunde eher den Anschein mehrerer speculativen Vernunft und frommer Demuth bei sich führen; und Hiob würde wahrscheinlicher Weise vor einem jedem Gerichte dogmatischer Theologen, vor einer Synode, einer Inquisition, einer ehrwürdigen Classis, oder einem jeden Oberconsistorium unserer Zeit (ein einziges ausgenommen), ein schlimmes Schicksal erfahren haben. Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen, und der Abscheu, Über­ zeugung zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt, vornehmlich nicht vor Gott (wo diese List ohnedas ungereimt ist): diese Eigenschaften sind es, welche den Vorzug des redlichen Mannes in der Person Hiobs vor dem religiösen Schmeichler im gött­ lichen Richterausspruch entschieden haben.

Über das Mißlingen aller philosophischen

Versuche in der Lheodicee. 275

Der Glauben aber, der chm durch eine so befremdliche Auflösung seiner Zweifel, nämlich bloß die Überführung von seiner Unwissenheit, entsprang, konnte auch nur in die Seele eines Mannes kommen, der mitten unter seinen lebhaftesten Zweifeln sagen konnte (XXVII, 5, 6): „Bis daß mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Frömmigkeit" u. s. w. Denn mit dieser Gesinnung bewies er, daß er nicht seine Mora­ lität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete: in welchem Falle dieser, so schwach er auch sein mag, doch allein lauter und ächter Art, d. i. von derjenigen Art ist, welche eine Religion nicht der Gunstbewerbung, sondern des guten Lebenswandels gründet. Schlußanmerkung. Die Theodicee hat es, wie hier gezeigt worden, nicht sowohl mit einer Aufgabe zum Vortheil der Wissenschaft, als vielmehr mit einer Glaubenssache zu thun. Aus der authen­ tischen sahen wir: daß es in solchen Dingen nicht so viel aufs Vernünfteln ankomme, als auf Aufrichtigkeit in Bemerkung des Unvermögens unserer Vemunft und auf die Redlichkeit, seine Gedanken nicht in der Aussage zu verfälschen, geschehe dies auch in noch so frommer Absicht, als es immer wolle. — Dieses veranlaßt noch folgende kurze Betrachtung über einen reichhaltigen Stoff, nämlich über die Aufrichtigkeit als das Haupterforderniß in Glaubenssachen im Widerstreite mit dem Hange zur Falschheit und Unlauterkeit, als dem Hauptge­ brechen in der menschlichen NaMr. Daß das, was Jemand sich selbst oder einem Andern sagt, wahr sei: dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren); dafür aber kann und muß er stehen, daß sein Bekenntniß oder Geständniß wahrhaft sei: denn dessen ist er sich unmittelbar bewußt. Er vergleicht nämlich im erstem Falle seine Aussage mit dem Object im logischen Urtheile (durch 18*

276 Übet das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

den Verstand); int zweiten Fall aber, da er sein Fürwahr­ halten bekennt, mit dem Subject (vor dem Gewissen). Thut er das Bekenntniß in Ansehung des erstem, ohne sich des letztem bewußt zu sein: so lügt er, weil er etwas anders vorgiebt, als wessen er sich bewußt ist. — Die Bemerkung, daß es solche Unlauterkeit im menschlichen Herzen gebe, ist nicht neu (denn Hiob hat sie schon gemacht); aber fast sollte man glauben, daß die Aufmerksamkeit auf dieselbe für Sitten- und Religions­ lehrer neu sei: so wenig findet man, daß sie ungeachtet der Schwierigkeit, welche eine Läuterung der Gesinnungen der Menschen, selbst wenn sie pslichtmäßig handeln wollen, bei sich führt, von jener Bemerkung genügsamen Gebrauch gemacht hätten. — Man kann diese Wahrhaftigkeit die for­ male Gewissenhaftigkeit nennen; die mate­ riale besteht in der Behutsamkeit, nichts auf die Gefahr, daß es unrecht sei, zu wagen: da hingegen jene in dem Be­ wußtsein besteht, diese Behutsamkeit int gegebenen Falle an­ gewandt zu haben. — Moralisten reden von einem irrenden Gewissen. Aber ein inendes Gewissen ist ein Unding; und gäbe es ein solches, so könnte man niemals sicher sein recht gehandelt zu haben, weil selbst der Richter in der letzten Instanz noch inen könnte. Ich kann zwar in dem Urtheile inen, i n welchem ich glaube Recht zu haben: denn das gehört dem Verstände zu, der allein (wahr oder falsch) objectiv urcheilt; aber in dem Bewußtsein: ob ich in der That glaube Recht zu haben (oder es bloß vorgebe), kann ich schlechterdings nicht inen, weil dieses Urtheil oder vielmehr dieser Satz bloß sagt: daß ich den Gegenstand so beurtheile. In der Sorgfalt sich dieses Glaubens (oder Nichtglaubens) bewußt zu werden und kein Fürwahrhalten vorzugeben, dessen man sich nicht bewußt ist, besteht nun eben die formale Ge­ wissenhaftigkeit, welche der Grund der Wahrhaftigkeit ist. Der­ jenige also, welcher sich selbst (und, welches in den Religions-

Übet das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee. 277 bekenntnissen einerlei ist, vor Gott) sagt: er glaube, ohne vielleicht auch nur einen Blick in sich selbst gethan zu haben, ob er sich in der That dieses Fürwahrhaltens ober auch eines solchen Grades desselben bewußt sei *), der lügt nicht bloß *) Das Erpressungsmittel der Wahrhaftigkeit in äußern Aussagen, der Eid (tortura spiritualis), wird von einem menschlichen Gerichtshöfe nicht bloß für erlaubt, sondern auch für unentbehrlich gehalten: ein trauriger Beweis von der geringen Achtung der Menschen für die Wahrheit selbst im Tempel der öffentlichen Gerechtigkeit, wo die bloße Idee von ihr schon für sich die größte Achtung einflößen sollte! Aber die Menschen lügen auch Überzeugung, die sie wenigstens nicht von der Att oder in dem Grade haben, als sie vorgeben, selbst in ihrem innern Bekenntnisse; und da diese Unredlichkeit (toeil sie nach und nach in wirkliche Überredung auSschlätzt) auch äußere schädliche Folgen haben kann, so kann jenes Erpressungsmittel der Wahrhaftigkeit, der Eid (aber freilich nur ein innerer, d. i. der Ver­ such, ob das Fürwahrhalten auch die Probe einer innern eidlichen Abhörung des Bekenntnisses aushalte), dazu gleichfalls sehr wohl gebraucht werden, die Vermessenheit dreister, zuletzt auch wohl äußerlich gewalt­ samer Behauptungen, wo nicht abzuhalten, doch wenigstens stutzig zu machen. — Bon einem menschlichen Gerichtshöfe wird dem Gewissen des Schwörenden nichts weiter zugemuthet, als die Anheischigmachung: daß, wenn es einen künftigen Weltrichter (mithin Gott und ein künftiges Leben) giebt, er ihm für die Wahrheit seines äußern Bekenntnisses verantwortlich sein wolle; daß es einen solchen Weltrichter gebe, davon hat er nicht nöthig ihm ein Bekenntniß abzufordern, weil, wenn die erstere Betheurung die Lüge nicht abhalten kann, das zweite falsche Bekenntniß eben so wenig Bedenken erregen würde. Nach dieser innern Eidesdelation würde man sich also selbst fragen: Getrauest du dir wohl, bei allem, was dir theuer und heilig ist, dich für die Wahrheit jenewichtigen oder eines andern dafür gehaltenen Glaubenssatzes zu ver­ bürgen? Bei einer solchen Zumuthung wird das Gewissen aufgeschreckt durch die Gefahr, der man sich aussetzt, mehr vorzugeben, als man mit Gewißheit behaupten kann, wo das Dafürhalten einen Gegenstand be­ trifft, der auf dem Wege des Wissens (theoretischer Einsicht) gar nicht erreichbar ist, dessen Annehmung aber dadurch, daß sie allein den Zusam­ menhang der höchsten prattischen Bernunstprincipien mit denen der theo­ retischen Naturerkenntniß in einem System möglich (und also die Ver­ nunft mit sich selbst zusammenstimmend) macht, über alles empfehlbar,

278 über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee.

die ungereimteste Lüge (vor einem Herzenskündiger), sondem auch die frevelhafteste, weil sie den Grund jedes tugendhaften Vorsatzes, die Aufrichtigkeit, untergräbt. Me bald solche blinde und äußere Bekenntnisse (welche sehr leicht mit einem eben so unwahren innern vereinbart werden), wenn sie Er­ werbmittel abgeben, allmählich eine gewisse Falschheit in die Denkungsart selbst des gemeinen Wesens bringen kön­ nen, ist leicht abzusehen. — Während indeß diese öffentliche Läuterung der Denkungsart wahrscheinlicher Weise auf ent­ fernte Zeiten ausgesetzt bleibt, bis sie vielleicht einmal unter dem Schutze der Denkfreiheit ein allgemeines Erziehungs­ und Lehrprincip werden wird, mögen hier noch einige Zeilen auf die Betrachtung jener Unart, welche in der menschlichen Natur tief gewurzelt zu sein scheint, verwandt werden. Es liegt etwas Rührendes und Seelenerhebendes in der Aufstellung eines aufrichtigen, von aller Falschheit und posi­ tiven Verstellung entfernten Charakters; da doch die Ehrlich­ keit, eine bloße Einfalt und Geradheit der Denkungsart (vor­ nehmlich wenn man ihr die Offenherzigkeit erläßt), das Kleinste ist, was man zu einem guten Charakter nur immer fordem kann, und daher nicht abzusehen ist, worauf sich denn jene Bewunderung gründe, die wir einem solchen Gegenstände widmen: es müßte denn sein, daß die Aufrichtigkeit die Eigen­ schaft wäre, von der die menschliche Natur gerade am weitesten entfernt ist. Eine traurige Bemerkung! Indem eben durch jene alle übrige Eigenschaften, sofern sie auf Grundsätzen beobet immer doch frei ist. — Noch mehr aber müssen Glaubensbekenntnisse, beten Quelle historisch ist, dieser Feuerprobe der Wahrhasiigkeit unter­ worfen werden, wenn sie Andern (tat als Vorschriften auferlegt werden: weil hier die Unlauterkeit und geheuchelte Überzeugung auf Mehrere verbreitet wird, und die Schuld davon dem, der sich für Anderer Gewissen gleichsam verbürgt (denn die Menschen sind mit ihrem Gewissen gerne passiv), zur Last fällt.

über das Mißlingen aller philosophischen Versuche

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ruhen, allein einen innern wahren Werth haben können. Ein kontemplativer Misanthrop (der keinem Menschen Böses wünscht, wohl aber geneigt ist von chnen alles Böse zu glauben) kann nur zweifelhaft sein, ob er die Menschen Hassensoder ob er sie eher verachtungswürdig finden solle. Die Eigenschaften, um derentwillen er sie für die erste Begeg­ nung qualificirt zu sein urtheilen würde, sind die, durch welche sie vorsätzlich schaden. Diejenige Eigenschaft aber, welche sie ihm eher der letztem Abwürdigung auszusetzen scheint, könnte keine andere sein, als ein Hang, der a n s i ch b ö s e ist, ob er gleich Niemanden schadet: ein Hang zu demjenigen, was zu keiner Msicht als Mittel gebraucht werden soll, was also ob­ jectiv zu nichts gut ist. Das erstere Böse wäre wohl kein anderes, als das der F e i n d s e l i g k e i t (gelinder gesagt, Lieblosig­ keit) ; das zweite kann kein anderes sein als Lügenhaftig­ keit (Falschheit, selbst ohne alle Absicht zu schaden). Die erste Neigung hat eine Absicht, deren Gebrauch doch in gewissen andem Beziehungen erlaubt und gut sein kann, z. B. die Feindseligkeit gegen unbesserliche Friedensstörer. Der zweite Hang aber ist der zum Gebrauch eines Mittels (der Lüge), das zu nichts gut ist, zu welcher Msicht es auch sei, weil es an sich selbst böse und verwerflich ist. In der Beschaffenheit des Menschen von der ersten Art ist Bosheit, womit sich doch noch Tüchtigkeit zu guten Zwecken in gewissen äußern Verhältnissen verbinden läßt, und sie sündigt nur in den Mitteln, die doch auch nicht in aller Msicht verwerflich sind. Das Böse von der letztem Art ist Nichtswürdigkeit, wodurch dem Menschen aller Charakter abgesprochen wird. — Ich halte mich hier hauptsächlich an der tief im Verborgnen liegenden Unlauterkeit, da der Mensch sogar die innern Aussagen vor seinem eignen Gewissen zu verfälschen weiß. Um desto weniger darf die äußere Betmgsneigung befremden; es müßte denn dieses sein, daß, obzwar ein jeder von der Falschheit der Münze

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belehrt ist, mit der er Verkehr treibt, sie sich dennoch immer so gut im Umlaufe erhalten kann. In Herrn de Lü c Briefen über die Gebirge, die Geschichte der Erde und Menschen erinnere ich mich folgendes Resultat seiner zum Theil anthropologischen Reise gelesen zu haben. Der menschenfreundliche Verfasser war mit der Voraussetzung der ursprünglichen Gutartigkeit unserer Gattung ausgegangen und suchte die Bestätigung derselben da, wo städtische Üppig­ keit nicht solchen Einfluß haben kann, Gemüther zu verderben: in Gebirgen, von den schweizerischen an bis zum Harze; und nachdem sein Glauben an uneigennützig hülsleistende Neigung durch eine Erfahrung in den erstem etwas wankend geworden, so bringt er doch am Ende diese Schluß­ folge heraus: daß der Mensch, was das Wohl­ wollen betrifft, gut genug sei (kein Wunder! denn dieses beruht auf eingepflanzter Neigung, wovon Gott der Urheber ist); wenn ihm nur nicht ein schlim­ mer Hang zur feinen Betrügerei beiwohnte (welches auch nicht zu verwundem ist; denn diese abzuhalten bemht auf dem Charakter, welchen der Mensch selber in sich bilden muß)! — Ein Resultat der Untersuchung, welches ein Jeder, auch ohne in Gebirge gereiset zu sein, unter seinen Mitbürgem, ja noch näher, in seinem eignen Busen, hätte antreffen können.

Brief an

Maria von Herbert.

Im August des Jahres 1791 erhielt Kant folgenden Brief: Großer Kant. Zu dir rufe ich wie ein gläubiger zu seinen Gott um Hilf, um Trost, oder um Bescheid zum Tod, hinlänglich waren mir deine Gründe in deinen Werken vor das künftige seyn, daher meine Zuflucht zu dir, nur vor dieseleben fand ich nichts, gar nichts, was mir mein verlohrnes Gut ersezen könnt, den ich liebte einen gegenständ der in meiner Anschauung alle­ in sich faste, so dos ich nur vor ihn lebte er war mir ein gegensaz vor das übrüge, dan alles andere schien mir ein Tand und alle Menschen waren vor mich wie auch wirklich wie ein gwasch ohne inhalt, nun diesen gegenständ hab ich durch eine langwirige lug beleidigt, die ich ihn jezt enteile, doch war vür mein karakter nichts nachteihliges darin enthalten, dan ich habe kein laster in meinem leben zu verschweigen gehabt, doch die lug allein war ihn genug, und seine liebe verschwand, er ist ein Ehrlicher Mann, darum versagt er mir nicht Freindschaft und treu, aber dasjenige innige gefühl welches uns ungerusen zu einander fürte ist nicht mehr, o mein Herz springt in Tausend stük, wen ich nicht schon so viel von ihnen gelesen hätte, so häte ich mein leben gewis schon mit gewalt geändet, so aber haltet mich der schlus zurük den ich aus ihrer Tehorie ziehen muste, das ich nicht sterben soll, wegen meinen quelenden leben, sondern ich solt leben wegen meinen daseyn, nun sezen sie sich in meine lag und geben sie mir tröst oder verdamung, metaphisik der Sitten hab ich gelesen samt den Kate­ gorischen imperatif, Hilst mir nichts, meine Vernunft verlast mich wo ich sie am besten brauch eine antwort ich beschwöre dich, oder du kanst nach deinen aufgeseten imperatif selbst nicht handln

Darauf antwortete Kant im Frühjahr 1792. Ihr affectvoller Brief, miS einem Herzen entsprungen, das für Tugend und Rechtschaffenheit gemacht seyn muß, weil

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Brief an Maria von Herbert.

es für eine Lehre derselben so empfänglich ist, die nichts Einschmeichelndes bey sich führt, reißt mich dahin fort, wo sie mich hin verlangen, nämlich mich in ihre Lage zu versetzen und so über das Mittel einer reinen moralischen und dadurch allein gründlichen Beruhigung für sie nachzudenken. Ihr Verhältnis zu dem geliebten Gegenstände, dessen Denkungsart eben so wohl ächt und achtungsvoll für Tugend und den Geist derselben, die Redlichkeit, seyn muß, ist mir zwar unbekannt, ob es nämlich ein eheliches oder blos freundschaftliches Verhältnis seyn mag. Ich habe das letztere aus ihrem Brise als wahrscheinlich an­ genommen; allein das macht in Ansehung dessen, was Sie beunruhigt, keinen erheblichen Unterschied; denn die Liebe, es sey gegen einen Ehemann oder gegen einen Freund, setzen gleiche gegenseitige Achtung für ihrer beyden Character voraus, ohne welche sie nur eine sehr wandelbare sinnliche Täu­ schung ist. Eine solche Liebe, die allein Tugend (die andere aber blos blinde Neigung) ist, will sich gänzlich mittheilen und erwartet von Seiten des anderen eine eben solche Herzensmittheilung, die durch keine mistrauische Zurückhaltung geschwächt ist. So sollte es seyn und das fordert das Ideal der Freundschaft. Wer es hängt dem Menschen eine Unlauterkeit an, welche jene Offenherzigkeit, hier mehr dort weniger, einschränkt. Ueber dieses Hindernis der wechselseitigen Herzensergießung, über das geheime Mistrauen und die Zurückhaltung, welche machen, daß man selbst in seinem innigsten Umgänge mit seinem Vertrauten doch einem Theile seiner Gedanken nach immer noch allein und in sich verschlossen bleiben muß, haben die Men schon die Klage hören lassen: meine lieben Freunde, es giebt keinen Freund! Und doch wird Freundschaft aber als das Süßeste was das menschliche Leben nur immer ent­ halten mag, nur in der Offenherzigkeit statt finden und von wohlgearteten Seelen mit der Sehnsucht gewünscht.

Brief an Maria von Herbert.

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Bon jener Zurückhaltung, aber als dem Mangel dieser Offenherzigkeit, die man, wie es scheint, in chrem ganzen Maaße der menschlichen Natur nicht zumuchen darf (weil jedermann besorgt, wenn er sich völlig entdeckte von dem Andern gering geschätzt zu werden) ist doch der Mangel der Aufrichtigkeit als eine Unwarhaftigkeit in wirklicher Mittheilung unserer Gedanken noch gar sehr unterschieden. Jene gehört zu den Schranken unserer Natur und verdirbt eigentlich noch nicht den Character, sondem ist nur ein Uebel, welches hindert alles Gute, was aus demselben möglich wäre, daraus zu ziehen. Diese aber ist eine Corruption der Denkungsart und ein posi­ tives Böse. Was der Aufrichtige aber Zurückhaltende (nicht offenherzige) sagt, ist zwar alles wahr, nur er sagt nicht die ganze Warheit. Dagegen der Unaufrichtige etwas sagt, dessen er sich als falsch bewust ist. Die Aussage von der letzteren Art heißt in der Tugendlehre Lüge. Diese mag auch ganz unschädlich seyn, so ist sie bäumt doch nicht unschuldig; vielmehr ist sie eine schweere Verletzung der Pflicht gegen sich selbst und zwar einer solchen, die ganz unerlaslich ist, weil ihre Uebertretung die Würde der Menschheit in unserer eigenen Person herabsetzt und die Denkungsart in chrer Wurzel angreift, denn Betrug macht alles zweifelhaft und verdächtig und be­ nimmt selbst der Tugend alles Berttauen, wenn man sie nach ihrem Aeußeren beurtheilen soll. Sie sehen wohl, daß wenn Sie einen Arzt zu Rache ge­ zogen haben, Sie auf einen solchen trafen, der, wie man sieht, kein schmeichler ist, der nicht durch Schmeicheleyen hinhält und, wollten Sie einen Vermittler zwischen Sich und Ihrem Herzens­ freunde, meine Art das gute Vernehmen herzustellen der Vor­ liebe fürs schöne Geschlecht gar nicht gemäs sey, indem ich für den Letzteren spreche und ihm Gründe an die Hand gebe, welche er als Verehrer der Tugend auf seiner Seite hat und die ihn darüber rechtfertigen, daß er in seiner Zuneigung gegen Sie von Seiten der Achtung wankend geworden.

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Brief an Maria von Herbert.

Was die erstere Erwartung betriff, so muß ich zuerst an» rathen sich zu prüfen, ob die bittere Verweise, welche Sie sich wegen einer, übrigens zu keiner Bemäntelung irgend eines begangenen Lasters ersonnenen Lüge machen, Vorwürfe einer bloßen Unklugheit oder eine innere Anklage wegen der Unsitt­ lichkeit, die in der Lüge an sich selbst steckt, seyn mögen. Ist das erstere, so verweisen sie sich nur die Offenherzigkeit der Entdeckung derselben, also reuet es Sie diesmal ihre Pflicht gethan zu haben; (denn das ist es ohne Zweifel, wenn man jemanden vorsetzlich, obgleich in einen ihm unschädlichen Irr­ thum gesetzt und eine Zeitlang erhalten hat, ihn wiedemm daraus ziehen); und warum reuet Sie diese Erösnung? Weil Ihnen dadurch der freylich wichtige Nachtheil entsprungen das Verttauen ihres Freundes einzubüßen. Diese Reue ent­ hält nun nichts Moralisches in Ihrer Bewegursache, weil nicht das Bewustseyn der That, sondern ihrer Folgen die Ursache derselben ist. Ist der Verweis, der Sie kränkt aber ein solcher, der sich wirklich auf bloßer sittlicher Beurtheilung Ihres Ver­ haltens gründet, so wäre das ein schlechter moralischer Arzt, der ihnen riethe, weil das Geschehene doch nicht ungeschehen gemacht werden kan, diesen Verweis aus ihrem Gemüthe zu vertilgen und sich blos fortmehr einer pünctlichen Aufrichtig­ keit von ganzer Seele zu befleißigen, denn das Gewissen muß durchaus alle Ueberttetungen aufbehalten wie ein Richter, der die Acten wegen schon abgeurtheilter Vergehungen nicht cassirt, sondem im Archiv aufbehält, um bey sich eräugnender neuen Anklage wegen ähnlicher oder auch anderer Vergehun­ gen das Urtheü der Gerechtigkeit gemäs allenfalls zu schärfen. Wer über jener Reue zu brüten und, nachdem man schon eine andere Denkungsart eingeschlagen ist, sich durch die fortdaurende Vorwürfe wegen vormaliger nicht mehr her zu stellender für das Leben unnütze zu machen, würde (vorausgesetzt daß man seiner Besserung versichert ist) eine phantasttsche Meynung

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von verdienstlicher Selbstpeinigung seyn, die so wie manche vorgebliche Religionsmittel, die in der Gunstbewerbung bei höheren Mächten bestehen sollen, ohne daß man eben nöchig habe ein besserer Mensch zu sehn, zur moralischen Zurechnung gar nicht gezählt werden müssen. Wenn nun eine solche Umwandlung der Denkungsart Ihrem geliebten Freunde offenbot geworden, — wie denn Aufrichtigkeit chre unverkennbare Sprache hat — so wird nur Zeit dazu erfordert, um die Spuhren jenes rechtmäßigen selbst auf Tugendbegriffe begründeten Unwillens desselben nach und nach auszulöschen und den Kaltsinn in eine noch fester gegründete Neigung zu verändern. Gelingt aber das letztere nicht, so war die vorige Wärme der Zuneigung desselben auch mehr Physisch als moralisch und würde nach der flüchttgen Natur derselben auch ohne das mit der Zeit von selbst ge­ schwunden seyn; ein Unglück, dergleichen uns im Leben mancher­ ley aufswßt und wobey man sich mit Gelassenheit finden muß, da überhaupt der Wetth des letzteren, so fern es in dem besteht, was wir Gutes genießen können, von Menschen überhaupt viel zu hoch angeschlagen wird, sofern es aber nach dem geschätzt wird, was wir Gutes thun können, der höchsten Achtung und Sorgfalt es zu erhalten und fröhlich zu guten Zwecken zu ge­ brauchen würdig ist. — Hier finden sie nun, meine liebe Fr., wie es in Predigten gehalten zu werden pflegt, Lehre, ©träfe und Trost, bey deren ersterer ich etwas länger als bey letzterem ich sie zu verweilen bitte, weil wenn jene ihre Wirkung gethan haben, der letztere und verlohrene Zufriedenheit des Lebens sich sicherlich von selber finden wird.

Das

Ende aller Dinge.

Kant- populäre Schriften.

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Es ist ein vomehmlich in der frommen Sprache üblicher Ausdruck, einen sterbenden Menschen sprechen zu lassen: er gehe aus der Zeit in die Ewigkeit. Dieser Ausdruck würde in der That nichts sagen, wenn hier unter der Ewigkeit eine ins Unendliche fortgehende Zeit verstanden werden sollte; denn da käme ja der Mensch nie aus der Zeit heraus, sondern ginge nur immer aus einer in die andre fort. Wso muß damit einEndeallerZeit bei ununterbrochener Fortdauer des Menschen, diese Dauer aber (sein Dasein als Größe betrachtet) doch auch als eine mit der Zeit ganz unvergleichbare Größe (duratio Noumenon) gemeint sein, von der wir uns freilich keinen (als bloß negativen) Begriff machen können. Dieser Gedanke hat etwas Grausen­ des in sich: weil er gleichsam an den Rand eines Abgrunds führt, aus welchem für den, der darin versinkt, keine Mederkehr möglich ist („Ihn aber hält am ernsten Orte, Der nichts zurücke läßt, Die Ewigkeit mit starken Armen fest." Haller); und doch auch etwas Anziehendes: denn man kann nicht auf­ hören, sein zurückgeschrecktes Auge immer wiedemm darauf zu wenden (ncqueunt expleri corda tuende. Virgi 1.). Er ist furchtbar -erhaben: zum Theil wegen seiner Dun­ kelheit, in der die Einbildungskraft mächtiger als beim hellen Licht zu wirken Pflegt. Endlich muß er doch auch mit der allgemeinen Menschenvernunft auf wundersame Weise verwebt sein: weil er unter allen vernünftelnden Böllern, zu allen Zeiten, auf eine oder andere Art eingelleidet, angetroffen 19*

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Das Ende aller Dinge.

wird. — Indem wir nun den Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit (diese Idee mag, theoretisch, als Erkenntniß-Erweitemng, betrachtet, objective Realität haben oder nicht), so wie ihn sich die Vernunft in moralischer Rücksicht selbst macht, verfolgen, stoßen wir auf das Ende a I l e r D i n g e als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung: welches Ende aber in der moralischen Ordnung der Zwecke zugleich der Anfang einer Fortdauer eben dieser als über­ sinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender Wesen ist, die also und deren Zustand keiner andern als mora­ lischer Bestimmung ihrer Beschaffenheit fähig sein wird. ^ Tage sind gleichsam Kinder der Zeit, weil der folgende Tag mit dem, was er enthält, das Erzeugniß des vorigen ist. Me nun das letzte Kind seiner Mein jüngstes Kind genannt wird: so hat unsere Sprache beliebt, den letzten Tag (den Zeit­ punkt, der alle Zeit beschließt) den jüngsten Tag zu nennen. Der jüngste Tag gehört also annoch zur Zeit; denn es g e s ch i e h t an ihm noch irgend Etwas (nicht zur Ewigkeit, wo nichts mehr geschieht, weil das Zeitfortsetzung sein würde, Gehöriges): nämlich Ablegung der Rechnung der Menschen von ihrem Verhalten in ihrer ganzen Lebenszeit. Er ist ein Gerichtstag; das Begnadigungs- oder BerdammungsUrthell des Weltrichters ist also das eigentliche Ende aller Dinge in der Zeit und zugleich der Anfang der (seligen oder unseligen) Ewigkeit, in welcher das Jedem zugefallne Loos so bleibt, wie es in dem Augenblick des Ausspruchs (der Sen­ tenz) ihm zu Theil ward. Also enthält der jüngste Tag auch daS jüngste Gericht zugleich in sich. — Wenn nun zu den letzten Dingen noch das Ende der Welt, so wie sie in chrer jetzigen Gestalt erscheint, nämlich das Abfallen der Steme vom Himmel als einem Gewölbe, der Einsturz dieses Himmels selbst (oder das Entweichen desselben als eines eingewickelten Buchs), das Verbrennen beider, die Schöpfung

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eines neuen Himmels und einer neuen Erde zum Sitz der Seligen und der Hölle zu dem der Verdammten, gezählt werden sollten: so würde jener Gerichtstag frellich nicht der jüngste Tag sein; sondern es würden noch verschiedne andre auf ihn folgen. Wlein da die Idee eines Endes aller Dinge chren Ursprung nicht von dem Vernünfteln über den p h y fi­ sch e n, sondern über den moralischen Lauf der Dinge in der Welt hernimmt und dadurch allein veranlaßt wird; der letztere auch allein auf das Übersinnliche (welches nur am Moralischen verständlich ist), dergleichen die Idee der Ewigkeit ist, bezogen werden kann: so muß die Vorstellung jener letzten Dinge, die nach dem jüngsten Tage kommen sollen, nur als eine Versinnlichung des letztem sammt seinen moralischen, uns übrigens nicht theoretisch begreiflichen Folgen angesehen werden. Es ist aber anzumerken, daß es von den ältesten Zeiten her zwei die künftige Ewigkeit betreffende Systeme gegeben hat: eines das der U n i t a r i e r derselben, welche allen Men­ schen (durch mehr oder weniger lange Büßungen gereinigt) die ewige Seligkeit, das andre das der Du allsten*), *) Ein solches System war in der altpersischen Religion (des Zoroaster) auf der Voraussetzung zweier im ewigen Kamps mit einander begriffenen Urwesen, dem guten Princip, Ormuzd, und dem bösen, Ahriman, gegründet. — Sonderbar ist es: daß die Sprache zweier weit von einander, noch weiter aber von dem jetzigen Sitz der deutschen Sprache entfernten Länder in der Benennung dieser beiden Urwesen deutsch ist. Ich erinnere mich bei S o n n e r a t gelesen zu haben, daß in Ava (dem Lande der Burachmanen) das gute Princip Gode man (welches Wort in dem Namen Darias Codomannus auch zu liegen scheint) genannt werde; und da das Wort Ahriman mit dem arge Mann sehr gleich lautet, das jetzige Persische auch eine Menge ursprünglich deutscher Wörter enthält: so mag es eine Aufgabe für den Alterthumsforscher sein, auch an dem Leitfaden der Sprach Verwandtschaft dem Ursprünge der jetzigen Religion- begriffe mancher Völker nachzugehn (Man s. Sonnerat's Reise, 4. Buch, 2. Kap., 2. B ).

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welche einigen Auserwählten die Seligkeit, allen übri­ gen aber die ewige Verdammniß zusprechen. Denn ein System, wornach Me verdammt zu sein bestimmt wären, konnte wohl nicht Platz finden, weil sonst kein rechtfertigender Grund da wäre, warum sie überhaupt wären erschaffen wor­ den; die Vernichtung Mer aber eine verfehlte Weisheit anzeigen würde, die, mit ihrem eignen Werk unzufrieden, kein ander Mittel weiß, den Mängeln desselben abzuhelfen, als es zu zerstören. — Den Dualisten steht indeß immer eben dieselbe Schwierigkeit, welche hinderte sich eine ewige Ver­ dammung aller zu denken, im Wege: denn wozu, könnte man fragen, waren auch die Wenigen, warum auch nur ein Ein­ ziger geschaffen, wenn er nur dasein sollte, um ewig ver­ worfen zu werden? welches doch ärger ist als gar nicht sein. Zwar, soweit wir es einsehen, soweit wir uns selbst er­ forschen können, hat das dualistische System (aber nur unter einem höchstguten Urwesen) in praktischer Absicht für jeden Menschen, wie er sich selbst zu richten hat (obgleich nicht, wie er Andre zu richten befugt ist), einen überwiegenden Grund in sich: denn so viel er sich kennt, läßt ihm die Vernunft keine andre Aussicht in die Ewigkeit übrig, als die ihm aus seinem bisher geführten Lebenswandel sein eignes Gewissen am Ende des Lebens eröffnet. Aber zum Dogma, mithin um einen an sich selbst (objectiv) gültigen, theoretischen Satz daraus zu machen, dazu ist es als bloßes Bernunfturtheil bei weitem nicht hinreichend. Denn welcher Mensch kennt sich selbst, wer kennt Andre so durch und durch, um zu entscheiden: ob, wenn er von den Ursachen seines vermeintlich wohlgeführten Lebenswandels alles, was man Verdienst des Glücks nennt, als sein angebornes gutartiges Temperament, die natürliche größere Stärke seiner obern Kräfte (des Verstandes und der Vernunft, um seine Triebe zu zähmen), überdem auch noch die Gelegenheit, wo ihm der Zufall glücklicherweise viele Ver-

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suchungen ersparte, die einen Andern trafen; wenn er dies Mes von seinem wirklichen Charakter absonderte (wie er dadenn, um diesen gehörig zu würdigen, nothwendig abrechnen muß, well er es als Glücksgeschenk seinem eignen Berdienst nicht zuschreiben kann); wer will dann entscheiden, sage ich, ob vor dem allsehenden Auge eines Weltrichters ein Mensch seinem innern moralischen Werthe nach überall noch irgend einen Vorzug vor dem andern habe, und es so vielleicht nicht ein ungereimter Eigendünkel sein dürfte, bei dieser oberflächlichen Selbsterkenntniß zu seinem Vortheil über den moralischen Werth (und das verdiente Schicksal) seiner selbst sowohl als Anderer irgend ein Urtheil zu sprechen? — Mithin scheint das System des Unitariers sowohl als des Dualisten, beides als Dogma bewachtet, das speculative Vermögen der menschlichen Vernunft gänzlich zu übersteigen und Alles uns dahin zurück» zuführen, jene Bernunftideen schlechterdings nur aus die Be­ dingungen des praktischen Gebrauchs einzuschränken. Denn wir sehen doch nichts vor uns, das uns von unserm Schicksal in einer künftigen Welt jetzt schon belehren könnte, als das Urtheil unsers eignen Gewissens, d. i. was unser gegenwärtiger moralischer Zustand, so weit wir ihn kennen, uns darüber vernünftigerweise urthellen läßt: daß nämlich, welche Prin­ cipien unsers Lebenswandels wir bis zu dessen Ende in uns herrschend gefunden haben (sie seien die des Guten oder des Bösen), auch nach dem Tode fortfahren werden es zu sein; ohne daß wir eine Abänderung derselben in jener Zukunft anzu­ nehmen den mindesten Grand haben. Mthin müßten wir uns auch der jenem Verdienste oder dieser Schuld angemessenen Folgen unter der Herrschaft des guten oder des bösen Prin­ cips für die Ewigkeit gewärtigen; in welcher Rücksicht es folg­ lich weise ist, so zu handeln, a l s o b ein andres Leben und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, sammt seinen Folgen beim Eintritt in dasselbe unabänderlich

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sei. In praktischer Absicht wird also das anzunehmende System das dualistische sein müssen; ohne doch ausmachen zu wollen, welches von beiden in theoretischer und bloß speculativer den Borzug verdiene: zumal da das unitarische zu sehr in gleichgültige Sicherheit einzuwiegen scheint. Warum erwarten aber die Menschen überhaupt e i n E n d e der Welt? und, wenn dieses ihnen auch eingeräumt wird, warum eben ein Ende mit Schrecken (für den größten Theü des menschlichen Geschlechts)?... Der Grund des er st er n scheint darin zu liegen, weil die Vernunft ihnen sagt, daß die Dauer der Welt nur sofern einen Werth hat, als die vernünftigen Wesen in ihr dem Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber nicht erreicht werden sollte, die Schöpfung selbst ihnen zwecklos zu sein scheint: wie ein Schauspiel, das gar keinen Ausgang hat und keine vernünftige Absicht zu erkennen giebt. Das letztere gründet sich auf der Meinung von der verderbten Beschaffenheit des menschlichen Geschlechts *), die bis zur Hoffnungslosigkeit groß sei; welchem *) Zu allen Zeiten haben sich dünkende Weise (oder Philosophen), ohne die Anlage zum Guten in der menschlichen Natur einiger Aufmerksamkeit zu würdigen, sich in widrigen, zum Theil ekelhaften Gleichnissen erschöpft, um unsere Erdenwelt, den Aufenthalt sür Menschen, recht ver­ ächtlich vorzustellen: 1) Als ein Wirthshaus (Karavanserai), wie jener Derwisch sie ansieht: wo jeder auf seiner Lebensreise Einkehrende gefaßt sein muß, von einem folgenden bald verdrängt zu werden. 2) Als ein Zuchthaus, welcher Meinung die brahmanischcn, tibetanischen und andre Weisen de- Orient- (auch sogar Plato) zugethan sind: ein Ort der Züchtigung und Reinigung gesallner, aus dem Himmel verstoßner Geister, jetzt menschlicher oder Thier-Seelen. 3) Als ein T o l l h a u s : wo nicht allein Jeder sür sich seine eignen Absichten vernichtet, sondem Einer dem Andern alles erdenlliche Herzeleid zufügt und obenein die Geschicklichkeit und Macht daS thun zu können für die größte Ehre hält. Endlich 4) als ein K l o a k, wo aller Unrath aus andern Welten hinge­ bannt worden. Der letztere Einfall ist auf gewisse Art originell und einem persischen Witzling zu verdanken, der das Paradies, den Aufenthalt des

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ein Ende und zwar ein schreckliches Ende zu machen, die einzige der höchsten Weisheit und Gerechtigkeit (dem größten LHeil der Menschen nach) anständige Maßregel sei. — Daher sind auch die Vorzeichen des jüngsten Tages (denn wo läßt es eine durch große Erwartungen erregte Einbildungs­ kraft wohl an Zeichen und Wundern fehlen?) alle von der schreck­ lichen Art. Einige sehen sie in der überhandnehmenden Un­ gerechtigkeit, Unterdrückung der Armen durch übermüthige Schwelgerei der Reichen und dem allgemeinen Verlust von Treu und Glauben; oder in den an allen Erdenden sich ent­ zündenden blutigen Kriegen u. s. w.: mit einem Worte, an dem moralischen Verfall und der schnellen Zunahme aller Laster sammt den sie begleitenden Übeln, dergleichen, wie sie wähnen, die vorige Zeit nie sah. Andre dagegen in ungewöhn­ lichen Naturveränderungen, an den Erdbeben, Stürmen und Überschwemmungen, oder Kometen und Luftzeichen. In der That fühlen nicht ohne Ursache die Menschen die Last ihrer Existenz, ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind. Der Gmnd davon scheint mir hierin zu liegen. — Natürlicher­ weise eilt in den Fortschritten des menschlichen Geschlechts die Cultur der Talente, der Geschicklichkeit und des Geschmacks (mit ihrer Folge, der Üppigkeit) der Entwicklung der Moralietjlen Menschcnpaors, in den Himmel versetzte, in welchem Garten Bäume genug, mit herrlichen Früchten reichlich versehen, anzutressen waren, deren Überschuß nach ihrem Genuß sich durch unmerkliche Ausdünstung verlor; einen einzigen Baum mitten im Garten ausgenommen, der zwar eine reizende, aber solche Frucht trug, die sich nicht ausschwitzen ließ. Da unsre ersten Eltern sich nun gelüsten ließen, ungeachtet des Verbots dennoch davon zu kosten: so war, damit sie den Himmel nicht beschmutzten, kein andrer Rath, als daß einer der Engel ihnen die Erde in weiter Ferne zeigte mit den Worten: „Das ist der Abtritt sür das ganze Universum/ sie sodann dahinführte, um das Benöthigte zu verrichten, und daraus mit Hinterlassung derselben zum Himmel zurückflog. Davon sei nun das mensch­ liche Geschlecht auf Erden entsprungen.

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V

tät vor; und dieser Zustand ist gerade der lästigste und gefähr­ lichste für Sittlichkeit sowohl als physisches Wohl: well die Bedürfnisse viel stärker anwachsen, als die Mttel sie zu befrie­ digen. Aber die sittliche Anlage der Menschheit, die (wie Horazens poena pede claudo) ihr immer nachhinkt, wird sie, die in chrem eilfertigen Lauf sich selbst verfängt und oft stolpert, (wie man unter einem weisen Welttegierer wohl hoffen darf) dereinst überholen; und so sollte man selbst nach den Erfah­ rungsbeweisen des Vorzugs der Sittlichkeit in unserm Zeit­ alter in Vergleichung mit allen vorigen wohl die Hoffnung nähren können, daß der jüngste Tag eher mit einer Elias­ fahrt, als mit einer der Rotte Korah ähnlichen Höllenfahrt eintreten und das Ende aller Dinge auf Erden herbeiführen dürfte. Allein dieser heroische Glaube an die Tugend scheint doch subjektiv keinen so allgemeinkräftigen Einfluß auf die Gemüther zur Bekehrung zu haben, als der an einen mit Schrecken begleiteten Aufttitt, der vor den letzten Dingen als vorhergehend gedacht wird. *

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Anmerkung. Da wir es hier bloß mit Ideen zu thun haben (oder damit spielen), die die Vemunft sich selbst schafft, wovon die Gegenstände (wenn sie deren haben) ganz über unfern Gesichtskreis hinausliegen, die indeß, obzwar für das speculative Erkenntniß überschwenglich, darum doch nicht in aller Beziehung für leer zu halten sind, sondern in praktischer Absicht uns von der gesetzgebenden Vemunft selbst an die Hand gegeben werden, nicht etwa um über ihre Gegenstände, was sie an sich und ihrer Natur nach sind, nachzugrübeln, sondem wie wir sie zum Behuf der moralischen, auf den End­ zweck aller Dinge gerichteten Grundsätze zu denken haben (wodurch sie, die sonst gänzlich leer wären, objective praktische

Realität bekommen): — so haben wir ein freies Feld vor uns, dieses Product unsrer eignen Vernunft, den allgemeinen Begriff von einem Ende aller Dinge, nach dem Verhältniß, das er zu unserm Erkenntnißvermögen hat, einzutheilen und die unter ihm stehenden zu klassificiren. Diesem nach wird das Ganze 1) in das natürliche *) Ende aller Dinge nach der Ordnung moralischer Zwecke gött­ licher Weisheit, welches wir also (in praktischer Absicht) wohl verstehen können, 2) in das mystische (übematürliche) Ende derselben in der Ordnung der wirkenden Ursachen, von welchen wir nichts verstehen, 3) in das wider­ natürliche (verkehrte) Ende aller Dinge, welches von uns selbst dadurch, daß wir den Endzweck mißverstehen, herbeigeführt wird, eingetheüt und in drei Abtheilungen vor­ gestellt werden: wovon die erste so eben abgehandelt worden, und nun die zwei noch übrigen folgen. *

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In der Apokalypse (X, 5, 6) „hebt ein Engel seine Hand auf gen Himmel und schwört bei dem Lebendigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel erschaffen hat u. s. w.: daß hinfort keine Zeit mehr sein soll." Wenn man nicht annimmt, daß dieser Engel „mit seiner Stimme von sieben Donnern" (B. 3) habe Unsinn schreien wollen, so muß er damit gemeint haben, daß hinfort keine *) Natürlich (formaliter) heißt, was nach Gesetzen einer ge­ wissen Ordnung, welche es auch sei, mithin auch der moralischen (also nicht immer bloß der physischen) nothwendig folgt. Ihm ist das Nichtnatürliche, welches entweder das Übernatürliche, oder das Wider­ natürliche sein kann, entgegengesetzt. Das Nothwendige aus Naturursachen würde auch als materialiter-natürlich (physisch-nothwendig) vorgestellt werden.

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Veränderung sein soll; denn wäre in der Welt noch Veränderung, so wäre auch die Zeit da, well jene nur in dieser Statt finden kann und ohne ihre Voraussetzung gar nicht denkbar ist. Hier wird nun ein Ende aller Dinge als Gegenstände der Sinne vorgestellt, wovon wir uns gar keinen Begriff machen können: well wir uns selbst unvermeidlich in Widersprüche verfangen, wenn wir einen einzigen Schritt aus der Sinnen­ welt in die intelligible thun wollen; welches hier dadurch ge­ schieht, daß der Augenblick, der das Ende der erstem ausmacht, auch der Anfang der andem sein soll, mithin diese mit jener in eine und dieselbe Zeitteihe gebracht wird, welches sich widerspricht. Aber wir sagen auch, daß wir uns eine Dauer als u n endlich (als Ewigkeit) denken: nicht dämm weil wir etwa von ihrer Größe irgend einen bestimmbaren Begriff haben — denn das ist unmöglich, da ihr die Zeit als Maß derselben gänzlich fehlt —; sondem jener Begriff ist, weil, wo es keine Zeit giebt, auch kein Ende Statt hat, bloß ein negativer von der ewigen Dauer, wodurch wir in unserm Erkenntniß nicht um einen Fußbreit weiter kommen, sondem nur gesagt werden will, daß der Vernunft in (praktischer) Absicht auf den Endzweck auf dem Wege beständiger Verändemngen nie Genüge gethan werden kann: obzwar auch, wenn sie es mit dem Princip des Stillstandes und der Unveränderlichkeit des Zu­ standes der Weltwesen versucht, sie sich eben so wenig in An­ sehung ihres theoretischen Gebrauchs genug thun, son­ dem vielmehr in gänzliche Gedankenlosigkeit gerathen würde; da ihr dann nichts übrig bleibt, als sich eine ins Unendliche (in der Zeit) fortgehende Verändemng im beständigen Fort­ schreiten zum Endzweck zu denken, bei welchem die Ge­ sinnung (welche nicht wie jenes ein Phänomen, sondem etwas Übersinnliches, mithin nicht in der Zeit veränderlich

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ist) bleibt und beharrlich dieselbe ist. Die Regel des praktischen Gebrauchs der Bernunft dieser Idee gemäß toiK also nichts weiter sagen als: wir müssen unsre Maxime so nehmen, als ob bei allen ins Unendliche gehenden Berändrungen vom Guten zum Bestem unser moralischer Zustand der Gesinnung nach (der homo Noumenon, „dessen Wandel im Himmel ist") gar keinem Zeitwechsel unterworfen wäre. Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da alle Berändmng (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird näm­ lich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanke, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subject stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welches sich seines Daseins und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewußt werden kann, muß ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Ver­ nichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einen solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muß, Denken aber ein Reflectiren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann — Die Bewohner der andem Welt werden daher so vorgestellt, wie sie nach Verschiedenheit ihres Wohnorts (betn Himmel oder der Hölle) entweder immer dasselbe Lied, ihr Hallelujah, oder ewig eben dieselben Jammer­ töne anstimmen (XIX, 1—6.; XX, 15): wodurch der gänzliche Mangel alles Wechsels in ihrem Zustande angezeigt werden soll. Gleichwohl ist diese Idee, so sehr sie auch unsre Fassungskraft übersteigt, doch mit der Vernunft in praktischer Beziehung nahe verwandt. Wenn wir den moralisch-physischen Zustand des Menschen hier im Leben auch auf dem besten Fuß annehmen, nämlich eines beständigen Fortschreitens und Annäherns zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut: so kann er doch (selbst im Bewußtsein der Unveränderlichkeit seiner Gesinnung) mit der Aussicht in eine ewig dauernde Veränderung seines

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Das Ende aller Dinge.

Zustandes (des sittlichen sowohl als physischen) die Zu­ friedenheit nicht verbinden. Denn der Zustand, in welchem er jetzt ist, bleibt immer doch ein Übel vergleichungs­ weise gegen den bessern, in den zu treten er in Bereitschaft steht; und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospect in eine unendliche Reihe von Übeln, die, ob sie zwar von dem größem Guten überwogen werden, doch die Zuftiedenheit nicht Statt finden lassen, die er sich nur dadurch, daß der Endzweck endlich einmal erreicht wird, denken kann. Darüber geräth nun der nachgrübelnde Mensch in die Mystik (denn die Vernunft, weil sie sich nicht leicht mit ihrem immanenten, d. i. praktischen, Gebrauch begnügt, sondern gern int Transscendenten etwas wagt, hat auch ihre Geheimnisse), wo seine Vernunft sich selbst, und was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellektuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb den Gränzen dieser eingeschränkt zu halten. Daher kommt das Ungeheuer von System des L a o k i u n von dem höch st e n G u t, das im N i ch t s bestehen soll: d. i. im Bewußt­ sein, sich in den Abgrund der Gottheit durch das Zusammen­ fließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Per­ sönlichkeit verschlungen zu fühlen; von welchem Zustande die Vorempfindung zu haben, sinesische Philosophen sich in dunkeln 3 imitiern mit geschlossenen Augen anstrengen, dieses ihr Nichts zu denken und zu empfinden. Daher der Pant h e i s m (der Tibetaner und andrer ösüichen Völker) und der aus der metaphysischen Sublimimng desselben in der Folge erzeugte S p i n o z i s m: welche beide mit dem uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der Gottheit (und ihrer endlichen Resorption in eben dieselbe) nahe verschwistert sind. Alles lediglich dämm, damit die Men­ schen sich endlich doch einer ewigenRuhezu erfreuen haben

Da- Ende aller Dinge.

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möchten, welche denn ihr vermeintes seliges Ende aller Dinge ausmacht; eigentlich ein Begriff, mit dem chnen zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat. *

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Das Ende aller Dinge, die durch der Menschen Hände gehen, ist selbst bei ihren guten Zwecken Thorheit: das ist, Gebrauch solcher Mittel zu ihren Zwecken, die diesen gerade zuwider sind. Weisheit, d. i. praktische Bemunst in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut, völlig entsprechenden Maßregeln, wohnt allein bei Gott; und ihrer Idee nur nicht sichtbarlich entgegen zu handeln, ist das, was man etwa menschliche Weisheit nennen könnte. Diese Sicherung aber wider Thorheit, die der Mensch nur durch Versuche und öftre Veränderung seiner Plane zu erlangen hoffen darf, ist mehr „ein Kleinod, welchem auch der beste Mensch nur nachjagen kann, ob er es etwa ergreifen möchte;" wovon er aber niemals sich die eigenliebige Über­ redung darf anwandeln lassen, viel weniger damach verfahren, alsoberesergriffenhabe. — Daher auch die von Zeit zu Zeit veränderten, oft widersinnigen Entwürfe zu schicklichen Mtteln, um Religion in einem ganzen Volk lauterund zugleich kraftvoll zu machen; so daß man wohl ausmfen kann: Arme Sterbliche, bei euch ist nichts beständig, als die Unbeständigkeit! Wenn es indeß mit diesen Versuchen doch endlich einmal so weit gediehen ist, daß das Gemeinwesen fähig und geneigt ist, nicht bloß den hergebrachten frommen Lehren, sondem auch der durch sie erleuchteten praktischen Vemunft (wie es zu einer Religion auch schlechterdings nothwendig ist) Gehör zu geben; wenn die (auf menschliche Art) Weisen unter dem Volk nicht durch unter sich genommene Wieden (als ein Klerus),

fonbent als Mitbürger Entwürfe machen und darin größtentheils übereinkommen, welche auf unverdächtige Art beweisen, daß ihnen um Wahrheit zu thun sei; und das Volk wohl auch im Ganzen (wenn gleich noch nicht im kleinsten Detail) durch das allgemein gefühlte, nicht auf Autorität gegründete Be­ dürfniß der nothwendigen Andauung seiner moralischen An­ lage daran Interesse nimmt: so scheint nichts rathsamer zu sein, als Jene nur machen und ihren Gang fortsetzen zu lassen, da sie einmal, was die Idee betrifft, der sie nachgehn, auf gutem Wege sind; was aber den Erfolg aus den zum besten Endzweck gewählten Mitteln betrifft, da dieser, wie er nach dem Laufe der Natur ausfallen dürfte, immer ungewiß bleibt, chn der Vorsehung zu überlassen. Denn, man mag so schwergläubig sein, wie man will, so muß man doch, wo es schlechterdings unmöglich ist, den Erfolg aus gewissen nach aller menschlichen Weisheit (die, wenn sie ihren Namen verdienen soll, lediglich auf das Moralische gehen muß) ge­ nommenen Mitteln mit Gewißheit voraus zu sehn, eine Concurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art glauben, wenn man seinen Endzweck nicht lieber gar auf­ geben will. — Zwar wird man einwenden: Schon oft ist gesagt worden, der gegenwärtige Plan ist der beste; bei ihm muß es von nun an auf immer bleiben, das ist jetzt ein Zu­ stand für die Ewigkeit. „Wer (nach diesem Begriffe) gut ist, der ist immerhin gut, und wer (ihm zuwider) böse ist, ist immer­ hin böse" (Apokal. XXII, 11): gleich als ob die Ewigkeit und mit ihr das Ende aller Dinge schon jetzt eingetreten sein könne; — und gleichwohl sind seitdem immer neue Plane, unter welchen der neueste oft nur die Wiederherstellung eines alten war, auf die Bahn gebracht worden, und es wird auch an mehr letzten Entwürfen fernerhin nicht fehlen. Ich bin mir so sehr meines Unvermögens, hierin einen neuen und glücklichen Versuch zu machen, bewußt, daß ich,

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Das Ende aller Dinge.

wozu freilich keine große Erfindungskraft gehört, lieber rathen möchte: die Sachen so zu lassen, wie sie zuletzt standen und beinahe ein Menschenalter hindurch sich als erträglich gut in chren Folgen bewiesen hatten. Da das aber wohl nicht die Meinung der Männer von entweder großem oder doch unter­ nehmendem Geiste sein rnöchte: so sei es mir erlaubt, nicht sowohl, was sie zu thun, sondem wogegen zu verstoßen sie sich ja in Acht zu nehmen hätten, weil sie sonst ihrer eignen Absicht (wenn sie auch die beste wäre) zuwider handeln würden, bescheidentlich anzumerken. Das Christenthum hat außer der größten Achtung, welche die Heiligkeit seiner Gesetze unwiderstehlich einflößt, noch etwas Liebenswürdiges in sich. (Ich meine hier nicht die Liebenswürdigkeit der Person, die es uns mit großen Aufopferungen erworben hat, sondem der Sache selbst: näm­ lich der sittlichen Verfassung, die Er stiftete; denn jene läßt sich nur aus dieser folgern.) Die Achtung ist ohne Zweifel das Erste, weil ohne sie auch keine wahre Liebe Statt findet; ob man gleich ohne Liebe doch große Achtung gegen Jemand hegen kann. Aber wenn es nicht bloß auf Pflichtvorstellung, sondem auch aus Pslichtbesolgung ankommt, wenn man nach dem s u b j e c t i v e n Gmnde der Handlungen fragt, aus welchem, wenn man ihn voraussetzen darf, am ersten zu er­ warten ist, was der Mensch thun werde, nicht bloß nach dem objectiven, was er thun soll: so ist doch die Liebe, als freie Aufnahme des Willens eines Andem unter seine Maximen, ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur (zu dem, was die Vemunst durchs Gesetz vorschreibt, genöthigt werden zu zu müssen): denn was Einer nicht gern thut, das thut er so kärglich, auch wohl mit sophistischen Ausflüchten vom Gebot der Pflicht, daß auf diese als Triebfeder ohne den Beitritt jener nicht sehr viel zu rechnen sein möchte. fttmtS populäre Schriften.

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Wenn man nun, um es recht gut zu machen, zum Christen­ thum noch irgend eine Autorität (wäre es auch die göttliche) hinzuthut, die Absicht derselben mag auch iwch so wohlmeinend und der Zweck auch wirklich noch so gut sein, so ist doch die Liebenswürdigkeit desselben verschwunden: denn es ist ein Widerspruch, Jemanden zu gebieten, daß er etwas nicht allein thue, sondern es auch gern thun solle. Das Christenthum hat zur Absicht: Liebe zu dem Ge­ schäft der Beobachtung seiner Pflicht überhaupt zu befördern, und bringt sie auch hervor, weil der Stifter desselben nicht in der Qualität eines Befehlshabers, der seinen Gehorsam fordernden Willen, sondern in der eines Menschenfreundes redet, der seinen Mitmenschen ihren eignen wohlverstandnen Willen, d. i. womach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich selbst gehörig prüften, ans Herz legt. Es ist also die liberale Denkungsart — gleichweit entfernt vom Sklavensinn und von Bandenlosigkeit —, wovon das Christenthum für seine Lehre Effect erwartet, durch die es die Herzen der Menschen für sich zu gewinnen vermag, deren Verstand schon durch die Vorstellung des Gesetzes ihrer Pflicht erleuchtet ist. Das Gefühl der Freiheit in der Wahl des Endzwecks ist das, was ihnen die Gesetzgebung liebens­ würdig macht. — Obgleich also der Lehrer desselben auch Strafen ankündigt, so ist das doch nicht so zu verstehen, wenigstens ist es der eigenthümlichen Beschaffenheit des Christenthums nicht angemessen es so zu erllären, als sollten diese die Triebfedem werden, seinen Geboten Folge zu leisten: denn sofern würde es aufhören liebenswürdig zu sein. Sondem man darf dies nur als liebreiche, aus dem Wohlwollen des Gesetzgebers entspringende Warnung, sich vor dem Schaden zu hüten, welcher unvermeidlich aus der llberttetung des Gesetzes entspringen müßte (denn: lt-x est res surda et inexorabilis. L i v i u s ), auslegen: weil nicht das Christenthum

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als freiwillig angenommene Lebensmaxime, sondern das Gesetz hier droht: welches, als unwandelbar in der Natur der Dinge liegende Ordnung, selbst nicht der Willkür des Schöpfers, die Folge derselben so oder anders zu entscheiden, über­ lassen ist. Wenn das Christenthum Belohnungen verheißt (3. B. „Seid fröhlich und getrost, es wird Euch im Himmel alles wohl vergolten werden"): so muß das nach der liberalen Denkungsart nicht so ausgelegt werden, als wäre es ein An­ gebot, um dadurch den Menschen zum guten Lebenswandel gleichsam zu dingen: denn da würde das Christenthum wiedemm für sich selbst nicht liebenswürdig sein. Nur ein Ansinnen solcher Handlungen, die aus uneigennützigen Be­ weggründen entspringen, kann gegen den, welcher das An­ sinnen thut, dem Menschen Achtung einflößen; ohne Achtung aber giebt es keine wahre Liebe. Also muß man jener Ver­ heißung nicht den Sinn beilegen, als sollten die Belohnungen für die Triebfedem der HaMungen genommen werden. Die Liebe, wodurch eine liberale Denkart an einen Wohlthäter gefesselt wird, richtet sich nicht nach dem Guten, was der Bedürftige empfängt, sondem bloß nach der Gütigkeit des Willens dessen, der geneigt ist es zu ertheilen: sollte er auch etwa nicht dazu vermögend sein, oder durch andre Beweg­ gründe, welche die Rücksicht aus das allgemeine Weltbeste mit sich bringt, an der Ausführung gehindert werden. Das ist die moralische Liebenswürdigkeit, welche das Christenthum bei sich führt, die durch manchen äußerlich chm beigefügten Zwang bei dem öftern Wechsel der Meinungen immer noch durchgeschimmert und es gegen die Abneigung erhalten hat, die es sonst hätte treffen müssen, und welche (was merkwürdig ist) zur Zeit der größten Aufvärung, die je unter Menschen war, sich immer in einem nur desto Hellern Lichte zeigt.

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Das Ende aller Dinge.

Sollte es mit dem Christenthum einmal dahin kommen, daß es aufhörte liebenswürdig zu sein (welches sich wohl zu­ tragen könnte, wenn es statt seines sanften Geistes mit ge­ bieterischer Auwrität bewaffnet würde): so müßte, well in moralischen Dingen keine Neutralität (noch weniger Coalition entgegengesetzter Principien) Statt findet, eine Abneigung und Widersetzlichkeit gegen dasselbe die herrschende Denkart der Menschen werden; und der Antichrist, der ohnehin für den Vorläufer des jüngsten Tages gehalten wird, würde sein (vermuthlich auf Furcht und Eigennutz gegründetes), obzwar kurzes Regiment anfangen: alsdann aber, weil das Christenthum allgemeine Weltrcligion zu sein zwar b estimmt, aber es zu werden von dem Schicksal nicht begünstigt sein würde, das (verkehrte) Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht eintreten.

Zum ewigen Frieden.

Zum ewigen Frieden. Ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jene» holländischen Gastwirths, worauf ein Kirchhof gemalt war, die Menschen überhaupt, oder besonders die Staatsober­ häupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gelte, die jenen süßen Traum träumen, mag dahin gestellt sein. Das bedingt sich aber der Verfasser des Gegenwärtigen aus, daß, da der praktische Politiker mit dem theoretischen auf dem Fuß steht, mit großer SelbstgefMigkeit auf ihn als einen Schulweisen herabzusehen, der dem Staat, welcher von Erfahmngsgrundsätzen ausgehen müsse, mit seinen sachleeren Ideen keine Gefahr bringe, und den man immer seine eilf Kegel auf einmal werfen lassen kann, ohne daß sich der weltkundige Staatsmann daran kehren darf, dieser auch im Fall eines Streits mit jenem sofern konsequent verfahren müsse, hinter seinen auf gut Glück ge­ wagten und öffentlich geäußerten Meinungen nicht Gefahr für den Staat zu toittem; — durch welche Clausula s a l v a t o r i a der Verfasser dieses sich dann hiemit in der besten Form wider alle bösliche Auslegung ausdrücklich ver­ wahrt wissen will. Erster Abschnitt, welcher die Präliminarartikel zum ewigen Frieden unter Staaten enthält. 1. „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künf­ tigen Kriege gemacht worden."

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Zum ewigen Frieden.

Denn alsdann wäre er ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet, und dem das Beiwort ewig anzuhängen ein schon verdächtiger Pleonasm ist. Die vor­ handene, obgleich jetzt vielleicht den Paciscirenden selbst noch nicht bekannte, Ursachen zum künftigen Kriege sind durch den Friedensschluß insgesammt vernichtet, sie mögen auch aus archivarischen Dokumenten mit noch so scharfsichtiger Ausspähungsgeschicklichkcit ausgeklaubt sein. — Der Vorbehalt (reservatio mentalis) alter allererst künftig auszudenkender Prätensionen, deren kein Theil für jetzt Erwähnung thun mag, weil beide zu sehr erschöpft sind, den Krieg fortzusetzen, bei dem bösen Willen, die erste günstige Gelegenheit zu diesem Zweck zu benutzen, gehört zur Jesuitencasuistik und ist unter der Würde der Regenten, so wie die Willfährigkeit zu dergleichen Deductionen unter der Würde eines Ministers des­ selben, wenn man die Sache, wie sie an sich selbst ist, beurtheilt.— Wenn aber nach aufgeklärten Begriffen der Staatsklugheit in beständiger Vergrößerung der Macht, durch welche Mittel es auch sei, die wahre Ehre des Staats gesetzt wird, so fällt freilich jenes Urtheil als schulnräßig und pedantisch in die Augen. 2. „Es soll kein für sich bestehender Staat (Hein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können." Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe (patrimonium). Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponiren hat. Ihn aber, der selbst als Stamm seine eigene Wurzel hatte, als Pfropfreis einem andem Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz als einer moralischen Person aufheben und aus der letzteren eine Sache

Zum ewigen Frieden.

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machen und widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken läßt*). In welche Gefahr das Vorurtheil dieser Erwerbungsart Europa, denn die andern Welttheile haben nie davon gewußt, in unsern bis auf die neuesten Zeiten gebracht habe, daß sich nämlich auch Staaten einander Heurathen könnten, ist jedermann bekannt, theils als eine neue Art von Industrie, sich auch ohne Aufwand von Kräften durch Familienbündnisse übermächtig zu machen, theils auch auf solche Art den Länderbesitz zu er­ weitern. — Auch die Verdingung der Truppen eines Staats an einen andern gegen einen nicht gemeinschaftlichen Feind ist dahin zu zählen; denn die Unterthanen werden dabei als nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und ver­ braucht. 3. „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören." Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden; wozu kommt, daß, zum Tödten oder getödtet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werk­ zeugen in der Hand eines Andem (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt. Ganz anders ist es mit der fteiwilligen periodisch vorgenommenen Übung der *) Ein Erbreich ist ein nicht ein Staat, der von einem andern Staate, sondern dessen Recht zu regieren an eine andere physische Person vererbt werden kann. Der Staat erwirbt alsdann einen Regenten, nicht dieser als ein solcher (b. L der schon ein anderes Reich besitzt) den Staat.

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tzum ewigen Frieden.

Staatsbürger in Waffen bewandt, sich und ihr Vaterland dadurch gegen Angriffe von außen zu sichern. — Mit der An­ häufung eines Schatzes würde es eben so gehen, daß er, von andern Staaten als Bedrohung mit Krieg angesehen, zu zu­ vorkommenden Angriffen nöthigte (weil unter den drei Mächten, der Heeresmacht, der Bundesmacht und der Geld macht, die letztere wohl das zuverlässigste Kriegs­ werkzeug sein dürfte), wenn nicht die Schwierigkeit, die Größe desselben zu erforschen, dem entgegenstünde. 4. „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden." Zum Behuf der Landesökonomie (der Wegebesserung, neuer Ansiedelungen, Anschaffung der Magazine für besorgliche Mißwachsjahre u. s. w.) außerhalb oder innerhalb dem Staate Hülfe zu suchen, ist diese Hülfsquelle unverdächtig. Aber als entgegenwirkende Maschine der Mächte gegen ein­ ander ist ein Creditsystem ins Unabsehliche anwachsender und doch immer für die gegenwärtige Forderung (weil sie doch nicht von allen Gläubigern auf einmal geschehen wird) ge­ sicherter Schulden — die sinnreiche Erfindung eines handel­ treibenden Volks in diesem Jahrhundert — eine gefährliche Geldmacht, nämlich ein Schatz zum Kriegführen, der die Schätze aller anbetn Staaten zusammengenommen übertrifft und nur durch den einmal bevorstehenden Ausfall der Taxen (der doch auch durch die Belebung des Verkehrs vermittelst der Rückwirkung auf Industrie und Erwerb noch lange hingehalten wird) erschöpft werden kann. Diese Leichtigkeit Krieg zu führen, mit der Neigung der Machthabenden dazu, welche der menschlichen Natur eingeartet zu sein scheint, verbunden, ist also ein großes Hinderniß des ewigen Friedens, welches zu verbieten um desto mehr ein Präliminarartikel desselben sein müßte, weil der endlich doch unvermeidliche Staatsbankerott manche andere Staaten unverschuldet in den Schaden mit

flutn ewigen Frieden.

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verwickeln muß, welches eine öffentliche Läsion der letzteren sein würde. Mthin sind wenigstens andere Staaten berechtigt, sich gegen einen solchen und dessen Anmaßungen zu verbünden. 6. „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andem Staats gewaltthätig einmischen." Denn was kann ihn dazu berechtigen? Etwa das Skandal, was er den Unterthanen eines andern Staats giebt? Cs kann dieser vielmehr durch das Beispiel der großen Übel, die sich ein Volk durch seine Gesetzlosigkeit zugezogen hat, zur Warnung dienen; und überhaupt ist das böse Beispiel, was eine freie Person der andern giebt (als scandalum acceptum) keine Läsion derselben. — Dahin würde zwar nicht zu ziehen sein, wenn ein Staat sich durch innere Veruneinigung in zwei Theile spaltete, deren jeder für sich einen besondern Staat vorstellt, der auf das Ganze Anspruch macht; wo einem der­ selben Beistand zu leisten einem äußem Staat nicht für Ein­ mischung in die Verfassung des anbetn (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden könnte. So lange aber dieser innere Streit noch nicht entschieden ist, würde diese Ein­ mischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner innern Krankheit ringenden, von keinem andern ab­ hängigen Volks, selbst also ein gegebenes Skandal sein und die Autonomie aller Staaten unsicher machen. 6. „Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zu­ trauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind Anstellung der Meuchelmörder (pcrcuasores), Giftmischer (vcnefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Berraths (perduollio) in dem bekriegten Staat rc." Das sind ehrlose Stratagemen. Denn irgend ein Ver­ trauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, well sonst auch kein Friede abge-

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Zum ewigen Frieden.

schlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Aus­ rottungskrieg (bellum internem um) ausschlagen würde; da der Krieg doch nur das traurige Nochmittel im Naturzustände ist (wo kein Gerichtshof vorhanden ist, der rechtskräftig ur» cheilen könnte), durch Gewalt sein Recht zu behaupten; wo keiner von beiden Theilen für einen ungerechten Feind erklärt werden kann (weil das schon einen Richterausspruch voraus­ setzt), sondern der Ausschlag desselben (gleich als vor einem so genannten Gottesgerichte) entscheidet, auf wessen Seite das Recht ist; zwischen Staaten aber sich kein Be­ strafungskrieg (bellum punitivum) denken läßt (weil zwischen ihnen kein VerhälMiß eines Obern zu einem Untergebenen statt findet). — Woraus denn folgt: daß ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide Theile zugleich und mit dieser auch alles Rechts treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der MenschengatMng statt finden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muß schlechterdings unerlaubt sein. — Daß aber die genannte Mittel unvermeidlich dahin führen, erhellt daraus: daß jene höllische Künste, da sie an sich selbst niederträchtig sind, wenn sie in Gebrauch gekommen, sich nicht lange innerhalb der Grenze des Krieges halten, wie etwa der Gebrauch der Spione (uti cxploratoribus), wo nur die Ehr­ losigkeit Anderer (die nun einmal nicht ausgerottet werden kann) benutzt wird, sondern auch in den Friedenszustand über­ gehen und so die Absicht desselben gänzlich vernichten würden. *

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Obgleich die angeführte Gesetze objectiv, d. i. in der Intention der Machthabenden, lauter Verbotgesetze (legcs prohibitivae) sind, so sind doch einige derselben von der strengen, ohne Unterschied der Umstände geltenden Art

Zum ewigen Frieden.

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(leges strictae), die sofort auf Abschaffung dringen (wie Nr. 1, 5, 6), andere aber (wie Nr. 2, 3, 4), die zwar nicht als Ausnahmen von der Rechtsregel, aber doch in Mcksicht auf die Ausübung derselben, durch die Umstände, fubjectiv für die Befugniß erweiternd (leges latae), und Er­ laubnisse enthalten, die Ballführung aufzuschieben, ohne doch den Zweck aus den Augen zu verlieren, der diesen Aufschub, z. B- der W i e d e r e r st a t t u n g der gewissen Staaten nach Nr. 2 entzogenen Freiheit, nicht auf den Nimmer­ tag (wie August zu versprechen Pflegte, ad calendas graecas) auszusetzen, mithin die Nichterstattung, sondern nur, damit sie nicht übereilt und so der Absicht selbst zuwider geschehe, die Verzögemng erlaubt. Denn das Verbot betrifft hier nur die Erwerbungsart, die fernerhin nicht gelten soll, aber nicht den B e s i tz st a n d, der, ob er zwar nicht den erforderlichen Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit (der puta­ tiven Erwerbung) nach der damaligen öffentlichen Meinung von allen Staaten für rechtmäßig gehalten wurde*). *) Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae) und Verbot (leges prohibitivae) noch E r l a u b n i ß g e s e tz e (leges pennissivae) der reinen Vernunft geben könne, ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden. Denn Gesetze Überhaupt enthalten einen Grund objectiver praktischer Nothwendigkeit, Erlaubniß aber einen der praktischen Zufälligkeit gewisser Handlungen; mithin würde ein Erlaubnißgesetz Nöthigung zu einer Handlung, zu dem, wozu jemand nicht genöthigt werden kann, enthalten, welches, wenn das Object des Gesetzes in beiderlei Beziehung einerlei Bedeutung hätte, ein Widerspruch sein würde. — Nun geht aber hier im Erlaubnißgesetze das vorausgesetzte Verbot nur aus die künftige Erwerbungsart eines Rechts (z. B. durch Erbschaft), die Befreiung aber von diesem Verbot, d. i. die Erlaubniß aus den gegenwärtigen Besitzstand, welcher letztere im überschritt aus dem Naturzustände in den bürgerlichen als ein, obwohl unrechtmäßiger, dennoch ehrlicherBesitz (possessio putativa) nach einem Erlaubnißgesetz des Naturrechts noch fernerhin fortdauern kann, obgleich ein putativer Besitz, so bald er als ein solcher erkannt worden, im Naturzustände, imgleichen eine ähnliche Erwerbung--

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Zum ewigen Frieden. Zweiter Abschnitt,

welcher die Definitivartikel zum ewigen Frieden unter Staaten enthält. Der Friedenszustand unter Menschen, die neben ein» ander leben, ist kein Naturstand (status naturalis), der viel­ mehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Be­ drohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden; art im nachmaligen bürgerlichen (nach geschehenem überschritt) verboten ist, welche Befugniß des sortdaurenden Besitzes nicht statt finden würde, wenn eine solche vermeintliche Erwerbung im bürgerlichen Zustande ge­ schehen wäre' denn da würde er, als Läsion, sofort nach Entdeckung seiner Unrechtmäßigkeit aufhören müssen. Ich habe hiemit nur beiläufig die Lehrer des Naturrechts auf den Begriff einer lex permissiva, welcher sich einer systematisch-eintheilenden Vernunft von selbst darbietet, aufmerksam machen wollen; vornehmlich da im Civilgesetze (statutarischen) öfters davon Gebrauch gemacht wird, nur mit dem Unterschiede, daß das Berbotyesetz für sich allein dasteht, die Erlaußniß aber nicht als einschränkende Bedingung (wie es sollte) in jenes Gesetz mit hinein gebracht, sondern unter die Ausnahmen geworfen wird. — Da heißt es dann: dies oder jenes wird verboten. esseidcnn Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3 und so weiter ins Unabjehliche, da Erlaubnisse nur zu­ fälliger Weise, nicht nach einem Princip, sondern durch Herumtappen unter vorkommenden Fällen, zum Gesetz hinzukommen; denn sonst hätten die Bedingungen in die Formel des Berbotsgesetzes mit hineingebracht werden müssen, wodurch es dann zugleich ein Erlaubnißgesetz geworden wäre. — Es ist daher zu bedauern, daß die sinnreiche, aber unaufgelöst gebliebene Preisausgabe des eben so weisen als scharf­ sinnigen Herrn Grafen von Windischgrätz, welche gerade aus das letztere drang, sobald verlassen worden. Denn die Möglichkeit einer solchen (der mathematischen ähnlichen) Formel ist der einzige ächte Probirstein einer konsequent bleibenden Gesetzgebung, ohne welche das so ge­ nannte ius cvrttim immer ein frommer Wunsch bleiben wird. — Sonst wird man bloß generale Gesetze (die im Allgemeinen gelten), aber keine universale (die allgemein gelten) haben, wie es doch der Begriff eine- Gesetzes zu erfordern scheint.

Aum ewigen Frieden.

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denn die Unterlassung der letzteren ist noch nicht Sicherheit dafür, und ohne daß sie einem Nachbar von dem andern ge­ leistet wird (welches aber nur in einem gesetzlichen Zu­ stande geschehen kann), kann jener diesen, welchen er dazu aufgefordert hat, als einen Feind behandeln*). *) Gemeiniglich nimmt man an, daß man gegen Niemand feindlich verfahren dürfe, als nur wenn er mich schon thätig l ü d i r t hat, und da­ ist auch ganz richtig, wenn beide im bürgerlich-gesetzlichen Zustande sind. Denn dadurch, daß dieser in denselben getreten ist, leistet er jenem (vermittelst der Obrigkeit, welche über Beide Gewalt hat) die erforderliche Sicherheit. — Der Mensch aber (oder das Volk) im bloßen Naturstande benimmt mir diese Sicherheit und lädirt mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, obgleich nicht thätig (facto), doch durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht werde, und ich kann ihn nöthigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen. — Das Postulat also, was allen folgenden Artikeln zum Grunde liegt, ist: Me Menschen, die auf einander wechsel­ seitig einfließen können, müssen zu irgend einer bürgerlichen Verfassung gehören. Me rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1) die nach dem Staatsbürgerrecht der Menschen in einem Volke (ius civitatis), 2) nach dem Völkerrecht der Staaten in Verhältniß gegen einander (ius gentium), 3) die nach dem Weltbürgerrecht, so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließendem Berhüllniß stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum). Diese Eintheilung ist nicht willkürlich, sondern nothwendig in Beziehung auf die Idee vom ewigen Frieden. Denn wenn nur einer von diesen im Verhältnisse des physischen Einflusses auf den andem und doch im Naturstande wäre, so würde damit der Zustand de- Krieges ver­ bunden sein, von dem befreit zu werden hier eben die Absicht ist.)

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Zum ewigen Frieden.

Er st er Definitivartikel zum ewigen Frieden.

Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. Die ersllich nach Principien der F r e i h e i t der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen) und drittens die nach dem Gesetz der G l e i ch h e i t derselben (alsStaatsbürger) gestiftete Verfassung — die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, aus der alle rechiliche Ge­ setzgebung eines Volks gegründet sein muß — ist die repu­ blikanische*). Diese ist also, was das Recht betrifft, an *) Rechtliche (mithin äußere) Freiheit tnnn nickt, wie man wohl zu thun pflegt, durch die Befugniß desinirt werden: alle« zu thun, was man will, wenn man nur Keinem Unrecht thut. Denn was heißt Be­ fug n i ß ? Die Möglichkeit einer Handlung, |o fern man dadurch Keinem Unrecht thut. Also würde die Erklärung so lauten: Freiheit ist btr Mög­ lichkeit der Handlungen, dadurch man Keinem Unred)t thut. Man thut Keinem Unrecht (man mag auch thun, was man will), wenn man nur Keinem Unrecht thut: folglich ist es leere Tautologie. — Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freihei 1 so zu erklären: iie ist die Bejugniß leinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können. — Eben so ist äußere (rechtliche) Gleichheit in einem Staate dasjenige Verhältniß der Staatsbürger, nach welchem Keiner den ander« wozu rechtlich verbinden Imn, ohne daß er sich zugleich dem Gesetz unterwirst, von diesem wechselseitig aus dieselbe 9iit auch verbunden werden zu können. (Vom Princip der rechtlichen Abhängigkeit, da diese- schon in dem Begriffe einer Staatsversassung überhaupt liegt, bedarf es Inner Erklärung). — Die Gültigkeit dieser angebomen, zur Menschheit nothwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte wird durch das Princip der rechtlichen Verhältnisse des Menschen selbst zu höheren Wesen (wenn er sich solche denkt) bestätigt und erhoven, indem er sich nach eben denselben Grundsätzen auch als Staatsbürger

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Zum ewigen Frieden.

sich selbst diejenige, welche allen Arten der bürgerlichen Con­ stitution ursprünglich zum Grunde liegt; und nun ist nur die Frage: ob sie auch die einzige ist, die zum ewigen Frieden hin­ führen kann. Nun hat aber die republikanische Verfassung außer der Lauterkeit ihres Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechts­ begriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte einer übersinnlichen Welt vorstellt. — Denn was meine Freiheit betrifft, so habe ich selbst in Ansehung der göttlichen, von mir durch bloße Vernunft erkennbaren Gesetze keine Verbindlichkeit, als nur so fern ich dazu selber habe meine Beistimmung geben können (denn durchs Freiheitsgesetz meiner eigenen Vernunft mache ich mir allererst einen Begriff vom gött­ lichen Witten). Was in Ansehung des erhabensten WeltwesenS außer Gott, welches ich mir etwa denken möchte (einen großen - o n), das Princip der Gleichheit betrifft, so ist kein Grund da, warum ich, wenn ich in meinem Posten meine Pflicht thue, wie jener Äon es in dem seinigen, mir bloß die Pflicht zu gehorchen, jenem aber das Recht zu befehlen zukommen sötte. — Daß dieses Princip der Gleichheit nicht (so wie das der Freiheit) auch auf das Verhältniß zu Gott paßt, davon ist der Gmnd dieser, weil dieses Wesen das einzige ist, bei dem der Pflichtbegriff aufhört. Was aber das Recht der Gleichheit atter Staatsbürger als Unterthanen betrifft, so kommt es in Beantwortung der Frage von der Zu­ lässigkeit des E r b a d e l s allein darauf an: ob der vom Staat zugestandene Rang (eines Unterthans vor dem andern) vor dem Verdienst, oder dieses vor jenem vorhergehen müsse. — Nun ist offenbar: daß, wenn der Rang mit der Geburt verbunden wird, es ganz ungewiß ist, ob das Verdienst (Amtsgeschicklichkeit und Amtstreue) auch folgen werde; mithin ist es eben so viel, als ob er ohne atteS Verdienst dem Begünstigten zuge­ standen würde (Befehlshaber zu sein); welches der attgemeine Bolkswille in einem ursprünglichen Vertrage (der doch das Princip atter Rechte ist) nie beschließen wird. Denn ein Edelmann ist darum nicht sofort ein e d l e r Mann. — Was den A m t s a d e l (wie man den Rang einer höheren Magisttatur nennen könnte, und den man sich durch Verdienste erwerben muß) betrifft, so Nebt der Rang da nicht als Eigenthum an der Person, sondern am Posten, und die Gleichheit wird dadurch nicht verletzt: weil, wenn jene ihr Amt niederlegt, sie zugleich den Rang ablegt und unter das Volk zurückritt. — KantS populäre Schriften.

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Zum ewigen Frieden.

Folge, nämlich den ewigen Frieden; wovon der Grund dieser ist. — Wenn (wie es in dieser Bersassung nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten, die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher, immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr be­ denken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: da hin­ gegen in einer Verfassung, wo der Unterthan nicht Staats­ bürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fettigen diplomatischen Corps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann. *

* *

Damit man die republikanische Verfassung nicht (wie gemeiniglich geschieht) mit der demokratischen verwechsele, muß Folgendes bemerkt werden. Die Formen eines Staats (civitas) können entweder nach dem Unterschiede der Per­ sonen, welche die oberste Staatsgewalt inne haben, oder nach der Regierungsart des Volks durch sein Oberhaupt, er mag sein, welcher er wolle, eingetheilt werden: die erste heißt eigentlich die Form der Beherrschung (forma imperii), und es sind nur drei derselben möglich, wo nämlich

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Zum ewigen Frieden.

entweder nur Einer, oder Einige unter sich verbunden, oder Alle zusammen, welche die bürgerliche Gesellschaft ausmachen, die Herrschergewalt besitzen (Autokratie, Ari­ stokratie und Demokratie, Fürstengewalt, Adelsgewalt und Bolksgewalt). Die zweite ist die Form der Regierung (forma regiminis) und betrifft die auf die Constitution (den Act des allgemeinen Mllens, wodurch die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Beziehung entweder republikanisch oder despotisch. Der Republikanism ist das Staatsprincip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetz­ gebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Voll­ ziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Mlle, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird. — Unter den drei Staats­ formen ist die der D c m o k r a t i e im eigentlichen Verstände des Worts nothwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin Me, die doch nicht Me sind, beschließen; welches ein Widerspmch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist. Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsen­ tativ ist, ist eigentlich eine Unsotm, well der Gesetz­ geber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (so wenig wie das Mgemeine des Obersatzes in einem Vernunftschlusse zugleich die Subsumtion des Besondem unter jenem im Untersatze) sein kann; und wenn gleich die zwei andern Staatsverfassungen so fern immer fehlerhaft sind, daß sie einer solchen Regierungsart Raum geben, so ist es bei ihnen doch wenigstens möglich, daß sie eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart an­ nähmen, wie etwa Friedrich II. wenigstens sagte: er sei 21*

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Zum ewigen Frieden.

bloß der oberste Diener des Staats*), da hingegen die demo­ kratische es unmöglich macht, weil Alles da Herr sein will. — Man kann daher sagen: je kleiner das Personale der Staats­ gewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Reprä­ sentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism, und sie kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich dazu endlich zu erheben. Aus diesem Grunde ist es in der Aristokratie schon schwerer als in der Monarchie, in der Demokratie aber unmöglich anders als durch gewaltsame Revolution zu dieser einzigen voll­ kommen rechtlichen Verfassung zu gelangen. Es ist aber an der Regierungsart**) dem Volk ohne alle Vergleichung mehr *) Man hat die hohe Benennungen, die einem Beherrscher oft beigelegt werden (die eines göttlichen Gesalbten, eines Verwesers oes göttlichen Willens auf Erden und Stellvertreters desselben), als grobe, schwindlich machende Schmeicheleien oft getadelt; aber mich düntt, ohne Grund. — Weit gefehlt, daß sie den Landesherrn sollten hochmüthig machen, so müssen sie ihn vielmehr in seiner Seele demüthigen, wenn er Verstand hat (welches man doch voraussetzen muß) und es bedenkt, daß er ein Amt übernommen habe, was für einen Menschen zu groß ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen, zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten zu sein jederzeit in Besorgniß stehen muß. **) Mallet du Pan rühmt in seiner genietönenden, aber hohlen und sachleeren Sprache: nach vieljähriger Erfahrung endlich zur Überzeugung von der Wahrheit des bekannten Spruchs des Pope gelangt zu sein: „Laß über die beste Regierung Narren streiten; die bestgesühtte ist die beste." Wenn das soviel sagen sott: die am besten geführte Regierung ist am besten geführt, so hat er nach Schwifts Ausdruck eine Nuß aufgebissen, die ihn mit einer Made belohnte; soll es aber bedeuten, sie sei auch die beste Regierungsatt, d. i. Staatsverfassung, so ist es grundfalsch; denn Exempel von guten Regierungen beweisen nichts für die Regierungsatt. — Wer hat wohl besser regiett als ein Titus und Marcus Aurelius, und doch hinterließ der eine einen Domitian, der andere einen Commodus zu Nachfolgem; welches bei einer guten Staatsverfassung nicht hätte geschehen können, da ihre Untauglichkeit zu diesem Posten früh genug bekannt war, und die Macht des Beherrschers auch hinreichend war, um sie auszuschließen.

Zum ewigen Frieden.

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gelegen, als an der Staatsform (wiewohl auch auf dieser ihre mehrere oder mindere Angemessenheit zu jenem Zwecke sehr viel ankommt). Zu jener aber, wenn sie dem Rechtsbegriffe gemäß sein soll, gehört das repräsentative System, in welchem allein eine republikanische Regierungsart möglich, ohne welches sie (die Verfassung mag sein, welche sie wolle) despotisch und gewaltthätig ist. — Keine der alten sogenannten Republcken hat dieses gekannt, und sie mußten sich darüber auch schlechter­ dings in dem Despotism auflösen, der unter der Obergewalt eines Einzigen noch der erträglichste unter allen ist. Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden.

Das Völkerrecht

soll auf einen Föderalism Staaten gegründet sein.

freier

Völker als Staaten können wie einzelne Menschen be­ urtheilt werden, die sich in ihrem Naturzustände (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Neben­ einandersein lädiren, und deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann. Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte. Darin aber wäre ein Widerspmch: weil ein jeder Staat das Verhältniß eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegen einander zu er­ wägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat zusammenschmelzen (ollen) der Voraussetzung widerspricht. Gleichwie wir nun die Anhänglichkeit der Wilden an ihre

gesetzlose Freiheit, sich lieber unaufhörlich zu balgen, als sich einem gesetzlichen, von ihnen selbst zu constituirenden Zwange zu unterwerfen, mithin die tolle Freiheit der vernünftigen vorzuziehen, mit tiefer Verachtung ansehen und als Rohigkeit Ungeschliffenheit und viehische Abwürdigung der Menschheit betrachten, so, sollte man denken, müßten gesittete Völker (jedes für sich zu einem Staat vereinigt) eilen, aus einem so verworfenen Zustande je eher desto lieber herauszukommen: statt dessen aber setzt vielmehr jeder Staat seine Majestät (denn Volksmajestät ist ein ungereimter Ausbruch gerade darin, gar keinem äußeren gesetzlichen Zwange unterworfen zu sein, und der Glanz seines Oberhauptes besteht darin, daß ihm, ohne daß er sich eben selbst in Gefahr setzen darf, viele Tausende zu Gebot stehen, sich für eine Sache, die sie nichts angeht, aufopfern zu lassen*), und der Unterschied der europäischen Mlden von den amerikanischen besteht hauptsächlich darin, daß, da manche Stämme der letzteren von ihren Feinden gänzlich sind gegessen worden, die ersteren ihre Überwundene besser zu benutzen wissen, als sie zu verspeisen, und lieber die Zahl ihrer Unterthanen, mithin auch die Menge der Werk­ zeuge zu noch ausgebreitetern Kriegen durch sie zu vermehren wissen. Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältniß der Völker unverhohlen blicken läßt (indessen daß sie im bürgerlich-gesetzlichen Zustande durch den Zwang der Regierung sich sehr verschleiert), ist es doch zu verwundern, daß das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können, und sich noch kein Staat erkühnt hat, sich für die letztere Meinung öffentlich *) So gab ein bulgarischer Fürst dem griechischen Kaiser, der gut­ müthigerweise seinen Streit mit ihm durch einen Zweikampf ausmachen wollte, zur Antwort: „Ein Schmid, der Zangen hat, wird das glühende Eisen aus den Kohlen nicht mit seinen Händen herauslangen."

Zum ewigen Frieden.

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zu erklären; denn noch werden HugoGrotius.Pufenbot f,

Battel u. a. m. (lauter leidige Tröster), obgleich

ihr Codex, philosophisch oder diplomatisch abgefaßt, nicht die mindeste gesetzliche Kraft hat, oder auch nur haben kann (weil Staaten als solche nicht unter einem gemeinschaftlichen äußeren Zwange stehen),

immer treuherzig zur Recht­

fertigung eines Kriegsangriffs angeführt, ohne daß es ein Beispiel giebt, daß jemals ein Staat durch mit Zeugnissen so wichtiger Männer bewaffnete Argumente wäre bewogen worden, von seinem Vorhaben abzustehen. — Diese Huldigung, die jeder Staat dem Rechtsbegriffe (wenigstens den Worten nach) leistet, beweist doch, daß eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzu­ treffen sei, über das böse Princip in ihm (was er nicht ab­ leugnen kann) doch einmal Meister zu werden und dies auch von anbetn zu hoffen; denn sonst würde das Wort Recht den Staaten, die sich einander befehden wollen, nie in den Mund kommen, es sei denn, bloß um seinen Spott damit zu treiben, wie jener gallische Fürst es erklärte: „Es ist der Vorzug, den die Natur dem ©tariern über den Schwachem gegeben hat, daß dieser ihm gehorchen soll." Da die Art, wie Staaten ihr Recht verfolgen, nie wie bei einem äußern Gerichtshöfe der Proceß, sondern nur der Krieg sein kann, durch diesen aber und seinen günstigen Aus­ schlag, den Sieg, das Recht nicht entschieden wird, und durch den Friedensvertrag zwar wohl dem diesmaligen Kriege, aber nicht dem Kriegszustände (immer zu einem neuen Vorwand zu finden) ein Ende gemacht wird (den man auch nicht geradezu für ungerecht erklären kann, weil in diesem Zustande jeder in seiner eigenen Sache Richter ist), gleichwohl aber von Staaten nach dem Völkerrecht nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zu­ stande nach dem Naturrecht gilt, „aus diesem Zustande heraus-

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Zum ewigen Frieden.

gehen zu sollen" (weil sie als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind), indessen daß doch die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings ver­ dammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch ohne einen Vertrag der Völker unter sich nicht gestiftet oder gesichert werden kann: — so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den F r i e d e n s bund (foedus pacificum) nennen kann, der vom Frie­ densvertrag (pactum pacis) darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte. Dieser Bund geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie Menschen im Naturzustände) öffentlichen Gesetzen und einem Zwange unter denselben unterwerfen dürfen. — Die Ausführbarkeit (objective Realität) dieser Idee der F ö d e r a l i t ä t, die sich allmählig über alle Staaten erstrecken soll und so zum ewigen Frieden hinführt, läßt sich darstellen. Denn wenn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so giebt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschlie­ ßen und so den Freiheitszustand der Staaten gemäß der Idee des Völkerrechts zu sichem und sich durch mehrere Verbindun­ gen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten. Daß ein Volk sagt: „Es soll unter uns kein Krieg sein: denn wir wollen uns in einen Staat formiren, d. i. uns selbst eine oberste gesetzgebende, regierende und richtende Gewalt

Zum ewigen Frieden.

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setzen, die unsere Streitigkeiten friedlich ausgleicht" — das läßt sich verstehen.------- Wenn aber dieser Staat sagt: „Es soll kein Krieg zwischen mir und andern Staaten sein, obgleich ich keine oberste gesetzgebende Gewalt erkenne, die mir mein und der ich ihr Recht sichere," so ist es gar nicht zu verstehen, worauf ich dann das Vertrauen zu meinem Rechte gründen wolle, wenn es nicht das Surrogat des bürgerlichen Gesell­ schaftsbundes, nämlich der freie Föderalism, ist, den die Ver­ nunft mit dem Begriffe des Völkerrechts nothwendig verbinden muß, wenn überall etwas dabei zu denken übrig bleiben soll. Bei dem Begriffe des Völkerrechts, als eines Rechts zum Kriege, läßt sich eigentlich gar nichts denken (weil es ein Recht sein soll, nicht nach allgemein gültigen äußern, die Freiheit jedes Einzelnen einschränkenden Gesetzen, sondern nach einseitigen Maximen durch Gewalt, was Recht sei, zu bestimmen), es müßte denn darunter verstanden werden: daß Menschen, die so gesinnt sind, ganz recht geschieht, wenn sie sich unter einander aufreiben und also den ewigen Frieden in dem weiten Grabe finden, das alle Gräuel der Gewalt­ thätigkeit sammt ihren Urhebern bedeckt. — Für Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunst keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie eben so wie ein­ zelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlich,'n Zwangsgesetzen bequemen und so einen (frei­ lich immer wachsenden) Völker st aat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypotliesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einerWeltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, be­ stehenden und sich immer ausbreitenden B u n d e s den Strom

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Zum ewigen Frieden.

der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aushalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs (Furor impius intus — fremit horridus ore cruento. V i r g i 1)*). Dritter Definitivartikel zum ewigen Frieden.

„Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein." Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Phi­ lanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Mrthbarkeit) das Recht eines Fremd­ lings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geichehen kann, so lange er aber aus seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, woraus dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohl­ thätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondem ein Besuchs*) Nach einem beendigten Kriege, beim Friedensschlüsse, möchte es wohl sür ein Bott nicht unschicklich sein, daß nach dem Tankfeste ein Bußtag ausgeschrieben würde, den Himmel im Namen des Staats um Gnade für die große Versündigung anzurufen, die das menschliche Geschlecht sich noch immer zu Schulden kommen läßt, sich keiner gesetzlichen Verfassung im Verhältniß aus andere Völker fügen zu wollen, sondern stolz aus seine Unabhängigkeit lieber das barbarische Mittel des Krieges (wodurch doch das, was gesucht wird, nämlich das Recht eines jeden Staats, nicht ausgemacht wird) zu gebrauchen. — Die Dankfeste während dem Kriege über einen erfochtenen Sieg, die Hymnen, die (aus gut israelitisch) dem Herrn der Heerschaaren gesungen werden, stehen mit der moralischen Idee des Vaters der Menschen in nicht minder starkem Contiast: weil sie außer der Gleichgültigkeit wegen der Art, wie Völker ihr gegenseitiges Recht suchen (die traurig genug ist) noch eine Freude hineinbringen, recht viel Menschen oder ihr Glück zernichtet zu haben.

Zum ewigen Frieden

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recht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Be­ sitzes der Oberfläche der Erde, auf der als Kugelfläche sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere. — Unbewohnbare Theile dieser Oberfläche, das Meer und die Sandwüsten, trennen diese Gemeinschaft, doch so, daß das Schiss, oder das K a m e e l (das Schiff der Wüste) es möglich machen, über diese herrenlose Gegenden sich einander zu nähem und das Recht der Oberfläche, welches der Menschengattung gemeinschaftlich zukommt, zu einem mög­ lichen Verkehr zu benutzen.

Die Unwirthbarkeit der Seeküsten

(z. B. der Barbaresken), Schiffe in nahen Meeren zu rauben, oder gestrandete Schifssleute zu Sklaven zu machen, oder die der Sandwüsten (der arabischen Beduinen), die Annäherung zu den nomadischen Stämmen als ein Recht anzusehen, sie zu plündern, ist also dem Naturrecht zuwider, welches Hospitalitätsrecht aber, d. i. die Befugniß der fremden Ankömmlinge, sich nicht weiter erstreckt, als auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu ver­ suchen. — Auf diese Art können entfernte Welttheile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen, die zuletzt öffentlich gesetzlich werden und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können. Vergleicht man hiemit das i n h o s p i t a l e Betragen der

gesitteten,

vornehmlich

handeltreibenden Staaten

un­

seres Welttheils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben sür einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit. Amerika, die Negerländer, die Gewürzinseln, das Cap 2C. waren bei ihrer Entdeckung für sie Länder, die keinem angehörten; denn die Einwohner rechneten sie sür

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Zum ewigen Frieden.

nichts. In Ostindien (Hindustan) brachten sie unter dem Vor­ wände blos beabsichtigter Handelsniederlagen fremde Krieges­ völker hinein, mit ihnen aber Unterdrückung der Eingebornen, Aufwiegelung der verschiedenen Staaten desselben zu weit ausgebreiteten Kriegen, Hungersnoth, Aufruhr, Treulosigkeit, und wie die Litanei aller Übel, die das menschliche Geschlecht drücken, weiter lauten mag. China*) und Japan (Nipon), die den Versuch mit solchen Gästen gemacht hatten, haben daher weislich, jenes zwar den Zugang, aber nicht den Eingang, dieses auch den ersteren nur einem einzigen europäischen Volk, den Holländern, erlaubt, die sie aber doch dabei wie Gefangene von der Ge­ meinschaft mit den Eingebornen ausschließen. Das Ärgste hiebei (oder, aus dem Standpunkte eines moralischen Richters *) Um dieses

große Reich mit betn Namen,

womit es sich selbst

benennt, zu schreiben (nämlich China, nicht Lina, oder einen diesem ähnlichen Laut), darf man nur Georgii Alphab. Tibet, pag. 651—654, vornehmlich Nota b unten ttachsehen. — Eigentlich

führt es nach des

Petersb. Prof. Fischer Bemerkung keinen bestimmten Namen, womit es sich selbst benennt: der gewöhnlichste ist noch der des Worts Hin, nämlich Gold (welches die Tibetaner mit Ser ausdrücken), daher der Kaiser König des Goldes (des herrlichsten Landes von der Welt) genannt wird, welches Wort wohl im Reiche selbst wie Chin lauten, aber von den itali­ änischen Missionariett (des Gutturalbuchstabens wegen) wie Hin ausge­ sprochen sein mag. — Hieraus ersieht man dann, daß das von den Römern sogenannte Land der Sercr China war, die Seide aber über GroßTibet (vermuthlich durch Klein-Tibet und die Bucharei über Persien, so weiter) nach Europa gefördert worden, welches zu manchen Betrachtungen über das Merthum dieses erstaunlichen Staats in Ver­ gleichung mit dem von Hindustan bei der Verknüpsung mit Tibet und durch dieses mit Japan hinleitet; indessen daß der Name Sina oder Tschina, den die Nachbarn diesem Lande geben sollen, zu nichts hinführt.--------Vielleicht läßt sich auch die uralte, obzwar nie recht bekannt gewordene Gemeinschaft Europens mit Tibet aus dem, was uns H e s

y ch i u s

hievon aufbehalten hat, nämlich dem Zuruf Kovf ’OpraS (KonxOmpax) des Hierophanten in den Eleusinischen Geheimnissen, erklären (S. Reise

Zum ewigen Frieden.

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bettachtet, das Beste) ist, daß sie dieser Gewaltthätigkeit nicht einmal sroh werden, daß alle diese Handlungsgesellschaften auf dem Punkte des nahen Umsturzes stehen, daß die Zucker­ inseln, dieser Sitz der allergrausamsten und ausgedachtesten Sllaverei, keinen wahren Erttag abwerfen, sondern nur mittel­ bar und zwar zu einer nicht sehr löblichen Absicht, nämlich zu Bildung der Mattosen für Kriegsflotten und also wieder zu Führung der Kriege in Europa, dienen, und dieses Mächten, die von der Frömmigkeit viel Werks machen und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen. Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal des jüngern Anacharsis, ötcr Theil, S. 447 u. s). — Denn nach Geoigii Alph. Tibet bedeutet das Wort Concioa Gott, welches eine ausfallende Ähnlichkeit mit Konx hat, Fah-cio (ib. p. 520), welches von den Griechen leicht wie p&x ausgesprochen werden konnte, promulgator legis, die durch die ganze Natur vettheilte Gottheit (auch Cencreri genannt, p. 177). — Om aber, welches La Croze durch benedktus, gesegnet, übersetzt, kann, auf die Gottheit angewandt, wohl nichts anders als den S e l i g gepriesenen bedeuten, p. 507. Da nun P. Franz. Horatius von den tibetanischen Lamas, die er oft befrug, was sie unter Gott (Concioa) verständen, jederzeit die Antwott bekam: „Es ist die Ber sammlung aller Heiligen" (d. i. der seligen durch die lamaische Wiedergeburt nach vielen Wanderungen durch allerlei Körper endlich in die Gottheit zurückgekehrten, in Burchane, d. i. anbetungswürdige Wesen, verwandelten Seelen, p. 223), so wird jenes geheimnißvolle Wort Konx Ompax wohl das heilige (Konx), selige (Om) und weise (Päx), durch die Welt überall verbreitete höchste Wesen (die personificitte Natur) bedeuten sollen und, in den griechischen Mysterien gebraucht, wohl den M o n o t h e i s m für die Epopten im Gegensatz mit dem Poly th eism des Volles angedeutet haben; obwohl P. Horatius (a. a. O.) hierunter einen Atheism wittette. — Wie aber jenes geheimnißvolle Wort über Tibet zu den Griechen gekommen, läßt sich auf obige Att erklären und umgekehrt dadurch auch das frühe Verkehr Europens mit China über Tibet (vielleicht eher noch als mit Hindustan) wahrscheinlich machen.

durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und über­ spannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine nothwendige Ergänzung des ungeschriebenen Codex sowohl des Staatsals Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der conti« nuirlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf. Erster Zusatz. Von der Garantie des ewigen Friedens. Das, was diese Gewähr (Garantie) leistet, ist nichts Geringeres, als die große Künstlerin Natur (natura daedala rcrum), aus deren mechanischem Lause sichtbarlich Zweck­ mäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen, und darum, gleich als Nöthigung einer ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache, Schicksal, bei Erwägung aber ihrer Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objectiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten und diesen Weltlauf prädeterminirenden Ursache Vorsehung*) genannt wird, die *) Im Mechanism der Natur, wozu ber Mensch (als Sinnenwesen) mit gehört, zeigt sich eine ihrer Existenz schon zum Grunde liegende Form, die wir uns nicht anders begreiflich machen können, als indem wir ihr den Zweck eines sie vorher bestimmenden Welturhebers unterlegen, dessen Borherbestimmung wir die (göttliche) Vorsehung überhaupt und, sofern sie in den Anfang der Welt gelegt wird, die gründende (providentia conditrix; semel iusait, semper parent, Augustin.), im Laufe der Natur aber diesen nach allgemeinen Gesetzen der Zweck­ mäßigkeit zu erhalten, die waltende Vorsehung (providentia gubematrix), ferner zu besonderen, aber von dem Menschen nicht vorherzusehenden, sondern nur aus dem Erfolg vermutheten Zwecken die ! e i -

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wir zwar eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Statut erkennen, oder auch nur daraus auf sie schließen, sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf t e n d e (providentia directrix), endlich sogar in Ansehung einzelner Be­ gebenheiten als göttlicher Zwecke nicht mehr Vorsehung, sondern Fügung (directio extr&ordin&ria) nennen, welche aber (ba sie in der That auf Wunder hinweiset, obgleich die Begebenheiten nicht so genannt werden) als solche erkennen zu wollen, thörichte Vermessenheit des Menschen ist: weil aus einer einzelnen Begebenheit aus ein besonderes Princip der wirkenden Ursache (daß diese Begebenheit Zweck und nicht bloß trntur» mechanische Nebensolge aus einem anderen, uns ganz unbekannten Zwecke sei) zu schließen ungereimt und voll Eigendünkel ist, so fromm und demüthig auch die Sprache hierüber lauten mag. — Eben so ist auch die Eintheilung der Vorsehung (materialiter betrachtet), wie sie aus Gegen­ stände in der Welt geht, in die allgemeine und besondere falsch und sich selbst widersprechend (daß sie z. B. zwar eine Vorsorge zur Erhaltung der Gattungen der Geschöpfe sei, die Individuen aber dem Zufall überlasse); denn sie wird eben in der Absicht allgemein genannt, damit kein einziges Ding als davon ausgenommen gedacht werde. — Vermuthlich hat man hier die Eintheilung der Vorsehung (formaliter betrachtet) nach der Art der Aussührung ihrer Absicht gemeint: nämlich in o r d e n t l i ch e (z. B. das jährliche Sterben und Wiederaufleben der Natur nach dem Wechsel der Jahreszeiten) und außerordentliche (z. B. die Zuführung des Holzes an die Eisküsten, das da nicht wachsen kann, durch die Meersttöme für die dortigen Einwohner, die ohne das nicht leben könnten), wo, ob wir gleich die physisch-mechanische Ursache dieser Erscheinungen uns gut erklären können (z. B. durch die mit Holz bewachsene User der Flüsse der temperirten Lander, in welche jene Bäume hineinfallen und etwa durch den Golfstrom weiter verschleppt werden), wir dennoch auch die teleologische nicht übersehen müssen, die auf die Vorsorge einer über die Natur gebietenden Weisheit hinweiset. — Nur was den in den Schulen gebräuchlichen Begriff eines göttlichen Bei­ tritts oder Mitwirkung (concursas) zu einer Wirkung in der ©innen* wett betrifft, so muß dieser wegfallen. Denn das Ungleichartige paaren wollen (gryphes lungere cquis) und den, der selbst die vollständige Ursache der Wellveränderungen ist, seine eigene prädeterminirende Vorsehung während dem Weltlaufe ergänzen zu lassen (die also mangelhaft ge­ wesen sein müßte), z. B. zu sagen, daß n ä ch st G o t t der Arzt den Kranken zurecht gebracht habe, also als Beistand dabei gewesen sei, ist erstlich

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Zwecke überhaupt) nur h i n z u d e n k e n können und müssen, um uns von ihrer Möglichkeit nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen einen Begriff zu machen, deren Verhältniß und Zusammenstimmung aber zu dem Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt, (betn moralischen) sich vor­ zustellen, eine Idee ist, die zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber (z. B. in Ansehung des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden, um jenen Mechanism der Natur dazu zu benutzen) dogmatisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist. — Der Gebrauch des Worts Natur ist auch, wenn es wie hier bloß um Theorie (nicht um Religion) zu thun ist, schicklicher für die Schranken der menschlichen Vemunft (als die sich in Ansehung des Ver­ hältnisses der Wirkungen zu ihren Ursachen innerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung halten muß) und beschei­ dener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Bör­ se h u n g, mit dem man sich vermessenerweise ikarische Flügel ansetzt, um dem Geheimniß ihrer unergründlichen Absicht näher zu kommen. an sich widersprechend. Denn causa solitaria non iuvat. Gott ist der Urheber des Arztes sammt allen seinen Heilmitteln, und so muß ihm, wenn man ja bis zum höchsten, uns theoretisch unbegreiflichen Urgründe hinaufsteigen will, die Wirkung ganz zugeschrieben werden. Oder man kann sie auch ganz dem Arzt zuschreiben, so fern wir diese Begebenheit als nach der Ordnung der Natur erklärbar in der Kette der Weltursachen verfolgen. Zweitens bringt eine solche Denkungsart auch um alle bestimmte Principien der Beurtheilung eines Effects. Mer in mora­ lisch-praktischer Msicht (die also ganz aufs übersinnliche gerichtet ist), z. B. in dem Glauben, daß Gott den Mangel unserer eigenen Gerech­ tigkeit, wenn nur unsere Gesinnung ächt war, auch durch uns unbegreif­ liche Mttel ergänzen werde, wir also in der Bestrebung zum Guten nichts nachlassen sollen, ist der Begriff des göttlichen concursns ganz schicklich und sogar nothwendig; wobei es sich aber von selbst versteht, daß niemand eine gute Handlung (als Begebenheit in der Welt) hieraus zu erklären versuchen muß, welches ein vorgebliches theoretisches Erkenntniß des Übersinnlichen, mithin ungereimt ist.

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Ehe wir nun diese Gewährleistung näher bestimmen, wird es nöthig sein, vorher den Zustand nachzusuchen, den die Natur für die auf ihrem großen Schauplatz handelnde Personen veranstaltet hat, der ihre Friedenssicherung zuletzt nothwendig macht; — alsdann aber allererst die Art, wie sie diese leiste. Ihre provisorische Veranstaltung besteht darin: daß sie 1) für die Menschen in allen Erdgegenden gesorgt hat, daselbst leben zu können; — 2) sie durch Krieg allerwärts hin, selbst in die unwirthbarste Gegenden getrieben hat, um sie zu be­ völkern; 3) — durch eben denselben sie in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten genöthigt hat. — Daß in den kalten Wüsten am Eismeer noch das Moos wächst, welches dasRennthierunter dem Schnee hervorscharrt, um selbst die Nahrung, oder auch das Angespann des Ostjaken oder Samojeden zu sein; oder daß die salzichten Sandwüsten doch noch dem K a m e e l, welches zur Bereisung derselben gleich­ sam geschaffen zu sein scheint, um sie nicht unbenutzt zu lassen, enthalten, ist schon bewunderungswürdig. Noch deutlicher aber leuchtet der Zweck hervor, wenn man gewahr wird, wie außer den bepelzten Thieren am Ufer des Eismeeres noch Robben, Wallrosse und Wallfische an ihrem Fleische Nahrung und mit ihrem Thran Feurung für die dortigen Anwohner darreichen. Am meisten aber erregt die Vorsorge der Natur durch das Treibholz Bewunderung, was sie (ohne daß man recht weiß, wo es herkommt) diesen gewächslosen Gegenden zubringt, ohne welches Material sie weder ihre Fahrzeuge und Waffen, noch ihre Hütten zum Aufenthalt zurichten könnten; wo sie dann mit dem Kriege gegen die Thiere gnug zu thun haben, um unter sich friedlich zu leben.------- Was sie aber dahin getrieben hat, ist vermuthlich nichts anders als der Krieg gewesen. Das erste Kriegswerkzeug aber unter allen Thieren, die der Mensch binnen der Zeit der Erdbevöllemng zu zähmen und häuslich zu machen gelernt hatte, ist das P f e r d Kant« populäre Schriften.

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Zum ewigen Frieden.

(denn der Elephant gehört in die spätere Zeit, nämlich des Luxus schon errichteter Staaten), so wie die Kunst, gewisse sür uns jetzt ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach nicht mehr erkennbare Grasarten, Getreide genannt, anzu­ bauen, ingleichen die Vervielfältigung und Verfeinerung der Obstarten durch Verpflanzung und Einpfropfung (viel­ leicht in Europa bloß zweier Gattungen, der Holzäpfel und Holzbirnen) nur im Zustande schon errichteter Staaten, wo gesichertes Grundeigenthum statt fand, entstehen konnte, — nachdem die Menschen vorher in gesetzloser Freiheit von dem Jagd-*), Fischer- und Hirtenleben bis zum Ackerleben durchgedrungen waren, und nun Salz und Eisen er­ funden ward, vielleicht die ersten weit und breit gesuchten Artikel eines Handelsverkehrs verschiedener Völker, wodurch sie zuerst in ein friedliches Verhältniß gegen ein­ ander und so selbst mit Entfernteren in Einverständniß, Ge­ meinschaft und friedliches Verhältniß unter einander gebracht wurden. Indem die Natur nun dafür gesorgt hat, daß Menschen allerwärts auf Erden leben könnten, so hat sie zugleich auch despotisch gewollt, daß sie allerwärts leben sollten, wenn gleich wider ihre Neigung, und selbst ohne daß dieses Sollen *) Unter allen Lebensweisen ist das I a g d l e b e n ohne Zweifel der gesitteten Verfassung am meisten zuwider: weil die Familien, die sich da vereinzelnen müssen, einander bald fremd und sonach, in weitläustigen Wäldern zerstreut, auch bald feindselig werden, da eine jede zu Erwerbung ihrer Nahrung und Kleidung viel Raum bedarf. — DaS Noachifche Blutverbot, 1. M. IX, 4—6, (welches, öfters wiederholt, nachher gar den neuangenommenen Christen aus dem Heiden­ thum, obzwar in anderer Rücksicht, von den Judenchristen zur Bedingung gemacht wurde, Apost.-Gesch. XV, 20. XXI, 26) scheint uranfänglich nichts anders, als das Verbot des Jägerlebens gewesen zu sein: weil in diesem der Fall, das Fleisch roh zu essen, oft eintreten muß, mit dem letzteren also das erstere zugleich verboten wird.

Zum ewigen Frieden.

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zugleich einen Pflichtbegriff voraussetzte, der sie hiezu der» mittelst eines moralischen Gesetzes verbände, — sondern sie hat, zu diesem ihrem Zweck zu gelangen, den Krieg gewählt. — Wir sehen nämlich Völker, die ander Einheit ihrer Sprache die Einheit ihrer Abstammung kennbar machen, wie die Sa­ mo j e d e n am Eismeer einerseits und ein Volk von ähnlicher Sprache, zweihundert Meilen davon entfernt, im Altaischen Gebirge andererseits, wozwischen sich ein anderes, nämlich mongolisches, berittenes und hiemit kriegerisches Volk, gedrängt und so jenen Theil ihres Stammes weit von diesem in die unwirthbarsten Eisgegenden versprengt hat, wo sie gewiß nicht aus eigener Neigung sich hin verbreitet hätten *); — eben so die Finnen in der nördlichsten Gegend von Europa, Lappen genannt, von den jetzt eben so weit ent­ fernten, aber der Sprache nach mit ihnen verwandten Un­ gern durch dazwischen eingedrungene gothische und sarmatische Völker getrennt; und was kann wohl anders die Eskimos (vielleicht uralte europäische Abenteurer, ein von allen Amerikanern ganz unterschiedenes Geschlecht) im Norden und die P e s ch e r ä s im Süden von Amerika bis zum Feuerlande Hingetrieben haben, als der Krieg, dessen sich die Natur als Mittel bedient, die Erde allerwärts zu bevölkem? Der Krieg aber selbst bedarf keines besondern Bewegungsgrundes, *) Man tonnte fragen: Wenn die Natur gewollt hat, diese Eisküsten sollten nicht unbewohnt bleiben, was wird aus ihren Bewohnern, wenn sie ihnen dereinst (wie zu erwarten ist) kein Treibholz mehr zuführte? Denn es ist zu glauben, daß bei fortrückender Cultur die Einsassen der temperirten Erdstriche das Holz, was an den Ufern ihrer Ströme wächst, besser benutzen, es nicht in die Ströme fallen und so in die See weg­ schwemmen lassen werden. Ich antworte: Die Anwohner desObstroms, des Jenissei, des Lena u. s. w. werden es ihnen durch Handel zuführen und dafür die Produkte aus dem Thierreich, woran das Meer an den Eisküsten so reich ist, einhandeln, wenn sie (die Natur) nur allererst den Frieden unter ihnen erzwungen haben wird.

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Zum eitrigen Frieden.

sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehr­ trieb ohne eigennützige Triebfedern beseelt wird, zu gelten: so daß Kriegesmuth (von amerikanischen Wilden so­ wohl, als den europäischen in den Ritterzeiten) nicht bloß, wenn Krieg ist (wie billig), sondem auch, daß Krieg sei, von unmittelbarem großem Werch zu sein geurtheilt wird, und er oft, bloß um jenen zu zeigen, angefangen, mithin in dem Kriege an sich selbst eine innere Würde gesetzt wird, sogar daß ihm auch wohl Philosophen, als einer gewissen Veredelung der Menschheit, eine Lobrede halten uneingedenk des Ausspruchs jenes Griechen: „Der Krieg ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt." — So viel von dem, was die Statut für ihren eigenen Zweck in Ansehung der Menschengattung als einer Thier­ klasse thut. Jetzt ist die Frage, die das Wesentliche der Absicht auf den ewigen Frieden betrifft: Was die Natur in dieser Absicht be­ ziehungsweise auf den Zweck, den dem Menschen seine eigene Vernunft zur Pflicht macht, mithin zu Begünstigung seiner moralischen Absicht thue, und wie sie die Gewähr leiste, daß dasjenige, was der Mensch nach Freiheitsgesetzcn thun sollte, aber nicht thut, dieser Freiheit unbeschadet auch durch einen Zwang der Natur, daß er es thun werde, gesichert sei, und zwar nach allen drei Verhältnissen des öffent­ lichen Rechts, des Staats-, Völker- und weit* bürgerlichen Rechts. — Wenn ich von der Natur sage: sie w i l l, daß dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie t h u t es selbst, wir mögen wollen oder nicht (fata volentem ducunt, nolentem trahunt). 1. Wenn ein Volk auch nicht durch innere Mißhelligkeit

genöthigt würde, sich unter den Zwang öffentlicher Gesetze zu begeben, so würde es doch der Krieg von außen thun, indem nach der vorher erwähnten Naturanstalt ein jedes Volk ein anderes es drängende Volk zum Nachbar vor sich findet, gegen das es sich innerlich zu einem Staat bilden muß, um als Macht gegen diesen gerüstet zu sein. Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten ist, dermaßen daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit chren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären. Wer nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohn­ mächtigen allgemeinen, in der Bemunft gegründeten Willen und zwar gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen zu Hülse, so daß es nur auf eine gute Organisation des Staats ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, daß eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: „Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Ver­ fassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnun­ gen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten." Ein solches Problem muß a u f l ö s l i ch sein. Denn es ist nicht die mo-

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Zum ewigen Frieden.

ralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen.

Man kann dieses auch an den wirklich

vorhandenen, noch sehr unvollkommen organisirten Staaten sehen, daß sie sich doch im äußeren Verhalten dem, was die Rechtsidee vorschreibt, schon sehr nähern, obgleich das Innere der Moralität davon sicherlich nicht die Ursache ist (wie denn auch nicht von

dieser die gute Staatsverfassung,

sondern

vielmehr umgekehrt von der letzteren allererst die gute mora­ lische Bildung eines Volks zu erwarten ist), mithin der Mechanism der Natur durch selbstsüchtige Neigungen, die natür­ licherweise einander auch äußerlich entgegen wirken, von der Vernunft zu einem Mittel gebraucht werden kann, dieser ihrem eigenen Zweck, der rechtlichen Vorschrift, Raum zu machen und hiemit auch, soviel an dem Staat selbst liegt, den inneren sowohl als äußeren Frieden zu befördern und zu sichern. — Hier heißt es also: Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte.

Was man nun hier ver­

absäumt zu thun, das macht sich zuletzt selbst, obzwar mit viel Ungemächlichkeit. — „Biegt man das Rohr zu stark, so brichts; und wer zu viel will, der will nichts."

Bouterwek.

2. Die Idee des Völkerrechts setzt die A b s o n d e r u n g vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten vor­ aus; und obgleich ein solcher Zustand an sich schon ein Zustand des Krieges ist (wenn nicht eine föderative Bereinigung der­ selben dem Ausbruch der Feindseligkeiten vorbeugt): so ist doch selbst dieser nach der Bernunftidee besser als die Zu­ sammenschmelzung

derselben durch eine die andere über­

wachsende und in eine Universalmonarchie übergehende Macht,

weil die Gesetze mit dem vergrößerten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie verfällt. Indessen ist dieses das Ver­ langen jedes Staats (oder seines Oberhaupts), auf diese Art sich in den dauernden Friedenszustand zu versetzen, daß er wo möglich die ganze Welt beherrscht. Aber die Natur w i l l es anders. — Sie bedient sich zweier Mittel, um Völker von der Vermischung abzuhalten und sie abzusondern, der Verschiedenheit der S P r a ch e n und der R e l i g i o n e n *), die zwar den Hang zum wechselseitigen Hasse und Vorwand zum Kriege bei sich führt, aber doch bei anwachsender Cultur und der allmähligen Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Principien zum Einverständnisse in einem Frieden leitet, der nicht wie jener Despotism (auf bent Kirch­ hofe der Freiheit) durch Schwächung aller Kräfte, sondern durch ihr Gleichgewicht im lebhaftesten Wetteifer derselben hervorgebracht und gesichert wird. 3. So wie die Natur weislich die Völker trennt, welche der Wille jedes Staats und zwar selbst nach Gründen des Völker­ rechts gern unter sich durch List oder Gewalt vereinigen möchte: so vereinigt sie auch andererseits Völker, die der Begriff des Weltbürgerrechts gegen Gewaltthätigkeit und Krieg nicht würde gesichert haben, durch den wechselseitigen Eigennutz. *) Verschiedenheit der Religionen: ein wunder­ licher Ausdruck! gerade als ob man auch von verschiedenen Moralen spräche. Es kann wohl verschiedene Glaubensarten historischer, nicht in die Religion, sondern in die Geschichte der zu ihrer Beförderung gebrauchten, ins Feld der Gelehrsamkeit einschlagender Mittel und eben so verschiedene Religionsbücher (Zendavesta, Bedam, Koran li. s. w.) geben, aber nur eine einzige für alle Menschen und in allen Zeiten gültige Religion. Jene also können wohl nichts anders als nur das Vehikel der Religion, was zufällig ist und nach Verschiedenheit der Zeiten und Orter verschieden sein kann, enthalten.

Es ist der Handelsgei st, der mit dem Kriege nicht zu­ sammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die G e l d m a ch t wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl nicht eben durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen ab­ zuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen; denn große Vereinigungen zum Kriege können der Natur der Sache nach sich nur höchst selten zutragen und noch seltener glücken.------- Auf die Art garantirt die Natur durch den Mechanism der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu w e i s s a g e n, aber doch in praktischer Absicht zulangt und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.

Zweiter Zusatz. Geheimer Artikel zum ewigen Frieden. Ein geheimer Artikel in Verhandlungen des öffentlichen Rechts ist objectiv, d. i. seinem Inhalte nach betrachtet, ein Widerspmch; subjektiv aber, nach der Qualität der Person beurtheilt, die ihn dictirt, kann gar wohl darin ein Geheimniß statt haben, daß sie es nämlich für ihre Würde bedenklich findet, sich öffentlich als Urheberin desselben anzukündigen. Der einzige Artikel dieser Art ist in dem Satze enthalten: DieMaximender Philosophenüber die Bedingungn der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rathe gezogen werden.

Zum ewigen Frieden.

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Es scheint aber für die gesetzgebende Autorität eines Staats, dem man natürlicherweise die größte Weisheit bei­ legen muß, verkleinerlich zu sein, über die Grundsätze seines Verhaltens gegen andere Staaten bei Unterthanen (den Philosophen) Belehrung zu suchen; gleichwohl aber sehr rathsam es zu thun. Also wird der Staat die letztere st i l I s ch w e i gend (also indem er ein Geheimniß daraus macht) dazu auffordern, welches soviel heißt als: er wird sie frei und öffentlich über die allgemeine Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung reden lassen (denn das werden sie schon von selbst thun, wenn man es ihnen nur nicht ver­ bietet), und die Übereinkunft der Staaten unter einander über diesen Punkt bedarf auch keiner besonderen Verabredung der Staaten unter sich in dieser Absicht, sondern liegt schon in der Verpflichtung durch allgemeine (moralisch-gesetzgebende) Men­ schenvernunft. — Es ist aber hiemit nicht gemeint: daß der Staat den Grundsätzen des Philosophen vor den Aussprüchen des Juristen (des Stellvertreters der Staatsmacht) den Vor­ zug einräumen müsse, sondern nur daß man ihn h ö r e. Der letztere, der die Wage des Rechts und neben bei auch das Schwert der Gerechtigkeit sich zum Symbol gemacht hat, bedient sich gemeiniglich des letzteren, nicht um etwa blos alle fremde Einflüsse von dem ersteren abzuhalten, sondern wenn die eine Schale nicht sinken will, das Schwert mit hinein zu legen (va