Studien zur Religionsphilosophie Immanuel Kants 9783110788099, 9783110788013

Kant’s critical philosophy has had complex consequences for religion: on the one hand, Kant grounded the morality of rel

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Studien zur Religionsphilosophie Immanuel Kants
 9783110788099, 9783110788013

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Teil 1: Religion und Moral
Zur Unmöglichkeit eines theoretischen und zur Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises
Zum Entwicklungsstand der Rationaltheologie Kants in seiner Vorlesung im Wintersemester 1783/84
Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee einer Ethikotheologie
Führt Moral unausbleiblich zur Religion?
Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
Teil 2: Religion und Offenbarung
Offenbarung – nicht jedermanns Sache
Über den aufgeklärten Umgang mit Gottes Wort
Kants Kritik religiöser Gefühle
Kant über das Ende der historischen Religionen
Teil 3: Religion und Christentum
Kant über das Böse
Die personifizierte Idee des Guten
Die Rolle der Gottesidee in Kants Konzeption des ethischen Gemeinwesens
Kants Projekt der unsichtbaren Kirche als Aufgabe zukünftiger Aufklärung
Teil 4: Religion und Gesellschaft
Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen
Kant über moralische, juridische und religiöse Gesetze
Kant zum Verhältnis von Staat und Religion
Eine neuere Religionsauffassung im Licht einer älteren
Nachweise der Erstveröffentlichung
Personenregister

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Bernd Dörflinger Studien zur Religionsphilosophie Immanuel Kants

Bernd Dörflinger

Studien zur Religionsphilosophie Immanuel Kants Herausgegeben von Dieter Hüning und Stefan Klingner

ISBN 978-3-11-078801-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078809-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078823-5 Library of Congress Control Number: 2023937753 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Titelblatt der Ausgabe Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von Immanuel Kant, 1793, Königsberg, UB Tübingen, 4 A 9255. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

VII

Teil 1: Religion und Moral Zur Unmöglichkeit eines theoretischen und zur Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises 3 Zum Entwicklungsstand der Rationaltheologie Kants in seiner Vorlesung im Wintersemester 1783/84 15 Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee 27 einer Ethikotheologie Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants 41 Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts 57

Teil 2: Religion und Offenbarung Offenbarung – nicht jedermanns Sache Kants Kritik der historischen Religionen

83

Über den aufgeklärten Umgang mit Gottes Wort Kant zur Auslegung „heiliger“ Schriften 107 Kants Kritik religiöser Gefühle

123

Kant über das Ende der historischen Religionen

135

VI

Inhalt

Teil 3: Religion und Christentum Kant über das Böse

153

Die personifizierte Idee des Guten Zugleich ein Beitrag zu Kants Christologie

179

Die Rolle der Gottesidee in Kants Konzeption des ethischen Gemeinwesens 191 Kants Projekt der unsichtbaren Kirche als Aufgabe zukünftiger Aufklärung 207

Teil 4: Religion und Gesellschaft Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen

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Kant über moralische, juridische und religiöse Gesetze Kant zum Verhältnis von Staat und Religion

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Eine neuere Religionsauffassung im Licht einer älteren Habermas und Kant 265 Nachweise der Erstveröffentlichung Personenregister

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Vorwort Die Konsequenzen der kritischen Philosophie Kants für die Religion sind ambivalent: Einerseits erhält die Religion allererst durch die Auslotung der Grenzen des Wissens ihren exklusiven „Platz“ (KrV, B XXIX f.) – und zwar in dem Nachweis, dass ihre wesentlichen Ideen nicht nur „keine innere Unmöglichkeit“ beinhalten, sondern „vermittelst des Begriffs der Freiheit“ als objektiv anzuerkennen sind (KpV, 05: 5 f.). Für das einzelne Subjekt bedeutet dies Kant zufolge, seine theoretischen Zweifel an den zentralen Ideen der Religion beiseitezustellen und „ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ an deren Stelle zu setzen (KU, 05: 472 f.). Andererseits stützt sich ein solches Glauben „auf keine andere Data […] als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO, 08: 141). Solche Data sind aber nicht gerade zahlreich, sondern mit dem ‚höchsten Gut‘ und seinen beiden Realisierungsbedingungen ‚Gott‘ und ‚Unsterblichkeit‘ bereits vollständig aufgezählt. Insofern ein „Vertrauen“ auf die Realisierbarkeit des höchsten Guts jedes um Moralität bemühte Subjekt auszeichnet, schrumpft die Bedeutung der Religion schließlich auf ein Mittel zur Beförderung des „guten Lebenswandel[s]“ (RGV, 06: 170–175), der neben dem Bemühen um Moralität nur noch ein paar wenige besondere Überzeugungen über eine moralische Weltursache und ein jenseitiges Leben mit sich bringt. Kurzum: Nach der Emanzipation der Moralphilosophie von theologischen Voraussetzungen verbleibt dem Kirchenglauben und seinen heiligen Texten nur noch die Rolle eines „Vehikels für den reinen Religionsglauben“ (RGV, 06: 118). Diese Ambivalenz ermöglicht verschiedenste Rezeptionsmöglichkeiten. Vor allem Kants Qualifikation der Überzeugungen von der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele als „Data“ reiner Vernunft, aber auch seine Deutung zentraler christlicher Theologoumena „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ stellen bis heute Ausgangspunkt für theologisierende Interpretationen und Inanspruchnahmen in christlich-apologetischer Absicht dar.¹ In der Kantforschung

1 Für die angelsächsische Kant-Rezeption war hier vor allem Michel Despland: Kant on History and Religion (McGill-Queen’s University Press 1973) richtungsgebend. Despland sieht Kants Religionskonzeption gerade nicht allein in reiner Vernunft, sondern in einer historisch belehrten und der Offenbarung bedürftigen Vernunft begründet (ebd., chap. 6 und 9). Vgl. auch die Interpretationen in Stephen R. Palmquist: Kant’s Critical Religion (Ashgate 2000) und Chris L. Firestone: Kant and Theology at the Boundaries of Reason (Ashgate 2009). In der deutschsprachigen Theologie ist Kant nahezu durchgehend ein relevanter Referenzautor. Zur wechselhaften Geschichte der Rezeption durch die katholische Theologie siehe die Beiträge in Norbert Fischer (Hrsg.): Kant und der Katholizismus (Freiburg u. a. 2005), für exemplarische Überlegungen zu Kants kritischer Philosophie aus protestantisch-theologischer Sicht siehe etwa Werner Thiede (Hrsg.): Glauben aus eigener Verhttps://doi.org/10.1515/9783110788099-001

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Vorwort

selbst ist es dagegen ein anhaltender Streitpunkt, wie das Verhältnis von Kants Lehre vom höchsten Gut zu seiner kritischen Moralphilosophie präzise zu bestimmen ist und wie sich der Zusammenhang der Postulatenlehre und Kants Auslegungen in der Religionsschrift am besten rekonstruieren lässt.² Angesichts dieser Lage ist es kein Wunder, dass jenseits der theologisch oder exegetisch motivierten Beschäftigung mit Kants Religionsphilosophie verschiedenste Einschätzungen ihres sachlichen Gehalts kursieren. So ist sie – um nur drei Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen – als Aufklärung im Sinne einer säkularisierenden Übersetzung des moralischen Gehalts des Christentums,³ als Strategie der „Anerkennung unverfügbarer Daseinskontingenz“⁴ oder als Ansatz für eine transzendentale Theorie von Weltanschauungsentwürfen⁵ interpretiert worden. Die Klärung des komplexen Verhältnisses der kritischen Philosophie zur Religion und die Einschätzung des sachlichen Gehalts der aus ihm erwachsenden Religionsphilosophie erfordern also sowohl sorgfältige Analysen der relevanten Überlegungen Kants als auch deren konsequentes Weiterdenken im Kontext einer veränderten historischen Situation. In den vergangenen zwanzig Jahren hat Bernd Dörflinger zahlreiche Studien vorgelegt, die beiden Erfordernissen entsprechen. Sie sind in zweifacher Hinsicht sogar mustergültig: Erstens verfolgen sie nicht nur eine exegetisch-analytische Absicht – im Unterschied zum Gros der immer schulmäßiger werdenden Kantforschung. Zwar zeugen seine Interpretationen zentraler Lehrstücke der kantischen Religionsphilosophie von einer engen Vertrautheit mit dem Œuvre Kants und hermeneutischem Geschick im Umgang mit diesem. Allerdings erschöpfen sie sich nicht im Herausarbeiten eines bestimmten sachlichen Details oder dem Nachvollziehen einer Entwicklung in Kants Denken, sondern rekonstruieren den jeweils thematisch rele-

nunft? (Göttingen 2004), und aus katholisch-theologischer Sicht etwa Georg Essen/Magnus Striet (Hrsg.): Kant und die Theologie (Darmstadt 2005). 2 Die Unabhängigkeit der kritischen Moralphilosophie und der Lehre vom höchsten Gut betonte etwa Klaus Düsing: „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“. In: KantStudien 62 (1971), 5–42. Die enge Verklammerung von kritischer Moralphilosophie, Postulatenlehre und Kants Auslegungen in der Religionsschrift hat besonders Allen Wood: Kant’s Moral Religion (Cornell University Press 1970) hervorgehoben, was sich bis in die jüngere Zeit fortschreibt (siehe etwa Lawrence Pasternack: Kant’s Religion within the Boundaries of Mere Reason. Routledge 2014). 3 So in jüngerer Zeit wieder Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie (Frankfurt a. M. 2019, z. B. Bd. 2, 304 f.). Siehe zu dieser Interpretation auch die kritischen Bemerkungen von Bernd Dörflinger im vorliegenden Band (253–267). 4 So Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung. München 32004, 214–218. 5 So Reinhard Hiltscher: „Zur systematischen Stellung geltungsfähiger religiöser Sätze in Kants Urteilslehre. Eine kritische Rekonstruktion“. In: Grundlagen der Religionskritik. Hrsg. von Thomas Göller. Würzburg 2017, 107–142.

Vorwort

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vanten Punkt mit Kant über Kant hinaus, nämlich bezogen auf die noch heute aktuellen großen religionsphilosophischen Fragen wie nach dem Verhältnis von Moral und Religion, von Vernunft und Offenbarung oder von Religion und Gesellschaft. Zweitens verleiht die Betonung des kritischen Impetus der kantischen Überlegungen den Interpretationen Dörflingers ihr besonderes Profil. Denn das Hinausgehen über den kantischen Buchstaben ist in allen seinen Studien nicht metaphysisch und erst recht nicht theologisch motiviert. Nüchtern und beharrlich verweist er auf die epistemischen Grenzen und die moralischen Ansprüche bzw. Interessen menschlicher Vernunft und lotet vor diesem Hintergrund die Überlegungen Kants in ihrem kritischen Potential angesichts der anhaltenden Gefahren – und partiellen Wirklichkeit – von religiösem Fundamentalismus sowie dessen politischer Einflussnahme aus. Kants Religionsphilosophie räumt den zentralen religiösen Ideen und dem Glauben an sie eben nicht nur ihren „Platz“ ein, sondern weist ihnen auch systematisch bestimmte Grenzen, vor allem in rechtlicher Hinsicht, zu. Die Studien Bernd Dörflingers zur kantischen Religionsphilosophie führen somit eindringlich vor Augen, wie Kant die religiösen Geltungsansprüche einhegt und seiner Religionsphilosophie bis heute Aktualität zukommt. Da sie verstreut publiziert worden und die Bücher, in denen sie abgedruckt wurden, zum Teil vergriffen sind, lag es für uns nahe, sie gemeinsam in einem Band wieder zu veröffentlichen. Gemeinsam mit einem bisher unveröffentlichten Aufsatz entsteht das Gesamtbild einer Interpretationsperspektive, die sowohl für die Kantforschung als auch für alle an Kants Religionsphilosophie Interessierte relevant ist. Der 70. Geburtstag Bernd Dörflingers ist die Gelegenheit, dieses Gesamtbild der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir hoffen vor allem, dass es inspirierend für eine anhaltende Beschäftigung mit Kants kritischer Philosophie wirken wird. Wir danken dem Verlag für die Bereitschaft, das Vorhaben in dieser Form umzusetzen, und Elfriede Martin (Trier) für ihre organisatorische Unterstützung. Die Schriften Kants werden nach der Akademie-Ausgabe unter Nennung der üblichen Siglen, gefolgt von der Band- und Seitenzahl zitiert. Angaben zur Erstveröffentlichung der Beiträge wurden ans Ende des Bandes gestellt. Die Gliederung beruht auf einem Vorschlag unsererseits zur besseren Übersicht für die Leserinnen und Leser über Bernd Dörflingers Interpretationsperspektive. Frühlingsanfang 2023 Die Herausgeber

Teil 1: Religion und Moral

Zur Unmöglichkeit eines theoretischen und zur Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises Wenn die Frage ist, welche Totalitätsidee bzw. welche spezielle Idee von einem Unbedingten im dritten Hauptstück der transzendentalen Dialektik der ersten Kritik thematisch ist, scheint die Antwort sehr nahe zu liegen. Es ist die Gottesidee, ist man sofort geneigt zu sagen, denn bekanntlich setzt Kant sich hier mit der rationalen Theologie, einem der drei traditionellen Zweige der metaphysica specialis, auseinander, und ebenso offensichtlich diskutiert er hier drei Gottesbeweise aus der Tradition dieser Disziplin. Es ist allerdings auffallend, dass Kant in den Abschnitten, die der Kritik an den Beweisversuchen vorangehen und die näherhin erläutern, was das durch die spezielle Totalitätsidee Gedachte sein soll, nur einmal die Bezeichnung „Gott“ wählt – und das in der bloßen Ankündigung, für später sei die vollständige Bestimmung des Begriffs „Gott, in transzendentalem Verstande“, inklusive aller „Prädikamente“ (KrV, A 580/B 608), zu erwarten. Ansonsten findet er für das besagte Unbedingte der speziellen Idee eine Vielfalt von anderen Bezeichnungen, die allerdings nicht alle auf Anhieb informativ sind, z. B. die vom „Wesen aller Wesen“ (KrV, A 334/B 391). Der offizielle Name lautet „Ideal der Vernunft“ (KrV, A 570/B 598), wodurch gesagt sein soll, dass der gedachte Gegenstand „in individuo“ (KrV, A 568/B 596) gedacht ist, d. h. als ein einzelner und einziger. An anderer Stelle wird dieses Ideal auch „transzendentales Substratum“ genannt, welches „gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes [enthält], daher alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden können“, was „nichts anders“ sei als „die Idee von einem All der Realität“ (KrV, A 575 f./B 603 f.). Dem entspricht, dass es als ens realissimum (vgl. KrV, A 576/B 604) und als „Inbegriff aller Prädikate der Dinge“ (KrV, A 572/B 600) bzw. als „Inbegriff[] aller Realität“ (KrV, A 577/B 605) bezeichnet ist. Um „genau zu reden“, wie er sagt, korrigiert Kant seine Rede vom Inbegriff dann aber an anderer Stelle, denn sie könnte das Missverständnis nahelegen, „das Urwesen“ sei „ein bloßes Aggregat“ (KrV, A 579/ B 607). Um derartige Vorstellungen eines zusammengesetzten Urwesens fernzuhalten, will er es hier lieber „als Grund und nicht Inbegriff“ (KrV, A 579/B 607) verstanden wissen. Die dieser Präzisierung Rechnung tragenden Bezeichnungen des Urwesens lauten etwa: „Urgrund aller Dinge“ (KrV, A 586/B 614) oder „Ursache vom Weltganzen“ (KrV, A 678/B 706). Statt vom Grund zuweilen von der Ursache zu sprechen, legt kaum die Gefahr der Verwechslung nahe, es könne sich um eine Ursache innerweltlicher Art im Sinne der Kategorie der Kausalität handeln, wonach eine Erscheinung eine andere Erscheinung bewirkt. Denn indem die Ursache als https://doi.org/10.1515/9783110788099-002

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Teil 1: Religion und Moral

diejenige gedacht ist, auf die zurückzuführen ist, dass überhaupt etwas erscheint (und nicht vielmehr nichts), kann sie nicht selbst Erscheinung sein, kann also nicht als sensibler, sondern muss als intelligibler Grund gedacht sein, als etwas „außerhalb der Welt“ (KrV, A 618/B 646). Die wesentlichen bisherigen Bestimmungen zusammenfassend, kann gesagt werden, dass das in Rede stehende Urwesen als der eine einzige einfache (nicht zusammengesetzte) und intelligible (nicht sensible) Grund aller mundanen sachhaltigen Erscheinungen gedacht ist. Angesichts dieser Bestimmungen verstärkt sich der Zweifel daran, dass mit dem gedachten Urwesen Gott gedacht sein könnte. Kants Zurückhaltung, es Gott zu nennen, wird also verständlich. So ist etwa nicht ersichtlich, welchen positiven Gehalt der Ausdruck „intelligibler Grund“ haben könnte, welchen Gehalt also über denjenigen hinaus, dass es sich um keinen sensiblen Grund handeln soll. Es wäre voreilig, den intelligiblen Grund sogleich für einen intelligenten Grund zu halten. Von dem her betrachtet, wofür der Grund Grund sein soll, nämlich für das Auftreten von Erscheinungen, kann er legitimerweise bloß unbestimmt als Grund anderer Art gedacht werden. Über das Prädikat der Intelligenz hinaus gibt es auch keinen Anlass, dem „Urgrund aller Dinge“ (KrV, A 586/B 614) etwa Wille oder Personalität, das sind zwei weitere traditionelle Gottesprädikate, zuzuschreiben, ganz zu schweigen von moralischen Prädikaten, die für spekulative Vernunft gar nicht thematisch werden können. Bei näherer Betrachtung des ontologischen Beweises, des ersten der von Kant kritisierten drei Beweise, bestätigt sich der bisherige Befund der Unbestimmtheit der vermeintlichen Gottesidee. Der diesem Beweis zugrunde liegende Totalitätsbegriff eines Unbedingten ist der auf einen einzigen Aspekt reduzierende „Begriff des allerrealsten Wesens“ (KrV, A 595/B 623). Der gesuchte intelligible Grund ist nur unter dem Gesichtspunkt thematisch, dass er dazu fähig sein soll, die Realität, d. h. die Sachhaltigkeit aller Erscheinungen, zu begründen. Das Beweisziel des ontologischen Beweises ist die absolutnotwendige Existenz des allerrealsten Wesens. Das ist nicht bloß dessen faktische Existenz; es soll als etwas erschlossen werden, „dessen Nichtsein unmöglich ist“ (KrV, A 593/B 621). Das Argument nun, das entscheidend sein soll, lautet in aller Kürze: „Nun ist unter aller Realität auch das Dasein mit begriffen“ (KrV, A 596/B 624). In seiner Widerlegung des Beweises kritisiert Kant die Verwendung beider Elemente des Begriffs einer absolutnotwendigen Existenz. Er bestreitet, dass etwas schlechthin bzw. absolut Notwendiges erkannt werden kann, macht also von Ergebnissen seiner kritischen Erkenntnislehre Gebrauch, indem er sagt, wir hätten „alle Bedingungen des Verstandes, sich einen Begriff von einer solchen Notwendigkeit zu machen, gänzlich wider uns“ (KrV, A 592/B 620). Der Verstand erkennt dieser Lehre zufolge immer nur Bedingt-Notwendiges, keine ersten intelligiblen Gründe, sondern gemäß der Kategorie der Kausalität nur Gründe als Ursachen in

Unmöglichkeit eines theoretischen und Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises

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der Erscheinung, die ihrerseits als Wirkungen immer wieder selbst Ursachen in der Erscheinung haben. Auch der Existenzbegriff ist nach Kant im ontologischen Beweis unkritisch verwendet und in seiner Eigenart verfehlt. Die unkritische Verwendung, wodurch die Restriktionen der menschlichen Erkenntnis nicht beachtet sind, besteht darin, dass in ihm die Beziehung auf Wahrnehmung fallengelassen wird, ohne welche Beziehung nichts als existierend erkannt werden kann. Die im ontologischen Beweis nicht beachtete Besonderheit des Existenzbegriffs besteht darin, dass Existenz erstens kein reales Prädikat ist (vgl. KrV, A 598/B 626) und zweitens kein analytisches, sondern ein synthetisches (vgl. KrV, A 599/B 627). Kein reales Prädikat zu sein, will sagen, dass das Prädikat sachlich uninformativ ist und also den Merkmalen, die den Inhalt eines Begriffs angeben, nichts Inhaltliches hinzufügt. Durch analytische Urteile in Hinsicht auf den Inhalt von Begriffen kann demnach über die Existenz der durch sie gedachten Gegenstände nichts ermittelt werden. In Urteilen, die den Existenzindikator„sein“ enthalten, wird durch diesen „bloß die Position eines Dinges […] an sich selbst“ (KrV, A 598/B 626) ausgedrückt, d. h. dass das Ding kein bloß gedachtes in der Immanenz des Denkens ist, sondern hinzukommend zum Gedacht-Sein existiert. Sie behaupten, anders gesagt, dass „der Gegenstand nicht bloß in meinem Begriff analytisch enthalten [ist], sondern […] zu meinem Begriffe […] synthetisch hinzu[kommt]“ (KrV, A 599/B 627). Solches Setzen des Gegenstandes über das Denken hinaus ist nun Kant zufolge nur in der Sphäre der Erscheinungen möglich, d. h. in der Sphäre der empirischen Anschauungen. Es ist nur als das Setzen des Gegenstandes der Erfahrung mittels Erfahrungsurteilen möglich. Das ontologische Argument ist, zusammenfassend gesprochen, nicht beweiskräftig, weil es die Restriktion der Erkenntnis auf das Bedingt-Notwendige nicht beachtet, weil es die Bedingung der Beziehung auf Anschauung, unter der diese Erkenntnis steht, fallen lässt und auch ein bloßes Gedankending für erkennbar hält. Existenz wird in diesem Argument fälschlicherweise als ein reales analytisches Prädikat unterstellt. Grundlegender noch musste in Zweifel gezogen werden, ob die Idee, von der es in seiner Beweisabsicht ausgeht, d. i. die Idee des allerrealsten Wesens, überhaupt die adäquate Gottesidee ist. Wenn sie es nicht ist, dann wäre auch nach einem etwaigen Gelingen des Beweises nicht Gott bewiesen gewesen und Ontotheologie schon aus dem Grund ihrer inadäquaten Gottesidee unmöglich. Dass auch Kosmotheologie nicht möglich ist, muss nicht ausführlich behandelt werden, denn es ist Kant zufolge „eigentlich nur der ontologische Beweis aus lauter Begriffen, der in dem sogenannten kosmologischen alle Beweiskraft enthält“ (KrV, A 607/B 635). Zwar beginne der kosmologische Beweis damit, „unbestimmte Erfahrung, d. i. irgend ein Dasein, empirisch zum Grunde“ (KrV, A 590/B 618) zu legen und gebe sich so „das Ansehen, als sei er vom ontologischen Beweise unterschieden“

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Teil 1: Religion und Moral

(KrV, A 606/B 634), doch trage dieser Beginn bei der Erfahrung dazu, um zum „Dasein eines notwendigen Wesens“ zu kommen, nichts bei und lehre auch nicht, „[w]as dieses für Eigenschaften habe“ (KrV, A 606/B 634). Indem auch der kosmologische Beweis letztlich den „Begriff eines Wesens von der höchsten Realität“ voraussetzt und von diesem bloßen Gedanken her auf die „Notwendigkeit im Dasein“ (KrV, A 607/B 635) dieses Wesens schließt, unterliegt er denselben Widerlegungsgründen wie der ontologische Beweis, etwa dem, dass Dasein als synthetisches Prädikat bloß aus Gedanken nicht herzuleiten ist. Indem der maßgebliche Totalitätsbegriff bzw. die zentrale Idee des kosmologischen Beweises wie im Fall des ontologischen das ens realissimum ist, unterliegt er auch demselben Einwand wie dieser, dass nämlich diese Idee der Gottesidee nicht adäquat ist.¹ Anders als der kosmologische ist der physikotheologische Beweis der näheren Betrachtung wert, denn dieser beginnt bei einer „bestimmten Erfahrung und der dadurch erkannten besonderen Beschaffenheit der Sinnenwelt“ (KrV, A 590/B 618). Er verliert die Spezifik dieser bestimmten Erfahrung im Beweisgang auch nicht aus den Augen, was die Auswirkung hat, dass das Urwesen schließlich auf modifizierte Art gedacht wird, nicht bloß als ens realissimum. Die Sphäre der Gegenstände der angesprochenen bestimmten Erfahrung ist in erster Linie die der belebten Natur. Vorzugsweise die Lebewesen werden durch den beginnenden Physikotheologen als „Zeichen einer Anordnung nach bestimmter Absicht“ (KrV, A 624/B 653) gedeutet, als Manifestationen planmäßiger Hervorbringung, die auch intern die Wirksamkeit einer Kausalitätsart aufweisen, die die nach der Kategorie der Kausalität geregelte Natur übertrifft. Die der Kategorie der Kausalität entsprechende Kausalitätsart ist die des blindwirkenden Mechanismus, d. i. ein Wirken ohne Absicht. Die durch den Physikotheologen unterstellte Kausalitätsart ist die teleologische nach Zwecken, durch die der nexus finalis angenommen ist, d. h. also Ursachen sind angenommen, die auf ihre Wirkungen hinzielen bzw. diese antizipieren. Er meint die „Analogie einiger Naturprodukte mit dem“ festzustellen, „was menschliche Kunst hervorbringt“ (KrV, A 626/B 654), also Artefakte, z. B. Uhren, die auf dem Plan des Uhrmachers beruhen und in denen alle Teile auf einen Zweck hin finalisiert sind. Nun sind aber die thematischen Naturprodukte keine menschlichen Artefakte. Dies und

1 Hinsichtlich des Begriffs des ens realissimum hat Klaus Düsing dessen Unbestimmtheit, dessen Leere also, konsequent herausgearbeitet, denn welches positive Prädikat sollte noch gedacht sein, wenn alle Realitäten unterschiedslos als in einem Wesen vereint gedacht sind (vgl. „Kritik der Theologie und Gottespostulat bei Kant“. In: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants. Hrsg. von Norbert Fischer und Maximilian Forschner. Freiburg, Basel, Wien, 2010, 57–71. hier 62). Insgesamt kann ihm zufolge aus Kants theoretischer Gottesidee, was dieser selbst allerdings in der ersten Kritik nicht kenntlich macht, nur „negative Theologie“ resultieren, d. i. „Theologie der Unfaßbarkeit und Unaussagbarkeit des Urprinzips“ (63).

Unmöglichkeit eines theoretischen und Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises

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die anderen genannten Voraussetzungen bringen den Physikotheologen zur Konklusion, die Kant – schon mit einer kleinen Perfidie seinerseits versehen – wie folgt formuliert: „Es existiert also eine erhabene und weise Ursache (oder mehrere), die nicht bloß als blindwirkende allvermögende Natur, durch Fruchtbarkeit, sondern, als Intelligenz, durch Freiheit die Ursache der Welt sein muß“ (KrV, A 625/B 653). Dem, woraus die Welt nach Art einer „übermenschlichen Kunst“ entstanden sein soll, „Verstand und Wille“ (KrV, A 626/B 654) zuzuschreiben, bedeutet eine Modifikation im Vergleich zum Begriff des ens realissimum, der schon deshalb als defizitär und als bloß inadäquater Gottesbegriff bewertet werden musste, weil in diesem Fall nichts für eine solche Zuschreibung sprach. Die Adäquatheit des physikotheologischen Gottesbegriffs kann damit aber nicht sogleich bescheinigt werden. Schon in die zitierte Konklusion fügt Kant einen kleinen Hinweis ein, der dagegen spricht. Er hält es offensichtlich für unentschieden, ob der physikotheologische Gedankengang auf eine oder mehrere intelligente und willensbegabte Weltursachen führt. Warum – so die darin nicht bedachte Frage – sollten die Zwecke in der Welt nicht auf mehrere solche Ursachen zurückzuführen sein? Wenn es nun also nicht zwingend ist, auf nur eine solche Ursache zu schließen, dann sind Physikotheologie und Polytheismus prinzipiell verträglich. Doch selbst wenn es vorausgesetzt sein mag – welche Voraussetzung aber im Grunde willkürlich ist –, dass es sich beim physikotheologischen Urwesen nur um ein einziges handelt, und selbst wenn der Beweis als gelungen betrachtet wird, kann es Kant zufolge doch nicht Gott sein, der dadurch als bewiesen gelten könnte. Seinem Einwand liegt zugrunde, dass im Fall eines Schlusses von einer Wirkung auf eine Ursache dieser Ursache nur genau die Eigenschaften und Fähigkeiten zuzuschreiben sind, die nötig sind, um gerade diese Wirkung hervorzubringen, nicht etwa mehr Eigenschaften und größere Fähigkeiten (vgl. KrV, A 627/B 655). Wenn nun die Zweckmäßigkeit von Naturprodukten für den Physikotheologen thematisch ist, dann sind diese nicht in toto, sondern nur unter einem eingeschränkten Aspekt thematisch. Mit der Zweckmäßigkeit sind sie bloß der Form und nicht der Materie nach thematisch. Im Blick ist bloß die Ordnung des Stoffs, dessen „Wohlgereimtheit“ (KrV, A 627/B 655), nicht der Stoff als solcher in seiner Sachhaltigkeit. Damit kann die Kraft des physikotheologischen Urwesens auch allenfalls in Hinsicht auf diese Form als Ursache veranschlagt werden, nicht in Hinsicht auf die Materie der Naturprodukte. Es muss also wie der Mensch bei der Produktion seiner Artefakte gedacht werden, nämlich als abhängig von einem vorgefundenen Material, dessen spezifische Beschaffenheit die Möglichkeiten seiner künstlichen Produkte zusätzlich einschränkt. Um ein die Welt in toto erschaffendes Urwesen zu erschließen, wären, so Kant, „ganz andere Beweisgründe, als die von der Analogie mit menschlicher Kunst, erfordert“ (KrV, A 627/B 655). Er fährt fort: „Der Beweis könnte also höchstens einen

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Teil 1: Religion und Moral

Weltbaumeister, der durch die Tauglichkeit des Stoffs, den er bearbeitet, immer sehr eingeschränkt wäre, aber nicht einen Weltschöpfer, dessen Idee alles unterworfen ist, dartun“ (KrV, A 627/B 655). Zur Unterscheidung von einem produktiven Verstand, der für einen Weltschöpfer erforderlich wäre, nennt Kant in der dritten Kritik den Verstand des „höchstens“ zu erschließenden Weltbaumeisters einen bloßen „Kunstverstand für zerstreute Zwecke“ (KU, 05: 441). Der Weltbaumeister kann bloß als „von sehr großer […] Macht und Trefflichkeit“ gedacht werden, nicht aber als ein Wesen, das „alle Vollkommenheit […] besitzt“ (KrV, A 627/B 655). Wenn der Physikotheologe sagt: „wo so viel Vollkommenheit angetroffen wird, möge man wohl alle Vollkommenheit in einer einzigen Weltursache vereinigt annehmen“, ersetzt er, so Kant, einen „Mangel […] durch einen willkürlichen Zusatz“ (KU, 05: 480). Dass neben dem ens realissimum, der Vorstellung vom Urwesen, das den beiden ersten theoretischen Beweisen zugrunde liegt, auch die physikotheologische Vorstellung dieses Urwesens, der Weltbaumeister mit Kunstverstand also, der Gottesidee nicht adäquat ist, drückt Kant in der Kritik der Urteilskraft auf geradezu drastische Weise aus. Er bezeichnet hier die Anwendung des „Begriff[s] von einer Gottheit“ auf das auf physikotheologische Art „gedachte verständige Wesen“ als „[v]erschwendet“ (KU, 05: 438). Das Defizit der Physikotheologie wird in der dritten Kritik auch so beschrieben, dass sie in der Befangenheit ihres Themas, das das Thema des Verhältnisses von Naturprodukten mit der Form der Zweckmäßigkeit zu einem etwaigen sie hervorbringenden Verstand ist, nicht einmal an die Frage heranreiche (vgl. KU, 05: 437), die dringend über sie hinaus noch zu stellen ist, das ist die Frage nach dem „Endzwecke des Daseins einer Welt“ (KU, 05: 434). Das ist die teleologische Frage, wozu die Welt, und zwar inklusive aller zweckmäßigen Naturprodukte, letzten Endes da ist. Dass die Welt nicht um dieser zweckmäßigen Produkte willen da ist, drückt Kant an der Stelle aus, an der er sagt, die Welt wäre „zu nichts da“, wenn es nur diese „mannigfaltigen Geschöpfe“ gäbe, „von wie großer Kunsteinrichtung […] sie auch sein mögen“; die Welt wäre in diesem Fall „eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck“ (KU, 05: 442). Die Welt hat allerdings Kant zufolge durchaus einen Endzweck, d. h. einen allerletzten Zweck, der unmöglich als ein Mittel zu einem noch entfernteren Zweck verstanden werden kann, der also Selbstzweck sein muss: „Von dem Menschen […] als einem moralischen Wesen kann nicht weiter gefragt werden: wozu […] er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich“ (KU, 05: 435). Der Mensch ist dieses moralische Wesen dann, wenn er sein Begehrungsvermögen autonom nach moralischen Prinzipien bestimmt bzw. wenn er seinen Willen dem Kategorischen Imperativ gemäß zu einem „gute[n] Wille[n]“ macht, „wodurch sein Dasein allein einen absoluten Wert“ (KU, 05: 443) gewinnt.

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Wenn nach dieser Bestimmung des Endzwecks die Idee des Urwesens erneut erwogen und die Frage erneut gestellt wird, warum und wozu es eine Welt hervorgebracht haben mag, kann nun anders geantwortet werden als im Fall des physikotheologisch gedachten Urwesens. Dem physikotheologischen Urwesen konnten zwar Absichten unterstellt werden, insgesamt die Absicht, seine Kunstfertigkeit durch zweckmäßige Naturprodukte zu beweisen, aber keine moralischen Absichten. Es ist so gedacht, dass es zwar – wie schon gesagt – „Kunstverstand“ besitzt, aber – wie noch nicht gesagt – „keine Weisheit für einen Endzweck“ (KU, 05: 441). Wenn nun eingesehen ist, dass der Endzweck des Daseins der Welt der gute Wille des moralischen Menschen ist, dann müssen in der dazu passenden Idee des Urwesens diesem Wesen moralische Absichten zugeschrieben werden. Die Frage, wozu es eine Welt hervorgebracht haben mag (und nicht vielmehr keine), müsste etwa so beantwortet werden: damit die moralische Indifferenz, die ohne eine daseiende Welt herrschte, überwunden werde; positiv gesprochen: damit es eine Sphäre der Wirksamkeit für den Menschen gebe, innerhalb derer er das realisieren kann, was allein absoluten Wert hat, den guten Willen also. Der an dieser Stelle erreichte Begriff vom Urwesen geht ersichtlich über die Begriffe der spekulativen Vernunft von diesem Wesen hinaus, beinhaltet also mehr als die Begriffe des allerrealsten Wesens und des Wesens mit Kunstverstand. Der erweiterte Begriff des Urwesens ist der „Begriff der obersten Ursache, als Weltursache nach moralischen Gesetzen“ (KU, 05: 481). Den „Begriff vom Urwesen“ als „bloßer Ursache der Natur“, also ohne „Kausalität nach moralischen Gesetzen“, nennt Kant am Schluss der dritten Kritik einen bloß „angeblich theologische[n] Begriff“ (KU, 05: 481). Den inadäquaten theoretischen Ideen vom Urwesen gegenüber ist die nun erreichte ethikotheologische Idee davon die einzig adäquate und nicht verschwendete Gottesidee.² Erst mit der Zuschreibung moralischer Qualität

2 In einem beträchtlichen Teil der Literatur zu Kants Gottesbegriff wird diesem von Kant selbst noch explizit gemachten Ergebnis nicht Rechnung getragen, dem Ergebnis nämlich, dass alle angeblichen Gottesbegriffe, durch die zwar eine höhere Intelligenz als die menschliche gedacht ist, aber ohne moralische Qualität, d. h. bloß als Naturursache, keine haltbaren, sondern verschwendete Gottesbegriffe sind. Zum Beispiel hinsichtlich des höheren Verstandes als des unsrigen, den Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft als Einheitsgrund des Systems der spezifischen empirischen Naturgesetze erwägt (vgl. KU, 05:180) und hinsichtlich des dort in den §§ 76 und 77 erwogenen intuitiven Verstandes, der als produktiv gedacht ist, ohne durch sinnliche Rezeptivität eingeschränkt zu sein, wird nicht selten unterstellt, Gott sei hier der Gegenstand der begrifflichen Zergliederungen. Protagonisten dieser fragwürdigen Annahme sind – bei allen sonstigen Unterschieden in ihrer Deutung dieser Lehrstücke – Burkhard Tuschling („The System of Transcendental Idealism. Questions Raised and Left Open in the Kritik der Urteilskraft“. In: Southern Journal of Philosophy Supplement, 30 (1991), 109–127) und Henry E. Allison (Essays on Kant. Oxford 2012). Beiden gegenüber hat Reed Winegar mit Recht die Wichtigkeit des von Kant erst in den späteren ehtikotheologischen

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ist Gott als Gegenstand der Gottesidee, wie es bei Ideen als Totalitätsbegriffen zu verlangen ist, als perfekt und vollendet gedacht. Doch auch wenn an dieser Stelle die adäquate Gottesidee als entwickelt gelten mag, d. h. ihre analytischen Merkmale, erweitert um das Merkmal der Moralität Gottes, als aufgelistet gelten können, ist damit die Frage nach der Existenz Gottes nach wie vor offen. Aufgrund des synthetischen Charakters des Existenzprädikats hat das Ergebnis der ersten Kritik weiterhin Bestand, dass in dem Satz „Gott ist nicht“ „nicht der mindeste Widerspruch“ (KrV, A 595/B 623) enthalten ist. Gleichwohl wirft Kant die Existenzfrage erneut auf, unter der durch praktische Vernunft hinzugewonnenen Perspektive nämlich, die spekulativer Vernunft naturgemäß versagt bleiben musste. Er beantwortet sie sogar positiv, wie schon der Blick auf die Überschrift eines späten Paragraphen der dritten Kritik zeigt, die lautet: „Von dem moralischen Beweise des Daseins Gottes“ (KU, 05: 447). Ein Blick auf die Überschrift des folgenden Paragraphen lässt allerdings auch Schwierigkeiten erwarten. Diese lautet: „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (KU, 05: 453). Das moralische Argument selbst ist die Entfaltung einer konsequenzialistischen Überlegung, an deren Anfang die Frage steht, was wohl die vernünftigen Folgen aus dem moralischen Betragen der Menschen sein müssten. Diese Frage ist Kant zufolge unvermeidlich, denn „es kann der Vernunft […] unmöglich gleichgültig sein, […] was […] aus […] unserm Rechthandeln herauskomme“ (RGV, 06: 5). Das Interesse der Vernunft am Ausgangspunkt des Arguments formuliert Kant an anderer Stelle auch so, dass daraus schon die negative Seite der Antwort auf die Frage hervorgeht, nämlich welches Ende das dezidiert unvernünftige wäre. Es müsse sich, so Kant, „das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewaltthätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende […] für seine Tugenden kein Glück oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe“ (KU, 05: 458). Angesichts des damit gezeichneten Schreckensbildes einer Disproportion zwischen dem moralischen Status der Menschen und ihrem Glückszustand ist es, so Kant weiter, „als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen“ (KU, 05: 458). Diese Stimme ist als die empörte Stimme der praktischen Vernunft zu identifizieren, die gegen die Vorstellung opponiert, dass das Moralexperiment des

Paragraphen der dritten Kritik entwickelten Gottesbegriffs betont (vgl. „God’s Mind in the Third Critique“. In: Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Hrsg. von Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner. Berlin, Boston 2018, 1685–1692, hier 1691). Erst die Notwendigkeit, eine die menschliche Intelligenz übertreffende höhere als Realisierungsbedingung des höchsten Guts zu denken, bietet einen Grund dafür, ihr moralische Eigenschaften zuzuschreiben und sie also als Gott zu denken.

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Lebens der Menschen in der Indifferenz endet, dass also „ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt“ (KU, 05: 452). Die positive Gegenvorstellung praktischer Vernunft – Kants Terminus dafür ist „Idee des höchsten Guts“ – ist, so schon die erste Kritik, „das System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit“ (KrV, A 809/B 837). In diesem System wird das Verhältnis zwischen Moralitätszustand und Glückszustand als ein rationales gedacht, der Tugendhafte also, um nur von der Perfektionsgestalt zu sprechen, wird der Idee des höchsten Guts gemäß als ein Glückswürdiger gedacht, dem sein durch Moralität verdientes Glück auch tatsächlich zukommt. Die Verhältnisse im Leben allerdings entsprechen der Vernunftidee des höchsten Guts nicht. Hier ist die Beziehung zwischen Glückswürdigkeit und tatsächlichem Glück keine notwendige. Es sind, so weit das zu beurteilen möglich ist, ganz verschiedene Verhältnisse zu beobachten, also auch glückswürdige Unglückliche oder glückliche Unwürdige. Es übersteigt Kant zufolge ganz prinzipiell das Vermögen des Menschen, die durch die Idee des höchsten Guts gedachten rationalen Verhältnisse zu realisieren. Der Mensch ist zwar nicht ganz und gar unvermögend in dieser Hinsicht, so dass die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts eine durchaus sinnvolle ist, deren Ausführung etwa durch Einsatz von Klugheit hinsichtlich des in der Idee enthaltenen Glückseligkeitszwecks partiell gelingen kann. Doch auch schon in diesem Fall der bloßen Beförderung eines mit Tugend übereinstimmenden Glücks ist nach Kant der Erfolg „nie völlig in meiner Gewalt“ (KU, 05: 471, Fn.), weil für die Gewissheit des Erfolgs Natur den Glück intendierenden Handlungen notwendig entgegenkommen müsste, was sie aber als bestenfalls indifferente, wenn nicht gar widrige Natur nicht tut. Erst recht nicht in der Gewalt des Menschen ist die vollständige Realisierung der durch die Idee des höchsten Guts in toto als vernunftkonform gedachten Verhältnisse, die Realisierung dessen also, dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV, A 809/B 837). An dieser Stelle müssen wir Kant zufolge als Realisierungsbedingung des höchsten Guts „ein höheres, moralisches, heiligstes und allvermögendes Wesen annehmen“ (RGV, 06: 5), das die Defizite menschlichen Vermögens nicht aufweist. In dem Paragraphen der dritten Kritik, der den moralischen Beweis des Daseins Gottes ankündigt, ist dieser Zwang zu einer Annahme, wie bei einem Beweis zu erwarten, im Stil einer Konklusion ausgedrückt, allerdings nicht, wie vielleicht auch zu erwarten gewesen wäre, mittels der Behauptung „Es ist ein Gott“. Die Formulierungen lauten: „Folglich müssen wir eine moralische Weltursache […] annehmen“ und: Es ist „notwendig anzunehmen: […] es sei ein Gott“ (KU, 05: 450). In einer sofort angeschlossenen Fußnote beeilt Kant sich klarzustellen: „Dieses moralische Argument soll keinen objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben, nicht dem Zweifelsgläubigen beweisen, daß ein Gott sei“, sondern

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ausdrücken, dass der Satz zum moralischen Bewusstsein gehöre und der angesprochene Zweifelsgläubige bei konsequenter moralischer Denkungsart „die Annehmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse“ (KU, 05: 450, Fn.). Damit handelt es sich bei dem Gedankengang, den Kant als Beweis ankündigte, um einen speziellen Beweistyp, unterschieden von einem Beweis theoretischer Vernunft, der seinerseits mit einer Behauptung endet und dessen korrespondierender Modus des Fürwahrhaltens das Wissen ist. Von den verbleibenden Modi des Fürwahrhaltens kommt nur noch das Glauben in Frage, denn das Meinen setzt ein mindestens partielles Wissen voraus (vgl. KrV, A 822/B 850). Wenn auch nun das Glauben als der dem moralischen Beweis angemessene Modus des Fürwahrhaltens identifiziert ist, ist doch nicht auf Anhieb klar, um genau welchen Überzeugungszustand es sich dabei handeln soll. Der Ausdruck des Annehmens beispielsweise ist im Kontext des Paragraphen, der den Beweis darlegt, nicht erläutert. Aber andernorts finden sich Hinweise. In der Religionsschrift sagt Kant, und zwar bezogen auf die Existenz Gottes: „[D]ie Annehmung seines Daseins sagt mehr, als die bloße Möglichkeit eines solchen Gegenstandes“ (RGV, 06: 6 Fn.). Und in der ersten Kritik heißt es im Zusammenhang der Erörterung der spekulativen Vernunftideen, wozu auch die theoretischen (später als inadäquat verabschiedeten) Gottesideen gehören: Es ist, „um etwas anzunehmen, noch nicht genug, daß keine positive Hindernis dawider ist“ (KrV, A 673/B 701). Im Lichte dieser Aussagen zum Begriff des Annehmens wird klar, daß der moralische Beweis des Gegenstandes der praktischen Gottesidee mehr sein soll als eine Ideendeduktion in dem Sinne, dass eine Idee und ihr Gedankending als denknotwendig und als ohne Widerspruch denkmöglich erwiesen wird, wodurch sie nach Kants Sprachgebrauch bloß kein Hirngespinst ist. Auf der Basis bloßer Widerspruchsfreiheit ist in Bezug auf solche Gedankendinge kein Annehmen oder Glauben angebracht, sondern Urteilsenthaltung. Agnostizismus also ist angebracht in Bezug auf die vermeintlichen theoretischen Gottesideen des ens realissimum und des Weltbaumeisters mit Kunstverstand. Warum soll nun hinsichtlich der praktischen Gottesidee kein solcher Agnostizismus, sondern ein Fürwahrhalten als Glauben nahegelegt sein, obwohl keinerlei hinzukommende Erkenntnis vorliegt? Diese Frage kann wohl nur mit der besonderen Dignität der praktischen Vernunft beantwortet werden, d. h. mit ihrem Primat im Verhältnis zur theoretischen. Primat wiederum bedeutet „Vorzug des Interesses“ (KpV, 05: 119). Wenn das so ist, dann ist der praktische Glaube an Gott (als Realisierungsbedingung des höchsten Guts) in einem gewichtigen Interesse praktischer Vernunft unter konsequenzialistischer Hinsicht gegründet, nämlich dass ihr Projekt nicht unvollendet bleibe. Es bliebe unvollendet, wenn es in die Indifferenz des besagten weiten Grabs führte, das die Gerechten und Ungerechten gleichermaßen verschlingt. Mit einem Interesse zu argumentieren, könnte zwar den Ein-

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wand hervorrufen, ein bloßer Wunsch sei leitend, doch dem könnte entgegengehalten werden, dass es sich eben um ein Interesse praktischer Vernunft handelt, nicht um ein beliebiges Wünschen.³ Gleichwohl ist Kant sich dessen bewusst, dass sein moralischer Beweis keinen Glauben im Sinne restloser subjektiver Überzeugung nezessitieren kann. Im direkten Anschluss an die Darlegung des Beweises gesteht er zu, dass es „nicht […] ebenso notwendig“ sei, „das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen“ (KU, 05: 450 f.). Damit ist ein abgeschwächter Überzeugungszustand auch angesichts des ausgeführten Arguments zugestanden. Kant hält es sogar für möglich, dass einer sich vom Beweis gar „nicht überzeugen kann“ (KU, 05: 451), auch das im Vergleich mit der Unmöglichkeit, das Bewusstsein moralischer Verpflichtung loszuwerden. Dem entspricht, dass er die Art des Fürwahrhaltens im moralischen Glauben ein „freies Fürwahrhalten“ (KU, 05: 472) nennt, das hinreichend in praktischer Vernunft (aber nur in dieser) gegründet sei (vgl. KU, 05: 472). – Im Licht dieser letzten Betrachtungen lässt sich das, was das moralische Argument leistet, so verstehen, dass es einen vernünftigen Grund zum Glauben bietet, der nach Art des freien Fürwahrhaltens ergriffen werden kann. Den Überzeugungszustand dessen, der der Argumentation für die Vernünftigkeit des Grundes zum Glauben folgt, der aber zugleich das Bewusstsein der theoretischen Unerweislichkeit der Existenz Gottes wachhält, bezeichnet Kant als „überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ (KU, 05: 472 f.). Es ist dies, wie er es auch nennt, ein „Zweifelglaube“ (KU, 05: 472). Das ist ersichtlich kein restloses und unangefochtenes Überzeugt-Sein, denn ihm steht „der Mangel der Überzeugung durch Gründe der spekulativen Vernunft“ als „Hindernis“ entgegen; aufgrund der „Schranken der letztern“ (KU, 05: 472), die weder bezüglich der Existenz noch bezüglich der Nicht-Existenz Gottes etwas behaupten kann, die also ein doppeltes Nicht-Wissen eingestehen muss, und aufgrund des Primats des Interesses praktischer Vernunft sind also jenes überwiegende praktische Fürwahrhalten bzw. jener Zweifelglaube möglich. Insofern durch das Nicht-Wissen theoretischer Vernunft Agnostizismus nahegelegt ist, insofern aber praktische Vernunft einen Grund für das Glauben anbieten und höhere Dignität beanspruchen kann, lässt sich die Gesamtsituation des auf diese zweifache Weise vernünftigen Wesens so beschreiben,

3 In einem Großteil der Literatur zum ethikotheologischen Gedankengang Kants, der zum besagten moralischen Gottesbeweis führt, wird die konstitutive Rolle des Vernunftinteresses nicht berücksichtigt. In jüngerer Zeit haben allerdings zwei Autoren darauf aufmerksam gemacht, nämlich Reinhard Hiltscher (Gottesbeweise. Darmstadt 22010, 152 f.) und Burkhard Nonnenmacher (Vernunft und Glaube bei Kant. Tübingen 2018, 139).

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dass es sich um die Situation eines Agnostikers mit der als berechtigt erwiesenen Tendenz zum Glauben handelt.⁴

4 Eine abweichende Position zur Art des Fürwahrhaltens im Vernunftglauben, die aber wohl Kants Rede vom Zweifelglauben und vom bloß überwiegenden praktischen Fürwahrhalten, dem ein Hindernis entgegensteht, nicht gerecht wird, vertritt Burkhard Nonnenmacher (Vernunft und Glaube, 170–179). Er unterscheidet das Wissen und das Glauben zwar der Art nach, spricht aber dem Glauben, wie er durch Kants vernünftigen Grund für die Annahme Gottes legitimiert ist, die gleiche intensive Größe wie dem Wissen zu.

Zum Entwicklungsstand der Rationaltheologie Kants in seiner Vorlesung im Wintersemester 1783/84 Die wichtigste, wenn auch nicht alleinige Textgrundlage der folgenden Überlegungen sollen drei Nachschriften sein, die sich in der Abteilung „Kant’s Vorlesungen“ der Akademie-Ausgabe finden, genauer im zweiten Teil der zweiten Hälfte des Bandes XXVIII dieser Ausgabe. Sie beziehen sich auf eine Vorlesung Kants über Rationaltheologie, die dieser in erster Linie am Teil IV (an den §§ 800 bis 1000) der baumgartenschen Metaphysik orientierte, zu einem geringen Teil aber auch an einem Kompendium von Johann August Eberhard zur natürlichen Theologie.¹ Die Vorlesung wurde im Wintersemester 1783/84 gehalten.² Die Abschriften sind im genannten Band wie folgt betitelt: „Philosophische Religionslehre nach Pölitz“, „Natürliche Theologie Volckmann nach Baumbach „Danziger Rationaltheologie nach Baumbach“.³ Im Folgenden soll die Vorlesung unter den Aspekten einer entwicklungsgeschichtlichen und einer systematischen Fragestellung betrachtet werden. Die entwicklungsgeschichtliche Frage soll lauten: Auf welcher Stufe der Ausarbeitung seiner Ethikotheologie bzw. der Ausarbeitung des damit eng verwobenen Lehrstücks vom höchsten Gut stand Kant zu der Zeit, als er die Vorlesung hielt? Als Anfangs- und Endpunkte der thematischen Entwicklung, zu deren Hauptstationen auch noch die Postulatenlehre der zweiten Kritik und die einschlägigen Teile der „Methodenlehre“ der dritten Kritik gehören, sollen die ethikotheologisch relevanten Aussagen der Kritik der reinen Vernunft, ebenso aus der „Methodenlehre“, und die

1 Dass die Art der Orientierung eine recht äußerliche war, nämlich eine vorwiegend die Paragraphenordnung betreffende, stellt Kurt Beyer fest, der die Vorlesungsnachschriften 1937 herausgegeben und sowohl historisch-philologisch als auch systematisch-philosophisch eingeordnet hat (Kants Vorlesungen über die philosophische Religionslehre. Hrsg. von Kurt Beyer. Halle 1937); „Bei einem Vergleich von Kolleg und Kompendium wird deutlich, daß Kant nie längere Abschnitte entlehnt, sondern oft nur vom Autor einen Begriff erwähnt, um dann seine Ausführungen daran zu knüpfen. […] Von Eberhard hat sich Kant noch weniger beeinflussen und leiten lassen als von Baumgarten“ (233 f.). 2 Die Gründe für diese Datierung sind bei Kurt Beyer nachzulesen; vgl. ebd., 229–236. 3 Zu ihrem Verhältnis heißt es bei Kurt Beyer: „Wir sahen, daß D. eine Nachschrift oder die Abschrift einer Nachschrift und von P. und V. unabhängig ist. Diese beiden dagegen sind ausgearbeitete Nachschriften, die in ihrem ersten Teil ebenfalls unabhängig voneinander sind, im zweiten entweder V. auf P. oder beide auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen“ (ebd., 269). Vgl. zur Herleitung dieses Ergebnisses ebd., 214–228. https://doi.org/10.1515/9783110788099-003

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abschließende Positionierung in der Religionsschrift gewählt sein. Diese Wahl der Anfangs- und Endpunkte, die in diesem Beitrag zuerst diskutiert werden sollen, um Maßstäbe zur Beurteilung der Vorlesung zu gewinnen, ist nicht willkürlich. Anfangs- und Endpunkt markieren Positionen größtmöglicher Entfernung in wichtigen moralphilosophischen Fragen; sie sind nämlich schlicht inkonsistent. Insofern die Entwicklung als eine Entwicklung zum Besseren gedeutet wird, stellt sich mit Blick auf die Vorlesung die systematische Frage, wo auf dem Weg von der noch unreifen zur reifen Position sie zu verorten ist. Um einen vorläufigen Begriff von den zu verhandelnden Sachverhalten und von den Qualitätszuschreibungen „reif“ und „unreif“ zu geben, sei gesagt: Es wird wesentlich um das Verhältnis des ethikotheologischen Lehrstücks vom höchsten Gut zur Grundlegungs- bzw. Ursprungsfrage der Moral gehen, des Weiteren zur Frage der Geltung des Moralprinzips bzw. der Moralprinzipien und schließlich zu Fragen der Applikation und Motivation. Als Errungenschaften der Morallehre Kants, also als ihre reife Gestalt kennzeichnend, die durch die Lehre vom höchsten Gut nicht verunstaltet werden dürfte, soll die These von der Autonomie der Moral gelten sowie die These, dass reine Vernunft für sich allein praktisch werden kann. Nach der These von der Selbstgesetzgebung reiner praktischer Vernunft ist strikt darauf zu achten, dass sich durch die Lehre vom höchsten Gut in die Beantwortung der Grundlegungs- und Geltungsfrage keine Momente einer Fremdbestimmung einschleichen, insbesondere keine Heteronomie als Theonomie. Entsprechend verlangt die These von der für sich allein praktisch werden könnenden Vernunft zu beachten, dass in der Applikation der Moral, d. h. im Zuge der Befolgung ihrer Pflichten, allein innere Motivation bzw. eine Motivation allein durch die Pflicht selbst hinreichend bleibt, dass also auch im Anwendungsfall moralischer Willensbestimmung kein Gott als Triebfeder erforderlich ist. Die Lehre vom höchsten Gut und die in ihr enthaltene Gottesimplikation verdanken sich offensichtlich einer konsequentialistischen Erwägung, d. h. einer Erwägung über die Folgen, die ein mehr oder weniger moralisch geführtes Leben vernünftigerweise haben sollte. In den Worten der ersten Kritik lautet das Ergebnis dieser Reflexion: Es ist notwendig anzunehmen, „daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV, A 809/B 837). Allerdings ist diese moralische Perfektionsidee eines „System[s] der sich selbst lohnenden Moralität“ (ebd.) durch Menschen und in dieser Welt, in der der Moralitäts- und der Glücksstatus nicht notwendig verbunden sind, nicht zu realisieren. „Dieses“, so Kant, „ist nur möglich in der intelligibelen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer“ (KrV, A 811/B 839). Um der Realisierung eines Vernunftanspruchs willen, der die Konsequenzen aus der Moral betrifft, ist also die „Vernunft genöthigt an-

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zunehmen“, dass es „[e]inen solchen [weisen Urheber und Regierer], sammt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen“ (ebd.) gebe. Wenn nun die Frage ist, ob der Ausgang dieser konsequentialistischen Erwägung auch Auswirkungen auf die Grundlegungs-, Geltungs- und Applikationsaspekte der Moral hat, dann ist die Antwort: Der ersten Kritik zufolge ist das zweifellos der Fall; die Auswirkungen könnten gar nicht größer sein. Ohne die Annahme des weisen Urhebers und Regierers, so ist dort zu lesen, wären „die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte“ (ebd.). Es können demnach moralische Gesetze, ohne die Annahme Gottes zu Hirngespinsten degradiert, unmöglich in Geltung bleiben. Wenn umgekehrt ihr Geltungsanspruch nur mit dieser Annahme legitimiert ist, dann beruhen sie ersichtlich auf Theonomie, nicht auf der Autonomie praktischer Vernunft. Kant bezeichnet im hier diskutierten Kontext „Gott“ nicht etwa als den notwendigen Gegenstand eines Denkens, das an der vollständigen Rationalität der Folgen aus der Moral interessiert ist, sondern zählt ihn ausdrücklich zu den „Voraussetzungen“ der moralischen „Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt“ (ebd.). Moralische Motivation betreffend, hält er es offenbar für möglich, dass ein moralisches Bewusstsein vorliegt, ein emphatisches sogar, dass dieses aber ohne die Annahme Gottes als des Garanten der Verbindung von Glückswürdigkeit und Glück kein Beweggrund für eine moralische Willensbestimmung und eine moralische Tat sein kann: „Ohne […] einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ (KrV, A 813/B 841). Doch nicht nur Hoffnung auf Belohnung, auch Furcht vor Bestrafung zählt nach der ersten Kritik zu den äußerlichen Gründen, die allein moralischen Gesetzen Geltung verleihen und zu moralischen Handlungen motivieren können. Moralische Gesetze könnten, so Kant, keine Gebote sein, „wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten“ (KrV, A 810/B 839). – Das Bisherige mag zur Charakteristik dessen genügen, was eingangs als der Anfangspunkt der hier betrachteten Entwicklung bezeichnet wurde. Die Beschreibung des Endpunkts, d. h. der unter wichtigen Aspekten revidierten Position, kann sich im Wesentlichen auf eine prägnant zusammenfassende Passage zu Beginn der Vorrede der Religionsschrift stützen. Zuvor mag gesagt sein, dass das Lehrstück vom höchsten Gut mit seiner Implikation, der Annahme Gottes, keineswegs aufgegeben ist und dass es in dieser Vorrede ausdrücklich heißt, Moral führe zur Religion. Ebenso deutlich wird aber – und zwar ist es das Erste, was Kant mitteilen möchte, dass dieses Lehrstück, entstanden aus einer konsequentialistischen Reflexion, keinen Einfluss mehr auf Fragen der Grundlegung, der Geltung

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und der Applikation von Moral hat. Moral wird hier als eine solche eingeführt, die „auf dem Begriff des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist“; sie „bedarf weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). „Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keineswegs der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug“ (ebd.). Demjenigen, der an sich das „Bedürfniß […] vorfindet“, eben doch mittels eines höheren Wesens seine Pflicht zu erkennen und mittels einer fremden Triebfeder zum Befolgen der Pflicht gedrängt zu werden, was das Bedürfnis nach Heteronomie und Bevormundung wäre, bescheinigt Kant ausdrücklich mindere moralische Qualität, „weil, was nicht aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität abgiebt“ (ebd.). Kant spricht ausdrücklich von der„eigene[n] Schuld“ desjenigen, der um pflichtgemäßer Handlungen willen, die ja für diesen keine innerlich aus Pflicht motivierten sein können, ein solches Bedürfnis nach äußeren Triebfedern, speziell das Bedürfnis nach dem Einfluss eines höheren Wesens, bei sich vorfindet. Einem derart Bedürftigen könne durch nichts anderes abgeholfen werden als durch das, was „aus ihm selbst und seiner Freiheit entspringt“ (ebd.). Es liegt im Impliziten des hier Ausgeführten, dass Verheißungen und Drohungen als Motive moralische Handlungen verunmöglichten. Im Expliziten findet es sich bei Kant andernorts mehrmals, etwa in der Kritik der praktischen Vernunft, wo es heißt, dass „Furcht oder Hoffnung als Triebfedern […], wenn sie zu Principien werden, den ganzen moralischen Werth der Handlungen vernichten“ (KpV, 05: 129). In anderer Hinsicht mag der moralische Akteur ein bedürftiger bleiben, eben in der konsequentialistischen Hinsicht darauf, was allein vor der Vernunft als moralischer Endzustand legitimiert werden kann. Es ist, kurz gesagt, das durch die Idee des höchsten Guts Gedachte. Sie helfe „unserm natürlichen Bedürfnisse [ab], zu allem unsern Thun und Lassen im ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken“ (RGV, 06: 5). Dass die Annahme der Realisierbarkeit dieses Endzwecks und der Existenz Gottes als der Bedingung seiner (von Menschen nicht zu leisten möglichen) Realisierung nun aber – anders als noch in der ersten Kritik – nicht entscheidend hinsichtlich der Geltung von Pflichten und hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Befolgung sein darf, geht aus einem Beispiel aus dem hier diskutierten Kontext hervor. Das Beispiel ist zwar nicht optimal konstruiert, weil es scheinbar von der Rechtspflicht zur Wahrhaftigkeit vor Gericht handelt, deren Erfüllung als Rechtspflicht durchaus heteronome Triebfedern zulässt, etwa die Furcht vor rechtlichem Zwang. In Wahrheit handelt es sich aber um ein moralisches Szenarium, was sich schon an Kants negativer Qualifikation des scheiternden Probanden als „Nichtswürdiger“

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zeigt (RGV, 06: 4). Sein Scheitern und seine Nichtswürdigkeit bestehen nach Kant in nicht mehr als der Überlegung, zu welchem gewünschten oder unerwünschten Ergebnis seine wahre Aussage wohl führen würde, um erst nach dem Ausgang dieser Überlegung zu entscheiden, wahrhaftig auszusagen oder nicht. In Kants Worten ist der, der es im Fall einer berechtigterweise abgeforderten Aussage „noch nöthig findet, sich nach irgend einem Zwecke umzusehen, hierin schon ein Nichtswürdiger“ (ebd.). Nach dem im skizzierten Fall angelegten Maßstab wäre jedem Nichtswürdigkeit zuzuschreiben, der es nötig fände, es von der Einschätzung der Realisierbarkeit des Endzwecks, des höchsten Guts, und von der Einschätzung der Existenz des zu seiner Realisierung nötigen Gottes abhängig zu machen, ob moralische Pflichten gelten oder nicht. Nach Kants gereifter Position ist umgekehrt Moral schon unanfechtbar in Kraft, bevor jene konsequentialistische Frage gestellt wird, die in der Tat „Vernunft […] unmöglich gleichgültig sein“ kann, nämlich „was […] aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme“ (RGV, 06: 5) bzw. was daraus vernünftigerweise herauskommen sollte. Die von Kant jetzt dezidiert vertretene Ordnung ist die, dass die Idee des höchsten Guts „aus der Moral hervor[geht], und […] nicht die Grundlage derselben“ (ebd.) ist. Eine Bemerkung Kants, die dieses Ergebnis anscheinend konterkariert, soll allerdings nicht verschwiegen werden. Sie lautet, dass es „ein Hinderniß der moralischen Entschließung sein würde“, wenn kein „Endzweck“ gedacht würde, „der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann“ (ebd.) Diese Aussage ist allerdings nicht so stark, dass sie das Denken des konsequentialistischen Perfektionszustandes zur notwendigen Bedingung der moralischen Entschließung machte. Auch für den Fall, dass das Hindernis bestünde, muss es jener als autonom und als für sich allein praktisch werden könnend eingeführten Vernunft möglich sein, die Entschließung hinreichend zu motivieren, das Hindernis also zu überwinden. Dass moralische Entschließungen in mehr oder weniger hinderlichen Kontexten gefasst werden, ist geradezu der Normalfall. In einer Passage der Kritik der Urteilskraft gibt Kant zu erkennen, wie sich nicht bloß der Skeptiker der Realisierbarkeit des höchsten Guts sich durch innere Motivation hinreichend zur moralischen Entschließung wird bringen können, sondern auch der, den er den dogmatischen Atheisten nennt und der als solcher in eins das höchste Gut dezidiert ausschließen muss. Der genannte Beweggrund für diesen, sich nicht von der Moral loszusagen, ist der, sich im Verhältnis zu sich selbst die Würde zu erhalten. In Kants Worten: „Gesetzt also: ein Mensch überredete sich, theils durch die Schwäche aller so sehr gepriesenen speculativen Argumente, theils durch manche in der Natur und Sittenwelt ihm vorkommende Unregelmäßigkeiten bewogen, von dem Satze: es sei kein Gott; so würde er doch in seinen eigenen Augen ein Nichtswürdiger sein, wenn er darum die Ge-

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setze der Pflicht für bloß eingebildet, ungültig, unverbindlich halten und ungescheut zu übertreten beschließen wollte“ (KU, 05: 451). Damit ist der Bogen geschlagen zwischen einer Position – vertreten in der ersten Kritik –, wonach die moralischen Gesetze ohne die Annahme eines das höchste Gut verwirklichenden Gottes zu leeren Hirngespinsten werden, und einer späteren, wonach diese Gesetze auch in diesem Fall uneingeschränkt in Geltung bleiben und eine ihnen gemäße moralische Praxis möglich ist. Es bleibt nun zu fragen, wo auf dem abgesteckten Feld die Vorlesung zur Rationaltheologie zu verorten ist, die Kant im Wintersemester 1783/84 gehalten hat. Die Frage, so viel sei vorweg gesagt, ist nicht leicht zu beantworten, denn alle drei Referenztexte enthalten so verschiedenartige, ja widersprüchliche moralphilosophische und ethikotheologische Positionierungen, dass man eine solche Disparatheit kaum Kant zuschreiben möchte. Allerdings stimmen sie untereinander in dieser Charakteristik weitgehend überein. Auch handelt es sich größtenteils um Positionen, die Kant zu verschiedenen Zeiten durchaus vertreten hat. Dass er sie in der hier thematischen Vorlesung um den Preis der Inkonsistenz gleichzeitig vertreten haben soll, ist verwirrend. In der folgenden Darlegung soll wieder nach dem Prinzip verfahren werden, vom Schlechteren zum Besseren überzugehen, vom noch Unreifen zum Reiferen. Dieser Übergang könnte unter verschiedene Schlagzeilen gestellt werden, etwa unter diese, die den Grundlegungs- und den Geltungsaspekt der Moral betrifft: von der Theonomie zur Autonomie; oder unter diese im Blick auf den Motivations- und Anwendungsaspekt: von der fremdbestimmten zur selbstbestimmten Tat; schließlich unter diese, die die Rolle der Theologie akzentuiert: von der moralkonstitutiven Ethikotheologie zu einer Ethikotheologie als Supplement der Moral. Um mit dieser letzten Thematik zu beginnen, sei eine Stelle aus der Danziger Rationaltheologie zitiert, die der „Methodenlehre“ der ersten Kritik darin ganz genau entspricht, dass ohne die Gottesannahme um des Glückserfolgs aus moralischem Verhalten willen die moralischen Gesetze leere Hirngespinste seien (vgl. KrV, A 811/B 839). In der Nachschrift also heißt es: „Die moralischen Gesetze sind apodiktisch gewiß, sie setzen aber notwendig einen Gott voraus, weil sie sonst alle verlieren würden, und wir nicht wüßten, warum wir sie befolgen sollten. Es wäre töricht, Gesetze zu befolgen, deren Nichtbefolgung doch glücklicher machte. Kurz, wäre kein Gott, so wäre es ein absurdum practicum, nach Moral zu handeln“ (V-Th/ Baumbach, 28: 1291). Es handelt sich hier offensichtlich um das Ergebnis eines LustUnlust-Kalküls, das unter den Bedingungen eines nicht vorausgesetzten Gottes die erzielte Glücksbilanz darüber entscheiden lässt, ob die moralischen Gesetze gelten oder nicht. Ohne Gott und bei Annahme der Befolgung der moralischen Gesetze fällt diese Bilanz hier offenbar negativ aus, so dass es in diesem Fall günstiger wäre, ohne Moral sein Glück zu versuchen. Auf gleiche Weise und fast gleichlautend ar-

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gumentieren die Religionslehre Pölitz und die Natürliche Theologie Volckmann: „Daß Gott die Welt nach moralischen Grundsätzen regieret, ist eine Voraussetzung, ohne welche alle Moral wegfällt; denn kann diese mir keine Aussicht auf die Befriedigung meines Bedürfnisses, glücklich zu seyn, verschaffen; so kann sie mir auch nichts gebieten“ (V-Th/Pölitz, 28: 1116; vgl. auch V-Th/Volckmann, 28: 1220). Eine Moral, die nur inklusive der Gottesvoraussetzung etwas gebieten kann, d. h. Gebote in Geltung setzen und zur Wirksamkeit bringen kann, muss als theonome Moral bezeichnet werden. Der Status von Vorstellungen etwaiger Pflichten ohne diese Voraussetzung ist aus dem eingenommenen Gesichtspunkt folgerichtig als Hirngespinst bestimmt, als dem Bereich des Phantastischen zugehörig, vielleicht sogar dem des Geisteskranken. An einer weiteren Stelle heißt es nämlich, dass „die ganze Moral“ ohne den Gottesbegriff verdächtig wäre, „eine Idee chimärischer Vollkommenheit, eine überspannte Idee unserer Vernunft“ (Th/Volckmann, 28: 1183) zu sein. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Stellen, an denen Moral ohne die Voraussetzung Gottes günstiger qualifiziert wird, jedoch ohne letztlich ernst genommen oder gar – wie dann in der Religionsschrift – für selbstgenügsam angesehen zu werden. Moral ohne diese Voraussetzung könne „wohl eine schöne Idee“ (Th/Volckmann, 28: 1138) sein. Eine projektierte Handlung könne eine „für gut und rechtmäßig erkannte Handlung“ sein, man könne sie „in der Beurteilung edel und schön“ (Th/Volckmann, 28: 1203) finden. Und dennoch könne ein solches bloßes Erkennen und Beurteilen die Ausführung der Handlung nicht hinreichend begründen. Notwendige Bedingungen der Handlung, die diese erst hinreichend motivierten, seien noch „gewisse subjektive Bewegungsgründe“ (ebd.). Wenn nur objektive Gründe vorlägen, beigesteuert durch das Erkennen des Guten und Rechtmäßigen, fehlten „subjektive Gründe meiner Lust, oder mit einem Wort, das Interesse“ (ebd.). Den objektiven Gründen wird immerhin die Fähigkeit zugeschrieben, mich zu „verbinden“ (ebd.), d. h. ein Bewusstsein von Verpflichtung zu erzeugen, sie könnten aber „nicht Kräfte und Triebfedern verleihen“ (ebd.). Das Vermögen zu einem Pflichtbewusstsein ohne die Voraussetzung Gottes ist als eine partielle Abkehr von jenem zuvor belegten, uneingeschränkt theonomen Ansatz unter dem Aspekt der Grundlegung der Moral zu deuten. Unter dem Motivations- bzw. Applikationsaspekt dagegen bleibt die Gottesvoraussetzung als notwendige Bedingung in Kraft, so dass die Entfernung von einer für sich allein praktisch werden könnenden Vernunft noch groß ist, ebenso die spätere These von der Wirksamkeit des Pflichtbewusstseins als eines solchen, wie es sich durch die in Kants ethischen Hauptschriften vielfach variierte Formel „Du kannst, denn du sollst“ ausdrücken lässt. Zusammengefasst ist die skizzierte Position durch das folgende Zitat: „Die Pflichten der Moral sind […] apodiktisch gewiß, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft aufgegeben werden; aber es würden ihnen alle Triebfedern fehlen, die mich bewegen könnten, ihnen gemäß, als vernünftiger Mensch zu

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handeln, wofern kein Gott, und keine zukünftige Welt wäre“ (V-Th/Pölitz, 28: 1073). Näherhin ist Gott als dasjenige Wesen vorausgesetzt, das „alle Glückseligkeit in seiner Gewalt hat, und von dem wir sie zu hoffen haben“ (Th/Volckmann, 28: 1153); entsprechend ist die Voraussetzung Gottes als eines strafenden, mittels einer Unlustvorstellung also, ein effektives Motiv. Dann – so heißt es – „muß ich doch beim Laster mich fürchten“; das gibt mir „Triebfeder, tugendhaft zu sein“ (V-Th/Baumbach, 28: 1239). Es braucht hier kaum gesagt zu werden, dass zufolge der ausgereiften Lehre Kants der erhoffte Lohn und die befürchtete Strafe verpönte Motive sind, die eine moralische Motivation zu einer unlauteren und damit unmöglich machen. Das ethikotheologische Lehrstück vom höchsten Gut bleibt dabei bestehen, doch in anderer Funktion, d. h. ohne dass der darin verortete Gott eine notwendige Bedingung moralischer Motivation wäre. Aus der zuletzt umrissenen zwischenzeitlichen Position bleibt noch eine Konsequenz zu ziehen, die in der reifen Lehre ebenso keinen Platz hat. Es handelt sich um die moralische Disqualifikation des sogenannten dogmatischen Atheismus, die aus der für moralisches Handeln als notwendig erklärten Voraussetzung Gottes folgt. Während die andere Art des Atheismus, die skeptische, die „nicht genug Grund finde[t], anzunehmen, daß ein Gott ist“ (Th/Baumbach, 28: 1241), die aber die Möglichkeit Gottes nicht bestreitet, noch für mit Moral verträglich erklärt wird, gelte das für den dogmatischen Atheismus, der eben diese Möglichkeit ausschließt, nicht. In der Danziger Rationaltheologie ist zu lesen: „Jener – der skeptische Atheist – ist noch zu entschuldigen“ (Th/Baumbach, 28: 1241). In der Religionslehre Pölitz heißt es entsprechend: „Solche dogmatische Atheisten hat es entweder nie gegeben, oder sie sind die boshaftesten Menschen gewesen. Bei ihnen fallen die Triebfedern zur Moralität weg“ (V-Th/Pölitz, 28: 1010). Die einzige Ausflucht aus der moralischen Disqualifikation, die dem dogmatischen Atheisten hier gelassen wird, ist wohl die, dass er sich zwar faktisch als ein solcher bekennen mag, es aber in Wahrheit nicht sein kann, weil er für seine Behauptung der Nichtexistenz Gottes einen theoretischen Beweis führen müsste, der ebenso unmöglich ist wie theoretische Beweise seiner Existenz; von falschen Beweisen aber kann man nicht wirklich überzeugt sein, zu ihnen muss man sich überreden. Wenn es aber, so die andere Möglichkeit, dogmatische Atheisten gegeben hat, vielleicht aus anderen als theoretischen Gründen, etwa wegen des ungelösten Theodizeeproblems, dann werden diese, wie gehört, für boshaft erklärt, d. h. für ausschließlich zu sinnlicher Motivation fähig und für unempfänglich für Triebfedern, deren Wirksamkeit Gott voraussetzt. Dass diese Triebfedern, durch Gott zu garantierende Glückserwartungen oder Furcht vor dem strafenden Gott, selbst verdächtig sind, sinnliche Motive zu sein, gehört nicht zum Selbstverständnis des skizzierten Ansatzes. Es bleibt aber festzuhalten, dass durch diesen Ansatz in dem Punkt wenigstens, dass reiner praktischer Vernunft das

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Vermögen zur Genese eines Pflichtbewusstseins zugeschrieben ist, ein Schritt auf dem Weg von der Theonomie zur Autonomie getan ist. Noch einen Schritt weiter auf diesem Weg ist eine Reihe von Aussagen zu verorten, die die vorige Position unter den Gesichtspunkten der Motivation und der Applikation konterkarieren. Es handelt sich um Aussagen, die der Annahme Gottes zwar eine motivierende Rolle zugestehen, die diese Annahme aber nicht zur notwendigen Bedingung einer wirksamen Motivation erklären. Es verbleibt für sie also eine potenzielle motivierende Rolle im Verständnis einer das moralische Verhalten begünstigenden Rahmenbedingung (wovon es übrigens mehrere geben kann, z. B. eine gute Erziehung oder eine gesicherte materielle Existenz). Eine besonders prägnante unter den genannten Aussagen sei zitiert: „Die Moral muß […] nicht auf Theologie gegründet sein, sondern in sich selbst das Prinzip, den Grund unseres Wohlverhaltens haben. Hernach kann sie mit Theologie verbunden werden, um dadurch Nachdruck zu bekommen“ (Th/Baumbach, 28: 1242; vgl. auch V-Th/Pölitz, 28: 996 ff., 1089, 1117 sowie Th/Volckmann, 28: 1184). Ersichtlich ist hier Moral ohne Theologie nicht bloß zugeschrieben, ein bloßes Pflichtbewusstsein zu begründen, dem die Wirksamkeit fehlt, sondern das tatsächliche moralische Verhalten bewirken zu können. Wenn es auch möglich sein soll, Moral um des Nachdrucks willen mit Theologie zu verbinden, so ist das doch nicht für notwendig erklärt. Es kann somit Vernunft auch für sich allein praktisch werden. Mit dieser Möglichkeit entfällt offensichtlich auch die Konsequenz, die eine Moral mit notwendigen theologischen Voraussetzungen noch haben musste, nämlich die Konsequenz des moralisch abgewerteten Atheisten. Zu den Aussagen der fortgeschrittenen Art gehören auch solche, die zugleich vor einem anthropomorphistischen Gottesbegriff warnen, nämlich aus der kritischen Sicht theoretischer Vernunft, und einen praktischen Anthropomorphismus für nützlich erklären: „Überhaupt ist zu merken, daß man in der Theorie den Begriff von Gott sorgfältig von allen […] menschlichen Ideen reinigen, und frei erhalten müsse, ob man gleich in praktischer Absicht auf einen Augenblick sich dergleichen Prädikate nach menschlicher Weise denken, und Andern vorstellen kann, wenn nämlich der Gedanke von Gott zu unserer Moralität dadurch mehr Kraft und Stärke erhält“ (V-Th/Pölitz, 28: 1089). Dieser zum Zweck der Moralität gedachte Gott hat auch in der späteren elaborierten Ethikotheologie Kants, deren Verhältnis zur autonomen Moral auf konsistente Weise geklärt ist, einen Platz. Wie etwa im Abschnitt über die Religionslehre innerhalb der Metaphysik der Sitten ausgeführt ist, ist der Gottesbegriff eine „Idee von Gott“, welche Vernunft „sich selber macht“ (MS, 06: 487). Der Grund dafür, sie sich zu bilden, ist keine objektive Notwendigkeit, denn Moral ist, wie die Religionsschrift sagt, „sich selbst genug“ (RGV, 06: 3); sie sich zu bilden, „davon ist der Grund nur subjectiv-logisch“ (MS, 06: 487). Kants Erläuterung dazu lautet: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (mo-

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ralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen, und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken. – Allein diese Pflicht in Ansehung Gottes (eigentlich der Idee, welche wir uns von einem solchen Wesen machen) ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. nicht objective, die Verbindlichkeit zur Leistung gewisser Dienste an einen Anderen, sondern nur subjective zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft“ (MS, 06: 487). Es bleibt in diesem finalen religionsphilosophischen Lehrstück dabei, dass unsere eigene Vernunft der originär gesetzgebende Ursprung der Moral ist, dass sie aber darüber hinaus noch zu einer Stärkung ihrer selbst in der Lage ist, die dem Veranschaulichungsbedürfnis des Menschen entgegenkommt. Diesem Bedürfnis ist die in Gedanken vollzogene Veräußerlichung der Moralquelle geschuldet. Diese Veranschaulichung als Veräußerlichung in Gedanken kann selbstverständlich keine buchstäbliche oder schematisierende sein, sondern nur eine symbolische. Doch eine objektive Notwendigkeit dazu besteht, wie gesagt, nicht, wenn von der Moral, um noch einmal die Religionsschrift anzuführen, gilt: „Sie bedarf […] zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keineswegs der Religion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft, ist sie sich selbst genug“ (RGV, 06: 3). Die fortgeschrittenste Gruppe von Aussagen, die die Vorlesungsnachschriften bietet, lässt unter dem Aspekt der Selbstgenügsamkeit der Moral nichts zu wünschen übrig. Die Autonomie der Moral unter dem Aspekt der Gesetzgebung kommt hier ebenso zum Ausdruck wie das Vermögen des moralischen Akteurs, sich selbst hinreichend und auch ohne zusätzliche theologische Unterstützungsgründe zu motivieren und zur Tat zu schreiten. Zum Teil wird der Einbezug des Gottesbegriffs in die Moral explizit kritisiert und als der Moral geradezu abträglich qualifiziert. Diese kritische Einschätzung soll durch einige Zitate belegt sein: „Wir haben diese unsere Pflichten […] nicht nötig, von dem Willen eines anderen Wesens abzuleiten […]; z. E. ich werde nicht gezwungen zu der Pflicht, Wort zu halten, sondern ich tue es, wenn es auch durch Aufopferung geschehen sollte, weil ich einsehe, daß es gut ist, daß ich sonst ein Nichtswürdiger wäre, wenn ichs nicht täte“ (Th/Volckmann, 28: 1152). – „Das ganze System unserer Pflichten steht für sich selbst fest; wir aber agnoszieren keine Pflicht, die uns von anderen auferlegt worden, wenn sie nicht mit unseren Einsichten übereinstimmt, weil sonst kein fremdes Wesen uns was erlaubt machen kann, wenn mir meine Pflicht sagt, es sei nicht erlaubt“ (ebd.). – „Wir haben nicht nötig, sie [Moral] von dem Willen eines anderen abzuleiten, oder aus Nützlichkeit oder Schädlichkeit zu beweisen“ (Th/Baumbach, 28: 1247). – „Theologische Moral macht, daß wir bloß aus Furcht tugendhaft handeln, bloß aus Zwang. – Sie lehrt uns nicht dabei die Abscheulichkeit der Handlung selbst. – Natürliche Moral muß unabhängig von dem Begriff Gottes gedacht und dann muß sie ihrer

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inneren Würde und Vortrefflichkeit wegen ausgeübt werden“ (Th/Baumbach, 28: 1242).⁴ Was durch diese Passagen mit zum Ausdruck kommt, ist etwa die später prominent gewordene Unterscheidung zwischen einem bloß pflichtgemäßen Handeln und einem Handeln aus Pflicht; ebenso die Wirksamkeit des Motivs, sich im Fall moralischer Verfehlung im Selbstverhältnis – und nicht etwa vor Gott – für einen Nichtswürdigen halten zu müssen. Nebenbei gesagt, muss das Motiv, solcher Selbstverurteilung entgehen zu wollen, auch in jedem Atheisten wirksam sein. Wenn Moral, wie gehört, von keinerlei Erwägungen über Nutzen und Schaden abhängt, dann gehört es geradezu zu den ausgeschlossenen Motiven moralischen Handelns, Moralität von Gott durch Glück belohnt zu bekommen, ebenso durch Wohlverhalten seine Strafe zu vermeiden. Die ethikotheologische Idee des höchsten Guts ist damit nicht obsolet. Zwar wird durch diese Vernunftidee gerade das gedacht, dass den durch ihren mehr oder weniger moralischen Lebenswandel mehr oder weniger Glückswürdigen durch Gott das ihnen proportionierte Glück verschafft wird, das eine indifferente oder gar widrige Natur nicht verschaffen konnte, doch es ist ein entscheidender Unterschied, ob diese Idee eine moralimmanente Funktion hat, ob also etwa die Glückserwartung als Motiv wirkt, oder ob es sich um eine supplementäre Idee handelt, die sich einer Reflexion darüber verdankt, was aus dem Gesichtspunkt der Moral der vernünftigste Endzustand wäre. An einer Stelle der Religionslehre Pölitz heißt es: „[O] bgleich seine [des Menschen] Tugend ohne allen Eigennutz seyn muß“ – obwohl also das Belohnungsmotiv bei der Willensbestimmung keine Rolle spielen darf –, „so fühlet er doch noch einen Trieb in sich, […] eine dauerhafte Glückseligkeit zu hoffen“ (V-Th/Pölitz, 28: S. 1011). Anders gesagt, muss Vernunft daran interessiert sein, dass nach getaner Tat, die von Glückserwartungen unabhängig war, Moralität doch nicht folgenlos bleibe, dass kein „weites Grab“ – wie die dritte Kritik es ausdrückt – die Menschen „insgesammt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt“ (KU, 05: 452). Vielmehr muss Vernunft, deren Eigenart es ist, Totalitäts-

4 Diese Stelle, durch die die für sich allein, d. h. ohne den Gottesbegriff praktisch werden könnende reine praktische Vernunft bezeichnet ist, steht in einem eindeutigen Widerspruchsverhältnis etwa zu der zuvor zitierten, die von der Moral ohne den Gottesbegriff als einer potenziell chimärischen und überspannten sprach (vgl. Th/Volckmann, 28: 1183). Kurt Beyer, der in seinem Versuch der systematischen Eingliederung der Vorlesungen in den Zusammenhang der rationaltheologisch relevanten Druckschriften Kants den Gottesbegriff ausführlich thematisiert (vgl. Kants Vorlesungen [wie Anm. 1], 237–245), glättet die Verhältnisse, indem er zwar verschiedene Akzentuierungen dieses Begriffs in den Vorlesungen zur Sprache bringt, doch keine Inkonsistenz. Sein allgemeiner Befund ist, dass die Vorlesungen hinsichtlich der Gottesthematik den ethischen Hauptwerken nahe stünden. Für die jetzt zitierte Stelle kann das gelten, nicht aber für die zuvor zitierte.

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oder Perfektionsideen zu entwickeln, an einem moralischen Perfektionszustand interessiert sein, in dem das Verhältnis zwischen moralischer Qualität und Glückszustand ein rationales ist. Für den moralisch Rechtschaffenen würde das das tatsächliche Glück bedeuten, für dessen Zuteilung allerdings ein Gott gedacht werden muss. Wenn nun ein Fazit in Hinsicht auf die hier diskutierten Vorlesungsnachschriften zu ziehen ist, ein Fazit in Hinsicht auf ihre Positionierungen in Sachen Moral, Ethikotheologie und deren Verhältnis, so ist zunächst zu sagen, dass sie vielschichtig, ja widersprüchlich sind. In ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit sind sie aber Dokumente eines Umbruchs. Zwei der hier beschriebenen vier Stufen sind retardierend, auf die ethikotheologische Skizze aus der Methodenlehre der ersten Kritik zurückverweisend, die beiden anderen weisen voraus auf die reife Moralphilosophie Kants und deren widerspruchsfreies Verhältnis zum ethikotheologischen Lehrstück. Nach der ersten der genannten Stufen ist Moral ohne einen das höchste Gut verwirklichenden Gott ein Hirngespinst. Nach der zweiten kann sie zwar ohne die Voraussetzung Gottes als schöne Idee entwickelt werden, ebenso das Bewusstsein von Verpflichtung überhaupt, doch hinreichend zur Motivation und entsprechend zur Applikation ist sie ohne diese Voraussetzung nicht. Auf der dritten Stufe verbleibt der Gottesidee zwar eine motivierende Funktion, nämlich eine das moralische Handeln potenziell unterstützende, doch notwendige Bedingung für eine praktisch wirksame Motivation ist diese Idee auf dieser Stufe nicht mehr. Nach der vierten Stufe ist Moral endlich selbstgenügsam und bedarf um ihrer Grundlegung und Geltung willen, ebenso um der Motivation und Applikation willen, keines Gottes. Die ihrer Praxisrelevanz beraubte Idee des höchsten Guts mit ihrer Gottesimplikation erhält sich allerdings als konsequentialistische Perfektionsidee.

Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee einer Ethikotheologie Für den Physikotheologen ist das Faszinosum, auf das er seine Theologie gründet, ein empirisches Phänomen, das Phänomen des physischen Lebens. Dass die Welt eine Welt ist, in der es lebendige Körper gibt, Organismen, Pflanzen und Tiere also, eingeschlossen das leibliche Leben des Menschen, ist für ihn der Ausgangspunkt für einen Schluss auf Gott. So etwas, so seine Überzeugung, kann nicht das Resultat blindwirkender Naturkräfte sein; so etwas kann nur Produkt eines göttlichen Verstandes sein, der nach Absichten wirkt bzw. nach Zweckvorstellungen hervorbringt. Wollte der Physikotheologe seine Überzeugung auf den Begriff bringen, also zum deutlichen Bewusstsein erheben, könnte er durchaus Anleihen bei Kant machen, d. h. Teile von dessen Analyse der Organismen und der Art, sie zu beurteilen, verwenden. In toto und den Endergebnissen nach könnte er diese Analyse, die Kant im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft ausgeführt hat, zwar nicht übernehmen, denn Kant erklärt, was hier entwickelt werden soll, Physikotheologie in der dritten Kritik (erneut) für unmöglich, so dass einzig die Idee einer Ethikotheologie verbleibt, doch in der Überzeugung, dass die Erscheinungen physischen Lebens von besonderer Signifikanz und aller Beachtung wert sind, bestünde zunächst keine Differenz.

1 Die Sonderstellung organischen Lebens Nach Kant ist besonders bemerkenswert, dass Organismen dazu nötigen, eine andere Art von Kausalität als die blindwirkende „eines bloßen Mechanisms der Natur“ (KU, 05: 377) zu denken. Ursachen im Sinne des Mechanismus sind bloß bewegende Kräfte, keine sich fortpflanzenden bildenden Kräfte, wie sie im Fall von Organismen anzunehmen sind (vgl. KU, 05: 374); aus einer mechanischen Kausalverbindung kann bloß eine lineare „Verknüpfung“ resultieren, die „eine Reihe (von Ursachen und Wirkungen) ausmacht, welche immer abwärts geht“ (KU, 05: 372), folglich keine solche Verbindung, in der die Wirkung ihrerseits rückwirkend wiederum Ursache sein könnte. Dagegen erfordert auch nur das Wachstum eines Organismus, etwa eines Baums, die Annahme einer bildenden Kraft. Wachstum ist nach dieser Annahme nicht bloß eine durch bewegende Anstöße erfolgende „Größenzunahme“ (KU, 05: 371), so dass nur neue Teile sich an andere zu einem erweiterten Aggregat https://doi.org/10.1515/9783110788099-004

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anfügten, sondern unser als Beispiel gewählter Baum „verarbeitet“, so Kant, „[d]ie Materie, die er zu sich hinzusetzt […] zu specifisch-eigenthümlicher Qualität“ (KU, 05: 371), etwa zu der eines ganz bestimmten Blattes, was aus der bloßen Bewegungskraft des Naturmechanismus nicht erklärlich ist. Dieses Blatt nun ist zwar ersichtlich Wirkung, doch nicht lediglich Wirkung in einer immer nur abwärts gehenden Reihe des Mechanismus, sondern zugleich rückwirkend auch Ursache des Baums, der sich ohne seine Blätter nicht erhalten könnte. Diese eigentümliche Struktur der Selbstbezüglichkeit, und zwar wieder um der Selbsterhaltung willen, die aus dem Gesichtspunkt des Mechanismus eine unbegreifliche Merkwürdigkeit ist, zeigt sich auch an der Reaktion des Organismus auf Verletzung, am Phänomen der Selbstheilung, das anzuzeigen scheint, dass der belebte Körper ein Interesse an sich selbst nimmt. Kant beschreibt es als „Selbsthülfe der Natur […], wo der Mangel eines Theils, der zur Erhaltung der benachbarten gehörte, von den übrigen ergänzt wird“ (KU, 05: 372). In einem intakten Organismus werden die Verhältnisse seiner Teile untereinander, d. h. die Verhältnisse seiner Organe untereinander, und das Verhältnis der Teile zum Ganzen so gedacht, dass die Teile einander und alle zusammen schließlich das Ganze hervorbringen und dass ein Teil „um der andern und des Ganzen willen“ (KU, 05: 373) existiert. Die Wendung „um … willen“ drückt die von mechanischen Verhältnissen unterscheidende Besonderheit aus, dass hier ein nexus finalis gedacht ist, eine teleologische Verweisstruktur, ein zweckmäßiger Zusammenhang, in dem die Teile für einander und für das Ganze zu etwas gut sind oder − um den Zweckgedanken noch zu akzentuieren − in dem die Teile in Absicht auf einander und auf das Ganze nützlich sind. Das jeweilige Produkt, also etwa der nun ausgewachsene Baum, kann dabei nicht so gedacht werden, dass es im Prozess seiner Hervorbringung auf beliebige Weise auf es hinausgelaufen sein könnte, dass seine Beschaffenheiten also bloß zufällig gerade diese und keine anderen wären. Im Gegenteil scheint es sich aufzudrängen, dass dieser Prozess von einem Plan regiert war, durch den vorgängig bestimmt war, dass es auf diesen Baum hinauslaufen musste. Die Vorgängigkeit eines Plans vor dem physischen Resultat zu betonen, bedeutet aber, für dieses Physische etwas Ideelles vorauszusetzen. Wir müssen uns Kant zufolge einen „organisirten Körper“ so vorstellen, dass „dessen innere Möglichkeit durchaus die Idee von einem Ganzen voraussetzt, von der selbst die Beschaffenheit und Wirkungsart der Theile abhängt“ (KU, 05: 408). Wir müssen, anders gesagt, „die Causalität seines Ursprungs […] in einer Ursache [suchen], deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird“ (KU, 05: 369). Die Fähigkeit aber, Vorstellungen von etwas zu Verwirklichendem zu fassen, dieses also zunächst bloß in Absicht auf Verwirklichung in der Idee zu haben, und es hernach in der Tat zu verwirklichen – kurz: „das Vermögen, nach Zwecken zu handeln“ – ist nach Kant „ein Wille“ (KU, 05: 370).

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Spätestens an dieser Stelle sind Fragen wie die folgenden unvermeidlich: Wessen Plan ist es, der durch die Erscheinungen des physischen Lebens realisiert wird? Welches zum Vorstellen, zum Wollen und zum Handeln nach Absichten fähige Wesen soll hier angenommen werden? – Die Antwort des Physikotheologen ist: Gott ist der Planer dieser Erscheinungen von Planmäßigkeit; er ist jenes verständige, nach Absichten handelnde und die Naturzwecke, also etwa den Baum, erzeugende Wesen. Kants Antworten sind zum Teil nicht weit entfernt von der Antwort des Physikotheologen, in entscheidenden Punkten dann aber doch unterschieden. Unser Plan ist es auch nach Kant sicher nicht, auf dem die Erscheinungen physischen Lebens beruhen. Unser Handeln und Hervorbringen nach Zwecken reicht nur zur Herstellung von Artefakten, von Uhren, Schiffen usw., nicht aber zur Erzeugung jenes Lebens. Heute lässt sich hinzufügen: Unsere Produktivität reicht auch noch zur weitgehenden Manipulation des organischen Lebens, wozu es allerdings schon vorauszusetzen ist. Für uns ist nach Kant die Welt in dem, was an ihr über die formalen Aspekte der apriorischen Anschauungsformen und Kategorien hinausgeht, was also ihre empirischen Inhalte betrifft, wozu die Erscheinungen des organischen Lebens gehören, zufällig. Wir suchen auf diesem Gebiet des Empirischen zwar nach unserem Prinzip der Zweckmäßigkeit − dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft − nach Ordnungen und Regelmäßigkeiten, wenn wir sie aber wie im Fall des organischen Lebens finden, können wir sie nicht als auf unser Hervorbringen zurückgehend verstehen, sondern müssen in der Tat einen anderen Verstand als den unsrigen denken (vgl. KpV, 05: 180 f.), aus dem wir sie als erzeugt betrachten. Das aber, dass wir diesen anderen Verstand denken müssen, ist nach Kant längst nicht dasselbe wie die Behauptung des Physikotheologen, dass er existiert; es ist auch noch nicht ausgemacht, ob wir diesen Gedanken eines anderen Verstandes, insofern er auf die skizzierte Art mit den Erscheinungen des organischen Lebens verknüpft ist, überhaupt als den Gedanken eines göttlichen Verstandes anerkennen können. Wenn nicht, dann ist schon aus diesem Grund eine Physikotheologie nicht möglich.

2 Der andere Verstand Besonders der Frage nach der Natur des anderen Verstandes, der zu den Erscheinungen organischen Lebens hinzuzudenken ist, wird in der folgenden Ausführung der Kritik Kants an der Physikotheologie nachgegangen werden. Das bedeutet, andere Teile seiner hochkomplexen Kritik teleologischen Urteilens zu vernachlässigen, die in einem auf die Physikotheologie begrenzten Beitrag nicht notwendigerweise zu thematisieren sind. Gemeint sind die Teile, die die prinzipielle

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erkenntniskritische Einschränkung des Anspruchs teleologischer Urteile begründen, wonach wir trotz aller Denknotwendigkeit für eine über das empirisch Zufällige reflektierende Urteilskraft letztlich über Naturzwecke „weder objectiv bejahend, noch objectiv verneinend irgend etwas entscheiden“ (KU, 05: 397) können, wonach wir sie also nicht als erkannt behaupten können. Mit der genannten Akzentuierung ergibt sich, die Textgrundlage betreffend, eine Konzentration auf den § 85 der Kritik der Urteilskraft, der die Behandlung der Physikotheologie schon im Titel ankündigt. Dieser späte Paragraph der dritten Kritik bietet eine ganz eigentümliche Kritik an der Physikotheologie, die das Besondere an sich hat, nicht bloß negativ zu sein, sondern eine Aussicht zu eröffnen. Durch eine Argumentation, die unmissverständlich auf die Unmöglichkeit der Physikotheologie zielt, soll doch die Notwendigkeit eines Anschlussgedankens deutlich werden, der seinerseits auf diejenige Theologie führt, die nach Kant die einzig mögliche ist, die Ethiko- bzw. Moraltheologie. Dieser Zusammenhang soll nun entwickelt werden. Der genannte Paragraph beginnt mit einer Definition der Physikotheologie: „Die Physikotheologie ist der Versuch der Vernunft, aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften zu schließen“ (KU, 05: 436). Die Unvermeidlichkeit dieses Versuchs der Vernunft angesichts eines empirisch gegebenen Naturzwecks ist wenig später ausgedrückt. Dort heißt es, dass, „wenn uns auch nur ein einziges organisches Product der Natur gegeben wäre,“ – also etwa der schon mehrfach herangezogene Baum – „wir nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnißvermögens dafür keinen andern Grund denken können, als den einer Ursache der Natur selbst (es sei der ganzen Natur oder auch nur dieses Stücks derselben), die durch Verstand die Causalität zu demselben enthält“ (KU, 05: 437). Die Gründe für dieses DenkenMüssen eines produktiven Verstandes, und zwar eines anderen Verstandes als des unsrigen, der kein organisches Leben erzeugen kann, sind bereits skizziert worden. Im weiteren Verlauf erinnert Kant an eine Bedingung zulässigen Schließens, die sich als folgenschwer erweisen wird. Es ist die Bedingung, dass sich in einem Schluss von empirisch Gegebenem auf seine − in unserem Fall als intelligent gedachte − Ursache dieser Ursache nicht mehr Eigenschaften zuschreiben lassen, „als uns die Erfahrung an den Wirkungen derselben offenbart“ (KU, 05: 438). Diese Erinnerung erfordert die Rückbesinnung auf das, was eigentlich als Wirkung empirisch gegeben ist. Eine erste Einschränkung der gedachten intelligenten Ursache ergibt sich schon durch die Einsicht, dass die für signifikant erachteten Erscheinungen organischen Lebens doch nur ein Stück der Natur ausmachen und diese Natur im Übrigen doch auch durch den Mechanismus regiert wird. Sogar die organischen Produkte selbst sind nicht ausschließlich Manifestationen von Zweckmäßigkeit, wie etwa der Tod der Individuen als das Resultat einer immer auch „an ihrer Zerstörung arbeitende[n] Natur“ (KU, 05: 422) zeigt. Auf diese Einsicht in die bloß partielle organolo-

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gische Verfasstheit der Natur die genannte Schlussregel angewandt, kann der Intelligenz, die zum Organischen hinzuzudenken notwendig ist, nur die Eigenschaft zugeschrieben werden, eben dieses Stück der Natur hervorgebracht zu haben und nicht auch noch die übrige Welt. Eine Intelligenz aber, die die Welt nur zum Teil erschaffen hätte, könnte nicht Gott sein. Den Mangel zu ergänzen und zu sagen: Wer so viel Vermögen hat, organisches Leben zu erzeugen, hat auch das übrige nötige Vermögen, um die ganze Welt zu erschaffen, ist nach der Regel ausgeschlossen. Dennoch so zu reden hieße, den Mangel eines Beweises durch Wohlwollen oder „Gunst“ (KrV, A 624/B 652) zu ergänzen, wozu das Motiv im Bedürfnis und im Interesse liegen kann, das der Physikotheologe an Gott nimmt. Das mag ihn sympathisch erscheinen lassen, doch sein Anspruch auf apodiktisches Beweisen ist dadurch verdorben. Obwohl nun Physikotheologie an diesem Punkt schon widerlegt zu sein scheint, gesteht Kant noch eine erweiterte, und zwar die maximal erweiterte Annahme zu ihren Gunsten zu, um die Konsequenzen aus ihr zu erwägen; es ist die Annahme, wir könnten doch, was wir in der Tat nicht können, nämlich „das ganze System“ der Natur „überschauen“ (KU, 05: 438). Das systematische Ganze der Natur zu überschauen bedeutete, Natur zur Gänze als organologisch verfasst zu erkennen, denn der Systembegriff Kants ist zweifellos ein organologischer Begriff. Der Systembegriff, so schon die Kritik der reinen Vernunft, „ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird“ (KrV, A 832/B 860). Einheit eines Systems ist Einheit eines „Zwecks, worauf sich alle Theile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen“ (KrV, A 832/B 860). Ein systematisches Ganzes ist des Weiteren „gegliedert […] und nicht gehäuft“, kein Aggregat also; „es kann zwar innerlich […], aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein thierischer Körper“ (KrV, A 833/B 861). Was folgt nun aus dem angenommenen Optimum für die teleologische Denkungsart des Physikotheologen, dass die ganze Natur ein solches zweckmäßiges Ganzes sei? Die Antwort, in Kürze vorweggenommen, lautet: Zum einen folgt, dass selbst bei einer vollständig auf teleologische Art erkannten Natur eine unabweisbare Frage offen bliebe, nämlich die nach dem Endzweck dieser Natur; zum anderen und damit korrespondierend folgt, dass die zu einer bloß teleologischen Perfektion hinzuzudenkende Intelligenz nicht Gott sein kann.

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3 Die Frage nach dem Endzweck und Intelligenz als Kunstverstand Hinsichtlich der Frage nach dem Endzweck ist zunächst zu erläutern, wonach sie fragt. Sie will nicht weniger wissen als „wozu die Natur selbst existirt“ (KU, 05: 437). Diese Frage nach dem Endzweck selbst unter der Annahme einer vollständigen teleologischen Verfasstheit der Natur für noch offen zu halten, impliziert, eine solche Welt nicht für einen Selbstzweck zu halten. Sie impliziert, dass Natur auch als teleologisches System nicht selbstgenügsam wäre, nicht um ihrer selbst willen existierte. Eine etwaige Aussage, dass sie auf diese wohlgeordnete Weise eben da sei und nichts weiter, ist für Vernunft also nicht akzeptabel. Zurückbezogen auf das organische Leben einer individuellen Lebenserscheinung, das ja das Muster für die erweiterte Anwendung auf das systematische Ganze der Natur war, bedeutet dies: Es ist auch nicht der letzte Zweck dieses Individuums, bloß dieses leibliche Leben zu vollziehen. Dazu passt, was Kant an anderer Stelle der dritten Kritik zur Gesundheit sagt, zum „körperlichen Wohlbefinden[]“ (KU, 05: 331) des Menschen, die Frage erwägend, ob Gesundheit etwas Gutes sei. Die Antwort lautet: Gesundheit ist nicht schlechthin und für sich genommen gut, sondern muss, um es zu sein, „durch die Vernunft auf Zwecke“ (KU, 05: 208) gerichtet werden. Wenn nun so wie im Fall der Gesundheit auch im Fall der in ihrer Gesamtheit als zweckmäßig organisiert gedachten Welt keine Selbstgenügsamkeit des Existierens angenommen werden kann, was alles weitere Fragen überflüssig machte, sondern wenn gefragt werden muss, wozu denn die Natur selbst existiert, dann ist es nur konsequent mit Kant zu sagen, dass dazu „der Grund außer der Natur gesucht werden muß“ (KU, 05: 437). Wenn demgemäß die Natur selbst „von der Endabsicht nichts sagt, noch jemals sagen kann“ (KU, 05: 440), dann kann „die theoretische Naturforschung“ sie uns auch „nie eröffnen“ (KU, 05: 441). Das heißt: Naturwissenschaft, deren Gegenstandsbereich eben durch den Naturbegriff beschränkt ist, ob sie nun nach dem Prinzip der mechanischen oder dem der teleologischen Kausalität verfährt, ist hinsichtlich der Frage, wozu es überhaupt eine Natur gibt, vollkommen unzuständig und inkompetent. Etwaige Aussagen seitens der Naturwissenschaft, es ließen sich keine Eigenschaften der Natur finden, die bezeugen könnten, sie sei irgendwozu da, wären irrelevant hinsichtlich der Frage nach dem Endzweck. Dass es solche Eigenschaften nicht gibt, ist zwingend, wenn Natur kein Selbstzweck ist und also der Grund für ihr Dasein außer ihr gesucht werden muss. Vor diesem Hintergrund ist der dennoch nicht selten gezogene Schluss vom Nicht-Finden-Können des Endzwecks in der Natur auf seine NichtExistenz ein unzulässiger, und zwar nicht aufgrund eines in der Natur noch Un-

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erforschten, das diesen Endzweck vielleicht hergeben könnte, sondern eben aufgrund der Einsicht, dass der Zweck der Natur nicht in der Natur liegen kann. Vor der Angabe des Endzwecks, die Kant nicht schuldig bleiben wird, ist noch zu erwägen, welche Art von Intelligenz zu einer in ihrer Gesamtheit teleologisch verfassten Natur hinzuzudenken ist – immer unter Beachtung der Regel, dass ihr nur genau das zugeschrieben werden kann, was die Eigenschaften der Wirkung, ihres Produkts, an intelligenter Leistung erfordern. Es mag also zunächst noch verdeutlicht werden, was die Annahme einer in toto zweckmäßigen Natur beinhaltet. Sie beinhaltet in Kants Worten, dass alle „Dinge in der Welt einander nützen“, dass – der Charakteristik des Organismus entsprechend – das Mannigfaltige in der Welt für sie „selbst gut ist“, ja dass insgesamt „nichts in der Welt umsonst [ist], sondern alles irgend wozu in der Natur“ (KU, 05: 437). Eine so vorausgesetzte Natur erfordert, als ihre Ursache einen „Kunstverstand“ (KU, 05: 441) zu denken; sie erfordert nach einer anderen Formulierung Kants den „Begriff einer intelligenten Weltursache (als höchsten Künstlers)“ (KU, 05: 438). Der hier überall enthaltene Ausdruck „Kunst“ ist dabei in erster Linie im Sinne technischen Könnens zu nehmen, obwohl auch eine ästhetische Nebenbedeutung nicht ausgeschlossen werden muss. Mit dem Ausdruck „Kunstverstand“ ist die Intelligenz, die zu einer ganz und gar zweckmäßig organisierten Natur hinzuzudenken ist, als eine eingeschränkte gekennzeichnet. Intelligenz im Sinne eines Kunstverstandes ist die Intelligenz eines Technologen, der alles wissen mag über das Hervorbringen einer zweckmäßig organisierten Natur und der auch alles können mag, um sein Wissen zu realisieren, der aber damit noch nicht alle Eigenschaften hat, die eine Intelligenz zu einer vollkommenen machen. Da aber nur eine solche in jeder Hinsicht ausgezeichnete und durch keine mangelnden Eigenschaften eingeschränkte − in Kants Worten: eine „in allem Betracht unendliche[] Intelligenz“ (KU, 05: 441) − den Namen Gottes verdient, ist Intelligenz im Sinne eines Kunstverstandes, selbst wenn er als ein solcher perfekt wäre, nicht göttliche Intelligenz. Der Gottesbegriff, angewandt auf diese Intelligenz als Kunstverstand, ist Kant zufolge „[v]erschwendet“ (KU, 05: 438). Er ist, wiewohl angewandt auf eine welterschaffende Intelligenz, die größer ist als alle menschliche, doch für etwas Kleineres verwendet als das Wesen, das durch den Begriff Gottes gedacht werden muss, eben eine in jeder Hinsicht vollkommene Intelligenz. Auf einen verschwendeten, also falsch verwandten Gottesbegriff aber lässt sich keine Theologie errichten, so dass Kants Ergebnis lautet: „Physikotheologie [ist] eine mißverstandene physische Teleologie“ (KU, 05: 442). Damit wird die Frage zwingend, was der Intelligenz als Kunstverstand denn fehlt bzw., anders gewendet, auf welche Qualität einer vollkommenen Intelligenz auch eine vollständig teleologisch verfasste Natur nicht schließen lässt. Kants Antwort ist: Eine solche Natur lässt nicht darauf schließen, wozu jene in der Tat hin-

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zuzudenkende Intelligenz sie erschaffen hat, so dass offen bleibt, „[o]b […] dieser Verstand mit dem Ganzen derselben und dessen Hervorbringung noch eine Endabsicht gehabt haben möge“ (KU, 05: 441). Eine Intelligenz aber, der man kein Bewusstsein davon zuschreiben kann, zu welchem Zweck sie etwas erzeugt, ist offensichtlich eingeschränkt. Eine wahrhaft göttlich zu nennende Intelligenz müsste eben dies wissen, wozu sie eine Welt erschafft. Sie müsste bei ihrem Welterschaffen eine weitere Absicht verfolgen als die, dass die Welt bloß da sei. Unter der Voraussetzung einer Intelligenz bloß als Kunstverstand – und auf eine andere führt auch das vollständige System der Naturzwecke nicht – wäre allenfalls zu sagen: Sie erschafft die Welt, weil sie es eben kann, weil sich dadurch ihre überaus kunstfertige Natur ausdrückt. Nach Erschaffung der Welt mag ihr noch zugeschrieben werden, dass sie sich an der technischen Perfektion dieser Welt und vielleicht auch noch an ihrer Schönheit erfreut, also eigentlich an der eigenen Könnerschaft. Das alles aber kann das Nachdenken über die Welt nicht befriedigen, was sich bei Kant durch sein Insistieren auf den untereinander korrespondierenden Fragen nach dem Endzweck der Natur und nach der Endabsicht der sie erschaffenden Intelligenz ausdrückt. Mit ihnen ist danach gefragt, wozu denn diese – nun zugestandenermaßen technisch perfekte und auch schöne – Welt letztlich da ist und was die letzte Absicht der Intelligenz mit ihr gewesen sein mag, die als schöpferische Intelligenz zu ihr hinzuzudenken ist. Danach weiter zu fragen impliziert das Ungenügen an dem Gedanken, die Welt könne etwa bloß deshalb da sein bzw. die welterschaffende Intelligenz könne sie etwa bloß deshalb da sein lassen, damit eben technische Perfektion und Schönheit da seien. Aus der speziellen Sicht des Menschen gesprochen, enthalten die genannten Fragen den Widerstand gegen den Gedanken, sein Leben deshalb führen zu müssen, damit sich der Plan eines hyperintelligenten Technologen, der zudem noch Ästhet sein mag, realisiert. Wenn es so wäre, wäre der Mensch bloß Mittel zum Zweck der Realisierung eines Bauplans, vielleicht noch eines ästhetischen Projekts, welche nicht die seinigen wären; er wäre, wenn auch vielleicht als komplexester und technisch perfektester Teil dieses Plans, vollständig fremdbestimmt. Der Widerstand gegen solche Fremdbestimmung setzt ersichtlich ein Selbstverständnis als freies Wesen voraus. Um Kants Antwort auf die Fragen nach dem Endzweck und der Endabsicht einen Schritt näher zu treten, soll eine knappe, aber signifikante Angabe zum Defizit des in der Physikotheologie gedachten Kunstverstandes aufgegriffen werden. Es ist die Angabe, dass diese Intelligenz eine Intelligenz wäre, der „keine Weisheit“ (KU, 05: 441) zukäme. Dem ist erstens zu entnehmen, dass nach Kant für den adäquaten Gottesbegriff das Merkmal der Weisheit unabdingbar ist. Zweitens lässt sich vermittels dieser Angabe der Charakter des Kunstverstandes noch verdeutlichen, denn der Begriff der Weisheit hat im thematischen Kontext keinen unspezifisch vagen Sinn, sondern ist definiert durch die beiden Eigenschaften der „Güte

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und Gerechtigkeit“, die Kant ausdrücklich „moralische Eigenschaften“ (KU, 05: 444) nennt. Der Kunstverstand ohne all dies ist demnach ein Verstand der moralischen Indifferenz. Und wenn die Frage ist, wem gegenüber aus seiner nach der Voraussetzung an artifizieller Perfektion nicht zu überbietenden Schöpfung er nicht gerecht wird und wem gegenüber er kein gütiges Wohlwollen hat, dann kommt dafür an erster Stelle der Mensch in Frage. Zur Erläuterung dessen, was es heißen mag, dass ein welterschaffender Kunstverstand als dem Menschen gegenüber nicht gerecht und nicht wohlwollend gedacht werden muss, lässt sich daran anknüpfen, dass dem Menschen seinem Selbstverständnis nach eine ihm zugewiesene Rolle nicht genügen kann, in der er bloß Mittel zum Zweck der Realisierung eines kunstvollen systematischen Zusammenhangs von Naturzwecken sein soll. Ihm gegen sein Selbstver-ständnis diese nur dienende und nur fremdbestimmte Rolle zuzuweisen, zeugte von keinem Wohlwollen. Ihm dagegen gerecht zu werden und wohl zu wollen verlangte, dass er als Selbstzweck anerkannt und als ein selbstbestimmter gesichert bliebe. Physikotheologie bietet − und das ist ihr wesentliches Defizit, das darauf beruht, dass sie zu keiner höheren Intelligenz als der des Kunstverstandes gelangt − keinen Raum für den freien und selbstbestimmten Menschen. Sie ist aufgrund ihres verkleinerten Gottesbegriffs, wonach schon eine eingeschränkte Intelligenz fälschlich für Gott gehalten wird, keine tragfähige Theologie, allerdings, wie Kant sagt, doch „Vorbereitung (Propädeutik)“ (KU, 05: 442) zu einer solchen. Durch ihr Scheitern vor der Vernunft, die auf einer angemessenen Würdigung der Freiheit des Menschen besteht und entsprechend auf einem mit dieser Freiheit verträglichen Gottesbegriff, d. h. durch ihr Scheitern vor der praktischen Vernunft, provoziert Physikotheologie die Idee einer anderen Theologie, die eben dieser Vernunft genügt und damit dem Menschen gerecht wird.

4 Das Projekt einer Ethikotheologie Dass die in den Blick genommene andere Theologie, die nach Kant als die einzig mögliche verbleiben wird, dem Menschen eine Zentralstellung zuweist, wird schon durch den ersten Satz des § 86 klar, in dem er sie entwickelt. Dieser enthält auch seine Antwort auf die Frage nach dem Endzweck der Natur, auf die Frage also, wozu Natur letzten Endes da ist. „Es ist ein Urtheil, dessen sich selbst der gemeinste Verstand nicht entschlagen kann, wenn er über das Dasein der Dinge in der Welt und die Existenz der Welt selbst nachdenkt: daß nämlich alle die mannigfaltigen Geschöpfe, von wie großer Kunsteinrichtung und wie mannigfaltigem zweckmäßig auf einander bezogenen Zusammenhange sie auch sein mögen, ja selbst das Ganze so vieler Systeme derselben […] zu nichts da sein würden, wenn es in ihnen nicht

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Menschen (vernünftige Wesen überhaupt) gäbe; d. i. daß ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde.“ (KU, 05: S. 442) Die These zum Endzweck lautet demnach in der konzentriertesten Fassung: Die Welt ist um des Menschen willen da. Er soll ihr letzter Zweck sein, woraufhin sich also keine weiteren Wozu-Fragen mehr stellen lassen. Zunächst noch abgesehen von der speziellen Hinsicht, unter der der Mensch als letzter Zweck der Natur bloß in Frage kommt, die bisher nur im Allgemeinen benannt wurde und noch erläuterungsbedürftig ist, lässt sich die These mit Kant so variieren, dass die Welt ohne den Menschen „zu nichts da“ (KU, 05: S. 442) wäre, dass sie überflüssigerweise da wäre. Ohne den Menschen wäre sie eine Welt der Indifferenz, der Indifferenz jener als Kunstverstand welterschaffenden Intelligenz korrelierend. Ohne den Menschen wäre sie „eine bloße Wüste“ (KU, 05: 442), wie Kant sich ungewohnt drastisch ausdrückt. Diese Wüste wäre sie inklusive aller physischen Lebenserscheinungen, also inklusive des doch so vielfältigen Pflanzen- und Tierreichs. Spätestens an dieser Stelle ist das, was anfangs als das Faszinosum für den Physikotheologen bezeichnet wurde, entzaubert. Es sind aber auch die Aussichten enttäuscht, die Kant selbst bisweilen mit dem auf die Lebenserscheinungen bezogenen teleologischen Denken verbunden hatte, z. B. als er die Ausführung der Teleologie als einen möglichen Beitrag zum Verständnis des Übergangs vom Naturzum Freiheitsbegriff projektierte (vgl. KU, 05: 175 f.). Nach den jetzt erzielten Ergebnissen verbleibt Teleologie vollständig auf dem Gebiet des Naturbegriffs. Doch an die Stelle des falschen Zaubers der physischen Lebenserscheinungen tritt nun der Mensch als Endzweck der Natur. Um einen Widerspruch zu vermeiden, ist hier sogleich hinzuzufügen, dass unter dem als Endzweck angesprochenen Menschen nicht jenes selbst zu den physischen Lebenserscheinungen gehörende Wesen wird verstanden werden können. Unter dem Aspekt seines leiblichen Lebens gehört der Mensch ganz unter den Naturbegriff und erfüllt also die bereits formulierte Bedingung nicht, dass der Endzweck der Natur nicht in der Natur liegen kann. Um diese Bedingung strikt zu beachten, ist also erforderlich, nur einen solchen Aspekt des Mensch-Seins zum Endzweck auszuzeichnen, der nicht zur Natur gehört. Mit dem Ausschluß des leiblichen Lebens des Menschen als dieser Endzweck ist näherhin ausgeschlossen, dass er um des körperlichen Genusses willen, insgesamt um des Glücks willen, da sei. Das beinhaltet keine absolute Positionierung gegen die Lust und das Glück, die Kant gerne unterstellt wird,¹ sondern nur, dass Lust und Glück nicht die letzten Ziele des Menschen sein können. Auch nicht die noch so ausgeklügelte kollektive Organisation von Bedürfnisbefriedigung kann

1 Die differenzierteste und das geläufige Vorurteil berichtigende Untersuchung zum Glücksbegriff bei Kant hat Beatrix Himmelmann vorgelegt (Kants Begriff des Glücks. Berlin, New York 2003).

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dieses letzte Ziel sein, so dass der Mensch also auch nicht letztlich dazu da ist, um sich in der Welt etwa als Ökonom zu beweisen. Darüber hinaus ist er nach Kant auch nicht letztlich dazu da, um geistig zu genießen, nicht um die Welt bloß zu betrachten und nicht einmal, um sie zu erkennen. Auch als Wissenschaftler ist der Mensch demnach nicht Endzweck. Nach all diesen Negationen bleibt nun zu bestimmen, in welcher Qualität er denn Endzweck ist, d. h. wozu er letzten Endes da ist. Eine der Formulierungen, durch die Kant den Endzweck ausdrückt, lautet: Endzweck ist „der Werth, welchen er [der Mensch] allein sich selbst geben kann“ (KU, 05: 443); dieser Wert ist sein moralischer Wert. Zunächst ist an Kants Bestimmung des Endzwecks zu betonen, dass der Mensch, wenn er sich moralischen Wert erst geben muss, ihn nicht immer schon hat, etwa aufgrund seiner Faktizität als Lebewesen, das neben anderen Lebewesen in der Natur vorkommt. Er muss diesen Wert, der nirgends in der gegebenen Natur gefunden werden kann, weder in der äußeren noch in der inneren, psychischen, in sich im rein intellektuellen Selbstverhältnis erst erzeugen. Dieses Erzeugen ist an erster Stelle das Erzeugen von moralischer Verpflichtung überhaupt und dann das Umsetzen dieser Selbstverpflichtung in eine ihr gehorchende Praxis. Die Selbstsetzung moralischer Pflichten, die, wenn gesetzt, in Form von Imperativen, d. h. als Gesetze des Sollens, auftreten, spezifiziert die Begriffe der Freiheit und der Selbstbestimmung, die zuvor noch unspezifisch eingeführt wurden und von denen gesagt werden musste, das physikotheologische Konzept biete für sie keinen Raum. Selbstgesetzgebung als Selbstverpflichtung ist Freiheit als Autonomie. Der Mensch ist zu solcher Selbstgesetzgebung frei von dem, „was ihn von der Natur […] abhängig macht“ (KU, 05: 443), insonderheit also auch frei von sich in seiner Qualität als dieses leibliche und in eins sinnlich bedürftige Lebewesen, als das er sich in der Natur bloß vorfindet. Insofern der Mensch unter diesem Aspekt seiner freien Bestimmung zur Moralität nicht mehr zu fragen übrig lässt, wozu denn diese moralische Selbstbestimmung ihrerseits des Weiteren gut sei, und insofern sein moralisch guter Wille Kant zufolge das schlechthin Gute ist (vgl. GMS, 04: 393), nicht ein relativ Gutes in Hinsicht auf ein noch besseres Gutes, ist er in seiner moralischen Qualität nicht Mittel zu noch weiter entfernten Zwecken, sondern Selbstzweck. Die Erfüllung der Bedingung, dass der Endzweck der Natur nicht in der Natur gesucht werden dürfe, ist damit offensichtlich. Das durch den Menschen in Freiheit durch Selbstgesetzgebung erzeugte moralische Sollen ist etwas, so Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft, das in der Natur nirgends vorkommt (vgl. A 547/B 575), das also keine Faktizität hat, sondern das die Natur, etwa die eigene leibliche Natur, einem kontrafaktischen Anspruch unterordnet. An dieser Stelle, an der nun bestimmt ist, was der Endzweck der Natur ist – eben der Mensch als moralisches Wesen, das im Konzept des Physikotheologen aufgrund seiner Beschränktheit im Paradigma der körperlichen Lebenserschei-

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nungen nicht vorkommen konnte –, ist die Frage neu zu stellen, wie die Intelligenz gedacht werden soll, die als welterschaffende Intelligenz zur Natur hinzuzudenken ist, die sich als empirische Natur nicht vom Menschen her begreifen lässt. Insbesondere ist neu zu fragen, welche Endabsicht dieser Intelligenz bei ihrem Welterschaffen zu unterstellen ist, d. h. wozu sie diese Welt letztlich erschaffen hat. Im Lichte des entwickelten Wissens um den Endzweck der Natur lassen sich diese Fragen jetzt anders beantworten als zuvor unter bloß physikotheologischen Voraussetzungen. Befreit vom Paradigma der Physikotheologie und der in ihm enthaltenen anderen Intelligenz bloß als Kunstverstand, ist nämlich der Gedanke ermöglicht, dass die welterschaffende Intelligenz die Welt deshalb erschaffen hat, um eine Sphäre für Moralität zu eröffnen, einen Schauplatz für moralische Praxis, den es ohne ihr Welterschaffen nicht geben würde. Das ist ersichtlich eine ganz andere Absicht als die, die der Intelligenz als Kunstverstand zu unterstellen war, nämlich die Welt deshalb zu erschaffen, um ihre überragende technische Kunstfertigkeit zu demonstrieren. Der jetzt unter Einschluss des Wissens um den Endzweck zu denkende andere Verstand ist nicht länger wie jener Kunstverstand als moralisch indifferent anzunehmen, sondern als an der Verwirklichung von Moralität zuhöchst interessiert. Aus dem Gesichtspunkt der jetzt zu denkenden Intelligenz ist Natur nicht länger zu nichts weiter da, nicht länger Sphäre der Indifferenz und als solche „eine bloße Wüste“ (KU, 05: S. 442), sondern hat die Bedeutsamkeit einer Realisierungsbedingung für Moralität. Indem es der jetzt zu denkenden Intelligenz um die Verwirklichung von Moralität zu tun ist, sind ihr die Eigenschaften zuzuschreiben, die nach Kant im Begriff der Weisheit zusammengefasst sind, die moralischen Eigenschaften der Güte und Gerechtigkeit nämlich, die dem Kunstverstand nicht zuzuschreiben waren. Die jetzt gedachte Intelligenz verdient zu Recht den Namen Gott. Der Gottesbegriff, auf sie angewandt, ist nicht verschwendet. Der Gottesbegriff inklusive der moralischen Eigenschaften ist sogar vollkommen adäquat, was heißen soll, dass die jetzt gedachte Intelligenz nicht etwa ihrerseits als noch defizitär im Vergleich mit einer noch höheren Intelligenz gedacht werden kann, für die dann der Ausdruck „Gott“ weiterhin zu reservieren wäre. Der Grund dafür ist der absolute Charakter des Zwecks der Moralität. Das heißt: Die Welt kann zu nichts noch Besserem da sein als um der Realisierung von Moralität willen. Es kann also auch keine noch bessere welterschaffende Intelligenz gedacht werden als die, die die Welt genau zu diesem Zweck erschafft. Hinsichtlich der Frage, auf welche Art Theologie nur möglich ist, lässt sich das Fazit ziehen: nur unter der Bedingung, dass ihr Zentralbegriff, d. i. der Begriff Gottes, angemessen bestimmt ist. Weil diese Bedingung aber im Fall der Physikotheologie nicht erfüllt ist, weil diese im Ausgang von den körperlichen Lebenserscheinungen etwas als Gott denkt, was nicht Gott sein kann, muss sie notwendig scheitern. Es kann, so Kant, nur „Vernunft vermittelst ihrer moralischen

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Principien zuerst den Begriff von Gott“ (KU, 05: 447) hervorbringen. Nur Moral- bzw. Ethikotheologie, die diesen allein angemessenen Gottesbegriff moralischpraktischer Vernunft zugrunde legt, kann demnach erfolgversprechend als Theologie projektiert werden.

Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants Der erste Teil der Vorrede zur ersten Auflage von Kants Religionsschrift endet mit einer langen Anmerkung, die in der – hier nicht zum ersten Mal geäußerten – These gipfelt, Moral führe „unausbleiblich zur Religion“ (RGV, 06: 8 Anm.). Auch was unter Religion verstanden werden soll, ist hier gesagt, nämlich Annahme eines „allvermögende[n] moralische[n] Wesen[s] als Weltherrscher“ (RGV, 06: 8 Anm.). – Ganz zu Beginn dieser Vorrede heißt es allerdings von der Moral unmißverständlich, sie sei „vermöge der reinen praktischen Vernunft […] sich selbst genug“ und bedürfe „zum Behuf ihrer selbst […] keineswegs der Religion“ (RGV, 06: 3). Obwohl sofort ersichtlich ist, dass es keinen Widerspruch erzeugt, Moral einerseits für autonom und andererseits für notwendig mit Religion verbunden zu erklären, scheint doch ein Spannungsverhältnis vorzuliegen. Denn der doch als ›moralisches Wesen‹ apostrophierte göttliche Weltherrscher wird bei der Bestimmung der Autonomie der Moral ausdrücklich als etwaiger moralischer Gesetzgeber ausgeschlossen. Der Mensch bedürfe „weder der Idee eines anderen Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). Ja es sei sogar seine „eigene Schuld, wenn sich ein solches Bedürfnis“ – vermittels der Idee eines anderen Wesens seine Pflicht zu erkennen und ihr gemäß zu handeln – „an ihm vorfinde[]“ (RGV, 06: 3). Dieses Bedürfnis könne „keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität“ (RGV, 06: 3) abgeben. Kant hält es demnach sogar für ein moralisches Defizit, wenn der Mensch seine Pflicht nicht im Selbstverhältnis freier Selbstverpflichtung erzeugt, sondern auf die Idee Gottes rekurriert, um von diesem, also heteronom, seine Verpflichtung zu entlehnen. Unter dem Aspekt der Begründung der Moral erscheint derart der religiöse Gedanke an den moralischen Weltherrscher nicht bloß unnötig, sondern sogar schädlich. Auch über die Begründung hinaus in Ausübung der Pflicht ist es nach Kant ganz unnötig, sich in Beziehung auf Gott zu setzen. Es bedarf ihmnach überhaupt keines „materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür“ – wie Gott einer wäre –, „d. i. keines Zwecks, weder um was Pflicht sei, zu erkennen, noch dazu, daß sie ausgeübt werde“ (RGV, 06: 3 f.). Im Gegenteil soll allein durch Reflexion auf „die bloße Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit“ (RGV, 06: 3) einer Maxime zu entscheiden sein, ob ich etwa „vor Gericht“, so Kants Beispiel, „in meinem Zeugnisse wahrhaft […] sein soll“ (RGV, 06: 3). Denjenigen, der es nötig findet, seine Wahrhaftigkeit durch einen materialen Bestimmungsgrund zu erzeugen, nennt er gar einen „Nichtswürdige[n]“ (RGV, 06: 3). Nach dieser weitgehenden Aussage hätten wir es z. B. dann mit einem Nichtswürdigen zu tun, wenn einer allein aus dem Grund wahrhaft aussagte, weil https://doi.org/10.1515/9783110788099-005

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eine Falschaussage gegen Gottes Gesetz verstoßen und Gott nicht gefallen würde, wenn er seine Wahrhaftigkeit also nicht aus sich erzeugen könnte. Doch trotz der Abweisung jeglicher Zweckvorstellung aus der Willensbestimmung zum moralischen Handeln, d. h. trotz der autonom im Selbstverhältnis durch Reflexion auf die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Maxime zu erzeugenden Verpflichtung, etwa zur Wahrhaftigkeit, hat Moral doch eine notwendige Beziehung auf Zwecke; eine der moralischen Willensbestimmung nachträgliche, aber doch unvermeidliche. Kants Begründung dieser Notwendigkeit lautet schlicht: weil „keine Willensbestimmung im Menschen […] ohne alle Wirkung sein kann“ (RGV, 06: 3). Immer muß also die Vorstellung einer Wirkung, d. h. eine Zweckvorstellung, zur moralischen Bestimmung der Willkür hinzukommen, weil die Willkür sonst, so Kant, zwar angewiesen wäre „wie […], aber nicht wohin sie zu wirken habe“ (RGV, 06: 3). Der Wille benötigt also etwa nicht bloß die Anweisung zur wahrhaftigen Aussage, die als solche im Selbstverhältnis als Selbstverpflichtung ohne Zweckvorstellung zu erzeugen ist, sondern darüberhinaus eine Vorstellung von den Wirkungen des wahrhaftigen Aussagens. Es braucht kaum gesagt zu werden, dass nach möglichen Erwägungen mit ebenso möglichen unterschiedlichen Ergebnissen die Zweckvorstellung, die die moralische Willensbestimmung dann schließlich vervollständigt und spezifiziert, nicht zur Modifikation dieser moralischen Bestimmung führen darf, also nicht etwa das Wahrhaftigkeitsgebot selbst fraglich werden lassen darf, denn dann wäre unzulässigerweise das Moralische an der Willensbestimmung doch wiederum unter die Bedingung eines Zwecks gestellt. Aber im Anschluß an die moralische Willensbestimmung sind nach Kant bestimmte handlungsorientierende Zweckvorstellungen nicht bloß möglich, sondern sogar gefordert und unvermeidlich. Mit der auf die rein moralische Willensbestimmung notwendig folgenden Einbeziehung von Zwecken ist die Frage der Realisierung des Moralischen in der Welt an diese Willensbestimmung notwendig angeschlossen, d. i. nach Kantischem Sprachgebrauch die Frage der Verbindung des Moralischen mit der „Zweckmäßigkeit der Natur, deren wir gar nicht entbehren können“ (RGV, 06: 5). Der zuletzt skizzierte Zusammenhang ist von Kant selbst in der bis hierhin zugrundegelegten Passage der Religionsschrift wie folgt ausgedrückt: Es bedarf „zwar für die Moral zum Rechthandeln keines Zwecks, sondern das Gesetz, welches die formale Bedingung des Gebrauchs der Freiheit überhaupt enthält, ist ihr genug. Aber aus der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme, und worauf wir, gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt, doch als auf einen Zweck unser Tun und Lassen richten könnten, […]“ (RGV, 06: 4 f.).

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In der Fortführung der Passage der Religionsschrift erwägt Kant nun nicht spezielle Situationen des Rechthandelns und seiner Folgen in der Welt, sondern welche Welt im ganzen der allein am moralischen Gesetz orientierte Mensch „wohl durch die praktische Vernunft geleitet, erschaffen würde, wenn es in seinem Vermögen wäre“ (RGV, 06: 5); er erwägt den „Endzweck, der von der Vernunft gerechtfertigt werden kann“, d. i. der„Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke“ (RGV, 06: 5). Dieser Endzweck, so das Ergebnis, ist gedacht durch die Idee des höchsten Guts, worunter verstanden wird, dass der Mensch sich „zu seinen Pflichten“ noch „den Erfolg derselben“ (RGV, 06: 6) hinzudenkt, und zwar derart, dass die Vereinigung der aus moralischer Pflicht sein sollenden Wirkungen mit denjenigen Zwecken gedacht wird, „die wir haben“ (RGV, 06: 5). Die Zwecke aber, die wir schlicht haben, d. h. die mit der natürlichen Vorfindlichkeit des Menschen schon mit gegeben sind, lassen sich zusammengefaßt durch den Zweck der Glückseligkeit benennen. Es wird also durch die Idee des höchsten Guts die Vereinigung der moralischen Wirkungen mit dem, was der Mensch aufgrund natürlichen Bedürfnisses will, nämlich glücklich sein, gedacht. Insofern mit dem Moralischen vereinigt, wird dieses Glücklich–Sein nicht nur nicht durch amoralisches Handeln, auch nicht durch moralindifferentes Handeln erzielt sein dürfen, sondern der Pflichterfüllung „angemeßne Glückseligkeit“ sein müssen, d. h. durch Pflichterfüllung verdientes Glück. Insgesamt ist also, wie es schon die Kritik der reinen Vernunft in der Methodenlehre ausdrückt, durch die Idee des höchsten Guts das „System der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, A 809/B 837) gedacht. Es ist an dieser Stelle also festzuhalten, dass Kant zum einen die formale Willensbestimmung nach dem Sittengesetz für notwendig durch materiale Zwecksetzungen erweiterungsbedürftig hält und dass zweitens diese Zwecksetzungen auf einen geradezu ›eudaimonistisch‹ zu nennenden Endzweck hinauslaufen, wobei darin allerdings Glückseligkeit an die Bedingung der Tugend, die er sonst auch Glückswürdigkeit nennt, rückgebunden bleibt. Kant unterscheidet zwischen dem, was sich analytisch aus den moralischen Gesetzen entwickeln läßt und dem davon unterschiedenen „synthetische[n] praktische[n] Satz a priori“, dass sich jedermann das höchste Gut „zum Endzwecke machen solle“ (RGV, 06: 7 Anm.), durch welchen Imperativ also das Glücksziel in die Sphäre des Sollens mit einbezogen ist. Das ist im Fall der analytischen Betrachtung der moralischen Gesetze nicht so, denn, so Kant: „Diese […] gebieten schlechthin, es mag auch der Erfolg derselben sein, welcher er wolle, ja sie nöthigen sogar, davon gänzlich zu abstrahieren“ (RGV, 06: 7 Anm.). Es wäre allerdings verfehlt, daraus zu schließen, dass die moralischen Gesetze nach analytischer Betrachtung von der Glücksthematik ganz abgetrennt sind. In der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft ist dazu ausgeführt, dass unter der Bedingung, „daß jedermann tue, was er soll“ (KrV, A 810/B 838) – und gemeint ist die Befolgung der sittlichen Gesetze bloß

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demgemäß, was sie analytisch enthalten –, dass dann die „vernünftigen Wesen […] selbst […] Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt sein würden“ (KrV, A 809/B 837). Bei faktischer Erfüllung dieser Bedingung – wenn es also keine Hindernisse universeller Pflichterfüllung gäbe – wäre es nicht nötig, das Glück, im Zitat durch die universelle Wohlfahrt angesprochen, ausdrücklich als synthetisch hinzukommenden Zweck zu setzen und es eigens zum Gegenstand des Sollens zu machen, weil es sich auch ohne dies bloß bei Befolgung der formalen sittlichen Anweisung, Maximen des Handelns gesetzesförmig einzurichten, von selbst einstellen würde. Glück ist also in jedem Fall, auch im analytischen, im Gesichtsfeld des Begriffs der Moralität, weshalb allein auch einsichtig wird, warum Kant den Tugendhaften, d. h. den, der unangesehen aller materialer Zwecke allein pflichtgemäß handelt, in eins den Glückswürdigen nennt. Ohne dass mindestens die Projektion des Glücks schon im Begriff der Moralität enthalten wäre, könnte der Tugendhafte auch nicht einmal Glückswürdiger heißen. Dass dieser allerdings bloß glückswürdig und nicht aufgrund seiner Moralität auch schon ein in der Tat Glücklicher und Glück Hervorbringender ist, zeigt schon an, dass es sich bei der genannten Voraussetzung – jeder tut, was er soll; Hindernisse der Sittlichkeit gibt es nicht – um eine Fiktion handelt, von der das wirkliche menschliche Leben abweicht. Anders gesagt, ist das Glück unter den Bedingungen dieses Lebens nicht analytisch im Begriff des Rechthandelns enthalten. Glück folgt also nicht notwendig aus dem Rechthandeln. Es tut nicht jeder, was er soll, denn mit der Sinnlichkeit gibt es einen zweiten, allem Anschein nach moralischpraktischer Rationalität externen Aspekt des menschlichen Selbstverständnisses. Seiner Sinnlichkeit nach ist sich der Mensch gegeben, vorfindlich, mit Bedürfnissen behaftet, die den Status unverfügbarer empirischer Daten haben. Diese Sinnlichkeit, die im Unterschied zur moralischen Willensbestimmung die „Privatwillkür“ (KrV, A 810/B 838) des Menschen bestimmt, ist zwar per se moralindifferent und insofern unschuldig, aber, wenn im moralisch relevanten Fall die Handlungsmaxime bestimmend, moralitätszerstörend. Aufgrund dieser anscheinend vernunftexternen Sinnlichkeit mit ihrem anscheinend isolierten Gebiet ganz außermoralischer Bedürfnisse und moralindifferenter Befriedigungen, das sind von Glückswürdigkeit abgetrennte Glücksmöglichkeiten, ist im Fall moralischer Handlungen, so Kant, nicht „bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden“ (KrV, A 810/B 838). Das heißt: Das Verhältnis von Glückswürdigkeit und tatsächlichem Glück scheint ein beliebiges und zufälliges zu sein. Das aber, dass der Glückswürdige nicht notwendig glücklich sein soll, sondern vielleicht unglücklich bleiben muß, entsprechend dass der Unwürdige vielleicht glücklich ist, ist ein buchstäblich irrationaler Zustand, mit dem praktische Vernunft sich nicht begnügen kann. Das Defizit dieses Zustands denkt sie sich mittels der notwendigen Idee des höchsten Guts als geheilt und fordert demgemäß, so der Text der Methodenlehre,

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dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV, A 809/B 837). Das ist die Forderung, dass der Nexus zwischen Glückswürdigkeit und Glück ein notwendiger sei. Spezieller, auf das Handeln bezogener Ausdruck dieser Forderung ist, wie in der Formulierung der Religionsschrift schon angeführt, der synthetisch praktische Satz a priori, dass „jedermann sich das höchste, in der Welt mögliche Gut zum Endzwecke machen solle“ (RGV, 06: 7 Anm.). Synthetisch ist dieser Satz, weil er über den bloßen „Begriff der Pflicht in der Welt hinausgeht“ – man könnte auch sagen: mißlicherweise hinausgehen muß – „und eine Folge derselben [der Pflichten] (einen Effect) hinzuthut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist“ (RGV, 06: 7 Anm.), d. i. die Glückseligkeitsfolge. Weil das Glück aus der Befolgung der moralischen Gesetze nicht von selbst resultiert, muß es durch Vernunft hinzukommend ausdrücklich gemacht und auch eigens gefordert, d. h. in die Sollensvorschrift als synthetische Ergänzung aufgenommen werden. Mit der nun für den Menschen gestellten Aufgabe, d. i. in einer anderen Formulierung Kants, die Aufgabe, „die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken“ (RGV, 06: 8 Anm.), steht er unter der Anforderung, über bloße formale Pflichterwägungen hinaus materiale Erwägungen mit dem Ziel der Gestaltung einer besseren Welt anzustellen, in der tatsächlich auch für das Glück der Glückswürdigen gesorgt ist. Es stellt dies eine Ausdehnung der Rationalitätsansprüche praktischer Vernunft auf den Bereich des Sinnlichen dar. Unterstellt nämlich, die Forderung wäre erfüllt, wäre das Glück des Glücklichen nicht länger bloß empirisches Datum, d. h. nicht länger bloß zufällig gegebenes Faktum, das ebenso zufällig auch dem Unwürdigen hätte zuteil werden können, sondern es wäre vor der praktischen Vernunft gerechtfertigtes, ja in der notwendigen Konsequenz ihrer Betätigung liegendes verdientes Glück. Die mindestens partielle Herstellung solcher Verhältnisse muß nun auch möglich sein, denn ohne dies, d. h. bei Unmöglichkeit des Bewirkens von Glück in Korrelation mit Glückswürdigkeit, wäre es unsinnig, das höchste Gut, wie Kant es doch tut, in einen für jedermann geltenden Imperativ aufzunehmen. Dass wir auf den genannten „Zweck unser Tun und Lassen richten“ sollen, liegt eben daran, dass es „der Vernunft […] unmöglich gleichgültig sein“ kann, was aus dem „Rechthandeln herauskomme“, und diese Vorschrift gilt, so Kant, „gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt“ (RGV, 06: 5). Etwas davon muß in unserer Gewalt liegen, um den erweiterten Imperativ nicht aufgrund unmöglicher Verwirklichung sinnlos werden zu lassen, doch die Frage, ob alles dazu in unserer Gewalt liegt, wird von Kant verneint. Er stellt fest, „daß das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht“ (RGV, 06: 8 Anm.). Anders gesagt, ist das menschliche Vermögen nicht hinreichend, durch sein Wirken in der Welt den Zufallscharakter des einer isolierten Sinnlichkeit zugehörenden Glücklich – bzw. Unglücklich-Seins durch Integration in die verei-

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nigten Systeme der Sittlichkeit und der Glückseligkeit zu eliminieren. Da Vernunft aber auf Totalität aus ist und sein muß, muß sie das, wozu sie selbst nicht hinreichend ist, in ein, so Kant, „allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher“ setzen, „unter dessen Vorsorge dies geschieht“ (RGV, 06: 8 Anm.). An diese zuletzt zitierte Stelle fügt Kant sein Diktum an: „Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, 06: 8 Anm.).¹ Hier stellt sich nun die Frage, ob das entwickelte Denken–Müssen Gottes schon Religion im Sinne eines Glaubens an Gott bedeutet, so dass also gesagt werden könnte, Moral führe notwendig zum Gottesglauben. Die zu erfüllenden Bedingun-

1 Mit gewissen negativen Konsequenzen findet sich bei Wilhelm Vossenkuhl („Die Paradoxie in Kants Religionsschrift und die Ansprüche des moralischen Glaubens“. In: Kant über Religion. Hrsg. von Friedo Ricken und François Marty. Stuttgart 1992, 168–180) die Differenzierung zwischen der analytischen und der synthetischen (um eine materiale Zwecksetzung erweiterten) Fassung des Sittengesetzes nicht. Die Bedingung, die Vossenkuhl statuiert (vgl. 169), damit das Sittengesetz nicht sinnlos sei, nämlich die Annahme Gottes als des Garanten des im Fall moralischer Handlungen für den Menschen unverfügbaren Entgegenkommens der Natur unter dem Gesichtspunkt des Weltbesten, gilt aber nur für seine synthetische Version. Gemäß der analytischen Fassung, d. h. ohne Einbeziehung materiale Zweckerwägungen, ist es dem Menschen immer möglich, etwa zu erkennen, dass die Wahrheit gesagt werden muß; und es steht auch allein in seiner Macht, dies zu tun. Nur hinsichtlich der gemäß dem synthetischen Imperativ zusätzlich zu der moralischen Erwägung im engeren Sinne anzustellenden Erwägungen unter dem Aspekt des (aus der wahren Aussage) resultierenden, durchaus unsicheren Glückszustands der Welt, ist die Idee göttlicher Beihilfe notwendig. Die verbleibende Schwierigkeit hinsichtlich der etwaigen Sinnlosigkeit des synthetischen Imperativs, die dann in der Tat ungelöst bliebe, wenn etwas definitiv Unerreichbares, der durch Moralität beförderte Glückszustand, durch ihn gefordert wäre, ist nach Vossenkuhl nur durch den Vollzug und die Anerkennung des sog. moralischen Gottesbeweises (KU § 87) zu lösen möglich. Dadurch gewinnt ihmnach also die Moralreligion mit ihrem Glauben an die Existenz Gottes das beträchtliche systematische Gewicht, das Sittengesetz vor der Sinnlosigkeit zu bewahren, und es können seines Erachtens nur durch diesen Glauben die am Weltbesten orientierten moralischen Handlungen überhaupt motiviert sein (vgl. 174,179). Kant dagegen war weit entfernt davon, Glaubensgewißheit als Bedingung für die Sinnhaftigkeit und die Motivationskraft des Sittengesetzes in seiner synthetischen Gestalt zu statuieren. Der schwächste der Möglichkeitsmodi, die Nicht-Unmöglichkeit eines göttlichen Urhebers, war für ihn praktisch hinreichend, d. h. hinreichend für die Sinnhaftigkeit des synthetischen Imperativs und hinreichend für seine Motivationskraft: „Da ich […] nicht allein befugt bin, mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt zu denken, sondern sogar am moralischen Gesetze einen rein intellectuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligiblen Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang als Ursache, mit der Glückseligkeit, als Wirkung, in der Sinnenwelt habe“ (KpV, 05: 114 f.). Ähnlich äußert er sich in einer Reflexion: Die Pflicht, nach Kräften das beständige „Fortschreiten zum Besseren“ des Menschengeschlechts zu fördern, ist „immer hinreichend gegründet […], wenn man ihr nur nicht die Unmöglichkeit entgegenstellen kann“ (Refl 8077, 19: 608).

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gen dafür sind sehr hoch gesteckt, wenn nach Kants eigener Angabe aus dem Streit der Fakultäten gilt, dass „Religion (als auf moralische Begriffe gegründet) für sich vollständig und zweifelsfrei sein muß“ (SF, 07: 44). In seiner Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? erläutert er Glauben als ein „Fürwahrhalten“, das „dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon völlig unterschieden ist“ (WDO, 08: 141). Diese Angabe kommt überein mit seiner klassischen Bestimmung dieses Fürwahrhaltens in der Kritik der reinen Vernunft als „subjektiv zureichend[es]“ Fürwahrhalten, das, obwohl „objektiv unzureichend“, doch „Überzeugung“ (vgl. KrV, A 822/B 850) sei. Den Fall der Begründung des Glaubens in moralischen Begriffen beschreibt er hier als den, „sicher“ zu sein, dass diesen Glauben „nichts wankend machen könne“ (KrV, A 828/B 856).² Was zunächst dagegen zu sprechen scheint, die entwickelten Gedanken zum höchsten Gut, speziell den Gedanken an Gott als des notwendig zu denkenden Garanten der Vereinigung des Systems der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit als Grundlage eines Glaubens anzuerkennen, ist der Status dieser Gedanken als Ideen. Die Kritik der reinen Vernunft ist in weiten Teilen Ideenkritik, und zwar auch solcher Ideen, die Vernunft unausbleiblich denken muß. Der Grund, auch nur das schwächste Fürwahrhalten hinsichtlich der Gegenstände dieser Ideen, bloßer Gedankendinge, auszuschließen, ist hier, grob gesprochen, dass ihnen keine Anschauung korrespondierend gegeben werden kann, weder eine empirische noch eine reine. Aus diesem Grund ist daraufhin nicht einmal ein Meinen möglich, wozu nämlich „wenigstens etwas“ (KrV, A 822/B 850) gewußt werden muß, d. h. wozu wenigstens ein Element objektiv zureichend durch Anschauung bewährt sein muß. Der Ideenkritik unterliegt in der angesprochenen Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft auch die Gottesidee. Ihre Erwägung führt nach den berühmten Abschnitten, die alle nur möglichen Gottesbeweise widerlegen sollen, bloß zu dem minimal positiven Ergebnis, zumal selbstverständlich auch kein Beweis der

2 Mit der entwickelten Bedingung subjektiver Gewißheit ist – anders als etwa Maximilian Forschner meint („Das Ideal des moralischen Glaubens. Religionsphilosophie in Kants Reflexionen“. In: Kant über Religion. Hrsg. von Friedo Ricken und François Marty. Stuttgart 1992, 83–99) – dann noch kein Vernunftglaube begründet, wenn bloß „aus der Perspektive unparteilicher Vernunft das Glück eines moralitätsfähigen und glücksbedürftigen Wesens […] nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten zu postulieren oder zumindest nach Billigkeitsgründen zu erwarten ist“ bzw. wenn Vernunft nur „Hoffnung und Verheißung der Realisierung des höchsten qua vollständigen Guts“ (91) gibt. So lange bloß gesagt werden kann: Wenn es aufs Ganze gesehen vernünftig zugeht, müssen das höchste Gut und Gott als sein Garant existieren, ist noch Raum für Zweifel an dieser universellen Rationalität und also der subjektive Zustand des Fürwahrhaltens noch nicht der der Gewißheit. Unter dieser Voraussetzung ist diese Rationalität eben erst, um mit den Worten von Onora O’Neill („Innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. In: Kant über Religion. Hrsg. von Friedo Ricken und François Marty. Stuttgart 1992, 100–111) zu reden, „Gegenstand eines vernünftigen Hoffens“ (104).

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Nicht–Existenz Gottes möglich wäre, dass Gott nicht unmöglich ist. Minimal ist dieses Ergebnis, weil es nur die logische Widerspruchsfreiheit des bloßen Begriffs von Gott konzediert, nicht aber reale Möglichkeit ausdrückt. Von daher ist in der Gottesfrage Urteilsenthaltung nahegelegt, Agnostizismus also. Zwar weist Kant den Ideen der Dialektik auch noch eine nützliche Rolle zu, nämlich als regulative Ideen zu dienen. In dieser Funktion ist aber etwa die Idee einer„höchsten Intelligenz“ „nur ein heuristischer und nicht ostensiver Begriff, und zeigt an, nicht wie ein Gegenstand beschaffen ist, sondern wie wir, unter der Leitung desselben, die Beschaffenheit und Verknüpfung der Gegenstände der Erfahrung überhaupt suchen sollen“ (KrV, A 671/B 699). Unter ihrer Leitung sehen wir, so Kant, die Dinge der Welt so an, „als ob sie von einer höchsten Intelligenz ihr Dasein hätten“ (KrV, A 671/B 699). Es kann aber darum die Existenz des Gegenstandes dieser Idee „nicht einmal hypothetisch zugegeben“ (KrV, A 670/B 698) werden. Wenn man diese Funktion von Ideen auf die Idee des höchsten Gutes übertrüge, so verbliebe für diese nicht mehr als der Status, einen gedachten, und zwar von vornherein als unerreichbar gedachten Zielpunkt zu markieren, nämlich den der vollständigen Vereinigung der Systeme der Sittlichkeit und der Glückseligkeit vermittels eines allvermögenden Wesens, wobei diese Idee zwar die relative Nützlichkeit haben könnte, das Handeln unter dem Gesichtspunkt der unserem Vermögen ja partiell zugesprochenen Weltverbesserung zu leiten, aber ein Glaube an das Dasein jenes allvermögenden Wesens wird sich daraus nicht herleiten lassen. Wenn nun aber doch die Idee des höchsten Guts einen Gottesglauben soll begründen können, dann wird der Charakter dieser Idee ein wesentlich anderer sein müssen als der der soeben erwogenen Ideen. Und in der Tat hat sie diesen, weil sie nämlich eine im Praktischen begründete Idee ist. Insofern Idee, werden durch sie zwar auch wie durch die anderen Ideen unvollständige Verhältnisse durch einen Totalitätsbegriff vervollständigt gedacht, aber in ihrem Fall ist es keine Mangelsituation des Erkennens, sondern es sind im Moralischen begründete defizitäre Verhältnisse. Die Heilung von Erkenntnisdefiziten scheint nun ganz anders bewertet werden zu müssen als die Heilung der aus der Warte praktischer Vernunft unzulänglichen, d. h. bloß zufällig möglichen Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück. Die Heilung von Erkenntnisdefiziten erscheint als entschieden weniger wichtig. Zum „Dasein Gottes“, als zur Endabsicht der „Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche“ gehörend, sagt Kant demgemäß: Daran ist das „Interesse der Vernunft nur sehr gering“ (KrV, A 798/B 826). Während das demnach schwache Interesse der Vernunft etwa an Gottesbeweisen leicht zu unterdrücken sein wird, scheint das Interesse der Vernunft an der tatsächlichen Überwindung der Situation einer nicht notwendig vergoltenen Moralität unabweisbar zu sein. Die Unabweisbarkeit des Interesses selbst ist hier als signifikant anzusehen. Es handelt sich dabei um kein partikulares Interesse, das aus dem Grund dieser Partikularität

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unter Verdacht zu stellen wäre, sondern um das universale Interesse der praktischen Vernunft daran, dass das moralische Gebaren nicht ohne tatsächliche Konsequenzen bleiben darf. In diesem Sinne sagt Kant von dem Satz, der das Dasein Gottes ausdrückt, dass er „uns zum gar nicht nötig“ sei, aber „gleichwohl durch unsere Vernunft dringend empfohlen“ werde; seine „Wichtigkeit“ gehe „wohl eigentlich nur das Praktische an“ (KrV, A 798/B 826). Für wen nun aber das genannte Interesse an einer Moralität mit notwendigen angemessenen Folgen abzuweisen möglich wäre, für den wäre an dieser Stelle der Weg von der Moral zur Religion zu Ende, also Religion unter Einschluß des Gottesglaubens keine unausbleibliche Folge, obwohl auch dieser noch anerkennen könnte, dass als Garant des Notwendigkeitsnexus zwischen Glückswürdigkeit und Glück Gott gedacht werden muß. Es würde dieser nicht zum Glauben Vordringende es also für möglich halten, dass zum einen die Verpflichtung zur Moralität gegeben sei, dass zum zweiten auch, die Folgen betreffend, Gott als Garant der nicht im Menschenvermögen liegenden Vollendung der Rationalität praktischer Vernunft notwendig zu denken sei, dass aber drittens von der tatsächlichen universellen Vernünftigkeit der Verhältnisse nicht mit der zum Glauben nötigen Gewißheit auszugehen sei, dass also, jene Folgen der Moralität betreffend, auch das irrationale Dunkel der Folgenlosigkeit herrschen könne. Nach Kant regiert diesen Ungläubigen die „Maxime der Unabhängigkeit der Vernunft von ihrem eigenen Bedürfnis“. Indem er diese Unabhängigkeit als „Verzichtthuung auf Vernunftglauben“ versteht, scheint dieser Verzichtende eine Anstrengung gegen etwas von seinem Bedürfnis her eigentlich Näherliegendes aufbringen zu müssen (WDO, 08: 146). Die Reflexion des Gläubigen im Sinne der Vernunftreligion dagegen müßte etwa so lauten: Es muß sein, woran mir gelegen ist, denn es ist mir daran unter dem Aspekt praktischer Vernunft gelegen, d. h. vom dominierenden Aspekt meines Selbstverständnisses her, der allein menschliche Existenz bedeutsam macht. Der nicht von der Moral zur Glaubensgewißheit Gelangende müßte diese Bedeutsamkeit als eine hinsichtlich der Folgen potentiell sinnlose Bedeutsamkeit ansehen. Wenn dieser allerdings kein dogmatischer Atheist ist – ein solcher würde (allenfalls mit scheinbaren Beweisen operieren könnend) die Unmöglichkeit des höchsten Guts und damit implizit die Nicht–Existenz Gottes dezidiert behaupten –, dann wird für ihn die andererseits zuzugestehende Nicht-Unmöglichkeit des höchsten Guts praktisch hinreichend sein, d. h. hinreichende für moralische Handlungen mit der zusätzlichen Orientierung an der Verbesserung des Glückzustands der Welt. Insofern Glaube nun als Überzeugung bestimmt ist, d. h. als subjektiv zureichendes Fürwahrhalten, das objektiv unzureichend ist, ist diese unzureichende Objektivität nicht schon als Grund einer Einschränkung des Grades seiner Gewißheit zu nehmen. Wenn es auch andere Gründe der Einschränkung geben mag, so drückt die Bestimmung ›objektiv unzureichend‹ doch nur aus, dass der Glaube sich

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auf nichts Gegebenes und auch nichts Gebbares in der reinen oder empirischen Anschauung gründen kann, unter welcher Bedingung theoretische Beweise und die mit ihnen verbundene Gewißheit des Wissens stehen. Durch ‚objektiv unzureichend’ ist also nur die völlige Verschiedenheit der Art, nicht aber die Minderung des Grades der Glaubensgewißheit ausgedrückt. Es ist demnach „Vernunftglaube“, so Kant in der Orientierungsschrift, „der, welcher sich auf keine andere Data gründet als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO, 08: 141). Gemeint ist die reine praktische Vernunft. Reine praktische Vernunft aber ist insgesamt anschauungsabgezogen. Beginnend mit der Gewißheit des Sittengesetzes selbst, d. h. mit der Gewißheit des moralischen Verpflichtet–Seins überhaupt, ist es geradezu das Kennzeichnende des Fürwahrhaltens auf dem Gebiet des Praktischen, objektiv unzureichend zu sein, allerdings ohne dass dadurch doch das Bewusstsein der Verpflichtung Schaden nähme. Das Moralische ist nirgends – weder seiner Begründung nach noch in der Ausübung – buchstäblich wahrnehmbar nach den Kriterien, die die theoretische Vernunft für Wahrnehmbarkeit formuliert, sondern durch praktische Begriffe wird insgesamt und immer nur eine intelligible Welt gedacht, ohne dass uns das daran hinderte, von ihnen mit Überzeugung, d. h. mit zureichendem Fürwahrhalten, in moralischen Urteilen Gebrauch zu machen. Die Art der Überzeugtheit beim Vernunftglauben ist also keine andere als bei Statuierung der sittlichen Verpflichtung und beim Gebrauch praktischer Begriffe überhaupt. Hier wie dort findet alles bloß in Gedanken statt, nicht in Daten der Anschauung gegründet, ist also nur „in der reinen Vernunft enthalten“. Es ist allerdings das im moralischen Bewusstsein begründete Bewusstsein Gottes doch bloß auf eine etwas vermittelte Art, d. h. nach Art des schließenden Denkens, zu erzielen möglich und insofern dann doch unterschieden vom moralischen Bewusstsein selbst, denn der Grundsatz der Moralität ist, so Kant, „ein Gesetz […], durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt“ (KpV, 05: 132). Während in einer moralischpraktisch relevanten Situation sofort gewußt wird, was geboten ist und der Grundsatz der Moralität also unmittelbar befiehlt, beruht das vom moralischen Bewusstsein abgeleitete Bewusstsein Gottes auf einem für das moralische Handeln selbst unwesentlichen Bedenken der Gesamtsituation menschlichen Handelns einschließlich seiner bis zur Totalität gesteigerten Folgen. Unter der Bedingung des aus jeder speziellen Handlungssituation herausgelösten Bedenkens, das die Handlungssituation des Menschen im ganzen reflektiert und daraus einen Schluß zieht, steht naturgemäß auch die mit der Konklusion des Schlusses ›Es ist ein Gott‹ verbundene Gewißheit, die also von recht mittelbarer Art ist. Überhaupt versteht Kant den Satz, dass ein Gott sei, als „einen theoretischen […] Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV, 05: 122). Es erhält dadurch also, obwohl auf einem Rückgriff auf praktisches Bewusstsein beruhend, doch „theoretische Erkenntnis der

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reinen Vernunft […] einen Zuwachs“ (KpV, 05: 134). Wenn nun Gottesglaube theoretischer Zuwachs ist, so ist, an Gott zu glauben, keine innere Angelegenheit der praktischen Vernunft, d. h. nicht selbst Praxis. Es folgt daraus, dass die durch einen Gläubigen erzielte Gewißheit nicht als praktisch verbindlich angesehen, nicht zur Pflicht für alle gemacht werden kann. „Ein Glaube, der geboten wird, ist“, so Kant, „ein Unding“ (KpV, 05: 144). Entsprechend verletzt, wer nicht glaubt, keine Pflicht. Wenn Unglauben eine Verfehlung darstellt, dann demgemäß keine moralische Verfehlung, sondern allenfalls eine intellektuelle in dem Sinne, dass eine subjektiv-notwendige Schlußfolgerung nicht vollzogen ist. Das Nichtvollziehen von Schlüssen aber begründet keine Schuld und keinen Vorwurf, zumal durch den unterbliebenen Schluß per se noch nichts Nachteiliges folgt. Denn Moral ist autonom und entbindet von der Verpflichtung zur moralischen Handlung weder wenn die Gesamtsituation menschlichen Handelns gar nicht bedacht ist, noch wenn sie bis hin zu einem dogmatischen Atheismus falsch bedacht ist.³ Kant bezeichnet demgemäß die Glaubensgewißheit auch als ein freies Fürwahrhalten (vgl. Log, 09: 67 f.). Sie ist damit unterschieden vom nicht freien Fürwahrhalten im etwaigen Fall anschauungsbezogener theoretischer Gewißheit, die durch objektive Wahrheitsgründe bestimmt ist. Zum Beispiel die mathematische Demonstration des Satzes des Pythagoras in der reinen Anschauung nötigt durch objektive Gründe zum Fürwahrhalten. Ebenso drücken empirische Erfahrungsurteile aus, obwohl dazu eine Spontaneität des Denkens nötig ist, – das Bewusstsein, und zwar als nichtprivates Bewusstsein überhaupt, durch geregelte empirische Anschauungen notwendig bestimmt ist und deshalb die Zustimmung aller zum Urteil abgenötigt werden kann. Anschauungsbezogene theoretische Urteile sind aufgrund ihrer auf Objekte gestellten Allgemeinheit auch mitteilbar, wobei zu beachten ist, dass Mitteilbarkeit bei Kant den strikt terminologischen Sinn der intersubjektiven Übertragbarkeit besitzt. Das Glauben dagegen gibt ihmnach „wegen der bloß subjektiven Gründe keine Überzeugung, die sich mitteilen läßt und allgemeine Beistimmung gebietet“ (Log, 09: 70). Im normalsprachlichen Sinn des Mitteilens ist selbstverständlich auch das Glauben mitteilbar, d. h. kommunikabel. Einer kann also dem anderen seinen Glauben bekennen, doch ein solches Glau-

3 Dass der dogmatische Atheist trotz seiner theoretischen Defizite im Rahmen der kantischen Systematik für moralisch intakt angesehen werden kann, vertritt auch Lara Denis („Kant’s Criticism of Atheism“. In: Kant-Studien 94 (2003): 198–219): „One can maintain respect for morality while lacking a developed notion of the highest good […]. Dogmatic atheism does not condemn one to vice. Dogmatic atheism does, however, put someone at a disadvantage regarding incentives to morality and optimism about the ideal form of the highest good. And it is a theoretically unsound position.“ (218)

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bensbekenntnis ohne den nötigenden Anspruch der Übertragung im Sinne der kantisch terminologisch gefaßten Mitteilbarkeit trägt gerade der Freiheit des Fürwahrhaltens im Fall der Glaubensgewißheit Rechnung, denn es respektiert, dass es beim Glauben allein auf den selbsteigenen Vollzug von nicht auf Objekte gestellten Gedanken im Reflektieren der Gesamtsituation praktischer Vernunft ankommt. Gleichwohl heißt freies Fürwahrhalten nicht beliebiges Fürwahrhalten, insofern es zwar in nicht anschauungsfähigen, aber doch in der starken Realität notwendiger praktischer Begriffe und in einem unabweisbaren und nicht relativierbaren Bedürfnis nach Totalität im Sinne der Vereinigung des Systems der Sittlichkeit mit dem System der Glückseligkeit gründet. Wenn Kant die subjektive Notwendigkeit des Glaubens so erläutert, dass es eine „nur für mich geltend[e]“ (Log, 09: 66) sei, dann ist dadurch nur ausgedrückt, dass keine Glaubenspflicht statuiert werden kann und auch keine theoretisch durch objektive Gründe nötigende Übertragung möglich ist, nicht aber, dass er dadurch Privatglaube wäre, denn der Gläubige steht im Glauben im Selbstverständnis, als der jener Totalität Bedürftige ihn nicht auf ein partikulares, sondern auf ein allgemeines und notwendiges Bedürfnis zu gründen (vgl. KpV, 05: 143). Dieses Bedürfnis, so seine Überzeugung, kann nicht nichts zu bedeuten haben. Wie gewiß aber auch für sich selbst, muß er es doch der selbsteigenen Reflexion jedes anderen Einzelnen überlassen, auch für sich die besondere Bedeutsamkeit dieses Bedürfnisses zu bejahen und dadurch auszuschließen, es könne das in dem unbezweifelbaren Moralitätsgebot liegende Projekt vereinigter Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zu keinem Abschluß zu bringen sein, womit es sich in einer sinnlosen Folgenlosigkeit verlöre. Das Gebot der Moralität unserer Handlungen wäre aber in diesem letzten Fall nicht tangiert, denn es legt, so Kant, „die Erkenntnis Gottes und seines Willens nicht zum Grunde“ (KpV, 05: 129). Anders in seinen Worten: „Wenn wir bloß auf Handlungen sehen, so haben wir [den] Glauben nicht nöthig“ (Log, 09: 69 Anm.). Dadurch ist also wiederum die Autonomie der Moral ausgedrückt⁴, d. h. dass auch bei etwaiger negativ ausgehender Folgenerwä4 Obwohl nun zwar der Glaube zur Erzeugung von Handlungen nicht nötig ist, ist aus dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion doch jede moralische Handlung bloß als solche eine Handlung im Dienst Gottes, denn aus diesem Gesichtspunkt ist „die standhafte Beflissenheit zu einem moralischguten Lebenswandel alles […], was Gott von Menschen fordert“ (RGV, 06: 103). Angesichts dessen, dass im Punkt der Hervorbringung moralischer Handlungen selbst Vernunftreligion nicht nötig ist, ist schwerlich einzusehen, welche positive Rolle in diesem Punkt irgendeine historische, geoffenbarte Religion mit den von einer solchen immer auch geforderten moralindifferenten, rein gottesdienstlichen Handlungen spielen könnte. Den Versuch, eine solche Rolle auch den nur auf Offenbarung beruhenden „non-moral religious activities or beliefs“ zuzuschreiben und sie als „legitimate part of the true (universal) religion“ (145) herauszustellen, hat etwa Stephen Palmquist unternommen („Does Kant Reduce Religion to Morality?“ In: Kant-Studien 1992, 129–148). Kants

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gung dem Menschen das Aufgeben seines moralischpraktischen Selbstverständnisses unmöglich wäre. Es wären dann aber die Rahmenbedingungen der Befolgung des Moralitätsgebots derart, dass praktische Vernunft sich wie auf einer Insel, umgeben von Hoffnungslosigkeit, Geltung verschaffen müßte. Dagegen steht aber das für signifikant und zum subjektiven Überzeugungsgrund zu nehmende Bedürfnis der Vernunft nach allumfassend verwirklichter moralischpraktischer Rationalität, von dem sie sich nicht überzeugen kann, dass es ein illusionäres Bedürfnis sei. Zu allerletzt sieht Kant den Einzelnen nach Erwägung seiner praktischen Gesamtsituation aber trotz aller im Bedürfnis nach allumfassender praktischer Rationalität begründeter dringender Empfehlung doch noch in einer Entscheidungssituation, in der ihm „eine Wahl zukommt“ (KpV, 05: 145). Diese ist von ihm in der Anmerkung zum VIII. Abschnitt der Dialektik der reinen praktischen Vernunft zwar entfaltet als die Situation der Entscheidung zwischen einer auch nicht für unmöglich zu haltenden „Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit“ „nach einem bloßen Naturlaufe“, d. h. „ohne einen der Natur vorstehenden weisen Urheber“ einerseits, und einer solchen Harmonie eben gerade unter Voraussetzung eines solchen Urhebers. Es ist dies also zwar nicht die Wahl zwischen dem Gottesglauben und der Sinnlosigkeit folgenloser Moralität, denn das schlechthin Irrationale käme für Vernunft als Glied einer Entscheidungsalternative nicht in Frage, aber es ist doch immerhin eine Wahl, nämlich zwischen einem Glauben an eine künftige Welt mit oder ohne Gott. Insofern es überhaupt eine Entscheidungssituation ist, steht der Einzelne darin also nicht schon unausbleiblich in der unerschütterlichen Gewißheit des Gottesglaubens, sondern er muß sich durch einen Willensakt erst dazu bestimmen. Vor diesem Willensakt endet also die Unausbleiblichkeit des Fortgangs von der Moral zur Religion, so dass man sagen könnte: Moral führt unausbleiblich bis an die Schwelle der Religion, aber nicht über sie hinweg. Die Situation der Wahl ist nun aber keine solche mit gleich starken subjektiven Gründen für beide Mög-

empirischer Befund ist zwar, dass viele Menschen „sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den inneren moralischen Wert der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, dass sie Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch an sich selbst sein möchten, doch wenigstens durch passiven Gehorsam, Gott zu gefallen“. Mit dem Anspruch, eine Vernunfteinsicht auszusprechen, sagt er aber: „Daß sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihren Thun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen […], will ihnen nicht in den Kopf“ (RGV, 06: 103). − Der These Palmquists, Offenbarungsreligion sei legitimer Teil der Vernunftreligion, steht auch Allen W. Woods Interpretation entgegen („Kant‘s Deism“. In: Kant’s Philosophy of Religion Reconsidered. Hrsg. von Philip J. Rossi und Michael Wreen. Bloomington 1991, 1–21).

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lichkeiten, sondern durch Moral ist eben entschieden nahegelegt, den Akt zum Glauben hin zu vollziehen, ohne dass er doch dadurch letztlich nezessitiert wäre und aufhörte, ein freier Akt zu sein. Wodurch der Akt in Richtung Glauben gedrängt, aber nicht gezwungen ist, ist – wie immer wieder zu sagen ist – das Bedürfnis praktischer Vernunft. Bedürfnis ist, so Kant, „das Princip, was unser Urtheil hierin bestimmt“ (KpV, 05: 146). Dies mit der verbleibenden Freiheit zusammengenommen, entscheidet „ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers“ (KpV, 05: 145 f.). Dabei kann diese Annahme, so weiter Kant, „öfters selbst bei Wohlgesinneten bisweilen in Schwanken niemals aber in Unglauben geraten“ (KpV, 05: 146). Der hier angesprochene und ausgeschlossene Unglaube wird der dogmatische, die Nicht–Existenz des Urhebers behauptende sein müssen, denn für ihn spricht weder ein Interesse noch eine Erkenntnis theoretischer Vernunft, während das Schwanken allerdings auch kein Schwanken sein würde, wenn darin das positive Urteil nicht doch suspendiert wäre. Wenn es das Schwanken selbst des „Wohlgesinneten“ ist und also nicht auf mangelnder Moralität beruht, wird seine Ursache das Bewusstsein des doch nicht völlig durch Moral nezessitierten Glaubens sein, d. h. das Bewusstsein des die Notwendigkeitslücke schließenden Willensaktes, woran nach den Maßstäben des Folgerns theoretischer Vernunft Anstoß genommen werden kann. Die Überwindung des Schwankens wird dann wieder Sache der aufgrund ihres überragenden Interesses den Primat führenden praktischen Vernunft sein müssen. Im Schlußabschnitt der Dialektik der reinen praktischen Vernunft gibt Kant dem durch theoretische Vernunft verursachten Schwanken als solchem sogar eine positive Deutung. Denn gesetzt, theoretische Vernunft könnte, was sie nicht kann, nämlich Gott mit apodiktischer Gewißheit beweisen, so würde er uns „unablässig vor Augen liegen“ (KpV, 05: 147). Damit aber würden „die mehresten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, worauf doch allein der Wert der Person und selbst der der Welt, in den Augen der höchsten Weisheit, ankommt, würde gar nicht existieren“ (KpV, 05: 147). Diesem Gedanken nach könnte Gott uns in der Ferne zu sich halten, damit wir in seinen Augen einen moralischen Wert entwickeln können, was nicht möglich wäre, wenn wir, seiner Existenz ganz gewiß, aus Furcht zwar gesetzeskonform handelten, unser Verhalten derart aber nicht moralisch verdienstvoll sein könnte, sondern in einen „bloßen Mechanismus verwandelt“ (KpV, 05: 147) wäre. Da es aber nicht so ist und wir „mit aller Anstrengung unserer Vernunft“ – gemeint ist die spekulativ-theoretische – „nur eine sehr dunkele und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken, oder klar beweisen läßt“, so besitzt der Mensch sein eingeschränktes Erkenntnisvermögen um der Möglichkeit des Erwerbs eines moralischen Werts willen. Er besitzt es gerade weil

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es eingeschränktes Vermögen ist in „weislich angemessene[r] Proportion“ (KpV, 05: 146). Das Argument der Zweckmäßigkeit einer Einschränkung läßt sich nun auch auf die Begründung des Glaubens aus dem Reflektieren der Situation praktischer Vernunft anwenden, denn auch dann, wenn ein ganz und gar unerschütterlicher Gottesglaube daraus im strengsten Sinne unausbleiblich folgen müßte, würde unser Verhalten aus dieser Gewißheit heraus sich in jenen Mechanismus verwandeln müssen. Um des Erhalts des moralischen Werts der Handlungen willen aber läßt sich auch als „weislich“ proportioniert ansehen, wenn der praktische Vernunftglaube zwar auf stärkste Weise durch das Bedürfnis nach universeller Rationalität im Sinne des im höchsten Gut vollendeten Endzwecks praktischer Vernunft nahegelegt ist, es aber doch nicht vollkommen zwingend gewiß sein kann, ob diese uns entzogene universelle Rationalität auch tatsächlich waltet.

Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts Kants Ethikotheologie schließt die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts ein. Dieser Beitrag versucht zunächst die speziellen Anforderungen zu klären, die durch diese Pflicht gestellt sind. Er diskutiert dann die Bedingungen ihrer Erfüllbarkeit und die Rolle der Gottesidee in diesem Kontext. Schließlich charakterisiert er die Art des Glaubens, die aus der Theorie des höchsten Guts folgt: es ist ein Glaube, der Zweifel impliziert. Kant’s ethicotheology includes the duty to promote the highest good. This paper first tries to clarify the special demands which are established by this duty. Then, it discusses the conditions of its fulfillment and the role of the idea of God in this context. Finally, it characterizes the kind of faith which follows from the theory of the highest good: it is a faith with an implication of doubt.

1 Zur Verortung der Ethikotheologie Die Theologien der Offenbarungsreligionen haben nach ihrem Selbstverständnis ein unerschütterliches Fundament, durch das ihnen ihr Gegenstand gesichert ist. Dieses Fundament ist die geschichtlich verortete Selbstmitteilung Gottes als ein Faktum. Dieses Faktum wird zwar nicht in jeder Hinsicht wie alle anderen Fakten beurteilt, nämlich nicht im Punkt seiner übernatürlichen Verursachung, doch als Wirkung wird es als in die Reihe der Gegenstände der Erfahrung eingeordnet betrachtet, als der unmittelbaren Erfahrung der Zeitzeugen und der vermittelten Erfahrung aller anderen zugänglich. Eine philosophische Theologie dagegen, wenn es denn eine geben sollte, braucht ein anderes Fundament. Sie kann als natürliche Theologie, als eine aus dem Selbst- und Weltverständnis des Menschen zu entwickelnde, keine schon ergangene übernatürliche Mitteilung voraussetzen. Sie muss eine vom genannten außergewöhnlichen Faktum absehende Begründungsleistung erbringen, an deren Ende sie womöglich des auch von ihr projektierten Gegenstandes versichert ist und auf eine gerechtfertigte Weise von Gott sprechen kann. Zum Versuch einer solchen Begründung kann schon gezählt werden – womit die Philosophie Kants in den Blick kommt –, wenn nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gefragt und wenn kritisch erwogen wird, was für uns Gegenstand der Erfahrung sein kann – und was nicht. Unter theologischem Gesichtspunkt ist Kants Resultat der Überprüfung auf diesem Gebiet ein weitgehend https://doi.org/10.1515/9783110788099-006

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negatives. Es lautet in aller Kürze: Gott ist kein möglicher Gegenstand der Erfahrung, weder der inneren noch der äußeren; was sich als Wirkung im Bereich der Erfahrung zeigt, kann nie als übernatürlich verursacht erkannt werden, es muss immer auf eine ihrerseits natürlich verursachte Ursache bezogen werden. Doch bloß weitgehend und nicht vollständig negativ ist dieses Ergebnis, weil hinzugefügt werden muss: Unsere Erfahrung ist bloß Erfahrung von Erscheinungen, nicht von Dingen an sich. Das bedeutet: Ebenso unkritisch wie die Beanspruchung von Gotteserfahrungen wäre es, die eingeschränkte Sphäre der Erfahrung für das All der Realität zu halten. Es wäre unkritisch, in eins mit der Unmöglichkeit von Gotteserfahrungen die Unmöglichkeit Gottes zu behaupten. An dieser Stelle eröffnet sich, so Kants berühmtes Diktum, ein Platz für den Glauben (KrV, B XXX), der allerdings zunächst bloß ein leerer Platz ist, der nicht vorschnell und ohne gute Gründe in Besitz genommen und mit der gewünschten Realität, der Realität Gottes, erfüllt werden kann. Zur Realität Gottes führt nach Kant neben der Erfahrung auch das schlussfolgernde Denken nicht. Aus spekulativer, d. h. aus theoretischer Vernunft lässt sich ihm zufolge weder aus „irgend ein[em] Dasein“ (KrV, A 590/B 618) auf das Dasein eines notwendigen Wesens schließen, noch aus dem bestimmten Dasein des lebendigen Teils der Natur, der den Anschein von Zweckmäßigkeit evoziert, auf einen Weltbaumeister, noch schließlich aus dem bloßen Begriff Gottes auf seine Existenz. Die Widerlegung der damit angedeuteten drei Arten von Gottesbeweisen, des kosmologischen, des physikotheologischen und des ontologischen Beweises, hat Kant bekanntlich den – von Moses Mendelssohn verliehenen – Titel eines Alleszermalmers eingetragen. Dieses Urteil wird Kant zwar nicht gerecht, denn mit der Widerlegung dieser Gottesbeweise beansprucht er keineswegs einen Beweis für die Nicht-Existenz Gottes; bei aller Unerkennbarkeit verbleibt für den Begriff Gottes der Status der widerspruchsfreien Denkbarkeit, für Gott entsprechend der Status der Nicht-Unmöglichkeit. Doch auf der Basis dieser schwächsten Gestalt des Möglichen, d. h. des bloß logisch Möglichen, lässt sich sicher keine Theologie errichten, ebenso kein Gottesglaube. Das Fürwahrhalten als Glauben nämlich ist nach Kant ein völliges subjektives Überzeugt-Sein bei objektiv unzureichenden Gründen, also unter Bedingungen des Nichtwissens. Kants letztendlicher Befund nach seiner kritischen Erwägung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist trotz des durch seine Erscheinungslehre frei, aber leer und unbestimmt gelassenen Platzes für den Glauben, dass „speculative Philosophie“ an der„Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch“ an der„desselben außer uns“ „verzweifeln“ und in den Grenzen des Naturbegriffs „ohne Hoffnung eingeschränkt bleiben“ (KU, 05: 474) muss. Spekulative Philosophie allerdings – und hier eröffnet sich ein weiteres Feld der Untersuchung – betrifft nur einen Teil des Selbstverständnisses des Menschen; seine Existenz als freies moralisches Wesen

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betrifft sie nicht. Mit dem Vermögen zur freien moralischen Selbstbestimmung haben wir, so Kant, „in uns ein Princip […], welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns […] zu bestimmen“ möglich macht, „obgleich nur in praktischer Absicht“ (KU, 05: 474). Seine These, die allerdings alles andere als selbstverständlich und deshalb im Folgenden erst zu entwickeln sein wird, lautet: Vernunft kann allererst „vermittelst ihrer moralischen Principien […] den Begriff von Gott […] hervorbringen“ (KU, 05: 447) und darüber hinaus sogar einen moralischen Beweis des Daseins Gottes bieten. Dem Paragraphen der dritten Kritik, der diesen Beweis enthält, folgt allerdings ein anderer mit dem Titel: „Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises“ (KU, 05: 453). Mit Kants Aussage, dass erst aus moralischen Prinzipien der Begriff Gottes hervorzubringen sei, dass sich also nur aus moralischem Bewusstsein ein adäquater Gottesbegriff herleiten lasse, sind ersichtlich alle theoretischen Gottesbegriffe als inadäquat diskreditiert, z. B. der des Weltbaumeisters der Physikotheologie, der ohne Zusammenhang mit moralischem Bewusstsein bloß als ein Hypertechnologe erscheint und die Frage offen lässt, wozu er seine Kunstfertigkeit beim Welterschaffen wohl ausgeübt haben mag. Den Gottesbegriff auf ihn anzuwenden, nennt Kant denn auch ausdrücklich eine Verschwendung (vgl. KU, 05: 438). Wenn nun demgegenüber ein adäquater moralischer Gottesbegriff zu gewinnen sein wird und zudem eine hinreichende Versicherung der Realität seines Gegenstandes möglich sein sollte, dann bedeutete das: Philosophische Theologie im Ausgang vom Selbstverständnis des Menschen ist möglich, nämlich als Ethikotheologie – nur als Ethikotheologie. Die Deduktion einer solchen Theologie liegt allerdings, wie gesagt, nicht auf der Hand. Die wichtigste Voraussetzung der Moralphilosophie Kants scheint ihr sogar zu widersprechen. Das ist die Voraussetzung der moralischen Autonomie des Menschen kraft reiner praktischer Vernunft. Als moralisch autonom verstanden, gibt der Mensch als freies Wesen sich selbst ein Gesetz, das Sittengesetz; als Ergebnis solcher Selbstgesetzgebung ist moralische Verpflichtung dezidiert Selbstverpflichtung, nicht Fremdverpflichtung. Moralische Verpflichtung als Resultat eines heteronomen, d. h. äußerlich ergangenen Befehls könnte nicht ureigene Sache des Menschen sein. Einer so begründeten Pflicht zu folgen, die ihm aus sich heraus nicht verständlich wäre, hieße eine fremde Absicht ausführen, gegen die er als äußere Einschränkung kaum anders als mit Widerwillen reagieren könnte. Er könnte sie zwar aus Furcht vor Strafe oder in der Hoffnung auf Belohnung seines Befehlsgehorsams ausführen, doch einen eigenen Wert könnte er sich auf diese Art nicht erwerben. Die eigene moralische Dignität des Menschen setzt also Autonomie der Moral voraus und schließt neben anderen möglichen Quellen heteronomer Bestimmung nach Kant ausdrücklich auch Gott als äußeren Ursprung moralischer Verpflichtung aus. Darüber hinaus bedarf es nach Kant auch unter den Aspekten der Motivation und der Applikation, also unter dem Gesichtspunkt eines durch das

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Sittengesetz selbstbestimmten guten Willens, der durch tatsächliche Handlungen in die Welt hineinwirkt, keines Gottes. Der mit Recht berühmte erste Satz der Religionsschrift drückt das konzentriert aus: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.“ (RGV, 06: 3). Vor allen weiteren Erwägungen gilt es demnach festzuhalten: Weder unter dem Grundlegungsaspekt, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem Ursprung moralischer Verpflichtung, noch unter dem Motivationsaspekt, noch schließlich unter dem Applikationsaspekt ist der Ertrag aus der Reflexion auf das moralische Bewusstsein im Blick auf die anvisierte Theologie ein positiver; unter allen diesen Aspekten bedarf es keines höheren Wesens. Weitere Erwägungen sind allerdings zwingend, denn wenn auch all das Genannte in der Selbstmacht des Menschen steht, so gibt es doch etwas, das unabweisbar zum Projekt der reinen praktischen Vernunft gehört, das dieser Selbstmacht eine Grenze setzt. Was „nicht ganz in unserer Gewalt ist“, ist die „Erreichung des Endzwecks“ (KU, 05: 470), der durch praktische Vernunft gesetzt ist. Dieses letzte Ziel moralischpraktischer Vernunft, das Kant auch das höchste Gut oder das höchste Weltbeste nennt (vgl. KU, 05: 470), ist die „mit der Befolgung moralischer Gesetze harmonisch zusammentreffende[] Glückseligkeit vernünftiger Wesen“ (KU, 05: 451)¹. Dass Kant Glückseligkeit zum Bestandteil eines rein vernünftigen Zwecks erklärt, mag verwundern, ist er doch eher dafür berühmt bzw. berüchtigt, jede Glückserwägung, als auf Selbstliebe beruhend, aus der moralischen Willensbestimmung und Motivation zu verbannen. Dabei kann es auch bleiben, denn die Glücksvorstellung als Bestandteil der Idee des höchsten Guts ist alles andere als der wiederbelebte Gedanke des nach Art der Selbstliebe verfolgten Glücks. Im Gegenteil handelt es sich dabei um die Vorstellung eines Glücks, das der Moralische sich durch sein Absehen vom Glück im Zuge seiner moralischen Willensbestimmung und Motivation verdient hat. Glück als Bestandteil der Idee des Endzwecks reiner praktischer Vernunft steht unter dem Vorzeichen einer Qualifikation zum Glück

1 Indem hier auf die Idee des höchsten Guts in der Kritik der Urteilskraft verwiesen wird, wird auf ihre ausgereifte Fassung in Kants Werk Bezug genommen, in der sie sich einer rein konsequenzialistischen Erwägung verdankt und keine Rolle hinsichtlich der Grundlegung der Moral oder hinsichtlich moralischer Motivation spielt. Diese Rolle, die die Idee in einen Konflikt mit dem Autonomiegedanken bringt, wurde ihr noch in der Kritik der reinen Vernunft (vgl. A 811/B 839) zugeschrieben. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte der Idee des höchsten Guts bei Kant Klaus Düsing: „Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie“. In: Kant-Studien 62 (1971), 5–42.

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durch Moralität, die demnach ihrerseits auch durch den Ausdruck der Glückswürdigkeit bezeichnet werden kann. Die Idee des Endzwecks drückt ein unabweisbares vernünftiges, also ein universelles und kein partikulares Interesse aus, nämlich das Interesse reiner praktischer Vernunft, dass es eine notwendige Verknüpfung gebe zwischen „der gesetzmäßigsten Sittlichkeit“ als Glückswürdigkeit und der unter dieser Bedingung tatsächlich zuteil werdenden „allgemeinen Glückseligkeit“ (KU, 05: 453). Ohne diese notwendige Verknüpfung herrschte der aus ihrer Perspektive empörend unvernünftige Zustand, dass die Erfüllung der Moralitätsbedingung ganz folgenlos wäre, dass zwar ein Glückswürdigkeitsstatus zu erreichen wäre, das Glück selbst dagegen nicht. Insgesamt verliefe sich das mit reiner praktischer Vernunft gesetzte Projekt des Endzwecks im sinnlos Leeren; es müsste für illusionär gehalten werden. Da reine praktische Vernunft ihre eigene notwendige Idee aber nicht als sinnlos und illusionär betrachten kann, weil mit ihr – anders als im Fall der eher gleichgültigen Ideen theoretischer Vernunft – das höchste moralische Interesse verbunden ist, besitzt die Idee des Endzwecks nach dem Sprachgebrauch Kants praktische Realität. Der Endzweck muss für realisierbar gehalten werden. Da nun zugleich offensichtlich ist, dass seine Realisierung die Macht des Menschen übersteigt, ist zu dieser Realisierung, also eigentlich zur Vollendung des Projekts reiner praktischer Vernunft, ein höheres und mächtigeres Wesen anzunehmen. Es ist unter den genannten Voraussetzungen, so Kant, „nothwendig anzunehmen: […] es sei ein Gott“ (KU, 05: 450). Durch den skizzierten Zusammenhang ist der Kern dessen wiedergegeben, was Kant den moralischen Beweis des Daseins Gottes nennt (KU, 05: 447). Er verdankt sich ersichtlich einer konsequenzialistischen Reflexion, deren Ansatzpunkt das moralische Bewusstsein ist. Diese Reflexion über die Folgen aus der Erfüllung der Moralitätsbedingung ist nach Kant zwingend, denn es kann, wie es in der Religionsschrift heißt, „der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme“ (RGV, 06: 5). Vernünftigerweise – lässt sich hier fortfahren – müsste die Realisierung des Endzwecks, d. h. die notwendige Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück, herauskommen. Da die Realisierung dieser Verknüpfung aber nicht in unserer Gewalt steht, muss, wenn es aufs Ganze gesehen vernünftig zugehen soll, Gott existieren. Indem es auf diese Weise einen veritablen, aus dem Selbstverständnis des Menschen entwickelten Grund dafür gibt, die Existenz Gottes anzunehmen, nämlich einen in seiner praktischen Vernunft gelegenen Grund, ist eine Bedingung für die Möglichkeit der anvisierten philosophischen Theologie erfüllt. Eine weitere Bedingung, nämlich dass ihr Gottesbegriff ein adäquater sein muss, kann als erfüllt gelten, denn der im entwickelten Zusammenhang vorauszusetzende Gott ist als ein Gott mit moralischen Eigenschaften gedacht. Anders als

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jenem Gott der Physikotheologie, dem bloß die Kunstfertigkeit der Hervorbringung eines zweckmäßigen, aber moralindifferenten Weltkunstwerks zuzuschreiben war und der zu fragen übrig ließ, warum er wohl dieses Kunstwerk geschaffen habe, ist es dem in der Ethikotheologie gedachten Gott um die Vollendung des Projekts moralischpraktischer Vernunft zu tun. In Hinsicht auf solche moralischpraktische Perfektion aber lässt sich nicht weitergehend fragen, wozu sie denn wohl gut sei. Sie ist in kantischer Ausdrucksweise an sich gut bzw. Selbstzweck, kann also nicht als ein Mittel zu einem noch entfernteren Zweck gedacht werden. Der in der Ethikotheologie vorausgesetzte Gott kann keine noch besseren Absichten haben als die Realisierung des Weltbesten im Sinne der moralischpraktischen Vernunft. Der Gottesbegriff, auf ihn angewandt, ist also nicht verschwendet. Von der Existenz dieses Gottes überzeugt zu sein, heißt nach dem Gesagten, von der letztendlichen Vernünftigkeit der Welt im Ganzen nach dem Maßstab reiner praktischer Vernunft überzeugt zu sein. Es erklären sich von daher Kants Diktum aus dem Streit der Fakultäten, Religion sei „eine reine Vernunftsache“ (SF, 07: 67), und seine Kennzeichnung des entsprechenden Glaubens als ein reiner Vernunftglaube. Dieses Verständnis von Religion steht erkennbar der weit verbreiteten Einschätzung entgegen, Religion sei per se ein Phänomen des Irrationalismus, wobei einige sie deshalb ablehnen und andere sie gerade dafür schätzen. Kants Religionsphilosophie ist in weiten Teilen Kritik an irrationalen Religionserscheinungen, doch dem sich dadurch ausdrückenden verfehlten Religionsverständnis setzt er seinen rationalen Begriff der Religion entgegen.

2 Spezifikation der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts Im Anschluss an die Skizze des Begründungszusammenhangs, der nachvollziehbar macht, warum nach Kant Religion als moralische Religion und Theologie als Ethikotheologie (und nur als solche) möglich sind, gibt es doch auch Anlässe für Problematisierungen. Schwierigkeiten treten besonders dann zutage, wenn das Augenmerk sich nicht auf die endzeitliche letzte Ergänzung zur Vollkommenheit der „Verbindung […] der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit“ (KU, 05: 453) richtet, wozu es nötig ist, Gott anzunehmen, sondern wenn die Pflicht des Menschen im Leben in den Blick kommt, dieses höchste Gut bzw. den Endzweck in der Welt so gut es geht zu verwirklichen. Wir sind durch praktische Vernunft „bestimmt“, so Kant, „das Weltbeste […] nach allen Kräften zu befördern“, welches in der „Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen“, also ihres Glücks, „mit der höchsten Bedingung des Guten“ (KU, 05: 453), also mit ihrem

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moralischen Wert, bestehe. In einer anderen Formulierung ist der Zweck der in Rede stehenden Pflicht wie folgt angegeben: „[D]as höchste in der Welt mögliche und, so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde physische Gut ist Glückseligkeit: unter der objectiven Bedingung der Einstimmung des Menschen mit dem Gesetze der Sittlichkeit, als der Würdigkeit glücklich zu sein“ (KU, 05: 450). Mit der besagten Pflicht ist das höchst anspruchsvolle Ziel einer Weltverbesserung gesteckt, die nicht nur in der eigenen inneren Moralisierung der vernünftigen Weltwesen besteht, sondern darüber hinaus in einer entsprechenden Verbesserung des Glückszustandes der Welt. Vor den dazu nötigen Spezifikationen und der Entfaltung einiger dadurch aufgeworfener Fragen soll aus immer wieder neu gegebenem Anlass an dieser Stelle betont sein, dass es mit der hier thematischen Pflicht bei Kant eine Pflicht gibt, die über die bloß innerliche Moralisierung hinausgeht, nämlich hin auf materiale Zwecke, d. h. auf konkrete Folgen aus gelingenden Handlungen. Der immer wieder gegebene Anlass für diese Bemerkung ist die weit verbreitete Ansicht, dass Kants Ethik bloß formale und zudem rigoristische Gesinnungsethik sei, der es nur um den guten Willen gehe und die den Handlungsfolgen gegenüber, und seien diese katastrophal, völlig gleichgültig sei. Dass sie zwar Gesinnungsethik ist, doch nicht nur Gesinnungsethik, geht eben aus der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts ganz klar hervor, besonders durch den zweiten Teil der durch sie gestellten Aufgabe, d. i. das Postulat eines um der Glückswürdigen willen zu verbessernden Glückszustandes der Welt.² Die Verknüpfung dieses Postulats mit der Erfüllung der Moralitätsbedingung drückt dabei aus, dass eine bloße Glücksvermehrung als solche, also etwa eine bloße Wohlstandsmehrung, kein Zweck an sich selbst sein kann, sondern immer nur in Anbindung an das moralische Bewusstsein einen Wert besitzt.

2 Angesichts der Eindeutigkeit, mit der Kant Glückseligkeit im Verständnis eines zu befördernden physischen Guts als Bestandteil eines moralischen Imperativs formuliert, ist es erstaunlich, wie hartnäckig sich das in der Frühzeit der Kant-Rezeption (mit Hegel als einem Protagonisten) festgesetzte Missverständnis immer weiter tradieren kann, seine Moralphilosophie sei purer Formalismus oder Rigorismus im Sinne glücksindifferenter oder gar glücksverachtender moralischer Anforderungen. Zu denen, die dem Stereotyp entgegengetreten sind, gehören Bernward Grünewald („Zur moralphilosophischen Funktion des Prinzips vom höchsten Gut“. In: Naturzweckmäßigkeit und ästhetische Kultur. Studien zur Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von Karl-Heinz Schwabe und Martina Thom. Sankt Augustin 1993, 133–139) und Stephen Engstrom („The Concept of the Highest Good in Kant’s Moral Theory“. In: Philosophy and Phenomenological Research 52 (1992) 747–780). Engstrom betont mit Recht, dass schon der kategorische Imperativ die Glücksintentionen von Maximen der Selbstliebe keineswegs ausschließt, sondern sie nur unter die Bedingung der Allgemeinheit stellt (vgl. besonders 761). Einen groß angelegten und überzeugenden Nachweis der konstruktiven Rolle des Glücksaspekts in Kants Ethik bietet Beatrix Himmelmann (Kants Begriff des Glücks. Berlin, New York 2003).

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Auch wenn nun klar sein mag, was die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts im Allgemeinen verlangt, nämlich die Beförderung des Glücks der Menschen unter der Bedingung ihrer Glückswürdigkeit, bleibt doch mehreres zu fragen übrig; zum Beispiel, ob sich noch Spezifikationen finden lassen, die die Anforderungen aus dieser Pflicht etwas deutlicher bestimmen. Aber auch: Was genau ist durch die Bedingung der Glückswürdigkeit ausgedrückt? Verlangt die Erfüllung der Pflicht eine vorgängige Unterscheidung nach Würdigen und Unwürdigen, um hernach nur die Würdigen zum Gegenstand der Bemühung zu machen? Des Weiteren: Ist das Glück, das da zu befördern ist, dasselbe Glück wie jenes, das die Individuen zur Befriedigung ihrer sinnlichen Bedürfnisse erstreben, wodurch es vom Glück, das in der Absicht ihrer Selbstliebe liegt, nicht unterschieden wäre? Noch mehr: Was genau soll es heißen, das höchste Gut befördern zu sollen? Lässt sich, da seine vollständige Realisierung offenbar nicht in der Macht der vernünftigen Weltwesen steht, auch nur seine partielle Realisierung problemlos denken? Schließlich: In welchem inneren Zusammenhang steht die thematische Pflicht mit der Ethikotheologie? Das heißt: In welcher Weise ist die Pflicht, durch deren Befolgung in der Welt das Glück der Glückswürdigen vermehrt werden soll, von der Annahme Gottes abhängig? Setzt die Geltung dieser Pflicht den Glauben an Gott voraus? Antworten auf einige dieser Fragen, etwa auf die nach spezifischeren Angaben zu den Anforderungen aus der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, finden sich größtenteils nicht im engeren Umkreis des ethikotheologischen Lehrstücks innerhalb der Kritik der Urteilskraft, wohl aber in anderen Schriften Kants, speziell in der späten Metaphysik der Sitten. Darin geht es in weiten Teilen um Glückseligkeit als Zweck, der zugleich Gegenstand einer kardinalen Tugendpflicht ist. Genauer gesagt, „muß es“ nach dieser Pflicht „die Glückseligkeit anderer Menschen sein, deren […] Zweck ich […] zu dem meinigen mache“ (MS, 06: 388). Durch die Pflicht ist näherhin gefordert: „[I]ch soll mit einem Theil meiner Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung machen“ (MS, 06: 393). Der verschärfte Fall der Ausübung dieser Pflicht der Wohlthätigkeit ist nach Kant zwar der, wenn es sich bei den Anderen um „andere[] Menschen in Nöthen“ (MS, 06: 453; Hervorhebung B. D.) handelt. Doch auch abgesehen von Fällen eklatanter Not gilt ihm zufolge die gemeinnützige Maxime des Wohltuns auch schon allein aufgrund des gemeinschaftlichen bedürftigen Charakters aller Menschen als deren „allgemeine Pflicht“; die Menschen sind, so Kant, schon allein „als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen“ (MS, 06: 453). Indem die Menschen nach dieser Angabe zum Zweck gegenseitiger Hilfe vereinigt sein sollen und indem ihnen allen der gleiche Status als bedürftige Mitmenschen zugesprochen ist, ergibt sich als Modell für ihr gelingendes Zusammenleben, worauf hinzuwirken allgemeine Pflicht ist, ein Modell der Gleichheit bzw. ein Gerechtigkeitsmodell, das bei gleicher Bedürftigkeit

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jedem die Teilhabe an den zur Verfügung stehenden Glücksgütern sichert. Um der Pflicht zu genügen, kann es eben erforderlich sein, einen Teil der eigenen Wohlfahrt aufzuopfern. Kant akzeptiert übrigens für diese „Pflicht[,] Anderer ihre Zwecke […] zu den meinen zu machen“, den christlichen Ausdruck einer „Pflicht der Nächstenliebe“ (MS, 06: 450), besteht aber auf einer intellektuellen Deutung dieser Liebespflicht; ihrer Ausführung müsse die „Maxime des Wohlwollens“ zugrunde liegen, nicht die „Liebe des Wohlgefallens“ (MS, 06: 450; Hervorhebung B. D.). Die Liebe des Wohlgefallens machte die Pflicht von einem Gefühl abhängig, das sich nicht gebieten lässt, während die „Maxime des Wohlwollens […] aller Menschen Pflicht gegen einander“ sei, man mag diese nun gefühlsmäßig „liebenswürdig finden oder nicht“ (MS, 06: 450). Über die bisher bloß thematische physische Wohlfahrt hinaus gehört nach Kant zur „Glückseligkeit Anderer, die zu befördern für uns Pflicht“ ist, auch ihr „[m]oralisches Wohlsein“ (MS, 06, 395), dies zwar nicht in dem Sinne, dass man für einen Anderen moralisch sein und ihm die daraus zu ziehende Gewissensruhe verschaffen könnte – das Moralisch-Sein ist „nicht meine Pflicht, sondern seine Sache“ –, aber doch durch Befolgung der Pflicht als „negative Pflicht […], nichts zu thun, was nach der Natur des Menschen Verleitung sein könnte zu dem, worüber ihn sein Gewissen nachher peinigen kann“ (MS, 06: 394). Solche Verleitung kann etwa sein, den Anderen in Armut leben zu lassen und untätig zuzusehen. Seiner Pflicht dagegen nachzukommen und ihn, wenn möglich, von der Not der Armut zu befreien, dient zwar unmittelbar wiederum dem Zweck physischen Wohlseins, ist aber mittelbar durch Beseitigung eines Hindernisses der Moralität auf das moralische Wohlsein des Anderen hin finalisiert. Im Rahmen des skizzierten Harmoniemodells einer Vereinigung von wechselseitig einander beistehenden Bedürftigen ist auch Raum für die „eigene Glückseligkeit“ (MS, 06: 386). Dieser Zweck kann aber, so Kant, „nie […] als Pflicht angesehen werden, ohne sich selbst zu widersprechen“, denn „[w]as ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht“ (MS, 06: 386). Die eigene Glückseligkeit ist kein Gegenstand einer Verpflichtung durch die gesetzgebende Vernunft, sondern einer von ihr erteilten Erlaubnis, die allerdings einer Bedingung unterstellt ist. Die gesetzgebende Vernunft „erlaubt es dir dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem Anderen wohl willst“ (MS, 06: 451). In den von Kant, wie gesehen, zugestandenen Ausdrücken der Liebe gesprochen, bedeutet das, dass nicht etwa die Selbstliebe zum Maßstab für die Nächstenliebe genommen werden darf – wie das christliche Gebot verstanden oder missverstanden werden könnte –, sondern dass umgekehrt die Nächstenliebe Bedingung der erlaubten Selbstliebe ist. Buchstäblich jedem Anderen aus dem allgemeinen Wohlwollen heraus auch wohlzutun, wäre nun eine Aufgabe, die den Einzelnen hoffnungslos überforderte,

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so dass es aufgrund dieser Unmöglichkeit auch sinnlos ist, sie als Pflicht zu statuieren. Die Pflicht kann nur so weit gehen, Anderen „nach seinem Vermögen beförderlich zu sein“ (MS, 06: 453), nicht mit völliger „Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern“ (MS, 06: 393). Dem unvermeidlich eingeschränkten Können kann denn auch eine eingeschränkte, d. h. eine spezifizierte Maxime gemäß sein, die sich zweckmäßigerweise auf den Umkreis der eigenen Wirkmöglichkeiten bezieht. Ein Beispiel Kants für eine solche mögliche, durch eingeschränktes Können erzwungene Spezifikation ist die Einschränkung der Maxime der „allgemeine[n] Nächstenliebe durch die Elternliebe“ (MS, 06: 390). Eine solche Einschränkung ist Kant zufolge möglich, „ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen“ (MS, 06: 452), was offensichtlich voraussetzt, dass sich die Elternliebe in diesem Beispiel aus dem Motiv der allgemeinen Nächstenliebe speist und keine desintegrierte Liebe außerhalb dieser Sphäre ist, etwa eine von der Blutsverwandtschaft her begründete. – Aus dem genannten Grund eines eingeschränkten Könnens, das je nach den Umständen des Vermögens verschieden eingeschränkt sein kann, aber auch noch aus dem zusätzlichen Grund einer unmöglichen genauen Kalkulierbarkeit der Berechtigung der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse Anderer (vgl. MS, 06: 393), nennt Kant die Pflicht, sich die Glückseligkeit Anderer zum Zweck zu machen, eine weite Pflicht. Darunter ist zu verstehen, dass sie „einen Spielraum [hat], mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Gränzen davon bestimmt angeben lassen“ (MS, 06: 393). Der Vorschlag sei hier wiederholt, die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, die im Rahmen des ethikotheologischen Lehrstücks recht unbestimmt gelassen wurde, im entwickelten, von der Metaphysik der Sitten her gewonnenen Sinn zu verstehen. Das bedeutet nach den bisherigen Spezifikationen, sie als die weite, einen Spielraum lassende Pflicht zu verstehen, ohne die eigenen Glücksabsichten völlig aufzugeben doch die Glücksabsichten Anderer erfüllen zu helfen; dies nach besten Kräften, die jedoch nie unbegrenzte Kräfte sein werden und wodurch also kein Weltbestes im Sinne des realisierten höchsten Guts erzielt werden kann. Das Verständnis der Pflicht darauf zu beschränken, bedeutet zugleich, den Versuch einer anderen Deutung dessen auszuschließen, was durch die Erfüllung der Pflicht sollte befördert werden können. Orientiert an der vollständigen reinen Vernunftidee des höchsten Guts, durch die der Nexus der Notwendigkeit zwischen Glückswürdigkeit und Glück gedacht ist, könnte man meinen, durch die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts könne eine Annäherung an diese notwendige Verknüpfung geboten sein. Das aber, Glück als notwendiges Glück aus Glückswürdigkeit folgen zu lassen, steht in keiner Weise in der Macht der vernünftigen Weltwesen; sie können Glück immer nur im defizienten Modus bloßer Faktizität hervorbringen, nie als notwendiges. Da der Übergang vom Faktischen zum Notwendigen nicht graduell sein kann, sind Annäherung oder Beförderung hier un-

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möglich. Auf den Grund für die prinzipiell defizitären, bloß im Faktischen befangenen menschlichen Glücksbemühungen wird zurückzukommen sein. Zuvor soll aber noch explizit die schon vorbereitete Antwort auf die Frage gegeben werden, ob die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten in Hinsicht auf die sinnlichen Neigungen schlicht affirmativ ist und unmittelbar und unreflektiert das Glück aus deren Befriedigung intendiert, wodurch diese Pflicht am Prinzip der Selbstliebe orientiert wäre und einen Lustzuwachs im hedonistischen Verständnis zum Ziel hätte. Eine solche Lustvermehrung zum Gegenstand einer Forderung zu machen, wäre überflüssig, d. h. es wäre sinnlos, dieses schon naturnotwendige Wollen noch einmal eigens durch einen Imperativ, der es als Pflicht formulierte, vorzuschreiben. „Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens“ (KpV, 05: 25). Die Intention dieses Wesens, glücklich sein zu wollen, muss und kann nicht geboten werden; sie ist als eine gegebene ein „ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist“ (KpV, 05: 25). Zudem resultiert aus dem ungebrochen am Prinzip der Selbstliebe orientierten Glücksstreben im Fall der Begrenztheit der Glücksgüter eine Konkurrenz um diese Güter, die Sieger und Besiegte hinterlässt, so dass unter diesen Umständen das Glück der Einen das Unglück der Anderen bedeutet. Durch die Pflicht zur Beförderung des Glückszustandes der Welt können Neigungen und Bedürfnisse also nicht unmittelbar und unreflektiert bejaht sein, weder die eigenen noch die Anderer. Diese Pflicht kann nicht gebieten, sich die privaten Glücksintentionen Anderer distanzlos zu eigen zu machen, um etwa sie in der Konkurrenz um die Glücksgüter zu Siegern zu machen. Sie kann als Pflicht, auch wenn Glück ihr Zweck ist, in keiner Weise an der distanzlosen und unreflektierten Selbstliebe orientiert sein, sondern muss, indem sie ein Sollen formuliert, im Verhältnis zur bloßen Gegebenheit allen individuellen Glücksstrebens einen kontrafaktischen Anspruch erheben. Indem sie die Verbesserung des Glückszustandes der Welt als ein sittliches Gebot aufstellt, kann es sich nur um eine auf besondere Weise qualifizierte Weltverbesserung handeln. Als Zweck eines solchen Gebots muss die unter Glücksaspekten verbesserte Welt der Bedingung der Verträglichkeit mit einer allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sein. Das „Gesetz, anderer Glückseligkeit zu befördern“, so schon die zweite Kritik, entspringt nicht daraus, dass Glückseligkeit „ein Object für jedes seine Willkür sei, sondern blos daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Vernunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird“ (KpV, 05: 34). Entsprechend gilt, so dann die Metaphysik der Sitten, die „Pflicht Anderer ihre Zwecke […] zu den meinen zu machen“, nur unter einer Bedingung, nämlich „so fern diese nur nicht unsittlich sind“ (MS, 06: 450). So wie die eigenen „wahren Bedürfnisse“ (MS, 06: 393) um

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fremder Glückseligkeit willen nicht aufgeopfert werden müssen, fordert die Pflicht in Hinsicht auf Andere nur die Beförderung von „deren (erlaubten) Zweck[en]“, so dass „mir auch zusteht manches zu weigern, was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte“ (MS, 06: 388). Insgesamt ist zur Erfüllung der Pflicht zur Beförderung des Weltbesten eine Reflexion verlangt, die sich, auch wenn keine strikt berechenbaren Ergebnisse möglich sein sollten, am Modell einer systematischen Einheit orientiert, in dem die berechtigten Glücksbedürfnisse der Beteiligten harmonieren und in dem es entsprechend keine Konkurrenz um Glücksgüter, kein Glück der Einen auf Kosten der Anderen gibt.³ Muss nun, bevor die Pflicht zur um der Glückswürdigen willen gebotenen Beförderung des Weltbesten zur Ausübung kommt, d. h. bevor ich die berechtigten Glücksintentionen Anderer zu den meinigen mache, deren tatsächliche Glückswürdigkeit festgestellt sein? Dass das nicht der Fall ist, dass also keine vermeintlich Unwürdigen aus den Bemühungen ausgeschlossen und deren Glücksintentionen nicht insgesamt in Frage gestellt werden dürfen, ergibt sich aus Kants Erwägungen zur Erkennbarkeit der Qualität der Glückswürdigkeit, d. h. zur Erkennbarkeit der moralischen Qualität eines Menschen. Allerdings muss der in der Pflicht doch enthaltenen Bedingung der Glückswürdigkeit ein verbleibender Sinn zugeschrieben werden. Eine Erkenntnis von Glückswürdigkeit ist Kant zufolge unmöglich, denn es gibt keine strikten „Beweisthümer der innern sittlichen Gesinnung“, die „man von einer äußeren Erfahrung überhaupt […] erwarten und verlangen kann“ (RGV, 06: 63); der Erfüllung der Glückswürdigkeitsbedingung ist also „kein Beispiel in der äußern Erfahrung adäquat […], als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt“ (RGV, 06: 63). Das gilt auch vom Inneren der moralisch bösen Gesinnung, so dass ebenso

3 Dass das Glücksziel, wie es durch die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts geboten ist, unter den entwickelten Bedingungen der Allgemeinheit steht und es also schlicht gegebene natürliche Neigungen nicht bedingungslos zulässt, erlaubt die Abwehr des traditionellen, etwa von Schopenhauer besonders stark und wirkmächtig erhobenen Eudämonismus-Einwands, d. h. des Einwands, Kant habe den Eudämonismus zunächst „als heteronomisch feierlich zur Hauptthüre seines Systems hinausgeworfen“, dieser schleiche sich aber „nun unter dem Namen höchstes Gut wieder“ herein (Arthur Schopenhauer: „Preisschrift über die Grundlage der Moral“. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Arthur Hübscher. Band 4, Leipzig 1938, 124). Vgl. zu Varianten des Einwands Michael Albrecht: Kants Antinomie der praktischen Vernunft. Hildesheim 1978, 43–48. Zu den Kritikern des Einwands zählen Pauline Kleingeld („What do the Virtuous Hope For? Re-reading Kant’s Doctrine of the Highest Good.“ In: Proceedings of the Eighth International Kant-Congress, Memphis. Hrsg. von Hoke Robinson. Milwaukee 1995, Bd. 1.1, 91–112), die die „difference between the happiness of the hedonist and that of the virtuous agent“ (92) herausstellt, und Georg Geismann („Höchstes politisches Gut – Höchstes Gut in einer Welt“. In: Tijdschrift vor Filosofie 68 (2006), 23–41), der das höchste Gut als ein „physisches Gut mit moralischer Qualifikation“ (28) bezeichnet.

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die Nicht-Erfüllung der Moralitätsbedingung und also Glücksunwürdigkeit nicht erkannt werden können. Die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten kann nach diesem Ergebnis durch keine Erkenntnis auf einen Teil der Menschen eingeschränkt werden; kein Weltwesen kann von einem anderen behaupten, die Bedingung der Glückswürdigkeit nicht zu erfüllen. Dass auf der Basis theoretischer Vernunft aufgrund der Restriktion ihrer Erkenntnis in der äußeren Erfahrung alle Menschen als nicht unwürdig gelten können, erfüllt allerdings die Bedingung der Würdigkeit noch nicht auf positive Weise. Die Zuschreibung der Würdigkeit muss also durch praktische Vernunft erfolgen, und zwar hinsichtlich aller Menschen. Wenn auch praktische Vernunft nicht selten den „Vorwurf des Lasters“ erhebt (der, wie gesehen, theoretisch nie verifiziert werden kann), wird sie doch bloß als praktische Vernunft ebenso „nie zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werths des Lasterhaften ausschlagen“ (MS, 06: 463). Mehr noch spricht sie diesem moralischen Wert nicht nur nicht ab, sondern setzt ihn voraus, weil mit der durch sie selbst gesetzten „Idee eines Menschen“ verbunden ist, dass dieser, „als solcher (als moralisches Wesen) nie alle Anlage zum Guten einbüßen kann“ (MS, 06: 464). „[W]enigstens in der Qualität eines Menschen“ wird auch dem in einzelnen Taten Lasterhaften „nicht alle Achtung versag[t]“ (MS, 06: 463); Achtung aber ist eine durch praktische Vernunft aufgrund ihrer Idee vom Menschen erteilte „Anerkennung“ – nicht Erkenntnis – „einer Würde (dignitas) an anderen Menschen“ (MS, 06: 462). – Wenn nun allen Menschen auf diese grundsätzliche Weise moralischer Wert zukommt, dann ist im Prinzip auch durch jeden die Bedingung der Glückswürdigkeit erfüllt, die Bestandteil der Pflicht zur Beförderung des Glückszustandes der Welt ist. Die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten fordert demnach, alle Menschen gleichermaßen als potentielle Adressaten glücksbefördernder wohltätiger Handlungen zu betrachten. Dass nur ein Teil von ihnen wirklicher Adressat wird, bemisst sich am beschränkten Können des jeweiligen Wohltäters, nicht an der Unwürdigkeit des anderen Teils. Eine solche Unwürdigkeit zuzuschreiben, verbieten sowohl die Erkenntnisrestriktionen in Hinsicht auf moralische Qualität als auch die Idee, die sich praktische Vernunft vom Menschen macht. Wenn durch die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts nun dennoch nicht schlicht Glücksvermehrung, sondern ausdrücklich Glücksvermehrung für Glückswürdige verlangt ist, dann verbleibt für diesen Zusatz der Sinn des Hinweises darauf, dass der zu erzielende Glückszustand der Idee des Menschen als moralischem Wesen angemessen sein muss. Das schließt die Ausrichtung an einem unqualifizierten Glück aus, d. h. an einem blinden Befriedigen jeglicher Bedürfnisse und an einem besinnungslosen Akkumulieren von Glücksgütern; positiv gesprochen, ist eben gefordert, dass der zu erzielende Glückszustand ein qualifizierter sei, d. h. ein an die „Form der Allgemeinheit“ angepasster, „die die Vernunft als Be-

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dingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines Gesetzes zu geben“ (KpV, 05: 34).

3 Zweckmäßigkeit der Natur als Bedingung der Pflichterfüllung Wenn nun auch spezifischer als zuvor bewusst sein mag, was durch die Pflicht verlangt ist, das höchste Gut in der Welt zu befördern, ist dadurch die Frage nach den Bedingungen ihrer Erfüllbarkeit noch nicht beantwortet. Zur Erfüllung ihres Weltverbesserungsauftrags unter Glücksgesichtspunkten ist offensichtlich vorauszusetzen, dass Natur sich diesem Auftrag fügt, indem sie die Glücksmittel zur Beförderung des Glücks der Glückswürdigen enthält. Die Welt muss ein geeigneter Ort sein, um das Verlangte in ihr auszuführen. Es muss also möglich sein, wie Kant es formuliert, „die Natur […] in Beziehung auf die moralische innere Gesetzgebung und deren mögliche Ausführung uns als zweckmäßig vorzustellen“ (KU, 05: 448). Die Beantwortung der Frage, ob Natur derart zweckmäßig vorgestellt werden kann, ist von entscheidender Bedeutung, denn sollte das nicht möglich sein, wäre die Geltung der Pflicht nicht aufrecht zu erhalten. Mit der verlangten Zweckmäßigkeit ist eine anspruchsvolle Bedingung formuliert: Der Aufforderung, einen solchen Glückszustand der Menschen anzustreben, der der Form der Allgemeinheit genügt, der also ihre moralisch gerechtfertigten Glücksabsichten erfüllt, müsste eine Natur entsprechen, die dem auf eine geregelte Weise entgegenkommt. Natur dürfte diesen Absichten nicht widrig oder gar zerstörerisch entgegenstehen; sie dürfte ihnen aber auch nicht bloß indifferent begegnen. Wenn Natur in einem Fall die nötigen Glücksgüter böte, in einem anderen nicht, und wenn jede gelegentlich erzielte Weltverbesserung in der beständigen Gefahr wäre, durch sie vernichtet zu werden, durch ein Erdbeben etwa, dann herrschte Beliebigkeit im Verhältnis zwischen den moralischen Absichten und der Natur, nicht jenes projektierte Verhältnis der Zweckmäßigkeit. Bloß gelegentliche Fälle eines erzielten verbesserten Glückszustandes können nicht als Erfüllungsfälle der Absicht praktischer Vernunft betrachtet werden, denn ihre Intention geht nicht auf ein zufällig faktisches Glück, das durch blindwirkende Naturkräfte fortgesetzt bedroht ist, sondern auf die Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück nach einer Regel. Unter den skizzierten ungünstigen Umständen herrschte der unvernünftige Zustand, dass ein vernünftiges Weltwesen, das nach besten Kräften dabei helfen soll, die moralisch legitimen Glücksabsichten der Menschen in der Welt zu verwirklichen, mit einer Welt konfrontiert wäre, die solchen Absichten nicht zugänglich ist. In einer solchen Welt müsste sich das vernünftige Weltwesen als Fremdling

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vorkommen; entsprechend müsste ihm die Welt, insofern sie die durch die Pflicht an sie herangetragenen Rationalitätsansprüche abweist, als Sphäre des Irrationalen erscheinen. Hinsichtlich des ersten Teils der durch die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten gestellten Aufgabe ist ihre Erfüllung zwar schwierig, aber nicht prinzipiell problematisch, nämlich hinsichtlich des Teils, den Kategorischen Imperativ „als formales praktisches Princip“ (KU, 05: 471 Anm.) zu befolgen. Denn: „Diese formale Beschaffenheit meiner Handlungen (Unterordnung derselben unter das Princip der Allgemeingültigkeit), worin allein ihr innerer moralischer Werth besteht, ist gänzlich in unserer Gewalt“ (KU, 05: 471 Anm.). Dieser Teil der Aufgabe ist der gesinnungsethische. Er ist erfüllbar, indem der Wille durch verallgemeinerungsfähige Maximen als guter Wille bestimmt wird. Problematisch ist dagegen die Erfüllung des zweiten Teils der Aufgabe, d. h. das Erzielen des materialen Zwecks, der eben in der Weltverbesserung unter Glücksaspekten besteht. Die „Möglichkeit, oder Unausführbarkeit“ materialer Zwecke entscheidet, so Kant, über den „äußere[n] Werth meiner Handlungen“; das aber ist „etwas, welches nie völlig in meiner Gewalt ist“ (KU, 05: 471 Anm.). Anders gesagt, sind durch Handlungen, deren innerer Wert rein moralisch ist, nie auch schon Glücksfolgen garantiert; solche Glücksfolgen hängen immer auch von der zufälligen Faktizität einer Natur ab, die nach allem, was sich von ihr erkennen lässt, der moralischen Pflicht zur Weltverbesserung in materialer Hinsicht gleichgültig gegenübersteht. Das Zwischenergebnis – noch nicht das Endergebnis – angesichts dieser Diskrepanz zwischen der doch durch praktische Vernunft aufgegebenen Pflicht zur Beförderung des Endzwecks und ihrer nach aller Beobachtung vom Zufall abhängigen Erfüllung lautet in Kants Worten: „[…] die speculative Vernunft sieht die Ausführbarkeit derselben (weder von Seiten unseres eigenen physischen Vermögens, noch der Mitwirkung der Natur) gar nicht ein“ (KU, 05: 471 Anm.). Anders gesagt, „stimmt der Begriff von der praktischen Notwendigkeit eines solchen Zwecks“, des Endzwecks, „durch die Anwendung unserer Kräfte nicht mit dem theoretischen Begriffe von der physischen Möglichkeit der Bewirkung desselben zusammen“ (KU, 05: 450). Der Vernunftidee von der sein sollenden notwendigen Verknüpfung von innerem moralischem Wert und äußeren Glücksfolgen bzw. von der notwendigen Verknüpfung von Glückswürdigkeit und Glück widerspricht die Beobachtung, dass der Mensch, „unangesehen aller […] Würdigkeit glücklich zu sein dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen“ (KU, 05: 452) ist. Wenn es bei diesem Ergebnis bleiben müsste, dass es einerseits eine Pflicht gäbe, in der Natur Glücksfolgen zu bewirken, dass aber andererseits Natur dieser Pflicht widrig oder indifferent gegenüberstünde und Glücksfolgen sich allenfalls zufällig einstellen könnten, also nicht aufgrund der Pflichterfüllung, dann könnte

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die Situation nur als absurd beurteilt werden. Die Formel, durch die Kant ansonsten die Erfüllbarkeit moralischer Pflichten ausdrückt – d. i. die Formel ‚Du kannst, denn du sollst’ – könnte für diese Pflicht nicht gelten. Die ihr gemäße Formel müsste anders lauten, etwa ‚Du sollst, obwohl du nicht kannst’. Damit aber scheint die Pflicht als solche sich aufzulösen, denn ein gleichzeitiges Sollen und Nicht-Können ist sinnlos. Der in einer solchen Situation die Pflicht aufhebende, von Kant immer wieder zustimmend angeführte Grundsatz lautet: ‚ultra posse nemo obligatur’. Die Unhaltbarkeit der Pflicht zur Verbesserung des Glückszustandes der Welt unter den entwickelten Bedingungen, dass nämlich nach theoretischen Begriffen, also nach allem, was wir erkennen können, unser physisches Vermögen zu dieser Pflichterfüllung unzureichend ist, dass die Folgen aller Bemühungen dem Zufall unterliegen und auf keine Mitwirkung der Natur gerechnet werden kann, drückt Kant denn auch unmissverständlich aus. Die Ausführbarkeit der Pflicht muss so für eine „ungegründete und nichtige, wenn gleich wohlgemeinte Erwartung“ gehalten werden, die Pflicht selbst also „als bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rücksicht“ (KU, 05: 471). – Allerdings fügt Kant noch hinzu, dass das nur dann die letzte Konsequenz wäre, wenn theoretische Vernunft „von diesem Urtheile“ – gemeint ist das über die Unausführbarkeit der Pflicht – „völlige Gewißheit haben könnte“ (KU, 05: 471). Dieser Zusatz drängt die Fragen auf, wodurch theoretische Vernunft in ihrem Urteil nicht völlig gewiss sein kann und wodurch also eine Perspektive eröffnet sein mag, die Pflicht doch für ausführbar zu halten und das ‚ultra posse nemo obligatur’ auszuschalten. Den Ansatz zur Beantwortung bietet die selbstkritische Einsicht theoretischer Vernunft in ihre eigene Restringiertheit. Es ist also an dieser Stelle zu vergegenwärtigen und für die Problemlösung fruchtbar zu machen, dass das Erkennen theoretischer Vernunft eine bloß eingeschränkte Naturerkenntnis bieten kann, nämlich eine Erkenntnis der Natur bloß als Erscheinung. Damit verlieren die von den Erscheinungen hergenommenen Gründe, die gegen die moralische Weltverbesserung unter Einschluss des Glücksaspekts sprechen, ihren Absolutheitscharakter. Weil sie von den Erscheinungen hergenommen sind, können sie den Grund des Erscheinens von Natur nicht betreffen. Dieser Grund des Erscheinens von Natur, d. h. der Grund dafür, dass sie überhaupt erscheint und nicht vielmehr nicht, ist für theoretische Vernunft, die nur unter Voraussetzung des Erscheinens von Natur erkennen kann, ein unerkannter und unerkennbarer, ein x ignotum. Doch gerade weil er ein unerkennbarer ist, kann er als ein Grund gedacht werden, der von der moralischen Indifferenz der als Gegenstand theoretischer Erkenntnis erscheinenden Natur unterschieden ist. Positiv gesprochen, kann er als moralische Weltursache gedacht werden, von der in der Sphäre der Erscheinungen durch theoretische Vernunft bloß nicht erkennbar ist, dass und wie sie die Möglichkeit

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garantiert, eine Weltverbesserung als Verbesserung ihres Glückszustandes zu erzielen. Während es aus dem Gesichtspunkt theoretischer Vernunft bloß zwei gleichrangige Möglichkeiten sind, den unbekannten Grund des Erscheinens von Natur entweder als einen moralischen oder als einen nichtmoralischen Grund zu denken, ist durch das Interesse reiner praktischer Vernunft dringend nahegelegt, ihn als moralische Weltursache vorauszusetzen. Denn „die Nothwendigkeit der Pflicht“, so Kant, ist „für die praktische Vernunft wohl klar“ (KU, 05: 470). Will praktische Vernunft ihre Pflicht also nicht für zugleich unabweisbar und unausführbar, also für sinnlos halten, muss sie konsequenterweise für die moralische Weltursache Partei ergreifen, die ihre Ausführbarkeit ermöglicht. Diese im Interesse reiner praktischer Vernunft liegende moralische Weltursache ist der Gott der Ethikotheologie.

4 Die Idee des moralischen Weltherrschers Was wir als „Grund der Möglichkeit und der praktischen Realität, d. i. der Ausführbarkeit, eines nothwendigen moralischen Endzwecks […] annehmen müssen“, ist „ein weises, nach moralischen Gesetzen die Welt beherrschendes Wesen“ (KU, 05: 457). Über die Art, wie die Herrschaft dieses Wesens wohl ausgeübt werden könnte, ebenso über gewisse Anhaltspunkte für teleologisch reflektierende Urteilskraft, sie unterstellen zu dürfen, wenn auch nicht zu erkennen, gibt Kant im Kontext der Behandlung einer speziellen Pflicht einige Auskünfte, die unter die allgemeine Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts subsumiert werden kann. Es ist der Kontext der Behandlung des „Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden“, d. i. ein „Zweck[], den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt“ (ZeF, 08: 362). Auch diesen universellen politischen Glückszustand zu erzielen, steht nicht völlig in der Macht der Menschen. Auch hier ist alles, was erreicht sein mag, beständig durch Natur bedroht, im speziellen Fall zuvörderst durch die sinnliche Natur der Menschen selbst, die der Selbstliebe und dem Eigennutz auch auf der kollektiven Ebene der Völker Vorschub leistet. Um die Lücke gedanklich zu schließen, die durch die begrenzte Macht der Menschen verbleibt, ist Kant zufolge „der Begriff des göttlichen concursus ganz schicklich und sogar nothwendig“, d. i. der Gedanke, „daß Gott den Mangel unserer eigenen Gerechtigkeit […] ergänzen werde“ (ZeF, 08: 362 Anm.). Gleichwohl beachtet Kant bei aller Notwendigkeit, die er diesem Begriff zuschreibt, doch die kritische Restriktion, dass mit ihm kein Erkenntnisanspruch hinsichtlich der göttlichen Beihilfe verbunden werden kann, „welches ein vorgebliches theoretisches Erkenntniß des Übersinnlichen“ (ZeF, 08: 362 Anm.) wäre. Der Modus des Für-

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wahrhaltens, der dem Begriff der göttlichen Mitwirkung zugeordnet werden kann, ist nicht der des Wissens, sondern der des „Glauben[s]“; weil dieser mögliche Glaube auf einer Reflexion über die Verwirklichungsbedingungen einer durch reine praktische Vernunft gesetzten Pflicht beruht, ist er näherhin als Glaube „in moralisch-praktischer Absicht“ (ZeF, 08: 362 Anm.) zu bezeichnen. Der besagte Glaube kann nun, obwohl er sich bloß auf eine Notwendigkeit im Denken über die Realisierbarkeit einer Pflicht und auf keine Erkenntnis berufen kann, doch in teleologisch reflektierender Urteilskraft eine gewisse Unterstützung finden, die zwar ihrerseits erkenntnistheoretisch restringiert ist, die aber auch nicht ohne jeden Anhaltspunkt dafür ist, dem außerhalb der menschlichen Verfügung liegenden Teil des Weltlaufs eine „Zusammenstimmung […] zu dem Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt, (dem moralischen)“ (ZeF, 08: 362) zu unterlegen. Die Idee, auf der die teleologische Reflexion beruht, ist „eine Idee […], die zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber […] wohl gegründet“ (ZeF, 08: 362) ist; es ist die Idee einer„Zweckmäßigkeit im Laufe der Welt, als tiefliegende Weisheit einer höheren […] Ursache“, die den „Mechanism der Natur dazu zu benutzen“ (ZeF, 08: 361) weiß, um den Pflichtbegriff vom ewigen Frieden dort realisieren zu helfen, wo der Weltlauf sich menschlicher Verfügungsmacht entzieht. Den auf den ersten Blick abenteuerlichen Gedanken, dass der Mechanismus der Natur, d. h. die blind wirkende Naturkausalität, über die hinaus theoretische Vernunft nichts erkennen kann, sich doch als absichtsvoll benutzt denken lässt, erläutert Kant am Beispiel der Zuführung von Treibholz „an die Eisküsten“ (ZeF, 08: 361 Anm.). Von dieser Erscheinung können wir uns „die physisch-mechanische Ursache […] gut erklären“ (ZeF, 08: 361 Anm.), etwa durch Erkenntnisse über Meeresströmungen. Doch obwohl sich die Erklärung theoretischer Vernunft in dieser Art der Erklärung erschöpft, in der nichts von einer Kausalität nach Zwecken vorkommt und vorkommen darf, ist nach Kant eine hinzukommende teleologische Deutung möglich, wenn in den Blick kommt, dass die Bewohner der Eisküsten ohne das Treibholz dort nicht leben könnten. Es wird dann möglich, das mechanische Kausalgeschehen als einer Finalursache untergeordnet zu betrachten, als durch sie benutzt bzw. als auf der „Vorsorge einer über die Natur gebietenden Weisheit“ (ZeF, 08: 361) beruhend. Der Gedanke einer absichtsvollen Nutzung absichtsloser mechanischer Kausalität mag noch immer weit hergeholt erscheinen, solange seine originäre Sphäre der Anwendung noch nicht benannt ist. Die Sphäre des Teils des Weltlaufs, der dem menschlichen Vermögen entzogen ist, ist bloß der Bereich seiner sekundären Anwendung. Seine erste und ganz geläufige Anwendung findet er innerhalb der Sphäre menschlichen Könnens, d. h. auf dem Gebiet „menschlicher Kunsthandlungen“ (ZeF, 08: 362), worunter beispielsweise die Kunsthandlung verstanden werden kann, sich

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der mechanischen Naturkräfte zum Zweck der Errichtung eines Bewässerungssystems zu bedienen; allerdings auch zu amoralischen Zwecken, etwa beim Herstellen von Waffen in der Absicht auf einen Angriffskrieg, so dass der Mechanismus in der menschlichen Sphäre ein moralisch indifferenter ist und sich für beliebige Zwecke nutzen lässt. Die im für Menschen unverfügbaren Teil des Weltlaufs waltende Weisheit wird nun „nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen“ (ZeF, 08: 362) gedacht, nach der Analogie des moralischen Teils dieser Handlungen selbstverständlich, denn das durch die höhere Weisheit zu Ergänzende ist in Absicht auf eine ansonsten nur unvollkommen realisierbare moralische Pflicht zu ergänzen. Im Fall des Pflichtbegriffs vom ewigen Frieden, dieser Spezifikation der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, deutet Kant den „Handelsgeist“ (ZeF, 08: 368), der prima facie Ausdruck der sinnlichen Bedürfnisnatur des Menschen ist, als von höherer Weisheit regiert und als „Begünstigung seiner moralischen Absicht“ (ZeF, 08: 365). Handelsgeist ist Kant zufolge orientiert am „wechselseitigen Eigennutz“ und kann „mit dem Kriege nicht zusammen bestehen“ (ZeF, 08: 365). Daran anknüpfend lässt sich Natur in einem teleologischen Urteil so deuten, dass sie eine durch Weisheit regierte Natur ist und „durch den Mechanism der menschlichen Neigungen […] den ewigen Frieden“ (ZeF, 08: 365) unterstützt. In diesem teleologischen Urteil ist Natur als „große Künstlerin Natur“ gedeutet, „aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich [die] Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen […], gleich als Nöthigung einer ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache“ (ZeF, 08: 360). Als diese Ursache, die als weise Ursache den Naturmechanismus der im Geist des Handels wirkenden Egoismen benutzt, um den Friedenszweck zu befördern, kommt nur der Gott der Ethikotheologie in Betracht, der moralische Weltherrscher. Bei allem Bemühen nun, mit Gründen für die Berechtigung dieses Gottesgedankens zu werben, lassen sich doch auch die erkenntniskritischen Restriktionen nicht verdrängen. Das Denken nach der Analogie, hier im Ausgang von den menschlichen Kunsthandlungen, ist nur von begrenztem Erkenntniswert. Das teleologische Urteil über den geschichtlichen und naturgeschichtlichen Weltlauf kann keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben, weil ihm dazu direkte Anschauung korrespondieren müsste, es aber keine solchen äußeren Anschauungen von Absichten, gar von göttlichen, gibt. Entsprechend ist das Urteil nicht zureichend, um die Existenz des Weltherrschers und seine tatsächliche Beihilfe zu behaupten. Die Formulierung Kants, dass aus dem Lauf der Natur „sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet“ (ZeF, 08: 360), kann angesichts seiner eigenen elaborierten kritischen Theorie des teleologischen Urteils nicht buchstäblich genommen werden, d. h. nicht im Sinne der tatsächlichen Sichtbarkeit von Zweck-

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mäßigkeit auf die Weise einer sinnlichen Anschauung. Entsprechend heißt es noch in dem Satz, der von der Quasi-Sichtbarkeit der Zweckmäßigkeit des Naturlaufs spricht, dass wir dessen „tiefliegende Weisheit […] eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur erkennen, oder auch nur daraus auf sie schließen, sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken“ (ZeF, 08: 361 f.). Für das Hinzudenken des weisen weltbeherrschenden Wesens gibt es zwar den starken Grund, dass nur unter seiner Voraussetzung die Bedingungen für die Ausführbarkeit der durch reine praktische Vernunft gesetzten Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, d. h. des Glückszustandes der Welt, erfüllt sind. Doch der Modus des Fürwahrhaltens beim Annehmen oder Voraussetzen dieses Wesens kann nicht der des Wissens sein. Für theoretische Vernunft bleibt der Grund des Erscheinens der Welt ein x ignotum; es muss sich um ein Fürwahrhalten als Glauben handeln. Wer sich ganz davon überzeugen kann, dass die Pflicht zur Weltverbesserung in materialer Hinsicht eine unabweisbare Pflicht moralischpraktischer Vernunft ist, dass das Unvermögen, sie aus eigener Kraft zu verwirklichen, sie nicht sinnlos macht, dass also von Seiten einer moralischen Weltursache die Verwirklichung ermöglicht ist, der ist ein Gläubiger im Sinne der Religion der Ethikotheologie. Beim Versuch, die Pflicht zu erfüllen, muss dieser Gläubige sich über theoretische Vernunft hinwegsetzen und kontrafaktisch gegen das agieren, was diese als erscheinende Natur bloß erkennt, nämlich eine gegenüber jener Weltverbesserungsabsicht gleichgültige Natur, die nach absichtslosen physisch-mechanischen Gesetzen sowohl den Eisküsten Treibholz zuführt, wodurch sie bewohnbar werden, als auch umgekehrt etwa durch Flutwellen Zivilisationen zerstört.

5 Glaube Diejenigen, die hinsichtlich der moralischen Weltursache hinter der völligen subjektiven Gewissheit zurückbleiben, die doch allein uneingeschränkt ‚Glaube’ genannt werden kann, teilt Kant in zwei Arten ein: die dogmatisch Ungläubigen (vgl. KU, 05: 472) und die Zweifelsgläubigen (KU, 05: 472 Anm.). Der dogmatisch Ungläubige, der dezidierte Atheist, spricht der Idee Gottes als des moralischen Welturhebers „alle Gültigkeit“ ab, weil es ihr „an theoretischer Begründung ihrer Realität fehlt“ (KU, 05: 472). Er behauptet aufgrund der Unmöglichkeit einer Erkenntnis dieses Welturhebers seine Nichtexistenz, zieht also etwa aus den Beweisen der Unmöglichkeit von Gottesbeweisen den Schluss, damit sei die Nichtexistenz Gottes bewiesen. Dieser Schluss ist nach Kant nicht zulässig, denn theoretische Vernunft kann über den Grund des Erscheinens der Welt, der für sie ein x ignotum in jeder Hinsicht bleibt, nicht nur nichts Bejahendes, sondern auch nichts Verneinendes

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sagen. Wichtiger aber als das intellektuelle Defizit eines Fehlschlusses sind die praktischen Konsequenzen aus dem dogmatischen Unglauben. Dem dogmatisch Ungläubigen muss nämlich in der Tat eine Pflicht, die den durch eigene Kraft nicht zu realisierenden Zweck eines sich an Glückswürdigkeit anschließenden tatsächlichen Glückszustandes der Welt setzt, als sinnlose Pflicht erscheinen. Die Erfüllung einer Pflicht zu intendieren und zugleich die Bedingung ihrer Erfüllbarkeit zu bestreiten, d. h. einen moralischen Weltursprung schlechthin zu negieren, ist unmöglich. Ein konsequenter dogmatischer Unglaube kann also, so Kant, „mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen (denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten)“ (KU, 05: 472). – Ganz verloren für jene Weltverbesserung ist doch auch der dogmatisch Ungläubige nicht. Wenn man weiteren Einschätzungen Kants folgt, ist in ihm zum einen die Wirksamkeit autonomer praktischer Vernunft vorauszusetzen, d. h. die Stimme, die den besagten Zweck gebietet; zum anderen wird er sich ähnlich den Vertretern theoretischer Gottesbeweise im Punkt ihrer Gottesbejahung von seiner dogmatischen Gottesverneinung aus theoretischen Gründen nicht überzeugen, sondern nur dazu überreden können. Selbstüberredung ist der labile Zustand aller Dogmatismen, durch die mehr zu erkennen beansprucht wird, als erkannt werden kann, hier die Nicht-Existenz des ethikotheologischen moralischen Welturhebers. Insofern diese Selbstüberredung nicht zu wirklicher Überzeugung werden kann, kann es auch die Behauptung nicht werden, die darauf beruht, nämlich die, die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten sei als unausführbar und also als sinnlos erkannt. In einer anderen Situation ist der Zweifelsgläubige. Dieser ist eine differenziertere Gestalt als der dogmatisch Ungläubige, aber auch als der uneingeschränkt Gläubige im Sinne eines praktischen Glaubens, der der Stimme theoretischer Vernunft schlicht zu schweigen gebietet. Der Zweifelsgläubige ist – so die hier schlussendlich vertretene These – der angemessene Repräsentant der komplexen Situation, die Kants Ethikotheologie entfaltet. In größter Verdichtung ist er von Kant als derjenige charakterisiert, „dem der Mangel der Überzeugung durch Gründe der speculativen Vernunft nur Hinderniß ist, welchem eine kritische Einsicht in die Schranken der letztern den Einfluß auf das Verhalten benehmen […] kann“; gleichwohl kann ihm diese kritische Einsicht kein restloses, sondern nur „ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten zum Ersatz hinstellen“ (KU, 05: 472 f.). Das Glaubenshindernis für den Zweifelsgläubigen ist ein zweifaches. Den ersten Widerstand bietet die erscheinende Natur, von der nicht zu erkennen ist, dass sie der sich an die moralische Willensbestimmung anschließenden Weltverbesserungspflicht zugänglich sein könnte, die also dieser Pflicht gegenüber gleichgültig oder gar widrig zu sein scheint. Dieser erste Grund für den Mangel der Überzeugung lässt sich aber überwinden, eben durch die genannte kritische Einsicht in die

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Schranken des Erkennens, wonach die erscheinende Natur keine absolute Realität beanspruchen kann, entsprechend die von ihr her genommenen Zweifelsgründe keine absolute Geltung. Es kann und muss nach dem Grund ihres Erscheinens gefragt werden. Dieser Grund – zugleich denknotwendig und unerkennbar – ist nun von einer Ambivalenz, deren eine Seite einen erneuten Widerstand bietet, deren andere Seite es jedoch für möglich halten lässt, ihn zu überwinden. Als unerkennbarer (und darin besteht die erneute Widerständigkeit) kann der Grund nicht als der moralische Weltursprung behauptet werden, der die strikte Entgegensetzung zwischen dem moralischen Selbstverständnis des Menschen und der vermeintlichen Indifferenz der Natur aufzuheben erlaubte. Die Unerkennbarkeit des Grundes der Natur bedeutet aber auch andererseits, dass er als dieser moralische Weltursprung nicht verneint werden kann. Theoretische Vernunft, bloß für sich genommen, wird angesichts dieser beiden für sie gleichrangigen Unmöglichkeiten des Erkennens einen Agnostizismus empfehlen müssen. Wenn aber praktische Vernunft hinzutritt, lässt sich die zweite Seite des Scheiterns theoretischer Vernunft, d. h. die Unmöglichkeit der Verneinung eines moralischen Weltursprungs, ins Positive wenden; der moralische Welturheber kann aufgrund seiner unmöglichen Verneinung für möglich gehalten werden. Damit kann zugleich die Aufhebung der Entgegensetzung zwischen moralischem Subjekt und Natur für möglich gehalten werden. Des Weiteren muss die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten nicht für sinnlos gehalten werden; sie lässt sich nicht aufgrund einer als eingesehen beanspruchten Unerfüllbarkeit mit dem ‚ultra posse nemo obligatur’ außer Kraft setzen. Es wird auf diese Weise verständlich, warum trotz der genannten Hindernisse, die der Zweifelsgläubige vor Augen hat, die kritische Einsicht in die Schranken der theoretischen Vernunft diesen Hindernissen „den Einfluß auf das Verhalten benehmen […] kann“ (KU, 05: 472). Anders als im Fall des dogmatisch Ungläubigen im Zustand der Selbstüberredung kann sein zweifelnder Glaube „mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime […] zusammen bestehen“ (KU, 05: 472). Nach den entwickelten Voraussetzungen bleibt zu erklären, was den Zweifelsgläubigen von der vollen Glaubensüberzeugung abhält und was ihn dennoch zu einem Gläubigen macht. Sein Glaubensdefizit beruht auf der theoretischen Vernunft, die er nicht zum Schweigen bringt oder bringen kann und von der er sich sagen lässt, dass der unerkennbare Grund des Erscheinens der Natur aufgrund der Unmöglichkeit, ihn als moralischen Welturheber behaupten zu können, ein potentiell moralisch indifferenter ist. Diese Möglichkeit kann neben der anderen, den Weltursprung eben doch in einem moralischen Wesen anzunehmen, durch theoretische Vernunft nicht ausgeschlossen werden. Den ersten der beiden unentscheidbaren Fälle vorausgesetzt, d. h. den Fall des moralisch indifferenten Grundes, wäre die materiale Pflicht zur Beförderung des Weltbesten sinnlos; im zweiten Fall

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dagegen nicht. Doch auch wenn der moralische Welturheber nur als eine Möglichkeit neben einer konkurrierenden betrachtet werden kann, ist das hinreichend, um die Pflicht als solche anzunehmen und zu ihrer Realisierung zu schreiten. Anders gesagt, ist auch ein unentschiedener Agnostizismus dazu hinreichend.⁴ Was nun den Zweifelsgläubigen über die Situation der Unentschiedenheit hinausführt, in der ihn theoretische Vernunft zurückließ, ist praktische Vernunft. Sie stellt ihm eine Pflicht vor, die er nicht abweisen kann, ohne praktische Vernunft für täuschend zu halten. Der Glaube daran, dass praktische Vernunft keine sinnlosen Pflichten statuiert, muss nun in eins Glaube an die Bedingung ihrer Erfüllbarkeit sein, d. h. Glaube an den moralischen Weltursprung. Die im Zweifelsgläubigen weiterhin wirksame Stimme theoretischer Vernunft, die er nicht für nichts erachtet, hält zwar beständig bewusst, dass von diesem Weltursprung nichts zu erkennen ist, doch für den Weltursprung als moralischen spricht das dringende Interesse praktischer Vernunft. Auf ein Interesse die Überzeugung von der Existenz seines Gegenstandes zu gründen, gilt in sonstigen Fällen als fragwürdig und als Ausdruck von Wunschdenken, doch im Fall des Interesses reiner praktischer Vernunft handelt es sich um kein willkürliches und kein partikular privatsubjektives Interesse, sondern um das 4 Wilhelm Lütterfelds („Der praktische Vernunftglaube und das Paradox der kulturellen Weltbilder“. In: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Hrsg. von Rudolf Langthaler und Herta Nagl-Docekal. Wien 2007, 120–154) dagegen konstruiert die folgenden Bedingungsverhältnisse: Wenn der praktische Vernunftglaube an das höchste Gut und der darin enthaltene Glaube an die Existenz Gottes nicht wahr wären, würde das moralische Wissen um die Pflicht zur Realisierung des höchsten Guts zur Fiktion; es muss demnach, um diese moralische Wissen als ein nicht-fiktionales und die Pflicht als eine gültige erhalten zu können, nach Art des praktischen Vernunftglaubens geglaubt und der darin liegende Wahrheitsanspruch erhoben werden (vgl. 137 f.). Ähnlich, doch noch zugespitzter, äußert sich Frederick C. Beiser („Moral Faith and the Highest Good.“ In: The Cambridge Companion to Kant and Modern Philosophy. Hrsg. von Paul Guyer. Cambridge 2006, 588–629): „Without that faith all the labors of Prometheus will be no better than those of Sisyphus“ (604); Beiser zählt diesen Glauben sogar zu den „imperatives of morality itself“ (610), dies gegen den eindeutigen Wortlaut bei Kant: „das Glauben verstattet keinen Imperativ“ (SF, 07: 42). – Die bei Kant in der Tat statuierte Bedingung dafür, die besagte Pflicht nicht als fiktiv zu betrachten, umfasst den (wiewohl möglichen) Vollzug des Vernunftglaubens nicht und ist weitaus schwächer. Es ist dazu nur erfordert, dass theoretische Vernunft ihre Unerfüllbarkeit nicht behaupten kann, das heißt, wie etwa John Silber („Immanenz und Transzendenz des höchsten Guts bei Kant“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964), 386–407) es ausdrückt: „Ohne direkten Beweis der Unmöglichkeit einer Handlung haben wir keine Handhabe, die Gültigkeit einer Verpflichtung in Frage zu stellen“ (397 f.). Aufgrund einer prinzipiellen Restriktion theoretischer Vernunft auf Erscheinungen ist ein solcher Beweis aber unmöglich. Es ist also nach all dem zwar nicht ausgeschlossen, dass der Mensch sich in der Lage des Sisyphus befindet, doch da er es nicht wissen kann und theoretische Vernunft auch den moralischen Weltursprung nicht verneinen kann, gilt die durch praktische Vernunft statuierte Pflicht zur Beförderung des Weltbesten ohne Abstriche.

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Teil 1: Religion und Moral

Interesse an der Realisierbarkeit einer universellen moralischen Pflicht. Das Interesse am moralischen Welturheber ist das Interesse an der Vernünftigkeit der Welt im Ganzen; ein moralindifferenter Weltursprung hat dagegen kein vernünftiges Interesse für sich. Den Glaubensmodus, der der beschriebenen Situation entspricht, in der das Spannungsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Vernunft nicht aufgehoben ist, in der die Überzeugung aber mit guten Gründen zur Seite der praktischen Vernunft tendiert, nennt Kant „ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten“ (KU, 05: 473). Zur Bezeichnung dieses Glaubensmodus ist die gängige Einteilung der Modi des Fürwahrhaltens nach Meinen, Wissen und Glauben zu grob, insbesondere wenn unter Glauben ein uneingeschränkter subjektiver Zustand des Überzeugtseins verstanden werden soll. Angemessener wäre er als ein begründetes Hoffen zu bezeichnen. Dieser Hoffnungszustand, der kein blinder ist, sondern für den eben das Interesse praktischer Vernunft spricht, erstreckt sich um des Bestands der Pflicht zur Beförderung des Weltbesten willen auf die Bedingung ihrer Erfüllbarkeit, den moralischen Weltursprung. Dieser Weltursprung, der Gott der kantischen Ethikotheologie, ist Gegenstand eines den theoretischen Zweifel überwiegenden, ihn aber nicht beseitigenden praktischen Fürwahrhaltens.

Teil 2: Religion und Offenbarung

Offenbarung – nicht jedermanns Sache Kants Kritik der historischen Religionen Es gibt nach Kant nur eine einzige wahre Religion. Diese Religion ist die Vernunftreligion, keine Offenbarungsreligion. Religion ist ein reiner Vernunftbegriff ¹, d. i. ein Begriff, der unabhängig von aller empirischen Faktizität Vernunft als solche a priori charakterisiert. Doch obwohl er das ist, ist er doch kein Begriff, über den Vernunft unmittelbar verfügt. Er muß durch Vernunft aus ihr selbst auf vermittelte Weise erst entwickelt werden. In Kants Worten: Er muß „durch Schlüsse herausvernünftelt werden“ (RGV, 06: 183); er ist mithin ein abgeleiteter reiner Vernunftbegriff. Das provoziert zwangsläufig die Frage, welcher andere Begriff bzw. welche anderen Begriffe in dieser Ableitung die Priorität haben. Die Kurzform der Antwort lautet: Es ist der Begriff der Moral. Sogleich einsichtig ist es nicht, wie aus dem Moralbegriff der Religionsbegriff folgen soll, denn den Kern der Kantischen Moralphilosophie macht seine Lehre von der Autonomie der Moral aus, d. i. die Lehre von der freien Erzeugung sittlicher Verpflichtung allein im Selbstverhältnis des Menschen, ganz ohne einen Gedanken an Gott. Am Anfang der Religionsschrift heißt es dazu unmißverständlich: Moral ist „vermöge der reinen praktischen Vernunft […] sich selbst genug“; sie bedarf „zum Behuf ihrer selbst […] keinesweges der Religion“ (RGV, 06: 3); oder auch: Der Mensch bedarf „weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). Ersichtlich betreffen diese Aussagen die Frage der Grundlegung der Moral und die Frage, was dazu nötig ist, um ein moralisches Leben tatsächlich zu führen. Die dezidierten Antworten lauten: Weder für die Grundlegung noch für die moralische Lebensführung sind Religion und die darin liegende Beziehung auf Gott vorauszusetzen. Mit diesen Antworten ist allerdings die vernünftige Reflexion über Moral noch nicht beendet. Es kann und muß nämlich nach Kant auch über die Folgen der Moral reflektiert werden, denn es kann „der Vernunft […] unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was […] aus […] unserm Rechthandeln herauskomme“ (RGV 06: 5). Die Beantwortung dieser Frage fällt leider problematisch aus, denn nach allem, was wir erkennen, führt das moralische Handeln eines Menschen nicht notwendig dazu, dass dieser Mensch glücklich wird. Um das Problem allgemein zu bezeichnen: Der Nexus zwischen der Moralität und der sinnlichen Existenz des Menschen ist kein notwendiger, sondern ein zufälliger. Das aber, 1 Vgl. RGV, 06: 157. https://doi.org/10.1515/9783110788099-007

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dass ihr Rationalitätsprojekt an einer unverfügbaren Sinnlichkeit seine Grenze findet, ist aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft ein Skandal. Es ist der Skandal, dass dem durch seine Moralität Glückswürdigen das Glück nicht tatsächlich mit Notwendigkeit zukommt. Reine praktische Vernunft muß also um ihrer eigenen Vollendung willen fordern, dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV, A 809/B 837); sie fordert das „System der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, A 809/B 837). Zustande bringen kann sie es aber als reine praktische Vernunft des Menschen nicht. Und eben deshalb, „weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, [muß] ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, 06: 5 Anm.). Der angesprochene Gott besetzt ersichtlich eine Stelle in einem streng rationalen Kalkül; es ist der Gott der Vernunftreligion.² Was nach diesem Kalkül bloß in Gedanken allerdings noch offen ist, ist die Frage, ob es möglich ist, von der Existenz dieses Gottes mit der für einen Glauben nötigen subjektiven Gewißheit überzeugt zu sein. Es ließe sich sagen: Wenn die Verhältnisse aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft vollkommen rational sein sollen, dann ist Gott als der Garant dieser perfekten Rationalität anzunehmen notwendig; aber ob die Verhältnisse vollkommen rational und nicht etwa trostlos im Punkt der vereinigten Systeme der Sittlichkeit und der Glückseligkeit sind, kann niemand sagen. Was nun nach Kant über das bloße Denken Gottes hinaus zum Glauben an seine Existenz drängt, ist der Umstand, dass mit der Gottesidee praktischer Vernunft zur Heilung des genannten Defizits – anders als im Fall der Ideen theoretischer Vernunft – ein überragendes Interesse verbunden ist, und zwar ein allgemeines, kein individuelles sinnliches. Dieses Interesse als solches ist für signifikant zu nehmen. Die darauf bezogene Überlegung könnte etwa lauten: Es kann nicht sein, dass in Anknüpfung an den höchsten Punkt menschlichen Selbstverständnisses, d. i. das 2 Den Gedanken der nur durch Gott herbeizuführen möglichen Einstimmigkeit der Glückswürdigkeit mit tatsächlichem Glück nennt Kant die Idee des höchsten Guts. Während er noch bis zum Abschluß seiner Arbeit an der Kritik der reinen Vernunft der Wirksamkeit dieser Idee eine Rolle als notwendige Bedingung einer moralisch-praktischen Motivation und sogar der Geltung des Sittengesetzes zuschrieb (vgl. KrV, A 813/B 841 und A 815/B 843), rückte Kant in der Phase seiner reifen Moralphilosophie von der Statuierung dieser sich dem Autonomiegedanken widersetzenden Bedingung ab, ohne allerdings mit ihrer Entfernung aus dem Kontext der Grundlegung der Moral die Idee des höchsten Guts vollständig zu eliminieren, denn als Begriff von Endzustand einer vollständig imSinne reiner praktischer Vernunft verwirklichten Rationalität unter Einschluß von Glückseligkeit bleibt sie für ihn denknotwendig.Vgl. zur genannten Entwicklung Kants Klaus Düsing: „Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie“. In: Kant-Studien 62 (1971), 5−42.

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moralische, bei Erfüllung der daraus fließenden Verpflichtungen der Weg in eine sinnlose Folgenlosigkeit führt; und es kann nicht sein, dass praktische Vernunft durch ihr Interesse an der vollständigen Realisierung dieser den Menschen auszeichnenden Rationalitätsart bloß düpiert wird. Insofern das nicht sein kann, muß Gott existieren. Doch ersichtlich erfüllen diese Gedanken nicht die Erfordernisse eines Beweises. Das „Es kann nicht sein!“ ist Ausruf, Forderung, Ausdruck eines Bedürfnisses praktischer Vernunft und nicht Ausdruck einer intellektuellen Notwendigkeit. Zuletzt hängt der Schritt zum Glauben von einem Akt der Entscheidung ab. In seiner Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee läßt Kant den unter dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion als Vorbild dargestellten Hiob „mitten unter seinen lebhaftesten Zweifeln“ sagen: „Bis daß mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Frömmigkeit“ (ÜdM, 08: 367). Vor dem hier ausgedrückten Willensakt endet die schon zitierte Unausbleiblichkeit des Fortgangs von der Moral zur Religion, so dass zu sagen ist: Die aus der Moral gezogenen Schlüsse führen unausbleiblich bis an die Schwelle der einschließlich des Glaubens an die Existenz Gottes verinnerlichten Vernunftreligion, aber nicht über diese Schwelle hinweg. Die Situation der Wahl für oder gegen den sie überschreitenden Willensakt ist allerdings keine solche mit gleich starken subjektiven Gründen für beide Möglichkeiten, sondern durch Moral ist eben entschieden nahegelegt, den Akt zum Glauben hin zu vollziehen. Nezessitiert ist er dadurch aber nicht, d. h. er hört nicht auf, ein freier Akt zu sein. Es entscheidet, so Kant, „ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers“ (KpV, 05: 145 f.). Aufgrund der Freiheit des Akts der Annahme des Glaubens der Vernunftreligion versteht sich von selbst, dass niemand zu diesem Glauben gezwungen werden kann und darf. Die Etablierung der Vernunftreligion und des ihr gemäßen Glaubens vorausgesetzt, wird an Gott als ein höheres moralisches Wesen geglaubt. Höher ist dieses Wesen, weil es anders als der Mensch über den Notwendigkeitsnexus zwischen Glückswürdigkeit und Glück gebietet. Als moralisches Wesen setzt es dem Menschen die Pflicht, die dieser als autonomer auch schon sich selbst setzt, d. h. der Gott der Vernunftreligion verlangt vom Menschen genau das, nicht mehr und nicht weniger, was schon seine reine praktische Vernunft durch das Sittengesetz von ihm verlangt. Die Konsequenz daraus ist, dass Vernunftreligion keine gottesdienstliche Religion in dem Sinne ist, dass eigens an Gott adressierte, nur auf ihn bezogene dienende Handlungen in ihr Platz haben könnten. Der Gottesdienst der Vernunftreligion ist als der moralische Dienst nur am Menschen gedacht, der also auch ohne ausdrücklichen Gottesbezug Gott wohlgefällig ist. Reine Vernunftreligion fordert also nur den guten Lebenswandel und nichts weiter, mit der Konsequenz, dass sie

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gar keine spezifischen religiösen Phänomene erzeugt, sondern allein moralische, die allerdings auch ohne sie erzeugt werden können. Überhaupt ist Vernunftreligion ein Ausdruck der Betätigung theoretischer Vernunft. Den in ihrem Sinne formulierten Satz, dass ein Gott sei, versteht Kant als einen „theoretischen […] Satz […], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV, 05: 122). Als theoretischer Satz beruht er auf einer Reflexion, die nicht ihrerseits Betätigung moralischpraktischer Vernunft ist, d. h. die keine Ausübung einer Pflicht ist. Das vom moralischen Bewusstsein auf theoretische Weise abgeleitete Bewusstsein des Gottes der Vernunftreligion beruht demnach auf einem für das moralische Handeln selbst unwesentlichen Bedenken der Gesamtsituation menschlichen Handelns einschließlich seiner bis zur Totalität gesteigerten Folgen. Insofern nun weder die zur Vernunftreligion hinführende Reflexion noch der letzte Schritt des dezisionistischen Akts hin zum tatsächlichen Glauben moralische Praxis sind, d. h. keine innere Angelegenheit der allein die Pflichten unter den Menschen gebietenden praktischen Vernunft, ergeben sich mehrere Konsequenzen. Der Ignorant in Religionsdingen, der sich jener Reflexion versagt, kann nach Maßstäben der Vernunftreligion, die nichts anderes als Moral fordert, objektiv Gott so wohlgefällig sein wie ein in ihrem Sinne Gläubiger, wenn er nur die Bedingung der Moralität erfüllt, deren Anforderungen jeder Mensch schon allein im autonomen Selbstverhältnis erzeugt. Das gleiche gilt für den zwar reflektierenden, sich des Urteils und des freien Akts zum Glauben aber enthaltenden Agnostiker. Sogar dem dogmatischen Atheisten kann nur der intellektuelle Mangel eines vermeinten, aber nicht zu begründenden Wissens um die Nicht-Existenz Gottes vorgehalten werden, wenn er nur den guten Lebenswandel pflegt und damit den Pflichten der Menschenmoral ebenso genügt, wie er aus dem Gesichtspunkt des nichts anderes fordernden Gottes der Vernunftreligion objektiv (wenn auch nicht subjektiv) wohlgefällig ist. Alles in allem führt also Moral ohne Religion zu keiner Abwertung des Menschen (wohl aber Religion ohne Moral, wie noch zu sehen sein wird). Was bei aller potentiellen moralischen Integrität der drei auf verschiedene Weise Ungläubigen diesen allerdings fehlen muß, ist die durch die Vernunftreligion statuierte Hoffnung auf die im Projekt praktischer Vernunft liegende allumfassende Rationalität. Ihr Ausblick ist der auf eine mögliche, im Fall des dogmatischen Atheisten sogar auf eine unbegründeterweise als wirklich behauptete Sinnlosigkeit unter dem Gesichtspunkt der Folgen aus der Moral. Anders als Vernunftreligion ist geoffenbarte Religion nicht a priori aus dem Begriff der praktischen Vernunft zu entwickeln. Offenbarungsreligion beruht auf der Faktizität historischer Ereignisse, die als reale geschichtliche Selbstmitteilungen Gottes gedeutet werden, weshalb Kant den Glauben daran auch historischen Glauben nennt. Auf die beschriebene Art ist Offenbarungsreligion empirische Re-

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ligion, der die Vernunft, wie angesichts alles Empirischen, zunächst passiv gegenübersteht. Ein wesentliches Charakteristikum von Offenbarungsreligion sind ihre – von den moralischen Gesetzen der Vernunftreligion unterschiedenen – statutarischen Gesetze. Dem Gott der Offenbarungsreligion mag auch die Verkündung moralischer Gesetze zugeschrieben werden, in welchem Fall sie einen Kern der Übereinstimmung mit Vernunftreligion besitzt. Doch das Spezifische von Offenbarungsreligion ist es, auch moralindifferente Gesetze zu verkünden, die dem Gott der Vernunftreligion nie zuzuschreiben wären, weil dieser nur solche Imperative ergehen lassen kann, die praktische Vernunft schon für sich allein statuiert. Diese Vorordnung der praktischen Vernunft vor der Vernunftreligion drückt Kant auf prägnante Art wie folgt aus: Im Fall der moralischen Gebote muß ich „zuvor wissen […], daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (RGV, 06: 154). Das Kriterium der Anerkennung von Geboten als göttliche Gebote liegt somit allein in praktischer Vernunft, die zunächst prüft, ob es sich um moralische Gebote handelt, und die, wenn das der Fall ist, ihrer Zuschreibung zu einem göttlichen Gesetzgeber nicht im Wege steht. Die Verbindlichkeit statutarischer Gesetze dagegen ist, da es sich um moralindifferente handelt, durch praktische Vernunft nicht zu verifizieren. Hier muß ich, so Kant, „vorher wissen […], daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen“ (RGV, 06: 153 f.). Für praktische Vernunft, die die statutarischen Gesetze nicht aus sich entwickeln kann, müssen diese als zufällig und willkürlich erscheinen. Ein Beispiel Kants ist „die Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar verordnetes Religionstück“ (RGV, 06: 187). Dass etwa in der christlichen Religion der 7. Tag der Tag des Herrn ist, ist aus Vernunft auf keine Weise zu entwickeln. Dass er es nach göttlicher Verordnung sein soll, erweckt aber auch nicht ihren Widerspruch, denn ein moralisches Gesetz wird dadurch nicht verletzt. Die Erkennbarkeit der göttlichen Verordnung als wirklich göttlichen Ursprungs fällt allerdings wiederum in ihre Zuständigkeit als erkenntniskritische Autorität. Davon wird später noch zu handeln sein. Zunächst bietet das gegebene Beispiel eines statutarischen Gesetzes Anlaß, ein weiteres allgemeines Charakteristikum geoffenbarter Religion zu nennen. Sie ist – anders als die Vernunftreligion, die nur den guten Lebenswandel fordert – ausdrücklich gottesdienstliche Religion, Religion mit einem Kultus, d. h. Religion, in der speziell an Gott adressierte Handlungen erfolgen (RGV, 06: 103). Aus dem Gesichtspunkt praktischer Vernunft sind auch diese „moralisch indifferent“ (RGV, 06: 103; vgl. auch 06: 106), d. h. es begründet weder Verdienst noch Schuld, sie zu vollziehen. Aus ihrer Sicht sind es Handlungen ohne Zweck, obwohl sie subjektiv doch des öfteren mit der Illusion verbunden vorkommen, man könne durch sie „auf Gott

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wirken und Einfluß haben“ (RGV, 06: 103). Dieser Illusion gilt Kants dezidierte Kritik. Er lehnt es ab, „den Beistand der Gottheit gleichsam herbeizaubern [zu] können […]; denn es ist zwischen bloß physischen Mitteln und einer moralisch wirkenden Ursache gar keine Verknüpfung nach irgend einem Gesetze“ (RGV, 06: 178). Allerdings kann Kant auch dem Gottesdienst, wenn vom genannten Mißverständnis befreit, eine positive Seite abgewinnen. Indem nämlich gottesdienstliche Handlungen Handlungen ohne Zweck sind, haben sie nicht nur keinen moralischen, sondern auch keinen sinnlichen Zweck. Dadurch kann über sie in einem wichtigen Punkt so gedacht werden, wie über die moralischen Handlungen der Vernunftreligion des guten Lebenswandels, nämlich dass sie gelöst sind aus der Sphäre der sinnlichen Bedürfnisse, die die Menschen an die Selbstliebe fesseln. Die gottesdienstlichen Handlungen sind zwar damit noch keine moralischen Handlungen, sondern – als ganz zweck- und interesselose – zunächst erst einmal von rein ästhetischer Natur, aber die Möglichkeit zur moralischen Bestimmung ist durch sie, die sozusagen auf halbem Weg zwischen der Sinnlichkeit und der Moral verortet sind, doch eröffnet. Durch den genannten Punkt der Übereinstimmung können die gottesdienstlichen Handlungen der Offenbarungsreligionen als Symbol des wahren Gottesdienstes der Vernunftreligion genommen werden, die ihrerseits nichts als Moralität in den Beziehungen unter den Menschen fordert. Trotz dieser partiell positiven Deutung des statutarischen Glaubens und trotz der den statutarischen Gesetzen in der Regel zu unterstellenden moralischpraktischen Indifferenz wäre es doch übereilt, ihnen pauschal Unbedenklichkeit zu bescheinigen. Das nun zu entwickelnde Bedenken läßt sich an die einfache Tatsache anknüpfen, dass es mehrere präsumierte Offenbarungen und Offenbarungsreligionen gibt. Und zwar hängt dies im Unterschied zur Vernunftreligion schon dem „Begriffe eines Offenbarungsglaubens“ an, dass es „vielerlei Arten des Glaubens“ (RGV, 06: 107) geben kann.³ Denn insofern für Vernunft angenommene Offenbarungen empirische Fakta sind, ist wie bei jedem empirischen Begriff die Zahl der Fälle des Begriffs nicht begrenzt. Mit der tatsächlichen und noch für möglich zu haltenden Vervielfältigung präsumierter Offenbarungen ergibt sich nun aber auch eine tatsächliche und noch für möglich zu haltende Vervielfältigung von statuta-

3 Dem heutigen Sprachgebrauch entgegen vermeidet Kant in der Regel den pluralischen Ausdruck „Religionen“ zur Bezeichnung der Offenbarungsreligionen. In einer Anmerkung der Friedensschrift problematisiert er ihn, da es ja doch nur eine eigentliche Religion gebe, die moralische Vernunftreligion (vgl. ZeF, 08: 367 Anm.). Es geht aus dieser Anmerkung auch der bevorzugte Ausdruck für die durch etwas spezifisch Historisches verschieden ausfallenden Erscheinungen uneigentlicher Religion hervor, d. i. der Ausdruck „Glaubensarten“. – Allerdings werden die Glaubensarten, wenn sie abzüglich des spezifisch historischen Offenbarungsanteils auch moralische Vernunftreligion in sich enthalten, diesem Bestandteil nach doch wieder „Religion“ genannt zu werden verdienen.

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rischen Gesetzen. Es ergibt sich, wie die Erfahrung bestätigt, ein weites Feld für Konflikte zwischen ihnen. Schon die Unterschiede bei der von Kant als Beispiel herangezogenen „Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit“ (RGV, 06: 187) können zu erbitterter Gegnerschaft führen. Doch auch innerhalb des Rahmens einer einzigen Offenbarungsreligion ist, wie wieder die Erfahrung zeigt, der Friede nicht gesichert. Die Geschichte der sich auf Offenbarung berufenden Kirchen ist nicht ausnahmsweise, sondern in der Regel eine Geschichte von konkurrierenden Deutungen und von sich im Zuge der Tradierung des Glaubens noch vervielfältigenden Glaubensregeln. Kant beklagt angesichts dessen, dass „die sogenannten Religionstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders als Zänkereien um den [statutarischen] Kirchenglauben“ (RGV, 06: 108) gewesen sind. Doch nicht erst der Streit um die statutarischen Gesetze, sondern schon die bloße Menge der historischen Glaubenssätze ist für ihn Grund zur Besorgnis, denn „Menschen, deren Köpfe, mit statutarischen Glaubensätzen angefüllt“ sind, sind „für die Vernunftreligion beinahe unempfänglich“ (RGV, 06: 162). Wofür sie damit unempfänglich sind, ist nichts weniger als Moral, denn Vernunftreligion verlangt nur das, was Moral verlangt. Doch um noch einmal auf den Streit zurückzukommen: Kant geht noch darüber hinaus, die Religionsstreitigkeiten der Geschichte bloß als faktisch zu konstatieren. Er sagt, dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (RGV, 06: 115) und erklärt ihn somit für notwendig. Eine Begründung dafür gibt er an der zitierten Stelle nicht, doch läßt sie sich aus seiner Theorie der Erfahrung rekonstruieren. Insofern historische Glaubenslehren sich auf ein geschichtliches Faktum berufen, muß die angewandte Urteilsart ein Erfahrungsurteil sein, und zwar als synthetisches Urteil a posteriori. Mit dieser Urteilsart aber ist – noch bevor zwei Urteile miteinander konkurrieren müssen – per se eine prinzipielle Unsicherheit verbunden. Synthetische Urteile a posteriori können nämlich nicht mehr als objektiv gültig sein. Insofern sie es sind, sagen sie aus dem Grund mit Recht etwas über die Welt aus, weil sie wahr oder falsch sein können. Ob sie aber in der Tat empirisch wahr oder falsch sind, läßt sich durch kein Kriterium entscheiden. Ganz prinzipiell gilt demnach für alle auf Data der Geschichte bezogene Erkenntnis: „[W]as nur historisch erkannt werden […] kann“, kann „darum“, d. h. aus dem Grund der internen Restriktion dieser Erkenntnisart, „nicht für jedermann überzeugend sein“ (RGV, 06: 179). Im Fall der Beanspruchung von durch Gott geoffenbarten statutarischen Gesetzen kommt noch erschwerend hinzu, dass sie im wesentlichen Punkt ihres Offenbarungscharakters, d. h. die Frage betreffend, ob Gott es war, der sie aufstellte, nicht einmal objektiv gültig sein kann. Zwar kann es Gegenstand eines objektiv gültigen synthetischen Urteils a posteriori sein, dass der Anspruch der Festsetzung göttlicher statutarischer Gesetze faktisch zu einer Zeit erhoben wurde, doch die

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tatsächliche Göttlichkeit des Ursprungs dieser Gesetze ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Der Keim zum Streit über die statutarischen Gesetze liegt somit schon in der Urteilsart, der ihre Einsetzung unterworfen ist.⁴ Sind statutarische Gesetze dann in großer Zahl etabliert, ist ihr inhaltlich widerstreitender Charakter die Hauptquelle von Konflikten. Potential für Konflikte steckt aber nicht bloß in der Pluralität verschiedener Offenbarungsreligionen (wobei der Streit übrigens anzeigt, dass mindestens eine davon falsch sein muß, denn dem sich zeigenden Gott wird kaum die Anordnung widersprüchlicher statutarischer Gesetze zu unterstellen sein); es steckt auch nur im Inneren einer einzigen Offenbarungsreligion im Fall konkurrierender Auslegungen. Konfliktträchtig ist darüber hinaus das Verhältnis zwischen statutarischen Geboten und moralischen. Wie nicht anders zu erwarten, ist Kants Parteinahme bei einem solchen Konflikt dezidiert. Im Zusammenhang der Deutung des religiösen Grundsatzes „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“, der scheinbar den statutarischen Gesetzen den Vorzug gibt, lautet seine Umdeutung: Wenn statutarische Gebote „mit Pflichten, die die Vernunft unbedingt vorschreibt, und über deren Befolgung oder Übertretung Gott allein Richter sein kann, in Streit kommen, so muß jener ihr Ansehn diesen weichen“ (RGV, 06: 154 Anm.). Der hier angesprochene Gott ist ersichtlich der Gott der Vernunftreligion, der vom Menschen die Befolgung nur der Gebote verlangt, deren Befolgung dieser schon von sich selbst verlangt. Den moralischen Geboten also, die zugleich die des Menschen und die des Gottes der Vernunftreligion sind, sind statutarische Gebote immer unterzuordnen, welcher Ursprung ihnen auch zugeschrieben werden mag. Der moralische und mithin auf Menschen bezogene Dienst, d. h. der gute Lebenswandel, der dem Gott der Vernunftreligion unmittelbar gefällt, ist nach Kant oberste Bedingung für die relative Berechtigung, die er, wie gesehen, dem an Gott allein adressierten symbolischen Gottesdienst zugesteht. Wäre es nicht so, d. h. könnte der Gottesdienst der moralindifferenten Handlungen „als für sich allein Gott wohlgefällig betrachtet werden“ (RGV, 06: 177), dann ergäbe sich eine für reine praktische Vernunft unmöglich zu akzeptierende Konsequenz: „denn alsdann 4 Hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Datenbasis der christlichen Religionen erhebt sich für Kant die besondere Schwierigkeit, „daß, obwohl die heiligen Begebenheiten derselben selbst unter den Augen eines gelehrten Volks öffentlich vorgefallen sind, dennoch ihre Geschichte sich mehr als ein Menschenalter verspätet hat, ehe sie in das gelehrte Publicum desselben eingetreten ist, mithin die Authenticität derselben der Bestätigung durch Zeitgenossen entbehren muß“ (RGV, 06: 167). – Als einen dies überwiegenden Vorteil der christlichen Religion stellt sich für Kant aber dar, dass sie „aus dem Munde des ersten Lehrers als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird“, auf diese Weise „mit der Vernunft in die engste Verbindung tretend“ (RGV, 06: 167). Allerdings können die so verstandenen Lehren aus dem Mund des ersten Lehrers nicht als spezifisch christliche Lehren gelten; ebenso nicht als solche, die einer Offenbarung bedürfen.

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würde Niemand wissen, welcher Dienst in einem vorkommenden Falle vorzüglicher wäre“ (RGV, 06: 177). In der Konkretheit des vorkommenden Falls bedeutete dies, dass es einmal fraglich sein könnte, ob in einem akuten moralischen Anforderungsfall eher der Not eines Menschen abgeholfen werden soll, oder ob nicht vielmehr ein statutarisch angewiesener Gottesdienst fortzusetzen sei. Noch in einen weiteren Konflikt können die statutarischen Gebote des Kirchenglaubens geraten – und auch in diesem behauptet Kant die Priorität der praktischen Vernunft zu ihren Ungunsten. Es ist der mögliche Konflikt zwischen den statutarischen religiösen Geboten und den statutarischen bürgerlichen Gesetzen. Zwar sind die Gesetze des Staats keine moralischen Gesetze, aber dennoch ist es nach Kant moralisches Gebot, sie zu befolgen, „wenn sie […] rechtmäßig sind“ (RGV, 06: 99). Da moralische Gebote nach der Vernunftreligion zugleich göttliche Gebote sind, nennt Kant die Pflicht zur Befolgung der bürgerlichen Gesetze sogar „göttliches Gebot“ (RGV, 06: 99). Zum Konfliktfall äußert Kant sich nun wie folgt: „[…] wenn einem politisch-bürgerlichen, an sich nicht unmoralischen Gesetze ein dafür gehaltenes göttliches statutarisches entgegengesetzt wird, so ist Grund da, das letztere für untergeschoben anzusehen, weil es einer klaren Pflicht widerstreitet, selbst aber, dass es wirklich auch göttliches Gebot sei, durch empirische Merkmale niemals hinreichend beglaubigt werden kann, um eine sonst bestehende Pflicht jenem zufolge übertreten zu dürfen“ (RGV, 06: 99). Die hier feststellbare Unbedenklichkeit Kants, ein religiöses statutarisches Gesetz zu eliminieren wie auch seine sonstige Tendenz zur Reduktion des Bestands dieser Gesetze sind durch sein Konzept der moralischen Religion motiviert. Kennzeichen der Kirche dieser Religion ist nicht Partikularisierung, sondern „Allgemeinheit, folglich numerische Einheit“ (RGV, 06: 101). Die Idee dieser Kirche ist die „Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung“ (RGV, 06: 99). Wie gesehen, kann man dieser Kirche, die eine unsichtbare ist, sogar objektiv angehören, ohne ihr subjektiv anzugehören. Man kann ihr angehören, ohne die sich an Moral anschließende Theorie der Vernunftreligion sich explizit zu entwickeln, und erst recht, ohne irgend ein geoffenbartes statutarisches göttliches Gebot zu befolgen. Bedingung ist allein, zu den „Rechtschaffenen“ zu gehören, wodurch ein Mensch aus dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion ganz von selbst „unter der göttlichen unmittelbaren aber moralischen Weltregierung“ (RGV, 06: 99) steht. Wesentlich unterscheidend zwischen dem moralischen Vernunftglauben und dem Offenbarungsglauben ist, dass der erste „sich jedermann zur Überzeugung mittheilen läßt“ (RGV, 06: 103), der zweite aber „eines rechtmäßigen Anspruchs auf Allgemeinheit, entbehrt“ und „keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig ist“ (RGV, 06: 109). Die Unfähigkeit des letzteren zur Allgemeinheit liegt in dem Umstand begründet, dass es sich um einen „empirischen Glauben“ handelt, „den

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uns dem Ansehen nach ein Ungefähr in die Hände gespielt hat“ (RGV, 06: 110). Wie mit aller „Erfahrungserkenntniß“ ist auch mit dieser „nicht das Bewusstsein“ verbunden, „daß der geglaubte Gegenstand so und nicht anders sein müsse, sondern nur, dass er so sei […]; mithin enthält er [der historische Glaube] zugleich das Bewußtsein seiner Zufälligkeit“ (RGV, 115). Er kann als ein „bloß auf Facta gegründeter historischer Glaube seinen Einfluß nicht weiter ausbreiten“, als „so weit die Nachrichten in Beziehung auf das Vermögen ihre Glaubwürdigkeit zu beurtheilen, nach Zeit- und Ortsumständen hingelangen können“ (RGV, 06: 103). Die Ausbreitung eines historischen Glaubens steht somit unter der Restriktion, von mehr oder weniger günstigen Zeit- und Ortsumständen abzuhängen. Diese Restriktion ist prinzipieller Art, denn der Geschichtsverlauf, der diese Zeit- und Ortsumstände bestimmt, ist von empirischer Natur, d. h. in ihm, der sich der vollständigen rationalen Disposition der Menschen entzieht, liegt immer die Gefahr der Störung und des Widerstands durch faktisch entgegenstehende geschichtliche Kräfte. Diese Gefahr ist so groß, dass einem Offenbarungsglauben sogar das Verschwinden droht, denn das Tradieren von Erfahrungen empirischer Fakten hängt von der Lückenlosigkeit der tatsächlichen Weitergabe dieser Erfahrungen ab, ohne die sie dem unwiderruflichen Vergessen anheimfallen. Die verlangte Kontinuität ist allerdings durch den Geschichtsverlauf in seiner Zufälligkeit nie garantiert. Wovon aber nicht garantiert ist, dass es „an jeden Menschen gekommen ist oder kommen kann“, das kann nicht „als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden“ (RGV, 06: 104). Wenn Kant sagt, der Offenbarungsglaube sei zu „keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig“ (RGV, 06: 109), dann ist zunächst zu vergegenwärtigen, dass nach seiner terminologischen Festlegung Mitteilbarkeit den strikten Sinn von Übertragbarkeit hat, nicht etwa den Sinn eines bloßen Weitererzählens. Zu letzterem, nämlich die Fakten, auf denen er beruht, von Mensch zu Mensch zu tradieren, ist er – die geschichtliche Kontinuität sei einmal unterstellt – zweifellos fähig. Was dabei allerdings zur allgemeinen überzeugenden Mitteilung fehlt, ist die Möglichkeit des Adressaten, das Tradierte kraft eigenen Urteils zu verifizieren, um so in denselben Überzeugungszustand zu gelangen, der den Subjekten der ursprünglichen Erfahrungen aufgrund ihres unmittelbaren Anschauungsbezugs möglich war. Es ist dies eine prinzipielle Schwierigkeit der Kommunikabilität von empirischen Urteilen als synthetischen Urteilen a posteriori. Die Vernunftreligion dagegen, die sich, so Kant, „jedermann zur Überzeugung mittheilen läßt“ (RGV, 06: 103), ist deshalb dazu in der Lage, weil sie von keiner fernen und unerreichbaren Anschauung abhängt, sondern weil ein etwaiger Adressat in der Mitteilung über alles verfügt, was dazu nötig ist, um sich durch ein selbst vollzogenes Urteil von ihrer Rationalität zu überzeugen. Zur Entwicklung der Vernunftreligion, die a priori und nur in Gedanken stattfindet, ist nichts weiter als

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das Dasein eines vernünftigen Subjekts vorausgesetzt, d. h. eines Subjekts mit moralischem Bewusstsein und mit der Fähigkeit zur Reflexion über die Bedingungen, das Projekt praktischer Vernunft zur Totalität zu bringen. Es kann zugestanden werden, dass nicht überall die Wirklichkeit des Vollzugs der zur Vernunftreligion führenden Reflexion zu unterstellen ist, wohl aber die Möglichkeit dazu. Zwar mag auch die Vernunftreligion nach einem erstmaligen Vollzug dieser Reflexion in die Geschichte erst eingetreten sein (Kant legt nahe, dass das mit dem Auftreten Jesu geschehen ist, womit Jesus aber ersichtlich als Mensch und Philosoph zu begreifen wäre, nicht als Stifter der christlichen Offenbarungsreligion). Doch wäre dieser Eintritt durch jedes vernünftige Wesen auch vor diesem Datum zustande zu bringen gewesen. Die Teilhabe an einer Offenbarungsreligion dagegen war den Menschen vor der Zeit ihres Auftretens prinzipiell unmöglich. Vernunftreligion bedarf des weiteren nicht unabdingbar der faktischen kontinuierlichen Weitergabe in der Geschichte. Zwar werden auch die äußerlichen Manifestationen der sie tragenden Reflexion verschwinden können. Es mag sogar zu Zeiten diese Reflexion gar nicht vollzogen werden. Aber dennoch ist sie, so lange nur überhaupt vernünftige Wesen existieren, immer und überall und auf die gleiche Weise zu entwickeln möglich. Der Offenbarungsglaube bedarf nach dem Gesagten, um sich in der Geschichte zu erhalten, besonderer Mittel zur Sicherung dieser Kontinuität. Er wird deshalb, so Kant, „am besten auf eine heilige Schrift gegründet“ (RGV, 06: 102). Diese Schrift ist nun aber nicht bloß Mittel zum Tradieren des Offenbarungsglaubens, sondern auch Gegenstand der Auslegung aus dem Gesichtspunkt praktischer Vernunft. Kants These ist sogar, dass der auf Offenbarung beruhende Kirchenglaube „zu seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben“ (RGV, 06: 109) praktischer Vernunft hat, d. i. die Vernunft, die alles ihrem Kriterium der Moralität unterwirft. Kant unterscheidet die Auslegung der heiligen Schrift durch praktische Vernunft von der „Schriftauslegung“, die auf rezeptive Weise hinsichtlich eines historischen Vortrags den „Sinn des Schriftstellers“ zu eruieren versucht. Wenn die Frage ist, was ihn dazu befugt sein lassen mag, die Frage beiseite zu setzen, welchen Sinn der Schriftsteller in seinen Text hat hineinlegen wollen, dann läßt sich antworten: eben sein Selbstverständnis als Repräsentant reiner praktischer Vernunft. Reine praktische Vernunft ist sich dessen gewiß, dass eine Offenbarungsschrift in ihren nicht-statutarischen Teilen, insofern sie also Gottes Wort in Sachen Moral verkünden will, nichts anderes wird verkünden können, als Vernunft es schon von sich her weiß. Sie kann so aus sich spontan die Kriterien für Entscheidungen entwickeln, ob die sie erreichenden Mitteilungen für göttlich gehalten werden dürfen, oder ob das unmöglich ist. Im Fall der Mitteilung amoralischer Gehalte ist es nicht möglich.

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Die Priorität reiner praktischer Vernunft und ihres entwickelten Moralbegriffs vor einem historisch zufällig sich ereignenden Offenbaren begründet Kant auch damit, dass im Fall einer angenommenen Offenbarung diese ohne den durch den Menschen präformierten Moralbegriff und ohne einen diesem gemäß erzeugten Gottesbegriff gar nicht verständlich werden könnte. „Aus bloßer Offenbarung, ohne jenen Begriff vorher in seiner Reinigkeit, als Probirstein, zum Grunde zu legen, kann es also keine Religion geben“ (RGV, 06: 169 Anm.). Der Ausdruck „bloße Offenbarung“ ist ersichtlich so zu verstehen, dass es sich dabei um eine Gott allein zuzuschreibende Aktivität des Sich-Zeigens handeln müßte, der gegenüber der Mensch ganz passiv und nur empfangend wäre. Demgegenüber formuliert Kant die Bedingung, zunächst für den Fall eines mittelbar zur Kenntnis gelangten Offenbarungsanspruchs: Wenn „ein Wesen als Gott von einem anderen bekannt gemacht und beschrieben worden“, muß der Mensch „diese Vorstellung doch allererst mit seinem Ideal“, d. i. mit dem durch ihn „nach moralischen Begriffen“ gedachten Gott „zusammen halten, um zu urtheilen, ob er befugt sei, es für eine Gottheit zu halten“ (RGV, 06: 169 Anm.). Doch es mag sogar das Wesen, das mit dem Anspruch auftritt, Gott zu sein, unmittelbar „(wenn das möglich ist) selbst erscheinen“ (RGV, 06: 169); auch in diesem Fall wird es unter der Voraussetzung bloßer Offenbarung nicht als Gott erkennbar sein. Auch für diesen Fall wäre verlangt, dass zuvor der „Mensch sich einen Gott mache“ (RGV, 06: 168 Anm.) und nicht in jener Einstellung gänzlicher Rezeptivität verharre, so dass er dann das Erscheinen des vermeinten Gottes mit seinem Ideal vergleichen könnte. Das Kriterium der Erkennbarkeit des sich zeigenden Gottes erzeugt demnach in jedem Fall der Mensch. In der Religionsphilosophie Kants wiederholt sich so das von der Kritik der reinen Vernunft her bekannte und dort berühmte Muster, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (KrV, B XIII). Es ist noch hinzuzufügen, dass das besagte Erkennen des erscheinenden Gottes, insofern moralische Begriffe die Kriterien abgeben, nur eine Art praktische, keine theoretische Erkenntnis wird sein können. Denn ob ein Fall realisierter Moralität vorliegt, welche beim Erscheinen Gottes sogar von vollkommener Art sein müßte, kann nur eine Angelegenheit praktischer Urteilskraft sein. Für theoretische Urteilskraft müßte Moralität sich durch Charaktere der Anschauung bekunden, was aber unmöglich ist. Denn die Moralität von Handlungen kann in keinem Fall buchstäblich erblickt werden; ihr originärer Ort liegt in der Gesinnung eines Handelnden, auf welche ein theoretisch erkennender Zugriff nicht möglich ist. Kant hält bekanntlich sogar die reflexive moralische Selbsteinschätzung des Menschen für keiner vollständigen Durchsichtigkeit fähig. Reine praktische Vernunft macht sich bei ihrer Auslegung einer heiligen Schrift „einen historischen Vortrag moralisch zu Nutze […], ohne darüber zu entscheiden, ob das auch der Sinn des Schriftstellers sei, oder wir ihn nur hineinlegen: wenn er

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nur für sich und ohne allen historischen Beweis wahr, dabei aber zugleich der einzige ist, nach welchem wir aus einer Schriftstelle für uns etwas zur Besserung ziehen können“ (RGV, 06: 43 Anm.). Auf andere Weise drückt Kant sein Prinzip der Auslegung von Offenbarungsschriften wie folgt aus: „Auslegung der uns zu Händen gekommenen Offenbarung“ ist „Deutung derselben zu einem Sinn, der mit den allgemeinen praktischen Regeln einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt. […] Diese Auslegung mag uns selbst in Ansehung des Texts (der Offenbarung) oft gezwungen scheinen, oft es auch wirklich sein, und doch muß sie, wenn es nur möglich ist, dass dieser sie annimmt, einer solchen buchstäblichen vorgezogen werden, die entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder dieser ihren Triebfedern wohl gar entgegen wirkt“ (RGV, 06: 110). Mit dem Gesagten ist eine Differenz zwischen dem durch den Autor intendierten Sinn und dem sprachlichen Ausdruck eröffnet, der mehr und sogar anderen Sinn als den intendierten annehmen kann. Dem philosophischen Ausleger ist es so möglich, das Unbestimmte eines sprachlichen Ausdrucks zu nutzen, um es mit einem neuen Sinn zu besetzen. Allerdings steht dieses Verfahren unter einer Bedingung. Denn Zwang gegenüber den Intentionen des Autors darf nur dann ausgeübt werden, wenn diese Intentionen moralindifferent oder gar moralwidrig sind, und nur wenn die Unbestimmtheitssphäre eines sprachlichen Ausdrucks durch ausdrücklich moralischen Sinn zu besetzen möglich ist. Die Legitimation, die der philosophische Ausleger für solche Modifikationen und scheinbaren Manipulationen für sich beanspruchen kann, ist die, dass er in eine Schrift, die doch beansprucht, göttliche Lehren auszudrücken, durch kreative Auslegung einen moralischen Sinn hineinlegt. Mit einem solchen Sinn versehen, ist diese Schrift dann ihrem eigenen Anspruch angemessener als zuvor, denn moralische Lehren sind Gott angemessener als moralindifferente; moralwidrige gar können diesem gar nicht zugeschrieben werden. Das beschriebene Verfahren läßt sich auch als Versuch ansehen, den Anteil an Vernunftreligion in einer Offenbarungsschrift zu erweitern und diese dadurch annehmbarer zu machen. Kant exemplifiziert die skizzierte produktive Hermeneutik an einem durch die Bibel vermeintlich legitimierten „Gebet um Rache“, woraufhin er nach einigen erwogenen Modifikationen eine Deutung favorisiert, die den oberflächlich nahegelegten amoralischen Sinn geradezu umkehrt, nämlich dass es Ausdruck sogar des Verzichts auf Rache sei, indem diese durch das Gebet in die Hände Gottes gelegt werde (vgl. RGV, 06: 110 Anm.). Im selben Zusammenhang drückt Kant den Grundsatz aus, dass nicht „die Moral nach der Bibel“, sondern „die Bibel vielmehr nach der Moral ausgelegt werden müsse“ (RGV, 06: 110 Anm). In Fällen, die nicht zu retten sind, zieht Kant nach diesem Grundsatz auch klare Trennungslinien, d. h. er verwirft dann den ansonsten als nicht unmöglich anerkannten Offenbarungsanspruch der Schrift zugunsten der Unversehrtheit reiner

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praktischer Vernunft. Etwa wider einen vermeintlichen Auftrag Gottes, einen Menschen zu töten, besteht er auf dem Verbot einer solchen Tötung. Eines seiner Argumente ist: Bei Offenbarungstexten handelt es sich um durch Menschen tradierte Geschichtsdokumente, die deshalb immer unter Irrtumsvorbehalt stehen; solcherart Übermitteltes ist „nie apodiktisch gewiß“ (RGV, 06: 187). Wer aber in einer prinzipiell unsicheren Situation es „auf die Gefahr wagen [würde], etwas zu thun, was höchst unrecht sein würde“, handelte „gewissenlos“ (RGV, 06: 187). Selbst in einer Situation der Unmittelbarkeit einer vermeintlichen göttlichen Anweisung zum Töten – es ist die Situation des Abraham, dem durch die „vermeinte göttliche Stimme“ (SF, 07: 63 Anm.) die Tötung seines Sohns befohlen wird – besteht Kant auf der Priorität der praktischen Vernunft. Mit Berufung auf sie hätte Abraham, der sich in der Tat anschickte, seinen Sohn zu opfern, nach Kant antworten sollen: „Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß“ (SF, 07: 63 Anm.).⁵

5 Zwei spätere Protagonisten eines sich nicht der Rationalitätsbedingung reiner praktischer Vernunft unterwerfenden Religionsbegriffs, die der Religion speziell auch in Anknüpfung an die Geschichte Abrahams außerrationale Ansprüche zubilligen, sind Schelling und Kierkegaard. Vgl. dazu Hartmut Rosenau: „Die Erzählung von Abrahams Opfer (Gen. 22) und ihre Deutung bei Kant, Kierkegaard und Schelling“. In: Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 27 (1985), 251–261. Zusätzlich dazu, dass im Spätwerk Schellings (F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung. 2 Bde., unveränderter reprographischer Nachdruck der aus dem handschriftl. Nachlaß hrsg. Ausg. von 1858. Darmstadt 1974) schon die moralischen Gebote, z. B. das der Sohnesliebe, nicht als autonome menschliche Setzungen, sondern als Ausdruck göttlichen Willens angesehen werden, werden diesem göttlichen Wilen, unbeschadet seiner Göttlichkeit, auch irrationale und abgründige Seiten zugesprochen. Einen Gott, dem nach Schelling in sich selbst die „Realität jenes Princips, das wir das conträre, das widergöttliche genannt haben“ (124) zukommt, ist auch die Anweisung zur Tötung Isaacs zuzutrauen. Nach den Maßstäben Kants kann ein solches Wesen, das schon dem Begriff nach widersprüchlich ist, das vor allem aber wie die Menschen einen außer- und widermoralischen Willen wirksam werden lassen kann, unmöglich Gott sein. Auch der Gott des Gottesbegriffs Kierkegaards (S. Kierkegaard. Furcht und Zittern (1843), übers. von E. Hirsch. Düsseldorf/Köln 1950) ist außerhalb der Grenzen der Vernunft zu lokalisieren, indem es ihmnach eine „absolute Pflicht“ gegenüber Gott gibt, die „einen dahin bringen [kann], das zu tun, was die Ethik untersagen würde“ (81). Hartmut Rosenau bescheinigt Kierkegaard, dass bei diesem trotz der Statuierung einer übermoralischen absoluten Pflicht Gott gegenüber doch auch die „Beibehaltung des Ethischen in seinem relativen Recht“ (256) zu verzeichnen sei. Doch ein solches bloß relatives Recht der Moral ist nach Maßstäben Kants unmöglich: Die kategorischen Imperative der Moral gebieten unbedingt, d. h. nicht bloß unter der Bedingung, daß keine außermoralischen absoluten Pflichten Gott gegenüber sie außer Kraft setzen. Vgl. dazu auch Reiner Wimmer (Kants kritische Religionsphilosophie. Berlin, New York 1990): „Die Berufung auf Gott, wenn er als eine der moralischen Vernunft des Menschen schlechthin vorgeordnete Instanz begriffen wird, bedeutet vernunftloser Theozentrismus“ (179).

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Zusätzlich zur Unbedingtheit dieser moralischen Gewißheit argumentiert Kant auch erkenntnistheoretisch, indem er die sinnliche Gegebenheit der „Stimme“ des vermeinten Gottes problematisiert. Denn wenn auch „Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, dass es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, dass der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle“ (SF, 07: 63). Kants Überzeugung, dass wir keinen „übersinnlichen Gegenstand in der Erfahrung irgend woran kennen“ (RGV, 06: 174), erstreckt sich auch auf vermeinte Erfahrungen mittels des inneren Sinns: „[H]immlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist eine Art Wahnsinn“ (RGV, 06: 174). Das „Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens und die Unterscheidung desselben von jedem andern, selbst dem moralischen Gefühl wäre eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist“ (RGV, 06: 175).⁶ Aus-

6 Angesichts der zuletzt zitierten Aussagen ist nicht nachvollziehbar, wie etwa Stephen Palmquist („Immanuel Kant: A Christian Philosopher?“ In: Faith and Philosophy 6 (1989), 65–75) unbedenklich affirmativ von einer durch Kant angeblich legitimierten religiösen Erfahrung sprechen kann, die z. B. unmittelbar im Gebet als Gemeinschaft mit Gott stattfinden könne. Palmquist (72): „Kant […] kept an open mind with regard to the possibility of an irrational (or arational) experience of the supernatural“; Kant did not reject the „possibility of supernatural experiences“; Kant „ is not precluding the legitimacy of also regarding the immediate experience of prayer as a form of communion with God.“ Mit Recht ist Anthony N. Perovich („Kant a Christian? A Reply to Palmquist“. In: Faith and Philosophy 9 (1992), 95–104) Palmquist wie folgt entgegengetreten (97): „That we lack a capacity for intellectual intuition, at least in this life, is, of course, a constant for Kant’s teaching, a constant that restricts our experience to the sensible“, „Yet Kant’s authoritative Critical treatment of prayer clearly rules out the acceptability of such complementary levels of understanding. He distinguishes between the spirit of prayer and the letter of it; the former is a disposition to act as if one were inGod’s service, the latter consists in stated wishes directed toward God. […] The former might not be acknowledged to be prayer at all by many Christians; the latter […] falls away as a result of proper moral development and has value only for the quickening of our disposition to behave morally. And while Palmquist believes that Kant holds open the possibility that such prayer may be viewed as communion with God, Kant’s own characterization hardly suggests such an interpretation: although ostensibly involved in speaking with God, verbal prayer involves nothing more than ‘conversing within and really with oneself ’ – Einen angesichts der Restriktionen der Kritik der reinen Vernunft ebenso unzulässig erweiterten Erfahruns- bzw. Erkenntnisbegriff statuiert Aloysius Winter (Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Hildesheim 2000). Winter unterstellt Kant, dieser habe „der Offenbarung ihren eigenen unverfügbaren und unersetzlichen Raum in der Geschichte zurückgeben wollen (475); geschichtliches Wissen sei aber „(durch Bezeugung) von anderen Arten des Wissens nicht grundsätzlich verschieden“ und so könne „das Historische der Raum für die freie und unverfügbare Rede Gottes“ (68 Anm.) sein. Eine solche Deutung verwischt die kritischen Grenzbestimmungen Kants hinsichtlich möglicher bzw. unmöglicher Gegenstände der Erfahrung. Diese Grenzbestimmung beachtend, kan zwar bezeugt werden, dass faktisch eine Rede geführt wurde, die den Anspruch ausdrückte, göttliche Rede zu sein, doch ein etwaiges Bezeugen der

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schließen dagegen kann der Mensch die Gegenwart Gottes in gewissen Fällen, und zwar dies durch das Moralkriterium: „Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten“ (SF, 07: 63). Aus der beschriebenen Situation sowohl einer nie zu verifizierenden unmittelbaren äußeren oder inneren Gotteserfahrung als auch eines nie apodiktisch gewiß zu machenden mittelbaren Rückgriffs auf mit Offenbarungsanspruch versehene Geschichtsdokumente folgt, dass ein Offenbarungsglaube nicht erzwungen werden kann und darf. Der etwaige Versuch einer Ausübung von Zwang in Absicht auf Implantation einer Gewißheit bezöge sich auf das innerliche Fürwahrhalten eines Bedrängten. Ein gewisses Fürwahrhalten kann aber nicht heteronom erzeugt werden; niemand als der Betreffende selbst kann sich dazu nach Prüfung vor dem eigenen Gewissen bestimmen. Die Bekundung eines völlig gewissen Fürwahrhaltens aufgrund von Zwang müßte als Heuchelei bewertet werden. Doch abgesehen vom Verbot der Zwangsausübung aus Gründen der Autonomie des Adressaten, ist diese auch aus Gründen eines nie letztlich zu überwindenden Zweifels auf seiten des potentiellen Bedrängers „verdammlich“: Ein „geistlicher Oberer würde hiebei selbst wider Gewissen verfahren, etwas, wovon er selbst nie völlig überzeugt sein kann, andern zum Glauben aufzudringen, und sollte daher billig wohl bedenken, was er thut, weil er allen Mißbrauch aus einem solchen Frohnglauben verantworten muß“ (RGV, 06: 187). Einem „Ketzerrichter“ beispielsweise, „der an der Alleinigkeit seines statutarischen Glaubens, bis allenfalls zum Märtyrertume, fest hängt“ und der den sogenannten Ketzer zum Tode verurteilt, kann man nach Kant doch „auf den Kopf zusagen […], dass er in einem solchen Falle nie ganz gewiß sein konnte, er tue hierunter nicht völlig unrecht“⁷. An dieser Stelle erhebt reine praktische Vernunft, ihrerseits mit unerschütterlichem Fürwahrhalten, den Einspruch: „Daß einem Menschen seines Religionsglaubens wegen das Leben zu nehmen unrecht sei, ist gewiß“ (RGV, 06: 186). Das alles schließt aber nach Kant – seiner These von der Nicht-Unmöglichkeit der Offenbarung gemäß – nicht aus, dass „vielleicht Wahrheit im Geglaubten“(RGV, 06; 187) ist; doch ist es eben potentielle Wahrheit, worüber Menschen keine völlige Gewißheit erlangen können. Wenn sie diese dennoch beanspruchen, dann liegt bei potentieller Wahrheit im Geglaubten doch „zugleich Unwahrhaftigkeit im Glauben“ tatsächlichen Göttlichkeit dieser Rede liegt zweifellos außerhalb der Grenzen des historisch Erkennbaren, d. h. es verläßt den Bereich dessen, wofür in der menschlichen Natur ein Sinn ist. 7 Zitiert nach der Weischedel-Ausgabe VIII, 860 f. Die Akademieausgabe übernimmt fälschlicherweise „vielleicht“.

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(RGV, 06: 187) vor. Die nicht unmögliche Wahrheit im Geglaubten – um mehr als diese logische Möglichkeit im Sinne widerspruchsfreier Denkbarkeit kann es sich bei fehlender Bewährung durch Charaktere der Anschauung nicht handeln – schließt nun aber ebenso aus, dass das, was durch Offenbarung beansprucht ist, wenn es denn „den reinen moralischen Grundsätzen nicht widerspricht“, als „gewiß falsch“ (RGV, 06: 189) abgewiesen werden könnte. Ich kann es zwar „nicht für gewiß glauben und betheuern“ (RGV, 06: 189), ebenso wenig aber schlechthin negieren. Beides müßte gleichermaßen den Vorwurf auf sich ziehen, dass mehr gesagt werde als gesagt werden kann. Aus dem skizzierten Zusammenhang ergibt sich die Frage, ob als Konsequenz in Sachen Offenbarung (anders als im Fall des moralischen Vernunftglaubens, der trotz eines noch erforderlichen dezisionistischen Akts durch praktische Vernunft doch dringend nahegelegt wurde) sich nicht eine agnostizistische Einstellung aufdrängt? In der Tat ist in dem von Kant projektierten religiösen Endzustand, weil er der Zustand einer allein in Geltung stehenden Vernunftreligion ist, ein Stellungnehmen zur ganz athematisch gewordenen Offenbarung nicht enthalten, aus dem Gesichtspunkt der Vernunft also nicht erforderlich. Es muß also Vernunft auch schon vor jenem Endzustand zu den faktisch noch vorhandenen Offenbarungsansprüchen indifferent stehen können. Zugleich wird sie, mit der Faktizität der Erscheinungen des Offenbarungsglaubens konfrontiert, diesen Glauben auch akzeptieren können. Auf der Kenntnisnahme ihrer kritischen Erwägungen dazu, was die Bedingungen apodiktischer Gewißheit sind, muß sie aber, schon um sich nicht selbst preiszugeben, bestehen. Ihre Erwägungen zu Gehör gebracht, müßte in das Selbstverständnis des Offenbarungsglaubens eingehen, dass das Moment des Zweifels konstitutiv für ihn ist und dass er den Charakter eines Wagnisses besitzt. Entsprechend sieht Kant als das Ergebnis der Probe, „wenn sich der Lehrer einer Kirche, ja jeder Mensch, sofern er innerlich sich selbst die Überzeugung von Sätzen als göttlichen Offenbarungen gestehen soll, fragte: getrauest du dich wohl in Gegenwart des Herzenskündigers mit Verzichtthuung auf alles, was dir werth und heilig ist, dieser Sätze Wahrheit zu betheuren?“, voraus, „daß auch der kühnste Glaubenslehrer hiebei zittern müßte“ (RGV, 06: 189). Das Auftreten der christlichen Religion stellt Kant in erster Linie als das Auftreten der Vernunftreligion dar, der moralischen Religion, daneben aber auch selbstverständlich als das einer Offenbarungsreligion (vgl. RGV, 06: 87 f.). Als Vernunftreligion ist sie „nicht in Satzungen und Observanzen, sondern in der Herzensgesinnung zu Beobachtung aller Menschenpflichten als göttlicher Gebote“ (RGV, 06: 84) fundiert. Allerdings ist sie – und das gehört zu ihrem außervernünftigen Offenbarungsanteil – „noch dazu durch Wunder beglaubigt“ (RGV, 06: 84). Kant besteht darauf festzustellen, dass sie als moralische Religion dessen „nicht bedarf“. Wenn „die wahre Religion einmal da ist“, dann kann sie „sich nun und fernerhin

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durch Vernunftgründe selbst erhalten“, weil, so seine Umschreibung des moralischen Bewusstseins, ihre „Beglaubigung auf einer Urkunde beruht, die unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist“ (RGV, 06: 84 f.)⁸. Gleichwohl entwickelt er ein gewisses Verständnis für die mit Offenbarungsanspruch versehenen Anteile, d. h. die Wundererzählungen, durch die die „Introduction“ der Vernunftreligion, „ob sie es zwar nicht bedarf“, doch faktisch „gleichsam ausgeschmückt“ und dadurch erleichtert wurde. Solche Ausschmückung sei „der gemeinen Denkungsart der Menschen ganz angemessen“. Sie habe dazu gedient, Anhänger der vormaligen „Religion des bloßen Cultus und der Observanzen“, die ihrerseits „ohne Wunder gar keine Autorität gehabt haben würde, […] für die neue Revolution zu gewinnen“ (RGV, 06: 84). Mit dieser Einschätzung zeigt Kant sich als vertraut mit einer politisch taktischen Denkungsart, wonach auch fragwürdige Mittel, derer man sich zur Erreichung eines guten Zwecks bedienen kann, für legitim zu halten sind. Eine Problematisierung im Nachhinein hält er für nicht mehr zweckmäßig: Es kann „nichts fruchten, jene Erzählungen oder Ausdeutungen jetzt zu bestreiten“, wir können sie „insgesammt auf ihrem Werthe beruhen lassen, ja auch die Hülle noch ehren, welche gedient hat“, die Vernunftreligion, die „keiner Wunder bedarf, öffentlich in Gang zu bringen“ (RGV, 06: 84 f.). Es ist nun allerdings fraglich, ob die damit zum Ausdruck kommende Konzilianz nicht doch zu weit geht und ob sie den von Kant selbst errichteten Rationalitätskriterien genügt. Denn darf Vernunftreligion anders als bloß durch Vernunftgründe auch nur introduziert und in Gang gebracht werden, sozusagen durch die Überrumpelungsmittel, an die die Anhänger des Alten gewöhnt waren, die aber zum religiösen Bestand der neuen Vernunftreligion gerade nicht mehr gehören? Die Antwort läßt sich mit Kants eigenen Worten geben, die aus dem selben Kontext stammen und die das scheinbar hingenommene außerrationale Introduktionsmittel für letztlich doch nicht hinnehmbar ansehen lassen: Es verrät nämlich „einen

8 Zum Verhältnis zwischen Christentum und moralischem Glauben vgl. Allen W. Wood: Kant’s Moral Religion. Ithaca, London 1970, 197–199: „Kant, indeed, does say that ‘of all the public religions which have ever existed the Christian alone is moral,’ [RGV, 06: 51 f.] and this has led some to think that Kant’s ‘pure religions faith’ is a ‘compromise’ […] between Christianity and a faith based on moral reason or a ‘coalition’ between them. But Kant makes claims of this sort because, in his view, Christianity is ‘represented as coming from the mouth of the first Teacher not as a statutory but as a moral religion’ [RGV, 06: 167]. On Christianity as a historical faith, however, he pronounces a different judgment: ‘At any rate, the history of Christendom … has served in no way to recommend it on the sure of the beneficent effect which can justly be expected of a moral religion’ [RGV, 06: 130]. Kant thus regards Christianity both as a ‘natural religion’ a religion of reason, and as a ‘learned religion’, an ecclesiastical faith based on revelation. And it seems fair to say that any ecclesiastical faith, containing a rational kernel within an historical shell, must be regarded in this way by the critical philosopher of religion.“

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sträflichen Grad moralischen Unglaubens, wenn man den Vorschriften der Pflicht, wie sie ursprünglich ins Herz des Menschen durch die Vernunft geschrieben sind, anders nicht hinreichende Autorität zugestehen will, als wenn sie noch dazu durch Wunder beglaubigt werden“ (RGV, 06: 84). Demnach hätte schon bei der Introduktion des Vernunftglaubens allein auf das auch in das Herz der Anhänger der vormaligen Religion des bloßen Kultus und der Observanzen eingeschriebene moralische Bewusstsein vertraut werden müssen, denn das vermeintliche Beförderungsmittel einer Ausschmückung durch „Wunder (übernatürliche Offenbarung)“ (RGV, 06: 85) verrät doch eben jenen „sträflichen Grad moralischen Unglaubens“ (RGV, 06: 84). An anderer Stelle zeigt Kant sich milder in der Beurteilung derer, die auf sinnlich geoffenbarte Religionszeichen oder eigene sinnenfällig demonstrierte Religiosität nicht verzichten wollen oder können und gibt einer „Schwäche der menschlichen Natur daran Schuld, dass auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen“ (RGV, 06: 103). Die genannte Schwäche ist die des „Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher Dinge“ (RGV, 06: 103), worunter hier das Unvermögen zu verstehen ist, sich in der Sphäre des in keiner Weise sinnlich zu machenden Bewusstsein des Sittengesetzes und seiner rein gedanklichen Weiterungen hin zur moralischen Vernunftreligion zu halten, wonach „die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles“ ist, „was Gott von Menschen fordert“ (RGV, 06: 103). Wenn das wirklich alles ist, was er von den Menschen verlangt, dann zieht diese Forderung gar kein spezifisch religiöses sinnenfälliges Phänomen nach sich. Doch eben das ist es, wovon die Menschen in ihrer Schwäche des VerhaftetSeins im Sinnlichen „nicht leicht zu überzeugen“ (RGV, 06: 103) sind. Sie sind nicht leicht zu überzeugen „wegen des natürlichen Bedürfnisses aller Menschen, zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgend eine Erfahrungsbestätigung u. d. g. zu verlangen“ (RGV, 06: 109). Wenn die erwähnte Schwäche und das genannte Bedürfnis nun im strengen Sinne notwendig sein sollten, dann kann der sich darin zeigende Unglaube in Hinsicht auf die rein moralische Vernunftreligion nicht mehr sträflich sein, denn er wäre den Ungläubigen nicht als der ihrige zuzuschreiben. Er beruhte in diesem Fall auf ihrer nicht disponiblen menschlichen Natur. Des weiteren könnte dann aber auch wirklich niemals darauf gerechnet werden, eine Kirche auf den reinen Glauben allein zu gründen. Dann aber, so die weitere Konsequenz, könnte keine wirklich allgemeine Kirche gegründet werden, denn: „Der reine Religionsglaube ist […] der, welcher allein eine allgemeine Kirche gründen kann: weil er ein bloßer Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mittheilen läßt“ (RGV, 06: 102 f.). Anders verhält es sich, wie gesehen, mit einem auf Facta gegründeten historischen Glauben (vgl. RGV, 06: 103).

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Nach der bisherigen Darstellung scheint Kant zwischen dem Optimismus hinsichtlich einer wenigstens künftig sich selbst erhaltenden reinen Vernunftreligion des guten Lebenswandels und dem Pessimismus ihrer gar nicht eigentlich möglichen Etablierung aufgrund der bezeichneten Schwäche des Menschen zu schwanken. Seine Aussagen zur Rolle der Offenbarungsreligionen, speziell der christlichen mit dem über ihren Vernunftkern hinausgehenden Offenbarungsanteil, im geschichtlichen Prozeß fortgesetzter Rationalisierung im Sinne der moralischen Religion des bloßen guten Lebenswandels dokumentieren ein Spannungsverhältnis. Dieses zeigt sich etwa im Kontext der Begründung dessen, unter welchen Bedingungen auch die Kirche einer Offenbarungsreligion wahre Kirche heißen kann: „Wenn also gleich (der unvermeidlichen Einschränkung der menschlichen Vernunft gemäß) ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion afficiert, doch mit dem Bewußtsein, dass er bloß ein solches sei, und dieser als Kirchenglaube ein Princip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich continuirlich zu nähern, um jenes Leitmittel endlich entbehren zu können, so kann eine solche Kirche immer die wahre heißen“ (RGV, 06: 115). Einerseits wird damit gesagt, ein historischer Glaube könne Mittel zur Erreichung des Zwecks des reinen Religionsglaubens sein, doch nur unter der Bedingung, dass er diesen bloßen Mittelcharakter auch in sein Selbstverständnis aufnehme, dass seine Wirksamkeit letztlich also auf die eigene Auflösung hin finalisiert sei. Andererseits wird jene „Einschränkung der Vernunft“, die in der Schwäche des sinnlichen Bedürfnisses nach der Sichtbarkeit religiöser Manifestationen besteht, doch auch zu einer „unvermeidlichen“ erklärt, so dass unter dieser Voraussetzung auf die Entbehrlichkeit des Mittels nicht gerechnet werden kann. Die Rede von der Unvermeidlichkeit der Schwäche des Bedürfnisses nach einem Glauben, der in historisch Faktischem, also Sinnenfälligem, fundiert ist, wird nicht ohne Preisgabe autonomer praktischer Vernunft und der aus ihr rein intellektuell deduzierten Vernunftreligion für strikt allgemein gehalten werden können. Sie dagegen im Verständnis komparativer Allgemeinheit zu nehmen – so viel wir bisher gesehen haben, war diese Schwäche immer wirksam –, ist konsistent mit der aus Vernunft selbst stammenden Forderung, dass die allein der wahren Universalität fähige „reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche“ (RGV, 06: 121), und löst das Spannungsverhältnis zugunsten dieser Religion. Das ist eine Religion, die schließlich „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, und die vermittelst eines Kirchenglaubens provisorisch die Menschen zur Beförderung des Guten vereinigen, allmählig losgemacht“ (RGV, 06: 121) sein wird. Es liegt nach Kant im Projekt der „wahren Aufklärung (einer Gesetzlichkeit, die aus der moralischen Freiheit hervorgeht)“, das ist nach seiner berühmten Bestimmung von Aufklärung das Projekt des dem Menschen aufgegebenen und von ihm

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allein auch zu realisieren möglichen Ausgangs aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, dass er „mit der Zeit […] mit jedermanns Einstimmung die Form eines erniedrigenden Zwangsmittels gegen eine kirchliche Form, die der Würde einer moralischen Religion angemessen ist, nämlich die eines freien Glaubens, vertauschen kann“ (RGV, 06: 123 Anm.). Wenn der Mensch ablegt, „was kindisch ist“ und „in das Jünglingsalter eintritt“ – so Kant erneut in seinem Aufklärungsvokabular –, wird das „Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste that, […] nach und nach entbehrlich“ (RGV, 06: 121 f.)⁹. Ohne das Ziel des Endzustands einer tatsächlich verwirklichten Alleingeltung rein moralischer Religion aus den Augen zu verlieren, konzediert Kant doch, dass dieses Ziel wohl noch in weiter Ferne liegen mag. Er propagiert auch keine revolutionären Akte zu seiner Erreichung, sondern „allmählig fortgehende Reform“ (RGV, 06: 122). Für die Zeit des Übergangs hält er es auch für das „Vernünftigste und Billigste“, jedenfalls bezogen auf die christliche Offenbarungsschrift, die ja neben den historisch faktischen und statutarischen Gehalten „ihrem praktischen Inhalte nach lauter Göttliches“ im Sinne des Gottes der Vernunftreligion enthält, da dieses Buch „einmal da ist“, es „fernerhin zur Grundlage des Kirchenunterrichts zu brauchen und seinen Werth nicht durch unnütze oder muthwillige Angriffe zu schwächen, dabei aber auch keinem Menschen den Glauben daran als zur Seligkeit erforderlich aufzudringen“ (RGV, 06: 132). Vom Kirchenglauben und seinen „Beamten“ ist allerdings dabei verlangt, was wohl keine geringe Anforderung ist, dass sie ihre Abhängigkeit von der einschränkenden Moralitätsbedingung des reinen Religionsglaubens „öffentlich anerkenn[en]“, auf dass dann die wahre allgemeine Kirche anfangen könne, „sich zu einem ethischen Staat Gottes zu bilden und nach einem feststehenden Princip, welches für alle Menschen und Zeiten ein und dasselbe ist, zur Vollendung desselben fortzuschreiten“ (RGV, 06: 124).Verlangt ist damit die Anerkennung der eigenen bloß transitorischen Rolle. Wenn den „Beamten“ eines historischen Kirchenglaubens das Ziel gesetzt ist, „ihre Lehren und Anordnung jederzeit auf jenen letzten Zweck (einen öffentlichen Religionsglauben) [zu] richten“ (RGV, 06: 153), ist ihnen das Ziel gesetzt, sich selbst zuletzt überflüssig zu machen. Auf die Frage, wodurch ein auf Offenbarungsansprüchen beruhender Kirchenglaube überhaupt als Mittel zur Beförderung der Vernunftreligion geeignet sein kann, läßt sich mehreres antworten. Zum einen kann er – wie Kant es dem 9 Angesichts dieser von Kant ausgedrückten letztlichen Entbehrlichkeit ist etwa Stephen Palmquists These („Does Kant Reduce Religion to Morality?“ In: Kant-Studien 83 (1992), 129–148) nicht länger zu halten, Kant statuiere zwar die Priorität des Moralischen vor dem außermoralischen Teil der Religion, der letztere sei aber doch ein notwendiges Element (vgl. 133).

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christlichen Kirchenglauben attestiert – neben seinen bloß historischen und statutarischen Gehalten auch reine moralische Lehren enthalten, so dass er auf diese Weise partiell dasselbe lehrt wie Vernunftreligion. Des weiteren können aber auch selbst die in ihm statutarisch gebotenen gottesdienstlichen Handlungen als die Entwicklung zur Vernunftreligion unterstützend angesehen werden; allerdings nur wenn sie die modifizierte Deutung annehmen, dass es sich dabei bloß um symbolischen Gottesdienst handelt, d. h. um einen Typ ästhetisch zweckfreien Handelns, der aufgrund seiner Erhebung über das Handeln im Kontext sinnlicher Bedürfnisbefriedigungen eine notwendige Bedingung moralischen Handelns erfüllt, auch wenn er die Bedingungen dieses Handelns nicht hinreichend erfüllt und also nicht mit dem moralischen Handlungstyp in eins fällt. Schließlich kann der Kirchenglaube, so lange jene Schwäche des Verlangens nach sinnlicher Begleitung des reinen Vernunftbegriffs der Religion besteht, einem Bedürfnis Befriedigung geben. Die Frage nun, warum angesichts solcher Eignung der Kirchenglaube zuletzt doch aufzugeben ist, erlaubt ihrerseits mehrere Antworten. Seine statutarischen Gehalte sind, ganz abgesehen von ihrer niemals zur Gewißheit zu bringenden göttlichen Herkunft eine beständige Quelle für Mißverständnisse. Sie können – wie etwa jener symbolische Gottesdienst, der nicht der eigentlich moralische ist – zu Ungunsten der Moral für die religiöse Sache selbst genommen werden. Das Verhältnis der Statute untereinander ist, zumal angesichts mehrerer Kirchenglaubensarten, jederzeit konfliktträchtig. Schließlich ist bei allem vorläufigen Verständnis für eine Schwäche des Menschen die Schwäche des Verlangens nach sinnlicher Darstellung des rein Intelligiblen doch überhaupt eine Schwäche und das Bedürfnis nach einem sinnlichen Gottesbezug ein unberechtigtes, weil niemals zu befriedigendes. Reine Vernunftreligion dagegen kann frei sein von Zweifeln in Hinsicht auf die Faktizität historischer Selbstmitteilungen Gottes. Um sie zu entwickeln ist solche Faktizität nicht erforderlich. Indem sie keine statutarischen Gesetze kennt, ist in ihr ebensowenig das in diesen liegende Konfliktpotential enthalten wie die Möglichkeit des ganz und gar nicht harmlosen Mißverständnisses, das statutarisch Gebotene, das allenfalls Mittel zur Moralisierung sein kann, für den Zweck selbst zu nehmen, wodurch der eigentliche Zweck der Moralisierung zwangsläufig verfehlt werden muß. Sie bietet auch niemandem Anlaß für die trügerische Hoffnung, die enttäuscht werden muß, es könne eine buchstäblich sinnliche Gotteserfahrung geben. Auf dem Gebiet der Vernunftreligion sind die Verhältnisse vergleichsweise klar, denn hier gibt es zunächst „ein praktisches Erkenntniß, das, ob es gleich lediglich auf Vernunft beruht und keiner Geschichtslehre bedarf, doch jedem, auch dem einfältigsten Menschen so nahe liegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre: ein Gesetz, was man nur nennen darf, um sich über sein Ansehen mit jedem sofort einzuverstehen, und welches in jedermanns Bewußtsein unbe-

Offenbarung – nicht jedermanns Sache

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dingte Verbindlichkeit bei sich führt, nämlich das der Moralität; und was noch mehr ist, dieses Erkenntniß führt entweder schon für sich allein auf den Glauben an Gott, oder bestimmt wenigstens allein seinen Begriff als den eines moralischen Gesetzgebers, mithin leitet es zu einem reinen Religionsglauben, der jedem Menschen nicht allein begreiflich, sondern auch im höchsten Grade ehrwürdig ist“ (RGV, 06: 181 f.). Auch wenn die vernunftreligiöse Erwägung bloß auf die Minimalstufe der Vernunftreligion führen sollte, d. h. „wenigstens“ auf den „Begriff“ Gottes als „eines moralischen Gesetzgebers“, wodurch die Gewißheit seiner Existenz noch nicht eingeschlossen ist, so ist doch auch nur auf dieser Stufe eine vollkommen intakte moralische Praxis möglich, die dem erhofften existierenden Gott nur wohlgefällig sein kann. Denn wenn er Gott sein soll, kann er weder so gedacht werden noch so existieren, dass er mehr verlangt, als durch die kategorischen Imperative reiner praktischer Vernunft schon verlangt ist. Der Glaube an die Faktizität einer Offenbarung und die Befolgung

Über den aufgeklärten Umgang mit Gottes Wort Kant zur Auslegung „heiliger“ Schriften Wie die Grundtexte der Offenbarungsreligionen ausgelegt werden sollen, ist eine hochaktuelle Frage. Sie entzündet sich in unserer Zeit besonders an einem Teil der Interpreten des Koran, aber auch an den sogenannten Kreationisten innerhalb des Christentums. Diese Kräfte sehen in ihren heiligen Schriften das unmittelbar zum Text gewordene Wort Gottes, den es in buchstäblicher Auslegung ebenso unmittelbar in die Wirklichkeit zu überführen gelte, etwa in dem Sinne, dass das Rechtssystem danach einzurichten sei oder dass konkrete politische Handlungen als direkte Umsetzungen göttlicher Anweisungen zu erfolgen hätten. Gewisse Phänomene der Wirksamkeit solcher Interpretation führen dann zu den bekannten hitzigen Debatten unserer Tage. Zu empörten Reaktionen führt es etwa, wenn auf vermeintliches göttliches Recht gegründet Dieben die Hand abgeschlagen wird, wenn Ehebrüchige gesteinigt werden oder wenn Selbstmordattentäter auf vermeintliche göttliche Anweisung hin sich und so viele „Ungläubige“ wie möglich in den Tod reißen. Aber auch dem Präsidenten von „god’s own country“ gefällt es, wie zu lesen ist, sein politisches Handeln durch göttliche Inspirationen zu legitimieren. Wenn angesichts dessen nach Erklärungen gesucht bzw. auf Abhilfe gesonnen wird, fällt immer wieder das Wort von der Aufklärung. Speziell über den Islam ist oft zu hören, er sei nicht durch die Aufklärung hindurchgegangen und habe eben dies nötig, sich der Aufklärung zu stellen. Oft wird hinzugefügt, die christliche Religion habe dies geleistet und von ihr seien nach langen Zeiten, in denen auch sie unter Beanspruchung göttlicher Autorität so manchen Mißbrauch getrieben habe, keine Auswüchse mehr zu erwarten. Allerdings erscheint der Rekurs auf die Aufklärung nicht selten sehr schablonenhaft, inhaltsleer und verharmlosend. Eine bloß schlagwortartig bemühte Aufklärung mag vielleicht eine momentane suggestive Wirkung entfalten, dauerhaft wird diese aber nur werden können, wenn der Begriff der Aufklärung einschließlich seiner elaborierten Differenzierungen tradiert und lebendig gehalten wird. Aufklärung wird nicht als etwas ein für allemal Erworbenes angesehen werden können, woran nur dem Titel nach von Zeit zu Zeit formelhaft zu erinnern ist. Auf diese Weise wird sie für niemanden attraktiv werden. Im Gegenteil werden die Gedanken der Aufklärung in jeder Zeit wieder neu gedacht werden müssen, wenn sie wirksam bleiben oder vielleicht auch erst wirksam werden sollen, und zwar auf dem Niveau und in der Differenziertheit, die sie bei ihrem ersten Auftreten hatten. https://doi.org/10.1515/9783110788099-008

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Es wird sich dann zeigen, dass Aufklärung nicht bloß ein schonendes Mittel zur Milderung der schlimmsten akzidentellen Fehlformen tradierter Religiosität ist, sondern dass sie die historischen Gestalten des Religiösen als solche in Frage stellt. Aufklärung, ihrem entfalteten Begriff nach, ist nicht bloß in dienender Funktion Korrektiv der geschichtlichen Religionen, sondern selbstbewußt provokativ, auf den Kern ihres Selbstverständnisses und ihrer Legitimität zielend. Formeln wie die vom schon aufgeklärten Christentum oder vom noch – im selben Sinne – aufzuklärenden Islam sind aus dem Gesichtspunkt elaborierter, nicht schon handzahm gemachter Aufklärung allzu versöhnlerisch, indem sie veritable Differenzen einebnen. Faule Kompromisse aber sind nicht auf Dauer friedensstiftend. Um ein Stück Aufklärung im besten Sinne handelt es sich im Fall der Lehre Kants vom rechten Umgang mit den heiligen Schriften der Offenbarungsreligionen. Die heilige Schrift, an der er diesen Umgang exemplifiziert, ist naturgemäß die Bibel. Wie diese auf eine Weise zu interpretieren ist, die vor der Vernunft Bestand haben kann, entfaltet er in einem Abschnitt des Streit[s] der Fakultäten (SF, 07: 38– 45) und in zwei Abschnitten des Dritten Stücks seiner Religionsschrift. Der Titel des ersten lautet: „Die Constitution einer jeden Kirche geht allemal von irgend einem historischen (Offenbarungs‐)Glauben aus, den man den Kirchenglauben nennen kann. Und dieser wird am besten auf eine heilige Schrift gegründet“ (RGV, 06: 102) Der Titel des zweiten enthält bereits die Hauptthese zur thematischen Frage nach der rechten Auslegung einer solchen heiligen Schrift. Er lautet: „Der Kirchenglaube hat zu seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben“ (RGV, 06: 109). Schon aus dieser These wird ersichtlich, dass der Kirchenglaube, der ein auf Offenbarung beruhender Glaube ist, mit einer Zumutung konfrontiert werden wird. Es ist die Zumutung, sich nicht allein selbst auszulegen, sich nicht selbstreferentiell und selbstgenügsam in der Hermetik des Systems der eigenen Lehren zu halten, sondern sich vor einem äußeren Ausleger, der zudem noch höhere Autorität beansprucht, zu bewähren. Wer dieser höhere Ausleger ist, ist durch die Benennung eines reinen Religionsglaubens noch verdeckt, er wird sich durch die Entwicklung dieses Begriffs aber bald als die reine praktische Vernunft erweisen. Diese Vernunft hat als allgemeine Menschenvernunft jeden Menschen zum Repräsentanten. Wenn also der Kirchenglaube einer Offenbarungsreligion den reinen Religionsglauben zu seinem höchsten Ausleger hat, dann ist schon dadurch ersichtlich, dass er in den Raum universeller Öffentlichkeit gestellt werden wird, in dem jeder Vernünftige, also auch der in der Sicht des einzelnen Kirchenglaubens „Ungläubige“, das Recht zur Mitsprache haben wird und durch keinen Hinweis ausgeschlossen werden kann, zu einem etwaigen Kreis von Eingeweihten nicht zu gehören. Die genannte These also stellt jede Offenbarungsreligion unter den Zwang der Legitimation vor der universellen Menschenvernunft.

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Ersichtlich ist diese These erläuterungsbedürftig. Insbesondere wird vorbereitend zu klären sein, was unter jenem reinen Religionsglauben zu verstehen ist, dem offenbar die Leitung in der Interpretation aller heiligen Texte zukommen soll. Der reine Religionsglaube ist nach Kant ein Glaube, der keiner Offenbarung bedarf. Nicht der Rückgriff auf eine faktische historische Selbstmitteilung Gottes braucht ihn zu stützen, sondern allein ein vernünftiges Raisonnement reicht dazu aus. Offen zutage liegt dieser Glaube allerdings nicht. Er erschließt sich nach Kant über den rationalen Begriff der Religion, d. i. ein abgeleiteter reiner Vernunftbegriff, wobei am Beginn dieser Ableitung Religion sogar ins Abseits zu geraten scheint. Dieser Beginn nämlich ist markiert durch das moralische Selbstverständnis des Menschen, wonach dieser ein autonomes moralisches Wesen ist. Die Autonomie der Moral, ihre Unabhängigkeit von Religion also, drückt Kant schon zu Beginn der Religionsschrift ganz unmißverständlich aus. Es heißt dort: Moral ist „vermöge der reinen praktischen Vernunft […] sich selbst genug“; sie bedarf „zum Behuf ihrer selbst […] keineswegs der Religion“; oder auch: Der Mensch bedarf „weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). Das heißt zusammengefaßt: Weder für die Grundlegung der Moral noch für eine moralische Lebensführung sind Religion und die darin liegende Beziehung auf Gott vorauszusetzen. Zur moralischen Gesetzgebung durch reine praktische Vernunft „wird erfordert, daß sie blos sich selbst vorauszusetzen bedürfe, weil die Regel nur alsdann objektiv und allgemein gültig ist, wenn sie ohne zufällige, subjektive Bedingungen gilt, die ein vernünftig Wesen von dem andern unterscheiden“ (RGV, 06: 20 f.). Zeit- und Ortsumstände vermeintlicher Erfahrung von durch Gott geoffenbarten Gesetzen gehören offensichtlich zu den zufälligen subjektiven Bedingungen, durch die sich vernünftige Wesen voneinander unterscheiden, bewirken also, dass die Gesetze als geoffenbarte nicht objektiv und allgemein gültig sein können. Ein Offenbarungszenarium setzt als solches mehr als bloß reine praktische Vernunft voraus, allerdings für den Preis des Verlusts der Allgemeinheit der aus einer solchen Situation entspringenden Gesetzgebung. Trotz jener Autonomie nun aber, die den Ursprung der Moral und die Möglichkeit gelingender moralischer Praxis betrifft, kann Vernunft aus einem anderen Grund nicht umhin, mit der Moral den Gedanken Gottes zu verbinden. Dieser Grund liegt in einer misslichen Einsicht, die die Folgen der Moral betrifft. Es ist die Einsicht in einen irrationalen Zug des Lebens, den Vernunft aufs Ganze gesehen nicht durch sich selbst als Menschenvernunft, sondern nur durch einen vernünftigen Gott als heilbar ansehen kann. Dieser Zug besteht in dem vernunftwidrigen Umstand, dass der Nexus zwischen der moralischen Qualität des Menschen und seiner sinnlichen Existenz kein notwendiger ist, sondern bloß ein zufälliger. Das heißt: Im Leben kann es der Mensch durch Moral nicht weiter als bis zur

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Glückswürdigkeit bringen. Weder ist der Moralische notwendig glücklich noch der Unmoralische notwendig unglücklich. Dies aber, dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“, muss reine praktische Vernunft um ihrer eigenen Vollendung willen fordern. Und eben deshalb, „weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, [muss] ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, 06: 8 Anm.). Obwohl nun durch das Gesagte nur der Begriff der Religion als reiner Vernunftbegriff abgeleitet ist, kein tatsächlicher Glaube, kann sich ein solcher Glaube an den Begriff doch anschließen. Es ist dazu nach Kant ein nicht mehr seinerseits ableitbarer freier Akt des Fürwahrhaltens nötig, der sich auf das Interesse reiner praktischer Vernunft stützt, das kein beliebiges Privatinteresse ist, nämlich dass der im Leben erworbene moralische Status nicht ohne Folgen sei. Der im Sinne des reinen Religionsglaubens Gläubige glaubt also, so Kant, an das „System der sich selbst lohnenden Moralität“, das nur Gott garantieren kann (KrV, A 809/B 837). Der auf diese Weise gedachte Gott kann seinerseits an nichts anderem interessiert sein als am guten Lebenswandel des Menschen und kann daher zusätzlich zum autonom sich zur Moralität verpflichtenden Menschen als moralischer Gesetzgeber betrachtet werden. Eine Orientierung an anderen Gesetzen als den moralischen kann diesem Gott, der eine genau definierte Stelle in einem streng rationalen Kalkül besetzt, nicht zugeschrieben werden. Diese Feststellung ist wichtig zur Unterscheidung vom Gottesbild der Offenbarungsreligionen. Deren Götter werden nicht an nachgeordneter Stelle einer Gedankenfolge als zusätzliche Gesetzgeber gedacht, sondern als primäre Gesetzgeber behauptet, ohne die gar keine Moral in der Welt wäre. Außerdem wird ihnen weit mehr als bloß ein moralisches Gebieten zugestanden. Offenbarungsreligion beruft sich auf kein rationales Kalkül, sondern auf die Faktizität historischer Ereignisse, die als reale geschichtliche Selbstmitteilungen Gottes gedeutet werden, weshalb Kant den Glauben daran auch historischen oder empirischen Glauben nennt. Dem Gott der Offenbarungsreligion mag auch die Verkündung moralischer Gesetze zugeschrieben werden, in welchem Fall sie einen Kern der Übereinstimmung mit Vernunftreligion besitzt. Doch das Spezifische von Offenbarungsreligion ist es, auch außermoralische, sogenannte statutarische Gesetze zu verkünden, die dem Gott der Vernunftreligion nie zuzuschreiben wären, weil dieser nur solche Imperative ergehen lassen kann, die reine praktische Vernunft schon für sich allein erlässt. Etwa die Einsetzung des 7. Tages „zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar verordnetes Religionsstück“ (RGV, 06: 187), ist ein statutarisches, kein moralisches

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Gesetz. Es kann aus praktischer Vernunft nicht abgeleitet werden. Hier muss ich „vorher wissen […], daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen.“ (RGV, 06: 153 f.) Im Fall der Vernunftreligion dagegen ist praktische Vernunft vorgeordnet. Hier muss ich „zuvor wissen […], daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (RGV, 06: 154). Obwohl nun ein singuläres statutarisches Gesetz aus dem Gesichtspunkt der moralischen Vernunftreligion nicht per se zu kritisieren ist¹, denn als außervernünftiges kann es – wie etwa das Sonntagsgebot – moralisch ganz indifferent sein, wird eine Mehrzahl ganzer Systeme solcher Gesetze unvermeidlich zur Quelle von Konflikten. Das gilt nicht bloß für den Fall offenkundigen Widerstreitens, sondern auch schon für den Fall minimaler Unterscheidung, denn mindestens ein statutarisches Gesetz der einen, dem diese keine geringere Auszeichnung als die eines göttlichen Ursprungs geben, erführen in diesem Fall durch die anderen keine Anerkennung. Nur der Fall ganz deckungsgleicher statutarischer Gesetzgebungen (der in Wahrheit der Fall bloß einer solcher Gesetzgebung wäre, der aber sogleich die Frage provozierte, warum Gott dieselben Erlasse mehrmals erließ) ist als konfliktfrei denkbar. Moralische Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft dagegen kann nur eine sein. Faktisch ist eine Pluralität verschiedener historischer Offenbarungsreligionen mit statutarischen Gesetzen in großer Zahl zu verzeichnen, die sich nicht bloß unterscheiden, sondern die einander auch widerstreiten. Nicht überall wird das Sonntagsgebot als ein von Gott geoffenbartes Religionsstück betrachtet. Wenn woanders ein anderer Tag die göttliche Auszeichnung erhält, entsteht die Situation, entweder Gott widersprüchliche Erlasse zuzuschreiben oder –vielleicht um der Entlastung Gottes, wohl aber um der Selbsterhöhung willen – die Singularität der eigenen Offenbarung zu behaupten. Das aber impliziert notwendig eine Entgegensetzung unter den Menschen, die dem materialen Gehalt der differierenden Gebote nach für unbedeutend gehalten werden mag, die aber aufgrund der Rückführung dieser Gebote auf einen göttlichen Gesetzgeber in Wahrheit höchst bedeutungsgeladen und affektiv besetzt ist. Konfliktträchtig ist darüber hinaus, wenn vermeintlich göttliche statutarische Anweisungen mit moralischen Geboten widerstreiten. Wie nicht anders zu erwarten, ist Kants Parteinahme bei einem solchen Konflikt dezidiert. Im Zusammenhang der Deutung des religiösen Grundsatzes „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“, der scheinbar den statutarischen Gesetzen den Vorzug gibt, lautet seine Umdeutung: Wenn statutarische Gebote „mit Pflichten, die die Vernunft unbedingt

1 Aus dem Gesichtspunkt theoretischer Vernunft ist es allerdings immer Gegenstand der Kritik, denn für diese ist die Göttlichkeit seines Ursprungs kein Gegenstand möglicher Erfahrung.

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vorschreibt, und über deren Befolgung oder Übertretung Gott allein Richter sein kann, in Streit kommen, so muss jener ihr Ansehn diesen weichen“ (RGV, 06: 154). Anders gesagt, muss hier der vermeintlich sich offenbarende Gott dem Gott der Vernunftreligion weichen, dessen Forderungen, wie gesehen, mit den Forderungen reiner praktischer Vernunft in eins fallen. Es kündigt sich damit der allgemeine Grundsatz der Auslegung von Offenbarungsschriften an, nämlich dass diese „nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden“ (SF, 07: 46) müssen und dass „die Philosophie“, verstanden als Sachwalterin reiner praktischer Vernunft, „im Falle des Streits über den Sinn einer Schriftstelle, sich das Vorrecht anmaßt, ihn zu bestimmen“ (SF, 07: 38). Auf den Punkt gebracht, müsste eine Offenbarungsreligion, wenn sie denn im Sinne dieses Prinzips als aufgeklärt soll gelten können, dieses Vorrecht anerkennen. Eine historische Religion, die in der Tat Aufklärung verinnerlicht hätte, müßte jedem Menschen in seiner Qualität als Repräsentant reiner praktischer Vernunft die Autorität zugestehen, über ihre Texte in moralischer Hinsicht zu befinden, auch den aus ihrer speziellen, an eine empirische Offenbarung gebundenen Sicht Anders- oder Ungläubigen. Vor der Spezifikation der Auslegungsgrundsätze für die heiligen Texte der Offenbarungsreligionen sollte noch erklärt sein, warum für diese Religionen überhaupt Textualität eine so zentrale Rolle spielt. Für Vernunftreligion gilt das nicht, denn sie hängt von keiner vergangenen Anschauung ab, die tradiert werden müsste. Zu ihrer Entwicklung, die a priori und nur in Gedanken stattfinden kann, ist nichts weiter als das Dasein eines vernünftigen Subjekts vorausgesetzt, d. h. eines Subjekts mit moralischem Bewusstsein und mit der Fähigkeit zur Reflexion über die Bedingungen, das Projekt praktischer Vernunft zur Totalität zu bringen. Es kann zugestanden werden, dass es eine Erschwernis darstellte, wen Vernunftreligion keine textliche Manifestation hätte, wenn also etwa die Texte Kants nicht mehr existierten. Doch das Ende der Vernunftreligion müßte das nicht bedeuten, weil diese aus der Vernunft eines jeden muss entwickelt werden können, d. h. ohne dass Zusatzbedingungen in der Sphäre des Faktischen erfüllt sein müssen. Offenbarungsreligion dagegen beruht nicht auf Vernunft, sondern auf der Faktizität vergangener Anschauung. Das Tradieren von Erfahrungen empirischer Fakten aber hängt von der Lückenlosigkeit der tatsächlichen Weitergabe dieser Erfahrungen ab. In Kants Worten: Es kann ein „bloß auf Facta gegründeter historischer Glaube seinen Einfluß nicht weiter ausbreiten“, als „so weit die Nachrichten in Beziehung auf das Vermögen ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen, nach Zeit- und Ortsumständen hingelangen können“ (RGV, 06: 103). Die Ausbreitung und die Erhaltung eines historischen Glaubens stehen somit unter der Restriktion, von mehr oder weniger günstigen Zeitund Ortsumständen abzuhängen, wobei entgegenstehende geschichtliche Kräfte seinen Bestand gefährden können. Weil der historische Glaube also besonderer

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Mittel zur Sicherung seiner Kontinuität bedarf, wird er, so Kant, „am besten auf eine heilige Schrift gegründet“ (RGV, 06: 102). Die Abhängigkeit eines Offenbarungsglaubens von günstigen empirischen Bedingungen läßt einen weiteren Aspekt seiner Konfliktträchtigkeit hervortreten. Sollten nämlich die für ihn notwendigen empirischen Erscheinungen bedroht sein, wozu an erster Stelle der Text als seine Glaubensquelle gehört, dann steht die Existenz dieses Glaubens insgesamt auf dem Spiel. Vernunftreligion kann dagegen hinsichtlich ihrer Beständigkeit Gelassenheit wahren, weil sie von keinen gegenständlichen Erscheinungen abhängt, speziell von keinem unbedingt sicherungsbedürftigen Text, und weil sie also von Anfechtungen in der Sphäre der Erscheinungen nicht betroffen sein kann. Der Offenbarungsglaube aber muss um seiner Selbsterhaltung willen zur Abwendung historisch realer Bedrohung seinerseits zu physischen Mitteln greifen. Die jetzt zu entwickelnden hermeneutischen Regeln zur Auslegung von Offenbarungstexten können vorweg als Regeln einer kreativen „hermeneutica sacra“ bezeichnet werden. Sogar manipulativ könnte diese genannt werden. Kant weiß – und verteidigt –, dass die von seinen Regeln in manchen Fällen gebotenen Auslegungen zuweilen gezwungen scheinen und es auch wirklich sind (vgl. RGV, 06: 110). In diesen noch zu erörternden Fällen ist es dem Interpreten erlaubt, dass er dem Text einen Sinn „aufdringt“ (RGV, 07: 46), was „wider die oberste[n] Regeln der Interpretation zu verstoßen“ (SF, 07: 41) scheint, es im speziellen Fall von als heilig angekündigten Texten aber letztlich nicht tut. Bezogen auf bestimmte Arten von Aussagen sind Kants Regeln liberal und nachsichtig, bezogen auf andere Arten verlangen sie unerbittliche Strenge und Widerspruchsgeist. Alles zusammen wird von einem freien und selbstbewußten Umgang mit den Texten zeugen, d. h. vom Gegenteil einer ehrfürchtigen Erstarrung, in die der Anspruch der Heiligkeit von Texten kleinmütigere Geister versetzen könnte. Es gibt Schriftstellen der Bibel – Kant handelt von dem heiligen Text, den er am besten kennt –, die „theoretische für heilig angekündigte […] Lehren enthalten“ (RGV, 06: 38), die aber das Verständnis theoretischer Vernunft übersteigen. Sein Beispiel dafür ist die „Dreieinigkeitslehre“ (RGV, 06: 38). Solchen Stellen, so seine Regel, kann widersprochen werden, es muss ihnen aber nicht widersprochen werden. Der Interpret kann im gegebenen Fall also ausdrücken, dass man „von einem Gott in mehreren Personen […] gar keinen Begriff hat“, er muss es aber nicht. Kant legt nahe, es nicht zu tun, d. h. solche Lehren zu ignorieren. Sein Kriterium dafür, diese Möglichkeit zu bevorzugen, ist die Irrelevanz solcher Lehren für praktische Vernunft. Aus Anweisungen, „[o]b wir in der Gottheit drei oder zehn Personen zu verehren haben“, kann man für seinen Lebenswandel gar keine verschiedenen Regeln ziehen“ (RGV, 06; 39). Es ist daraus ersichtlich, dass theoretische Vernunft in Beurteilung heiliger Schriften bloß eine sekundäre Rolle spielt, prak-

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tische Vernunft dagegen die entscheidende, was zur Vermutung Anlaß gibt, dass im Falle praktischer Fragwürdigkeiten nicht mit der Milde des Ignorierens, sondern mit Widerspruch zu rechnen ist. Solchen Widerspruch hält Kant auch in Verbindung mit theoretischer Vernunft dann schon für angebracht, wenn wider die theoretische „Vernunftmaxime in Beurteilung physischer Erscheinungen“ (SF, 07: 41) verstoßen wird und die daraus resultierenden vermeintlichen Erkenntnisse eine fragwürdige Praxis nach sich ziehen können. Sein Beispiel dazu sind die biblischen Erzählungen von „Besessenen“, von „dämonischen Leuten“ (SF, 07: 41). Der Verstoß gegen die theoretische Maxime mit dem potentiell unguten Ausgang der Verfolgung der „dämonischen Leute“ ist hier offenbar, dem Dämonischen die Qualität zuzuschreiben, in der Anschauung zu erscheinen. Die verletzte theoretische Maxime lautete demnach etwa so, dass einem bloß Denkbaren kein Erscheinen und also keine Erkennbarkeit zugesprochen werden darf. Den Streit vermeiden will Kant auf dem Gebiet, das er das der „Geschichtserzählung“ heiliger Texte nennt (vgl. RGV, 07: 41), selbst wenn sich Ungereimtheiten darin finden. Seine rhetorische Frage lautet: „[…] warum sollten wir wegen einer Geschichtserzählung, die wir immer an ihren Ort (unter die Adiaphora) gestellt sein lassen sollen, uns in so viele gelehrte Untersuchungen und Streitigkeiten verflechten, wenn es um Religion zu tun ist, zu welcher der Glaube in praktischer Beziehung, den die Vernunft uns einflößt, schon für sich hinreichend ist“ (RGV, 07: 41). Das Desinteresse, das sich dadurch ausdrückt, ist das Desinteresse an historischer Faktizität in Religionsangelegenheiten. Dem entgegen steht das alleinige Interesse an den gedanklichen Gehalten, seien sie nun durch historisch wahre Erzählungen evoziert oder auch durch zweifelhafte. Bedingung für die Akzeptanz dieser Gehalte ist allein ihre Übereinstimmung mit den Moralitätsanforderungen reiner praktischer Vernunft. Eine solche Positionierung muss die Anhänger von Offenbarungsreligionen provozieren. Denn sie zu übernehmen verlangte nicht weniger von ihnen, als die Faktizität ihres historischen Bezugspunktes als Nebensache zu betrachten. Es könnte also eine ganz und gar erfundene Geschichte, wenn sie nur moralischen Sinn ausdrückte, einen heiligen Text konstituieren. Um die genannte Provokation zu konkretisieren, braucht nur Kants Beispiel für eine – für ihn letztlich unwichtige – Ungereimtheit in der biblischen Geschichte genannt zu werden. Es ist die Ungereimtheit des leiblichen Lebens Jesu nach seinem leiblichen Tod. Kant hält „[d]es Apostels Schluß“ (SF, 07: 40), dass wir nur dann auferstehen werden, wenn Christus „dem Körper nach lebendig geworden“ (SF, 07: 40) ist, für nicht bündig. Er hält dem entgegen: „Ob wir künftig bloß der Seele nach leben, oder ob […] unser Körper selbst müsse auferweckt werden, das kann uns in praktischer Absicht ganz gleichgültig sein“ (SF, 07: 40). Die Auferstehungslehre ist für Kant also jenseits aller

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historischen Faktizität einer tatsächlichen leiblichen Auferstehung ohne Verlust auch deutbar als symbolischer Ausdruck des Gedankens einer bloß seelischen Fortexistenz. Doch er will ja, wie gesehen, über derart praktisch Irrelevantes nicht streiten. Ebenso zu vernachlässigen, weil leicht zu beheben, ist für ihn, wenn sich heilige Texte des Anthropomorphismus schuldig machen, wenn also dem sprachlichen Ausdruck nach von Gott vermenschlichend gesprochen wird, was „unserem Vernunftbegriff von der göttlichen Natur und seinem Willen widerstreitet“ (RGV, 07: 40 f.). Selbst die biblischen Theologen hätten sich längst zur Regel gemacht, dass das Vermenschlichende „nach einem gottwürdigen Sinne […] müsse ausgelegt werden“. An dieser Stelle seiner Darlegung des Streits zwischen der philosophischen und der theologischen Fakultät versagt Kant sich den Seitenhieb nicht, dass jene biblischen Theologen damit „ganz deutlich das Bekenntnis ablegten, die Vernunft sei in Religionssachen die oberste Auslegerin der Schrift“ (RGV, 07: 41). Dass der Vernunft nicht bloß die Rolle einer nachvollziehenden, sondern einer kreativen Auslegerin zukommt, geht aus Kants Erörterung derjenigen Schriftstellen hervor, die dem moralischen Gehalt nach unbestimmt oder nicht eindeutig sind, und solcher Stellen, die sogar auf den ersten Blick einen amoralischen Gehalt zu haben scheinen. In diesen Fällen soll als Regel gelten, dass in den Text, wo immer möglich, moralischer Sinn hineinzutragen sei (vgl. RGV, 07: 40). Es ist dies der Versuch, den heiligen Text aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft zu verbessern. Weil der Ausgangspunkt solcher Verbesserung das moralische Bewusstsein des Interpreten ist und das selbstgegebene Gesetz dieses Bewusstseins, das Sittengesetz, nach Kant die Auszeichnung der Heiligkeit verdient (vgl. KpV, 05: 87 u. ö.), läßt sich dieser Versuch der Textverbesserung auch als Versuch betrachten, ihm Heiligkeit zu implementieren, d. h. ihm an der fraglichen Stelle dazu zu verhelfen, seinen eigenen Anspruch zu erfüllen. Die Autorität des vorfindlichen Textes als eines solchen wird auf diese Weise zweifellos gemindert, denn seiner bloßen buchstäblichen Gegebenheit nach trägt er eben jenen eindeutig moralischen Sinn nicht und erleidet durch das Hineintragen eines solchen eine Art Manipulation. Doch dem Autoritätsverlust des Buchstabens des Textes in seiner Vorfindlichkeit korrespondiert andererseits, dass durch das Hineintragen moralischen Sinns sein Anspruch auf Heiligkeit auf besondere Weise respektiert und ernst genommen wird. Kants Erlaubnis des Hineintragens von Sinn geht sogar so weit, es selbst gegen die erkennbare Intention des Autors zu tun. Der Interpret kann ihmnach also durchaus die „Privatmeinung“ (SF, 07: 41) des Schriftstellers, die dieser ausdrücken wollte, kennen und doch seinen Ausdrücken wegen der Unvereinbarkeit dieser Privatmeinung mit praktischer Vernunft einen anderen, d. h. einen vernunftverträglichen Sinn geben. Kant gesteht zu, dass das „ganz und gar wider die oberste[n]

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Regeln der Interpretation zu verstoßen“ (SF, 07: 41) scheint. Doch es scheint nur so, zumindest im Fall von Texten mit Anspruch auf Heiligkeit, denn hier ist durch die Korrektur einer vernunftwidrigen Privatmeinung „für ihre Heiligkeit etwas gewonnen“. Das skizzierte Verfahren setzt die Trennbarkeit des Textes von der bewußten Intention des Autors voraus und nutzt die Eigenschaft der Ausdrücke der Sprache, nicht völlig bestimmt zu sein, um die durchaus identifizierbare bestimmte Sinnzuschreibung des Autors durch einen anderen, seinerseits rationalen bestimmten Sinn zu ersetzen. So sei, was Kants Zustimmung findet, ein großer Teil protestantischer Theologen mit Paulus’ Lehre von der Gnadenwahl verfahren, die man, „so gut wie man konnte anders gedeutet“ (SF, 07: 41) hat als nach der Privatmeinung des Paulus, „weil die Vernunft sie mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der ganzen Moral unvereinbar“ finden musste. Am extremsten exemplifiziert Kant seine produktive Hermeneutik an einem durch die Bibel vermeintlich legitimierten „Gebet um Rache“ (RGV, 06: 110 Anm.), dessen oberflächlich nahegelegten amoralischen Sinn er geradezu umkehrt, nämlich so, dass es Ausdruck sogar des Verzichts auf Rache sei, indem diese durch das Gebet in die Hände Gottes gelegt werde. Trotz seines keineswegs schonenden Umgangs mit den biblischen Schriftstellern unterscheidet Kant sein Verfahren der Umdeutung doch davon, den Autor „eines Irrtums [zu] beschuldigen“ (SF, 07: 41), was zu erkennen gibt, dass er diesem selbst noch die Umdeutbarkeit seiner Ausdrücke als ein Positivum zuschreiben will. Das aber setzt voraus, ihm unbewußte Intentionen zuzuschreiben und zugute zu halten, die besser sind als die bewußten. Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant – hier mit Bezug auf Platon – es für möglich gehalten, einen Autor„besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte“ (KrV, A 314/ B 370). Die Möglichkeit des Hineintragens von moralischem Sinn und der Umdeutung von Schriftstellen stößt doch zuweilen auch an ihre Grenzen, nämlich in Fällen offenkundiger und rettungsloser Unmoral. In diesen Fällen ohne jeden Spielraum für verbessernde Auslegung ist Kant kompromißlos, verwirft die Heiligkeit des Textes, bezichtigt den Autor eben doch des Irrtums und erklärt für unmöglich, dass Gott durch ihn spricht. Etwa wider einen vermeintlichen Auftrag Gottes, einen Menschen zu töten, besteht er auf dem Verbot einer solchen Tötung. Sein biblisches Beispiel dazu ist das des Abraham, dem durch die „vermeinte göttliche Stimme“ die Tötung seines Sohnes befohlen wird. Hier hätte nach Kant Abraham erkennen müssen, dass die Stimme nicht die Stimme Gottes sein kann, und er hätte im Namen reiner praktischer Vernunft antworten sollen: „Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß.“ (SF, 07: 63 Anm.) Diese Forderung Kants an Abraham ist

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die Forderung der Emanzipation der Vernunft gegenüber dem nur scheinbar Heiligen, das an den Adressaten von außen mit der Anmaßung herantritt, aufgrund bloßer Autorität zu gelten, d. h. ohne dass der Adressat es auch innerlich als heilig verifizieren können soll. Wenn die Forderung der Emanzipation der Vernunft gegenüber einer äußerlich autoritativen Religion erfüllt wäre, wäre etwa im Fall von Attentaten eine von dieser her ergehende Motivation, die sich auch nur mit dem Anschein moralischer Legitimität verbinden wollte, ganz ausgeschlossen. Von einer weiteren Art der Umdeutung heiliger Texte im Geiste der Emanzipation der Vernunft ist noch zu handeln, die ebenfalls einem Stück unaufgeklärter Gegenwart abhelfen könnte, die aber auch von den Betroffenen nicht wenig verlangt. Kant fordert die Umdeutung solcher „Spruchstellen“, die so lauten, „als ob sie das Glauben einer Offenbarungslehre nicht allein als an sich verdienstlich ansähen, sondern wohl gar über moralisch-gute Werke“ (SF, 07: 42) erhaben. Diese Umdeutungsregel sagt nicht weniger als dass das Glauben an das Spezifische einer jeden Offenbarungslehre (welches also nicht auch schon aus reiner praktischer Vernunft zu entwickeln ist) von keiner moralischen Bedeutung ist und kein Verdienst begründet. Völlig bedeutungslos ist es demnach, sich etwa als Christ oder als Muslim zu bekennen. Solche Bekenntnisse mögen das Bekenntnis zum rein moralischen bzw. vernunftreligiösen Kern in diesen Kirchenglaubensarten beinhalten, doch müssen sie als Zuordnungen zu einer partikularen Glaubensgemeinschaft immer noch etwas mehr ausdrücken, etwas Spezifisches und damit Trennendes. Wenn mit Bekenntnissen nur der Ausdruck der moralischen bzw. vernunftreligiösen Orientierung intendiert sein sollte, dann müßte etwas Identisches ausgedrückt werden, so dass also kein Unterschied bezeichnet werden dürfte. Zur Erfüllung dieser Intention sind also die spezifischen Kennzeichnungen des Christ- oder Muslim-Seins nicht nur überflüssig, sondern sie machen es darüberhinaus unmöglich, sie zu erfüllen. Des weiteren liegt in der Konsequenz dessen, dass es nicht verdienstlich ist, einem Offenbarungsglauben anzuhängen, dass es auch „keine Verschuldung“ (SF, 07: 41) begründet, keiner solchen Kirchenglaubensart zu folgen. Insgesamt ist es also bei konsequenter Anwendung des Kantischen Prinzips nicht länger möglich, sich moralisch über Andersgläubige zu erheben, selbst nicht über sogenannte Ungläubige. Vielmehr wäre von den Offenbarungsreligionen zu verlangen, ihr Spezifisches als moralisch indifferent zu betrachten und also zu den Beiläufigkeiten zu zählen. Etwaige Exklusivitätsansprüche ließen sich auf dieser Basis nicht aufrecht erhalten. Gewonnen wäre allerdings die Aussicht einer Vereinigung im reinen moralischen Religionsglauben. Die radikale Konsequenz einer sofortigen, d. h. revolutionären Eliminierung der nur scheinbar moralisch auszeichnenden Spezifika der Kirchenglaubensarten zieht Kant allerdings nicht. Er fordert sogar, dass sie „in Kirchen nicht öffentlich angegriffen werden“ (SF, 07: 43) und gesteht ihnen eine transitorisch dienende Rolle

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auf dem Weg zum reinen Religionsglauben zu. Der erkennbare Grund für seine moderate reformerische religionspolitische Position ist, dass doch auch im Prozeß des Übergangs „für öffentliche Eintracht und Frieden Sorge“ (SF, 07: 43) zu tragen sei. Den Prozeß selbst aber sofort zu beginnen, d. h. zu dem einen durch die herabgeminderten Offenbarungslehren „eingeleiteten Religionsglauben“ doch „ohne Verzug […] überzugehen“ (SF, 07: 43), fordert er ebenso unmißverständlich. Kant ist demnach nicht für eine Toleranz der Gleichgültigkeit zu beanspruchen, der eine statische Koexistenz von aufgeklärter Vernunft und Offenbarungsreligionen genügte, so dass die letzteren sich in einem vor Legitimationsansprüchen immunisierten Irrationalismus einrichten könnten. Im Gegenteil impliziert seine Konzeption des Reformismus hin zum reinen Religionsglauben eine kontinuierliche offensive geistige Anstrengung, die eben gerade Legitimationsdruck erzeugt und die Aufgabe der nicht legitimationsfähigen Gestalten historischer Religiosität verlangt. Dabei zielt das Reformpostulat auf die Humanisierung der Menschen in Religionsdingen, denn mit jener einen einzigen Vernunftreligion (die übrigens ihrerseits den moralischen Status der Ungläubigen unangetastet ließe, weil dieser auch ohne jede Religion schon durch autonome Vernunft gesichert ist) entfiele das Konfliktpotential, das sich in der Geschichte zwischen den konkurrierenden Wahrheitsund Exklusivitätsansprüchen verschiedener Kirchenglaubensarten schon so oft kriegerisch entladen hat. Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist das Projekt des einen einzigen Religionsglaubens, der ein rein moralischer Vernunftglaube ist, das Projekt eines dauerhaften Religionsfriedens. Zugunsten dieses Projekts müssen allerdings, wie gesehen, gewisse „Spruchstellen“ der heiligen Texte der Kirchenglaubensarten umgedeutet werden, die doch eine exklusive „für sich bestehende Heiligkeit“ (SF 07: 42) des Partikularen ausdrücken bzw. auszudrücken scheinen. Die durch die bisherigen hermeneutischen Regeln erlaubte und sogar gebotene Freiheit im Umgang mit heiligen Texten, die so weit geht, dass philosophische Auslegung dem Text moralischen Sinn „aufdringt“ (RGV, 07: 46) und ihm, wo das nicht möglich ist, seine Heiligkeit abspricht, ist als an Moralbegriffe gebundene Freiheit nun doch noch zu unterscheiden von einer anderen Freiheit der Interpretation, die für nicht wenige gerade durch religiöse Texte nahegelegt scheint und von ihnen ergriffen wird. Es ist die von Kant in diesem Zusammenhang verworfene Freiheit der Einbildungskraft. „[D]ie Phantasie verläuft sich bei Religionsdingen unvermeidlich ins Überschwengliche, wenn sie das Übersinnliche (was in allem, was Religion heißt, gedacht werden muß) nicht an bestimmte Begriffe der Vernunft, dergleichen die moralische[n] sind, knüpft“ (SF 07: 46). Wozu solch ungebundene Phantasie im Ausgang von religiösen Texten führt, ist ihmnach gefühlslastige mystische Privatreligion. Sie führt zu einem „Illuminatism innerer Offenbarungen, deren jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt findet“ (SF 07: 46).

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Die recht verstandene freie Weise des Umgangs mit heiligen Texten besteht nach Kant darin, ihn überall dort nicht für sakrosankt zu halten, ihn also kritisch in Frage zu stellen und seine Autorität zu bezweifeln, wo er nicht in „Übereinstimmung mit dem“ steht, „was die Vernunft für Gott anständig erklärt“ (SF 07: 46). Wo Vernunft also etwas als Anstoß erregend aus dem Munde Gottes ansehen muss, da verwirft sie lieber den Buchstaben des Textes, als dass sie es dabei belassen könnte, das Anstößige Gott zuzuschreiben. Sie agiert auf diese Art nicht gegen den Heiligkeitsanspruch des Textes, sondern trägt durch ihre freien Adjustierungen an die Erfordernisse der Moralität dazu bei, diesen zu erhalten. Gerade „weil jenes Buch als göttliche Offenbarung angenommen wird“, darf die Einstellung dazu nicht die ehrfurchtsvoller Erstarrung sein, sondern gerade deshalb muss es „nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden“ (RGV, 07: 46). Nicht zu verschweigen ist allerdings, dass die Erfüllung der Moralitätsbedingung als „conditio sine qua non“ (RGV, 07: 46) hinter den hinreichenden Bedingungen, etwas als Offenbarung zu erkennen, zurückbleibt. Diese sind für Kant weder durch praktische noch theoretische Vernunft als erfüllt zu erkennen. Für praktische Vernunft sind die unerfüllten Erkenntnisbedingungen aber nicht das Wichtigste, d. . es ist ihr weniger wichtig, ob der Offenbarungsanspruch des gegebenen Textes im Punkt seiner Fundierung im realen historischen Ereignissen göttlicher Selbstmitteilung, bezeugt und vermittelt durch menschliche Autoren, berechtigt ist. Der für sie überragend relevante Gesichtspunkt ist der, ob durch den zur Beurteilung gegebenen Text, für sich genommen, moralischer Sinn ausgedrückt ist oder nicht. Obwohl weniger wichtig, wird praktischer Vernunft allerdings im Blick auf die Autoren doch auch nicht ganz gleichgültig sein, in welchem Selbstverständnis und mit welchen Intentionen sie die Texte verfaßten. Der die Autoren moralisch disqualifizierende Fall wäre der, dass, auch wenn sie mit ihren Texten moralischen Sinn transportierten, sie dies in der Art von Erfahrungsberichten täten, von denen sie wüßten, dass darin etwas als Erfahrung behauptet ist, was keine Erfahrung sein kann. Es wäre dies der Fall der Unwahrhaftigkeit im Punkt der als Erfahrung ausgegebenen Faktizität der göttlichen Selbstmitteilung. Da aber die Einsicht, dass die Göttlichkeit einer Mitteilung kein Gegenstand möglicher Erfahrung ist, Kritik der reinen Vernunft voraussetzt, d. h. eine reflektierte Grenzbestimmung zwischen möglicher und unmöglicher Erfahrung, können im Zustand eines vorkritischen Erkenntnisbegriffs Erkenntnisse, die objektiv überschwenglich sind, doch subjektiv in gutem Glauben als Erfahrungen vermeint sein. Es könnten schließlich die fraglichen Texte auch von Anfang an als fiktionale konzipiert sein, denn dass fiktionale Texte in Gestalt von Aussagesätzen auftreten und ihre Fiktionalität nicht mit ausdrücken, ist ganz geläufig. In solchen Fällen kann den Autoren weder der moralische Vorwurf der Unwahrhaftigkeit noch die intellektuelle Vorhaltung eines unkritischen Erkenntnisbegriffs entgegengesetzt werden. – Leitend für praktische

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Vernunft sind aber, wie gesehen, nicht solche Fragen, sondern Fragen, die unter Ausblendung des theoretischen Problems des Erkenntnisstatus der vorkommenden Sätze und unter Ausblendung des Problems des Selbstverständnisses der Autoren an die Texte als solche herangetragen werden, um allein ihren moralischen Gehalt zu ermitteln. Wenn nun die Frage ist, von woher praktische Vernunft ihrerseits das Selbstbewusstsein bezieht, über die Erfüllung auch nur einer „conditio sine qua non“ für göttliche Äußerungen zu urteilen, so lautet Kants Antwort: aus sich selbst. Denn ihr eigenes moralisches Gesetz erkennt sie als heilig und als Kriterium für alles, was als heilig gelten können soll. Die entsprechende Antwort auf die Frage, wer der eigentliche Ausleger heiliger Texte ist, die zugleich die Frage beantwortet, warum diese Texte mit so großer Freiheit behandelt werden können, sie sogar umzugestalten, lautet: „[D]er Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemanden verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, so ferne sie rein-moralisch und hiemit untrüglich sind, erkannt werden kann“ (RGV, 07: 48). Es gilt demnach: Wenn der Gott in jedem moralischen Wesen der eigentliche Ausleger heiliger Texte ist, dann fällt jeder Anspruch auf exklusive Auslegungskompetenz der Religionsspezialisten besonderer Offenbarungsreligionen. Entsprechend fallen damit etwaige Nichteinmischungsgebote bzw. andere Immunisierungsvorkehrungen. Mit seiner „hermeneutica sacra“ wendet sich Kant also gegen die heute wieder besonders wirksame Einstellung, den sich als heilig ankündigenden Texten ihren Heiligkeitsanspruch unbefragt zuzugestehen und gerade einen solchen Anspruch für nicht diskutabel zu halten. Dieser Einstellung liegt zugrunde, Religion als per se irrationales Phänomen zu betrachten, es zugleich aber als solches auch anzuerkennen und ihm in seiner irrationalen Qualität sogar moralischpraktische Autorität zuzugestehen. Kant hingegen teilt nicht nur die Voraussetzung der notwendigen Irrationalität von Religion nicht, sondern hält im Gegenteil allein die Religion für wahre Religion, die den höchsten Rationalitätsansprüchen genügt, die also den durch reine praktische Vernunft formulierten Moralitätsbedingungen genügt. Die Frage aber, ob diese in einem gegebenen Fall erfüllt sind, kann und muss diskutiert werden. Durch öffentliche Prüfung also – die kantische Wendung vom Gerichtshof der Vernunft drängt sich hier auf – muss verhindert werden, dass sich hinter dem Schutzwall einer Unantastbarkeits- dogmatik Residuen des Irrationalen und Amoralischen erhalten. Es sind nach Kant gerade solche Rückzugsräume des Irrationalen, insofern sie eine Relevanz für die menschliche Praxis haben, durch das Licht der Vernunft zu beleuchten, und zwar in religionsverbessernder Absicht. Dagegen wird nicht selten von den Wächtern gewisser Heiligkeitstabus ins Feld geführt, sie zu brechen bedeute die Verletzung religiöser Gefühle. Doch auch diese

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Variante des Versuchs einer Immunisierung würde von Kant zurückgewiesen. Gefühle sind es zu allerletzt, die die Dignität des unantastbar Faktischen beanspruchen und damit alle Ansprüche einer Kritik zurückweisen können. Für Kant, der selbst unter einer gefühligen Variante des Protestantismus, dem Pietismus, gelitten hat, sind Gefühle zwar von höchster praktischer Relevanz und insofern ins Kalkül zu ziehen, aber als geradezu bevorzugte Gegenstände einer Kritik der praktischen Vernunft. Zum einen sind Gefühle zur Grundlegung der Moral nicht geeignet, wofür letztlich der Grund der ist, dass ein jeder „sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust“ (KpV, 05: 25); das Gefühl der Lust und Unlust ist also „ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann“, und „selbst in einem und demselben Subjekt“ ist stets mit „Abänderungen dieses Gefühls“ (KpV, 05: 25) zu rechnen. Zum anderen sind Gefühle nicht von der praktischen Harmlosigkeit, die diejenigen anzunehmen scheinen, die mit dem Hinweis auf sie Diskussionen verstummen lassen wollen. Religiöse Gefühle sind des öfteren nicht Gefühle schöner Seelen, sondern an den unschönen Rändern der Skala der Gefühle angesiedelt. Nicht selten sind es hitzig fanatische Gefühle oder Gefühle von klebriger Inbrunst und Sentimentalität. Vorausgesetzt, die bis hierhin entwickelten Kantischen Grundsätze dürfen als veritable aufgeklärte Religionsprinzipien gelten, so ist mit dem Blick auf die heutige Zeit zu bezweifeln, ob irgendeine der Religionsparteien mit großem Gewinn durch die Aufklärung hindurchgegangen ist. Es scheint vielmehr, als habe man sie weitgehend hinter sich gelassen. Sie mag hier mehr Spuren als dort hinterlassen haben, doch das Projekt als Ganzes ist weitgehend unerfüllt. Die Welt wird immer noch und wieder verstärkt durch blutige Religionsstreitigkeiten erschüttert, die nach Kant nie etwas anderes waren als Streitigkeiten über Kirchenglaubensarten. Die Protagonisten der Kirchenglaubensarten erheben nach wie vor moralische Exklusivitätsansprüche. Religiöse Gefühle haben Hochkonjunktur. Der Illuminatism privater innerer Offenbarungen ist ein bis in höchste politische Ämter hinein wirksamer handlungsleitender Faktor. Die buchstäbliche und nicht, wie skizziert, freie Auslegung der religiösen Grundtexte ist keineswegs überwunden. Die moralisch ganz gleichgültigen Spezifika der Religionsgemeinschaften, wie sie sich auch etwa durch die verschiedenen Riten oder durch die nur jeweils für sich beanspruchten, inflationär zahlreichen heiligen Stätten ausdrücken, sind weit davon entfernt, unter die Beiläufigkeiten gezählt zu werden. Nach dieser Betrachtung bleibt festzustellen, dass religiöse Aufklärung kaum begonnen hat, und zu den erst noch zu bewältigenden Zukunftsaufgaben gehört. Kant hat „den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausgangs der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt“, weil „jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist“ (WA, 08: 41). Mit Bezug auf seine Zeit hat er gefragt: „Leben wir jetzt in

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einem aufgeklärten Zeitalter?“ (WA, 08: 40) Seine Antwort lautete: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung“ (WA 08: 40). Angesichts der religiösen Atavismen unserer Zeit und ihrer kriegerischen Wirksamkeit muss Kants Frage immer noch mit „nein“ beantwortet werden und es ist sogar zweifelhaft, ob auch nur der Prozeß der Aufklärung noch im Gang ist.

Kants Kritik religiöser Gefühle Bevor über eine bestimmte Art von Gefühlen, die religiösen, zu sprechen sein wird, ist es wohl angebracht darüber zu sprechen, was Gefühle Kant zufolge ihrem Gattungsbegriff nach sind. Kant hat keine zusammenhängende Kritik der Gefühle verfasst, in der die Möglichkeiten und Grenzen des Fühlens erörtert wären. Allerdings hat er in seinen Schriften viel verstreutes Material hinterlassen, aus dem eine solche Kritik durchaus zusammengestellt werden könnte. In der Absicht, eine spezielle Art des Fühlens näher zu qualifizieren, − eben das Religiöse − , soll ein Teil davon im Folgenden in eine möglichst sinnvolle systematische Verbindung gebracht werden. Zur allgemeinsten Bestimmung der Gefühle eignet sich wohl die Charakteristik, dass alle Gefühle auf dem Vermögen des inneren Sinns beruhen, mit Lust oder Unlust affiziert werden zu können (vgl. KpV, 05: 22). Das Lust- bzw. Unlustvermögen ist, so Kant, die „dem inneren Sinne angehörige Rezeptivität“ (KpV, 05: 22), d. i. die eigentümliche Empfänglichkeit des inneren Sinnes dafür, dass das Subjekt der Vorstellungen bei seinen Vorstellungen auf die eine oder andere Art „sich selbst fühlt“ (KU, 05: 204). Fühlt es sich auf die lustvolle Art, wird es „zur Erhaltung […] des Zustandes dieser Vorstellungen bestimmt“, fühlt es sich durch Unlust affiziert, wird es zur „Abwehrung des Zustandes dieser Vorstellungen bestimmt“ (Anth, 07: 153). Die besagten Vorstellungen mögen von welcher Art auch immer sein, also auch etwa Vorstellungen der äußeren Sinne; die hinzukommenden Lust- bzw. Unlustqualitäten als solche gehören dennoch „gar nicht zu den Vorstellungen äußerer Sinne und also auch nicht zu den Bestimmungen der Materie als Materie“ (MAN, 04: 544). Die Gefühle von Lust und Unlust sind „das bloß Subjektive im Verhältnis unserer Vorstellung“ und haben „gar keine Beziehung auf ein Object zum möglichen Erkenntnisse desselben“ (MS, 06: 211). Die davon unterschiedenen Affektionen der äußeren Sinne, die „als Erkenntnisstücke auf ein Object bezogen werden“ (MS, 06: 212), also etwa die sinnliche Vorstellung einer Farbe, nennt Kant Empfindungen. Allerdings ist er im Sprachgebrauch nicht immer konsequent, so dass er zuweilen auch Gefühle Empfindungen nennt, welche Schwierigkeit sich aber durch den jeweiligen Kontext immer auflösen lässt. Das Lust- bzw. Unlustvermögen des inneren Sinns ist nun nicht bloß wie im vorigen Beispiel aus Anlass von Vorstellungen affiziert, die die äußeren Sinne dem Erkenntnisvermögen darbieten, sondern auch und gerade „mit dem Begehrungsvermögen [sind] notwendig Lust und Unlust verbunden“ (KU, 05: 178). Das nach der Einteilung Kants untere Begehrungsvermögen ist geradezu wesentlich durch die Lusterwartung, die dem inneren Sinn anhaftet, definiert. Es bestimmt hier das Gefühl der„Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes https://doi.org/10.1515/9783110788099-009

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erwartet, das Begehrungsvermögen“ (KpV, 05: 22). Aufgrund der Unvermeidbarkeit der Lust – bzw. Glückseligkeitsabsichten – kurz: der Neigungen –, aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und aufgrund der Passivität des sie erleidenden Subjekts nennt Kant alle Gefühle dieser Art auch pathologisch (vgl. MS, 06: 378). Gäbe es nur sie als Triebfedern für Willens- und Handlungsbestimmungen, dann gäbe es keine Moral, sondern allenfalls Prinzipien einer Glückseligkeitslehre. Dazu Kant: „Diejenige Lust (oder Unlust), die notwendig vor dem Gesetz vorher gehen muß, damit die Tat geschehe, ist pathologisch“ (VT, 08: 395 Anm.); ein darin gründendes „Verhalten folgt der Naturordnung“ (TL, 06: 378). Nun gibt es aber nach Kant nicht bloß dieses untere, sondern noch ein oberes Begehren, das ist dasjenige reiner moralischpraktischer Vernunft, die ihm zufolge auf rein intellektuelle und auf keine Weise sinnliche Art dem Willen das moralische Gesetz vorschreibt und für sich alleine wirksam, d. h. praktisch werden kann. Trotz der hier zu betonenden Intellektualität des Ursprungs werden Gefühle nun aber nicht athematisch, sondern eben gerade der Umstand eines durch autonome praktische Vernunft gesetzten Sittengesetzes bzw. der Umstand einer die Idee der Freiheit voraussetzenden Selbstverpflichtung zur Moralität hat eine Gefühlswirkung eigener Art. Es gibt, so Kant, eine „Lust […], vor welcher das Gesetz hergehen muß, damit sie empfunden werde“, die „in der sittlichen Ordnung“ (TL, 06: 378) zu verorten ist. Als in dieser Ordnung angesiedelte Lust ist sie ersichtlich keine pathologische; sie beruht nicht auf der Passivität des sie im inneren Sinn erleidenden Subjekts, sondern auf dem freien Akt der Selbstverpflichtung des moralischen Subjekts; sie ist des weiteren keine unmittelbare Lust, sondern Lust in der Folge dieses intellektuellen Akts. Es mag an dieser Stelle ein Vorverweis auf das anvisierte Thema, das der religiösen Gefühle, gegeben werden. Es ist im Blick darauf für wichtig zu halten, dass Ideen Gefühlswirkungen haben können. Dazu sei vorerst nur noch angedeutet, dass der nach Kant allein tragfähige Religionsbegriff, der Begriff einer sich an Moral anschließenden Vernunftreligion, sich ganz auf moralische Ideen und auf Ideen aus dem Bedenken der Konsequenzen der Moral gründet. Die Legitimität der angedeuteten Vernunftreligion vorausgesetzt, könnte es also auch in Vernunft begründete und durch sei legitimierte religiöse Gefühle geben. Um vorerst aber noch bei der Moral als solcher zu bleiben, sei das besagte moralische Gefühl noch etwas näher betrachtet und vor allem erstmals mit seinem eigentlichen Namen bezeichnet. Es handelt sich um das Gefühl der Achtung. Kant qualifiziert dieses „Gefühl einer Achtung, dergleichen kein Mensch für Neigungen hat“, als „eine eigentümliche Art von Empfindung, welcher aber nicht vor der Gesetzgebung der praktischen Vernunft vorhergeht, sondern vielmehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwang gewirkt wird“ (KpV, 05: 92). Insofern durch reine praktische Vernunft bewirkt, handelt es sich um den „Einfluß einer bloß intellek-

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tuellen Idee aufs Gefühl“; seiner Beschaffenheit nach ist das bewirkt Gefühl als „grenzenlose[] Hochschätzung des reinen, von allem Vortheil entblößten, moralischen Gesetzes“ (KpV, 05: 79) zu beschreiben. Kant ist sich dessen sehr bewußt, dass seine Erklärung des Ursprungs des Gefühls der Achtung bedeutet, „die Grenzen der Erfahrung [zu] überschreiten“ (KU, 05: 222), worin man eine allgemeine Rechtfertigung dafür sehen könnte, für Gefühle als Wirkungen beliebige Gründe außerhalb der Grenzen der Erfahrung zu suchen. Um diesen Eindruck sogleich zu zerstreuen, ist zu betonen, dass Kant das Überschreiten der Grenzen der Erfahrung nicht bedingungslos rechtfertigt. In Erläuterung des Gefühls der Achtung wird zur Rechtfertigung dieses Überschreitens auf die „Kausalität“ verwiesen, „die auf einer übersinnlichen Beschaffenheit des Subjects beruhete, nämlich die der Freiheit“ (KU, 05: 222). Die Bedingung des Überschreitens der Erfahrungsgrenzen ist somit, dass der intelligible Bezugspunkt des Gefühls doch immer noch zur Beschaffenheit des Subjekts gehört, dass es sich also mit der das moralische Gesetz gebenden reinen praktischen Vernunft um einen Aspekt, sogar um den wesentlichen, des Selbstverständnisses dieses Subjekts handelt. Das Übersinnliche bzw. Intelligible wird von Kant strikt vom Übernatürlichen unterschieden. Das ist deshalb zu unterstreichen, weil es im Kontext der Thematik der religiösen Gefühle auch um die Frage gehen wird, ob es übernatürlich bewirkte religiöse Gefühle geben kann. Bei der ersten Art der anvisierten religiösen Gefühle wird es sich so viel sei vorweg gesagt, um keine solchen handeln, die eine übernatürliche Ursache beanspruchen. Diese Art Gefühle ist im Kontext des Lehrstücks vom Vernunftglauben angesiedelt, von dem Kant sagt: „[…] ein Vernunftglaube ist der, welcher sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“ (WDO, 08: 141). Gemeint ist die reine praktische Vernunft, denn, wie vor allem in der Kritik der Urteilskraft unmißverständlich ausgeführt ist, ist nur sie ind er Lage, überhaupt einen adäquaten Gottesbegriff zu entwickeln. Die vermeintlichen Gottesbegriffe theoretischer Vernunft, etwa der von Gott als dem allerrealsten Wesen, dem Inbegriff von Realität, oder der von Gott als dem durch seinen Kunstverstand (vgl. KU, 05: 441) die Welt in ihrer Zweckmäßigkeit hervorbringenden Wesen, haben das Defizit, dass das durch sie gedachte Wesen keine moralischen Eigenschaften aufweist. An ein solches Wesen ist der Gottesbegriff „[v]erschwendet“ (KU, 05: 438), heißt es hier. Nach dem adäquaten Gottesbegriff im Ausgang von reiner praktischer Vernunft dagegen müsse Gott als ein Wesen mit Weisheit gedacht werden, wobei diese wiederum durch die moralischen Eigenschaften der Güte und der Gerechtigkeit charakterisiert ist (vgl. KU, 05: 444). Mit der erzielten Adäquatheit des Gottesbegriffs ist nun allerdings die Frage noch nicht beantwortet, warum es vernunftgemäß sein soll, ihn überhaupt zu erzeugen. Das jedenfalls behauptet Kant, dass es „wenigstens möglich“ sei, „ein moralisch-gesetzgebendes Wesen außer der Welt […] aus reinem moralischen […]

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Grunde anzunehmen“, anders gesagt: auf bloße Anpreisung einer für sich allein gesetzgebenden reinen praktischen Vernunft“ (KU, 05: 446). Nebenbei bemerkt, zeigt diese letzte Angabe, dass die reine praktische Vernunft für sich allein gesetzgebend sei, dass das als gesetzgebend gedachte außerweltliche Wesen die Autonomie der praktischen Vernunft nicht ersetzen soll, sondern dass es zusätzlich so gedacht ist, dass es den Menschen zu demselben, zu nicht mehr und nicht weniger, verpflichtet, wozu er sich kraft praktischer Vernunft schon selbst verpflichtet. Allerdings kommt durch die Gottesidee hinzu, dass „das Gemüth sich hier […] einen Gegenstand freiwillig denkt, der nicht in der Welt ist, um, womöglich, auch gegen einen solchen seine Pflicht zu beweisen“ (KU, 05: 446). Mit den Pflichten „gegen“ dieses Wesen sind, wie andernorts, etwa in der Religionsschrift, ganz deutlich wird, keine gottesdienstlichen Pflichten zu seinen Gunsten gemeint, die s Kant zufolge nicht gibt, sondern Pflichten gegenüber Menschen, allerdings vom Gedanken der Betrachtung und Bewertung durch das göttliche Wesen begleitet. Der Hauptgrund nun für die Anpreisung der Gottesidee durch praktische Vernunft liegt in einer moralischen Perfektionsidee dieser Vernunft unter konsequenzialistischer Hinsicht, d. h. unter dem Gesichtspunkt des Bedenkens der Frage, was vernünftigerweise aus der Erfüllung der Moralitätsbedingung für die ihre Pflichten erfüllenden Menschen folgen sollte, welcher Endzweck erzielt werden sollte bzw. worauf Moralität letzten Endes hinauslaufen sollte. Die Antwort lautet in Kants Terminologie: Die Realisierung des höchsten Guts sollte darauf folgen, d. i. „das Weltbeste, welches in der Verbindung des größten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an denselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmäßigsten Sittlichkeit besteht“ (KU, 05: 453). Diesem Gedanken des tatsächlichen Glücks der durch Moralität Glückswürdigen korrespondiert selbstverständlich der der Glücksverweigerung bzw. Strafe für die nicht ganz Würdigen, so dass insgesamt also der „notwendige[] Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit“ (KpV, 05: 124) gefordert ist. Diese moralische Perfektions- oder Totalitätsidee ist nun ersichtlich durch den Menschen selbst nicht realisierbar. Um der Realisierung der Verhältnisse willen, die praktische Vernunft allein für vollendet vernünftig halten kann, ist also ein so mächtiges Wesen zu denken nötig, das zu dieser Realisierung im Stande ist. Neben diesem Aspekt der Idee Gottes, wodurch er als eine Art Weltvollender und Weltrichter im Interesse praktischer Vernunft gedacht ist, sind noch zwei andere zu nennen, wobei es wieder darauf ankommt, wenigstens ansatzweise ihre Rationalität darzulegen, weil davon abhängt, ob die Gefühlswirkungen aus den entfalteten Gedanken als rational legitimiert betrachtet werden können. Die hinzukommenden Aspekte der Idee Gottes sind, ihn sich als Weltregierer und Welturheber zu denken. Der Gedanke Gottes als eines Weltregierers erscheint zunächst problematisch angesichts des doch gerade von Kant zur moralischen, rechtlichen

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und politischen Selbstbestimmung aufgerufenen Menschen. Ohne davon Abstriche machen zu müssen, lässt er sich aber rechtfertigen, wenn wiederum Verhältnisse vorauszusetzen sind, die im Interesse der Vernunft liegen, die aber über die Kräfte der Menschen hinausgehen, so dass zur Ergänzung wieder das mächtigere andere Wesen zu denken nötig ist. Das ist im Kontext der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, d. h. der Pflicht zur Verbesserung der Welt unter materialen Glücksgesichtspunkten, der Fall. Diese Pflicht ist den Menschen zwar in Maßen zu erfüllen möglich, ihre Realisierung ist aber immer bedroht von einer für den Menschen als indifferent oder widrig erfahrenen Natur. An dieser Stelle setzt der Gedanke an, dass auch diese Natur einer mächtigeren Rationalität unterstehe. Schließlich ist auch die Idee Gottes als des Welturhebers eine sich an praktische Vernunft anschließende Idee. Zur kurzen Erläuterung sei daran erinnert, dass Kant auf die Frage nach dem Endzweck des Daseins einer Welt (vgl. KU, § 84), d. i. die Frage danach, wozu überhaupt letzten Endes eine Welt da ist, antwortete: um des Menschen als eines moralischen Wesens willen. Das Dasein der Welt ist auf diese Weise so gedacht, dass sie den Schauplatz dafür bietet, damit der Mensch hier seine moralische Anlage verwirkliche. Dieser teleologische Gedanke, dass das Dasein der Welt auf die Verwirklichung von Moralität hin finalisiert ist, verträgt sich nicht damit, dieses Dasein als aus der Indifferenz blinder mechanisch wirkender Verursachung erwachsen zu denken. Er verlangt vielmehr, eine intelligible Verursachung zu denken, wofür die Idee Gottes als des Welturhebers steht. An dieser Stelle sind die Voraussetzungen für die Zuwendung zur ersten Art der religiösen Gefühle geschaffen, d. h. zu den Gefühlen, die als Gefühlswirkungen auf die Aspekte der Gottesidee reiner praktischer Vernunft zu beziehen sind. Der Form nach handelt es sich ersichtlich um ein vom Gefühl der Achtung her bekanntes analoges Verhältnis, das vielleicht kurz auf die Formel „Ideen erzeugen Gefühle“ gebracht werden kann. Im Einzelnen benennt Kant in einer einschlägigen Passage der Kritik der Urteilskraft drei Gefühle: das Gefühl des Bedürfnisses nach Dankbarkeit, das Gefühl des Bedürfnisses nach Gehorsam und das Gefühl des Bedürfnisses nach Demütigung, wobei dieses letztere sogleich gegen das naheliegende Mißverständnis übertriebener Exzentrik zu verwahren ist. Kants Erläuterung der Demütigung durch die Wendung „Unterwerfung unter verdiente Züchtigung“ (KU, 05: 446) klingt zwar immer noch etwas martialisch, lässt aber die im Sprachgebrauch moderatere Deutung zu, dass es sich dabei um das Gefühl handelt, dass moralische Verfehlung nicht folgenlos bleibe, sondern verdientermaßen sanktioniert werde. Dass dieses Gefühl als religiöses Gefühl auf den Aspekt des Richters in der Gottesidee bezogen ist, ist offenkundig und geht auch aus Kants näherer Ausführung zu diesem Gefühl hervor. Im Fall eines Menschen, der sich „wider seine Pflicht vergangen“ hat, heißt es hier, „werden die strengen Selbstverweise dennoch eine Sprache in ihm führen,

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als ob sie die Stimme eines Richters wären, dem er darüber Rechenschaft abzulegen hätte“ (KU, 05: 445 f.). Diese Ausführung hat auch einige Aussagekraft hinsichtlich des Verhältnisses von rein moralischen Ideen und Religionsideen. Nach dem Konzept reiner, religionsfreier Moral ist nur das moralische Subjekt in seinem Selbstverhältnis thematisch, wofür im Zitat die „strengen Selbstverweise“ des moralisch Fehlenden stehen. Mit der Religionsidee des äußeren Moralrichters wird dieses Selbstverhältnis externalisiert und zu einem Fremdverhältnis modifiziert. Kant bezeichnet das diese Modifikation vollziehende Gemüt als „das zu Erweiterung seiner moralischen Gesinnung geneigte Gemüth“ (KU, 05: 446). Dass diese Erweiterung den Religionsbegriff Kants ganz im Allgemeinen charakterisiert, geht aus einer Passage der Metaphysik der Sitten hervor, in der er seine zentrale Religionsdefinition erläutert. Diese Definition von Religion bzw. genauer des „Formale[n] aller Religion“ sagt, Religion sei „der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (TL, 06: 487). Die Erläuterung lautet, dass dadurch „nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selbst macht, ausgedrückt wird“ (TL, 06: 487). Den Grund dafür nennt er „nur subjectiv-logisch“ , was so vielheißt wie: ein Bedürfnis ausdrückend, allerdings ein Bedürfnis der Vernunft. Beim Namen genannt, ist das Erweiterungs- bzw. Externalisierungsbedürfnis ein Veranschaulichungsbedürfnis: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken)“ (TL, 06: 487). – Im Fall des zuletzt diskutierten Gefühls war der korrelierende thematische Gottesaspekt nicht die Gesetzgebungssondern die Richtereigenschaft. Auf den Gesetzgebungsaspekt der Gottesidee ist das Gefühl des Gehorsams bezogen. Der Mensch fühle „im Gedränge von Pflichten, denen er nur durch freiwillige Aufopferung Genüge leisten kann und will […] in sich ein Bedürfnis, hiemit zugleich etwas Befohlenes ausgerichtet und einem Oberherrn gehorcht zu haben“ (KU, 05: 445). Das dritte der genannten Gefühle, das der Dankbarkeit, ist nach Kants eigenem sonstigen Maßstab etwas problematisch eingeführt und erläutert, indem es heißt: „Wenn er [der Mensch] sich, umgeben von einer schönen Natur, in einem ruhigen, heitern Genuß seines Daseins befindet, so fühlt er in sich ein Bedürfnis, irgend jemand dafür dankbar zu sein.“ Das Problematische daran ist, dass hier kein, mindestens kein expliziter Bezug auf moralisches Bewusstsein und die durch ein solches Bewusstsein vermittelte Gottesvorstellung vorkommt. Der angesprochene Daseinsgenuß, der das Gefühl der Dankbarkeit bewirken soll, wird unmöglich ein sinnlicher sein können; er scheint auch, wie die evozierte schöne Natur nahelegt, als ästhetischer gemeint zu sein. Die ästhetische Gemütsverfassung angesichts der Schönheiten der Natur ist aber nur indirekt moralisch, insofern sich das Schöne

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Kants ästhetischer Theorie zufolge zum Symbol der Sittlichkeit eignet (vgl. KU, § 59); ein Gottesbezug ist in diesem Lehrstück aber nicht thematisch. An anderer Stelle geht Kant einen Schritt weiter, indem er sagt, die „Bewunderung der Schönheit“ habe „etwas einem religiösen Gefühl ähnliches an sich“ (KU, 05: 482 Anm.). Diese behauptete Analogie ist aber nicht ausgeführt; außerdem beinhaltet die Ähnlichkeitsthese, dass die Bewunderung der Schönheit kein religiöses Gefühl ist. Um als religiöses Gefühl gelten zu können, wird die Dankbarkeit die Bedingung erfüllen müssen, durch moralische Begriffe bzw. moralische Religionsbegriffe bewirkt zu sein. Eine Beziehung zu solchen Begriffen lässt sich auch durchaus ohne Künstlichkeit mit schon eingeführten kantischen Gedanken herstellen. An Kants Antwort auf die Frage erinnernd, was der Endzweck des Daseins einer Welt sei, nämlich dass sie da sei um des Menschen als eines moralischen Wesens willen, damit er sich in dieser Qualität beweisen und einen Wert verschaffen könne, lässt sich die Dankbarkeit als Dankbarkeit dafür verstehen, dazu die Gelegenheit zu haben. Der Dank gilt in diesem Fall dem Welturheber und ist so also auf einen Aspekt der Gottesidee moralischpraktischer Vernunft bezogen. Es sei noch angeführt, welchen möglichen Gewinn Kant dem um Religionsideen und religiöse Gefühle erweiterten Gemüt zuschreibt; es ist der, in der „Sittlichkeit mehr Stärke“ (KU, 05: 446) entwickeln zu können. Dass das, wie Kant sagt, „wenigstens möglich“, also nicht notwendig ist, ist zu betonen. Wenn das Gemüt um seiner Stärke in der Sittlichkeit willen notwendig religiös erweitert wäre, hätte das die von Kant vielfach abgelehnten Konsequenzen, dass Religion zur Bedingung der Moral würde und dass es eine Pflicht zu dieser religiösen Erweiterung bzw. zum Vernunftglauben gäbe. Dieser mögliche Glaube muss aber, so Kants Ausdruck, immer freier Glaube sein, der nicht geboten werden kann. Und Moral ist, wie der mit Recht berühmte erste Satz der Religionsschrift ausdrückt, „sich selbst genug“: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). Einer zweiten Art von Gefühlen, die für religiös gehalten werden, tritt Kant vehement, d. h. mit einem für ihn ungewöhnlichen polemischen Aufwand, entgegen. Diese hält er für vor der Vernunft nicht legitimierbar, und zwar aus einem theoretischen und einem praktischen Grund. Um den praktischen vorweg im Allgemeinen zu benennen, ist der Vorwurf der der moralischen Schwächung durch diese Gefühle. Insofern diese Schwächung, wie zu sehen sein wird, nicht bloß im Möglichkeitsmodus, sondern mindestens als eine tatsächliche, wenn nicht als eine notwendige behauptet ist, wird es in diesem Fall die Pflicht geben, solche Gefühle zu vermeiden.

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Im Streit der Fakultäten behandelt Kant in einer längeren Passage die von ihm „mystische Gefühlstheorie (SF, 07: 56)) genannte Religionslehre, die er nach zwei Richtungen eingeteilt sieht. Die Zweiheit der von ihm identifizierten Sekten hält er sogar für einen „a priori […] unausbleiblichen Sectenunterschied“ (SF, 07: 54), ohne allerdings den Grund für gerade diese und keine andere Einteilung genau anzugeben. Doch auch unabhängig von der Frage der Apriorität erkennt Kant die Zweiheit der Richtungen als auch ins einer Zeit historisch repräsentiert, nämlich durch den „Spener-Franckischen und Mährisch-Zinzendorfschen Sectenunterschied (den Pietism und Moravianism)“ (SF, 07: 55). Zum gemeinsamen Bestand der religiösen Auffassungen beider Sekten wird die Meinung gezählt, dass „der Mensch von Natur in Sünden todt sei“ und auf „keine Besserung aus eigenen Kräften hoffen“ (SF, 07: 54) kann. Schon dieser Ansatz lässt erkennen, welche Provokation für den Philosophen der autonomen praktischen Vernunft er bedeutet haben muss. Die Vertreter beider Sekten werden von ihm dann als solche dargestellt, denen „es eine Kleinigkeit ist, zu einer natürlichen Wirkung“, worunter die moralische Besserung zu verstehen wäre, „über natürliche Ursachen herbei zu rufen“, oder anders, „göttlichen unmittelbaren Einfluß“ (SF, 07: 54) zu bewirken. Was damit zur Diskussion steht, ist die Möglichkeit innerer Offenbarungen. Kant bezeichnet die Position beider Sekten auch als „Supernaturalism“ (SF, 07: 54). Nach der Erklärung, die die Religionsschrift diesem Terminus gibt, ist der „Supernaturalist in Glaubenssachen“ als ein solcher charakterisiert, der den Glauben an dieselbe [die Offenbarung] zur allgemeinen Religion für notwendig“ hält, anders als der reine Rationalist, der seinerseits vertritt, Offenbarung sei „zur Religion nicht notwendig erfordert“ (RGV, 06: 155 f.), es könne also auch eine natürliche Religion geben. Die Frage, mit der Kant die Supernaturalisten beider Richtungen beschäftigt sieht, ist die, „was […] der Mensch zu thun“ habe, „um diesen [den göttlichen Einfluss] herbei zu ziehen“ (SF, 07: 54). Der Adressat des Tuns, wonach gefragt ist, ist in beiden Fällen Gott, weshalb Kant sogleich in Frage stellt, ob man es „überhaupt für ein Thun will gelten lassen“ (SF, 07: 56), denn ihm zufolge können nur Menschen die Adressaten eines eigentlichen Tuns sein. Die Antwort beider Sekten auf die Frage ist nun, noch allgemein gesprochen: Der Mensch hat in sich einen Gefühlszustand zu erzeugen, der unter dem Gesichtspunkt der Empfänglichkeit für jene erwartete innere Offenbarung der geeignete ist. Erst in der konkreten Spezifikation dieses Gefühlszustands ist dann der Sektenunterschied begründet. Der von der Spener-Franckischen Richtung als Gnadenmittel vermeinte Zustand ist nach Kants Beschreibung der, „wo das Gefühl […] von herzzermalmender (zerknirschender) […] Art sein müsse“ (SF, 07: 55), ein Zustand der „Zerknirschung und Zermalmung des Herzens in der Buße“, des „nahe an Verzweiflung grenzenden […] Gram[s]“ (SF, 07: 55). Das von der Mährisch-Zinzendorfschen Richtung favori-

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sierte Gefühl sei dagegen „von herzzerschmelzender (in die selige Gemeinschaft mit Gott sich auflösender) Art“. Schon an diesem Ansatz ist zu erkennen, welche Provokation für den Philosophen der autonomen praktischen Vernunft er bedeutet haben muss; hier werde das „Gefühl einer übernatürlichen Gemeinschaft, und sogar das Bewußtsein eines kontinuierlichen Umganges mit einem himmlischen Geiste“ (SF, 07: 56) beansprucht. In der Beurteilung der beiderseits erhobenen Ansprüche durch theoretische Vernunft spielt der Unterschied der Gefühlsbeschaffenheiten allerdings keine Rolle, weil die Gründe der Ablehnung der Ansprüche allgemein sind und beide Richtungen gleichermaßen treffen. Für Kant ist, kurz gesagt, „eine übernatürliche Erfahrung […] ein Widerspruch“ (SF, 07: 57). Widersprüchlich ist nach seiner kritischen Erkenntnislehre jeder Anspruch, auf sinnliche Art etwas Nicht-Sinnliches erkennen zu wollen. Doch nicht nur die Grenzen der Sinnlichkeit sind dadurch nicht beachtet. Es kann, so Kant, Erfahrung „(als übernatürlich) auf keine Regel der Natur unseres Verstandes zurückgeführt, und dadurch bewährt werden“ (SF, 07: 57). Die Restriktionen insbesondere der Kausalitätsregel unseres Verstandes, der zufolge erscheinende Wirkungen immer nur auf Ursachen bezogen werden können, die ihrerseits Erscheinungen sind, sind außer Kraft gesetzt, wenn Gefühlsbeschaffenheiten als Erscheinungen des inneren Sinns etwas in Gott als übernatürlichem Wesen bewirken sollen und umgekehrt Gott Gnadenzustände im Menschen hervorbringen soll. Kant kennzeichnet solchen unkritischen Überschwang mit stark abwertenden Qualifizierungen. Er nennt es Aberglauben, von „Umständen, die keine Naturursachen […] sein können, dennoch interessante Wirkungen zu erwarten“ (Anth, 07: 275). Er nennt die „Überredung, Wirkungen der Gnade von denen der Natur […] unterscheiden, oder die letzteren gar ins ich hervorbringen zu können, […] Schwärmerei“ (RGV, 06: 174). Er bezeichnet die „Vertraulichkeit eines vermeinten verborgenen Umgangs mit Gott“ als „Anmaßung“ (RGV 06: 201). Schließlich hält er es gar für „eine Art Wahnsinn“, jene „[h]immliche[n] Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen“; jene „vermeinte[n] Offenbarungen“ seien „der Religion nachtheilige Selbsttäuschung“ (RGV, 06: 174). Eine Religion der inneren Offenbarungen muss demnach um der Vernunftreligion willen kritisiert werden, steht dazu also in keinem neutralen Verhältnis einer vielleicht für möglich gehaltenen Koexistenz. Das „Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens“ verlangte die „Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist“ (RGV, 06: 175). Die Empfänglichkeit für Anschauungen ist nach Kants eigener Erkenntnislehre auf zwei Sinne eingeschränkt, den äußeren für raumzeitliche empfindbare Gegenstände, der übrigens seinerseits kein Sinn ist, der die Göttlichkeit einer äußeren Offenbarung erfahren könnte (vgl. SF, 07: 46 f.), und den inneren Sinn, der aber auf das Selbstverhältnis bzw. das Selbstgefühl des Vorstellungssubjekts beschränkt bleibt. Es gibt darin, wie gesehen, durchaus Platz für Gefühle als

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Wirkungen aus Ideen, sogar für legitime religiöse Gefühle aus den Religionsideen reiner praktischer Vernunft. Den inneren Sinn aber „für Eingebungen“ zu beanspruchen, „von denen ein anderes Wesen […] die Ursache“ (Anth, 07: 161) sein soll, hieße, ihn zu überfordern und ihn als eine zweite Art äußeren Sinn misszuverstehen, der zwar nicht hinsichtlich eines räumlich äußeren Gegenstands empfänglich wäre, wohl aber sensibel hinsichtlich eines andersartig äußeren Gegenstandes, der zudem noch widersprüchlich als nichtsensibel gedacht wird. Den „Einfluß eines höheren Gefühls“ (VT, 08: 395) geltend zu machen, ist für Kant auch wegen des singulären, privatsubjektiven Charakters von auf bloßer Empfänglichkeit beruhenden Gefühlen fragwürdig. Solche Gefühle können nicht verallgemeinert werden, sie sind nicht wie Erkenntnisse intersubjektiv verhandelbar. Der vermeintlich auf höhere Art fühlende wird deshalb bloß dogmatisch darauf pochen müssen, ein solcher z sein. Er wird nach Kants Einschätzung bloß trotzig sagen können: „[W]er will mir mein Gefühl streiten?“ (VT, 08: 395). Er wird „im Tone eines Gebieters sprechen, der der Beschwerde überhaben ist, den Titel seines Besitzes zu beweisen (beati possidentes).“Kant ironisiert eine solche Immunisierung gegenüber rationalen Ansprüchen als „große[n] Vortheil über alle, welche sich allererst rechtfertigen müssen“ (VT, 08: 395). Für noch wichtiger als die Kritik aus dem Gesichtspunkt theoretischer Vernunft ist die Kritik an der Gefühlsreligion aus der Perspektive praktischer Vernunft zu halten. Das für sie völlig Inakzeptable ist, wie schon angedeutet, die moralische Passivität einer Einstellung, ind er es von der Empfänglichkeit für eine übernatürliche Eingebung abhängen soll, um „tüchtig“ zum „guten Lebenswandel“ (SF, 07: 55) zu werden. Wer den Menschen „von allem Selbstthun“ losspricht – die Bewerbung um die Eingebung durch Beten und dergleichen kann, wie gesehen, nicht als ein Tun gelten –, der macht ihn „gänzlich zur Maschine“ (SF, 07: 56). Das heißt, dass auf diese Weise das moralische Subjekt im Verständnis eines Subjekts der Zuschreibung und eines Subjekts, das sich durch seine Taten selbst eine moralische Qualität verschaffen kann, verlorengeht. Als ein Kommentar Kants zur MährischZinzendorfschen Sekte lässt sich eine Passage aus der dritten Kritik lesen, in der er den „Hang“ zu „zärtliche[n] Rührungen“, „die Empfindelei“, moralisch qualifiziert, nämlich als eine Einstellung, die „das Herz welk, und für die strenge Vorschrift der Pflicht unempfindlich“ (KU, 05: 273) macht. Im selben Zusammenhang wird ein anderer „Religionsvortrag“ (KU, 05: 273) bewertet, der unschwer als der SpenerFranckische zu erkennen ist. Nach Kant sind die „kriechende, niedrige Gunstbewerbung und Einschmeichelung […], die alles Vertrauen auf eigenes Vermögen zum Widerstande gegen das Böse in uns aufgibt“, die darin liegende „Selbstverachtung“ und die Einstellung, in „einer bloß leidenden Gemüthsverfassung“ die Art zu sehen, „wie man allein dem höchsten Wesen gefällig werden könne“, mit der „Erhabenheit der Gemüthsart“ (KU, 05: 273) des Menschen unverträglich. Der Selbstverachtung

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entgegen soll der Mensch vielmehr, so Kant in der Tugendlehre, „die moralische Selbstschätzung […] nicht verleugnen; er soll sich „nicht kriechend, nicht knechtisch“ um Gunst bewerben, sondern das „Bewußtsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage“ (TL, 06: 435) aufrechterhalten. Insofern diese Selbstschätzung hier ausdrücklich eine „Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ genannt ist, ist zu erkennen, dass Kant die beiden Spielarten von Gefühlsreligion nicht bloß für falsche Religionslehren, ansonsten aber für moralisch indifferent hält, sondern dass er sie auf der Seite des Lasters bzw. der moralischen Verwerflichkeit ansiedelt.

Kant über das Ende der historischen Religionen Das geschichtliche Ziel der Selbstaufklärung des Menschen auf dem Gebiet der Religion ist nach Kant die „Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, 06: 115). Dieser sich strikt innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft haltende Glaube beruht zum einen auf dem Selbstverständnis des Menschen als Vernunftwesen, das sich autonom zur Moralität verpflichtet und diese Verpflichtung auch kraft seiner selbst erfüllen kann, und zum anderen auf einer unvermeidlichen konsequenzialistischen Erwägung. Unvermeidlich ist diese Erwägung, weil es „ernunft […] unmöglich gleichgültig sein [kann], wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was […] aus […] unserm Rechthandeln herauskomme“ (RGV, 06: 5). Was dem Interesse moralischpraktischer Vernunft gemäß herauskommen soll, ist die mit Glückseligkeit vereinigte Moralität. Diese Vereinigung kann der Mensch nicht aus eigener Kraft bewirken; seine Kraft endet bei der Möglichkeit der Erfüllung der Moralbedingung oder, anders gesagt, bei der Möglichkeit, sich bloß die Würdigkeit, glücklich zu sein, zu erwerben, nicht das tatsächliche Glück selbst. Es muss demnach um der Erfüllung des Interesses moralischpraktischer Vernunft im Ganzen willen ein höheres und mächtigeres Wesen gedacht werden, als der Mensch es ist. In Kants Worten: Es „muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, 06: 8). Der Glaube an die Existenz des notwendigerweise zur Vollendung des Projekts reiner moralischpraktischer Vernunft zu denkenden Gottes ist der reine Vernunftglaube. Die auf diese Weise nur in Gedanken entwickelte Vernunftreligion ist moralisch höchst anspruchsvoll, d. h. sie ist moralische Religion, die nicht weniger fordert als die Erfüllung aller „Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere)“ (RGV, 06: 103), die auch schon allein durch reine praktische Vernunft gefordert ist. Was sie über die bloße Moral hinaus zur Religion macht, ist der hinzukommende Gedanke, von dem aber weder Geltung noch Ausübung der Moral abhängen, dass „eben dadurch“, nämlich durch die Erfüllung der Pflichten gegen Menschen, „auch göttliche Gebote“ befolgt werden bzw. dass der Mensch dadurch auch noch „im Dienste Gottes“ (RGV, 06: 103) steht und nicht nur den Erfordernissen seiner Selbstverpflichtung genügt. Einer äußeren Manifestation bedarf dieser hinzukommende Gedanke nicht, d. h. es bedarf keiner ihm korrespondierenden spezifisch religiösen Praxis, die über die rein moralische Praxis hinausginge. Unter dem Gesichtspunkt https://doi.org/10.1515/9783110788099-010

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spezifisch religiöser Erfordernisse ist Vernunftreligion also höchst anspruchslos. Sie fordert zwar nicht weniger, aber auch nicht mehr als Moral. Es ist den Menschen nach Kant sogar „schlechterdings unmöglich […], Gott auf andere Weise näher zu dienen“ als auf die Weise der Erfüllung der Pflichten gegen Menschen, „weil sie doch auf keine andern, als blos auf Weltwesen, nicht aber auf Gott wirken und Einfluß haben können“ (RGV, 06: 103). Ganz anders und gar nicht derart minimalistisch ist das Auftreten der historischen Religionen. Sie zeigen sich nicht von der Vernunftidee überzeugt, „daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert“ (RGV, 06: 103). Sie fordern gerade das nach der Vernunftidee Unmögliche, nämlich eigens Gott noch auf eine andere als rein moralische Weise zu dienen, d. h. auf eine außermoralische, spezifisch religiöse Weise. Die in diesem Sinne Religiösen bleiben hinter der Möglichkeit eines aufgeklärten Selbstverständnisses zurück, das im Bewusstsein autonomer Selbstverpflichtung zur Moralität gegenüber Menschen bestünde: „Sie können sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie Gott zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den innern moralischen Werth der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, daß sie Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch an sich selbst sein möchten, doch wenigstens durch passiven Gehorsam Gott zu gefallen“ (RGV, 06: 103). Wo Pflicht „als Betreibung einer Angelegenheit Gottes, nicht des Menschen“ betrachtet wird, da „entspringt der Begriff einer gottesdienstlichen statt des Begriffs einer reinen moralischen Religion“ (RGV, 06: 103). Rein gottesdienstliche Handlungen, wobei an erster Stelle an Handlungen des Kultus zu denken ist, haben nach Kant „für sich keinen moralischen Werth“ und sind „mithin nur durch Furcht oder Hoffnung abgenöthigte Handlungen […], die auch ein böser Mensch ausüben kann“ (RGV, 06: 115). Wo keine innere moralische Motivation unterstellt werden kann, muss die zweite Art eines Beweggrundes unterstellt werden, die Selbstliebe. Wo Pflicht nicht als innere Angelegenheit des Menschen betrieben, sondern als heteronom durch Gott statuiert aufgefasst wird, da ist die dadurch gestellte Anforderung im Grunde unverständlich; solche befohlene Pflicht dennoch zu befolgen, kann dann nur noch bedeuten, sich um Gunst und Belohnung zu bewerben und Ungunst und Bestrafung zu vermeiden. Zusammengefasst lauten die bisherigen Einwände gegen den gottesdienstlichen Zug historischer Religionen: Es zeigen sich an ihm moralische Heteronomie (als Theonomie), moralische Indifferenz und Passivität, ja Selbstliebe und Verträglichkeit mit dem moralisch Bösen. Schon allein diese Kritik lässt erkennen, dass es bei konsequenter Denkart kein Koexistenz- oder Ergänzungsverhältnis zwischen historischen Religionen und Vernunftreligion wird geben können, sondern dass das Aufklärungsideal eben die „Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV, 06: 115) wird sein müssen.

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Aus der Perspektive des kantischen Kritizismus beinhalten die historischen Religionen noch mehrere andere Zumutungen, sowohl unter dem Aspekt der kritischen Erkenntnislehre als auch unter dem (wichtigeren) Aspekt reiner praktischer Vernunft. Erkenntnistheoretisch nicht nachzuvollziehen ist schon das Wunder des Ursprungs dieser Religionen, d. h. ihre Beanspruchung einer in der Zeit und im Raum situierten faktischen Selbstmitteilung Gottes, kurz ihre Beanspruchung von „Offenbarung als Erfahrung“ (RGV, 06: 115). Kants Begründung des Zweifels daran ergibt sich aus der konsequenten Beachtung der Restriktionen der menschlichen Erkenntnis, die die erste Kritik formulierte. Im Streit der Fakultäten heißt es dementsprechend: „Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle“ (SF, 07: 63). Doch auch bei probehalber unterstellter Offenbarung hätte die Erfahrung eines solchen geschichtlichen Ereignisses für den Menschen bloß den Status eines in keiner Weise antizipierbaren synthetischen Urteils a posteriori, woraus folgte, dass mit dem historischen Glauben „das Bewußtsein seiner Zufälligkeit“ verbunden sein müsste, „nicht das Bewußtsein, daß der geglaubte Gegenstand so und nicht anders sein müsse“ (RGV, 06: 115). Weitere Folgen aus dem zufälligen und aposteriorischen Charakter der unterstellten ursprünglichen Erfahrung müssten sein, dass sie „nur particuläre Gültigkeit“ haben könnte, „für die nämlich, an welche die Geschichte gelangt ist“, und dass es davon „mehrere geben“ (RGV, 06: 115) kann. Wenn der erkenntnistheoretische Status einer beanspruchten Erkenntnis der eines empirischen Urteils ist, ist auch schon ganz unabhängig von etwaigen spezifisch inhaltlichen Inkonsistenzen unter mehreren beanspruchten Offenbarungserfahrungen die Möglichkeit des Bestreitens eröffnet, nämlich allein aufgrund des Fehlens eines Kriteriums für empirische Wahrheit (vgl. LOG, 09: 50 f.). Erst recht in den Fällen, in denen die beanspruchten Erfahrungen göttlicher Mitteilungen oder Handlungsanweisungen divergieren oder einander sogar widersprechen, wird ein Streit resultieren. Schon im Fall einer bloßen Divergenz herrschte Uneinigkeit darüber, was nun von Gott verlangt und was nicht von ihm verlangt ist; im Fall der Widersprüchlichkeit müssten die Anhänger der einen Offenbarungsgeschichte denen der anderen die Authentizität ihrer ursprünglichen Erfahrung schlechthin absprechen. Dabei wird die Auseinandersetzung über diese Fragen kaum mit der gelassen distanzierten Haltung geführt werden können, mit der über sonstige divergierende empirische Urteile, etwa in den Wissenschaften, verhandelt wird, denn überall wird als Quelle der Erfahrungen kein geringerer als Gott beansprucht, dessen Verlautbarungen nicht als bloßes Material für Deliberationen unter Menschen betrachtet werden können, sondern die, wenn ihr göttlicher Charakter gewahrt bleiben soll, nur mit einem absoluten Geltungsanspruch auftreten können. All dies kann zur

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Begründung der Überzeugung Kants dienen, dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (RGV, 06: 115), und schließlich zur Begründung der Forderung, dass die historischen Religionen um des Friedens willen besser nicht existierten. In kantischer Ausdrucksweise lautet diese Forderung, dass Religion „von allen empirischen Bestimmungsgründen […] losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion […] über alle herrsche“ (RGV, 06: 121).Von der letzteren wird, wie gesehen, menschliche Praxis nur unter genau die Anforderungen gestellt, unter die sie auch schon durch reine praktische Vernunft gestellt ist. Zu den Hindernissen der Alleinherrschaft des rein rationalen Religionsglaubens gehören insbesondere die statutarischen Gesetze der historischen Religionen. Und zwar ist es, auch ganz unangesehen des Konfliktpotentials, das diese Gesetze aufgrund ihrer inhaltlichen Ausprägungen mit sich bringen, die Gesetzesart als solche, die einem aufgeklärten Religionsverständnis entgegensteht. Religiöse statutarische Gesetze sind Gesetze, denen ein göttlicher Ursprung zugesprochen wird und die „nicht aus der Vernunft entspringen können“ (SF, 07: 36); es sind also solche, die, ohne dass die Menschen eine rationale Begründung erkennen könnten, „aus der Willkür eines andern ausfließen“ (SF, 07: 36). Als aus Vernunft nicht deduzierbare Gesetze beinhalten sie außermoralische Handlungsanweisungen, im günstigen Fall moralindifferente, etwa das Gebiet einer religiösen Diätetik betreffende, möglicherweise aber auch amoralische, z. B. solche, die Menschenopfer verlangen. Ihnen gemäß zu handeln, erfordert eine nicht über Einsichten vermittelte Anerkennung göttlicher Autorität und Befehlsgewalt, setzt in den Adressaten also blinden Gehorsam und die Mentalität von Befehlsempfängern voraus. Anders als im analogen Fall statutarischer Rechtsgesetze, anders also als im Fall des positiven Rechts, das auch nicht aus Prinzipien, hier der reinen Rechtsvernunft, zu deduzieren ist, sondern auf fehlbarer menschlicher Setzung beruht, sind religiöse statutarische Gesetze aufgrund des ihnen zugestandenen göttlichen Ursprungs nicht unter Menschen verhandelbar und also keinen Modifikationen zugänglich. – Sie entziehen sich so der Unterordnung unter das Aufklärungsideal des Selbstdenkens, das sich bei Kant etwa in dieser Formulierung findet: „Das Thun muß als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend und nicht als Wirkung vom Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursache, in Ansehung deren der Mensch sich leidend verhielte, vorgestellt werden“ (SF, 07: 42 f.). Vernunftreligion genügt diesem der moralischen Passivität widersprechenden Ideal, denn ihre Gesetze sind nur die rein moralischen, die jederzeit verständlich sind, weil sie im Selbstverhältnis reiner praktischer Vernunft als Selbstverpflichtungen gesetzt sind und erst hinzukommend auch als göttliche Gesetze betrachtet werden. Angesichts des bisherigen Befundes einer strikten gedanklichen Entgegensetzung von historischen Religionen und Vernunftreligion, angesichts der eindeutigen

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Wertung zugunsten der Vernunftreligion und angesichts des klar bestimmten Ziels der Auflösung der historischen Religionen, dass also Religion „endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten […] losgemacht werde“ (RGV, 06: 121), mag verwundern, dass Kant den Prozess zur Erreichung dieses Ziels nicht bloß im Blick auf die faktischen geschichtlichen Verhältnisse als einen allmählichen (vgl. RGV, 06: 115 u. 121) und kontinuierlichen (vgl. RGV, 06: 115) voraussagt, sondern dass er die Langsamkeit des Prozesses auch für angemessen, zweckdienlich und für im Wesen der Sache liegend hält. Wie in seinen politischen Schriften propagiert er die Reform und nicht die Revolution als das probate Mittel eines sich unter dem Vorzeichen der Aufklärung vollziehenden Wandels. Trotz des ins Auge gefassten radikalen Ziels einer Religionsveränderung, die das Ende der historischen Religionen bedeutete, schreibt er eben diesen Religionen doch zu, im Verlauf des sie überwindenden Prozesses als „Leitband“ (RGV, 06: 121) oder als „Vehikel für den reinen Religionsglauben“ (RGV, 06: 118) noch dienen zu können. Die Vorstellung eines derartigen Übergangs ist ersichtlich problembehaftet, denn wie sollte ein kontinuierliches Übergehen von einem Zustand in einen anderen möglich sein, wenn beide durch strikt entgegengesetzte Merkmale charakterisiert werden müssen. Da zwischen Gliedern einer Kontradiktion ein solcher Übergang ausgeschlossen ist und moralische Passivität etwa kein Leitmittel hin zu moralischer Selbsttätigkeit wird sein können, muss angenommen werden, dass das Selbstverständnis der historischen Religionen im Reformprozess selbst schon ein modifiziertes sein muss.¹ − Von den hier aufgeworfenen Fragen soll zunächst die verfolgt werden, warum wohl der Prozess Reform und keine Revolution verlangt. 1 Die in der Literatur zu Kants Religionsphilosophie am weitesten verbreitete Position zum Verhältnis zwischen den historischen Religionen − in Kants Sprachgebrauch: den Arten eines statutarischen Kirchenglaubens – und der Vernunftreligion ist die, dass es sich bei diesen Religionen zwar um unvollkommene Gestalten von Religiosität handele, dass sie aber doch per se und unter Wahrung ihres statutarischen Charakters Approximationen verschiedenen Grades an die Vernunftreligion darstellen könnten; dass sie also als diese Religionen selbst sich zum Leitmittel auf dem Weg zur Vernunftreligion eigneten und demnach in keinem Verhältnis der Entgegensetzung zu ihr stünden. Ein Hauptvertreter dieser Interpretationsrichtung ist Allen W. Wood (Kant’s Moral Religion. Ithaca, London 1970, vgl. bes. 193–196). Da es zwischen dem A und dem Non-A eines Widerspruchs keine graduellen Annäherungen geben kann, ist dem zunächst einmal eine Diagnose Reiner Wimmers (Kants kritische Religionsphilosophie. Berlin, New York. 1990, 204 f.) entgegenzuhalten, obwohl auch durch sie nicht das letzte Wort gesprochen ist: „[…] Kant bezieht die Mittel- oder Träger- bzw. Vehikelfunktion nicht nur auf die oft im Gewande historischer Offenbarungslehren erscheinenden Wahrheitsmomente im Glauben der Kirchen und Religionen, sondern auf ihren statutarischen Gehalt, der gerade das Widervernünftige und Abzuschaffende in ihnen darstellt. In dem Zwiespalt, Statutarisches einerseits als Mittel oder Träger zur Beförderung und Ausbreitung des wahren Glaubens, andererseits als das mit ihm Unvereinbare und aus ihm zu Verbannende anzusehen, gerät Kant in Widersprüche, die seine Darlegungen stellenweise erheblich belasten.“ −

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Eine negative Eigenschaft, die Kant Revolutionen zuschreibt, ist die, „stürmisch“ (RGV, 06: 122) zu sein. Sie aus diesem Grund als Mittel für die projektierte Veränderung des Religionszustandes auszuschließen, bedeutet die Ablehnung von Leidenschaftlichkeit und Emotionalität in einem Prozess, der von irrationalen Erscheinungsformen von Religiosität gerade wegführen soll. Wenn das Mittel dem Zweck nicht widersprechen soll, der eben der Zweck einer Vernunftreligion ist, bedarf es der gereiften Urteilskraft und nicht der Leidenschaft. Mit Interesselosigkeit ist das allerdings nicht zu verwechseln, denn Zwecke aus reiner praktischer Vernunft führen nach Kant im Gegenteil das höchste Interesse mit sich, aber eben ein intellektuelles und kein emotionales. In der Konsequenz der Leidenschaftlichkeit sind Revolutionen, so Kants zweite negative Bewertung, auch „gewaltsam“ (RGV, 06: 122). Gewalt aber ist erst recht als Mittel auszuschließen, wenn der angestrebte Zustand ein Friedenszustand sein soll. Die Anwendung von Gewalt diskreditierte den Friedenszweck der Vernunftreligion und setzte diese auf die Stufe der partikularen streitenden historischen Religionen. Durch Gewalt läßt sich auch nur äußeres Verhalten beeinflussen. Durch Revolutionen können demnach nicht „der Freiheit unbeschadet“ (RGV, 06: 122) Verhältnisse umgestaltet werden, deren Umgestaltung von der inneren Veränderung der Denkart durch selbsteigenen Vernunftgebrauch abhängt. Das Mittel zur Beförderung der Vernunftreligion kann schließlich nur das einer fortschreitenden Aufklärung sein, durch die ein Angebot formuliert ist, das von den Adressaten ergriffen und durch freie Zustimmung zur eigenen Überzeugung werden muss. Nach Kants Einschätzung liegt zwar der Abschluss des Übergangs des historischen „Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion […] noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (RGV, 06: 122). Indem der Ort der Verwirklichung aber „auf Erden“ sein soll und indem es „mit der Zeit vermöge der überhand genommenen wahren Aufklärung“ (RGV, 06: 123) zur Vertauschung des Kirchenglaubens mit der rein moralischen Vernunftreligion soll kommen können, kann jene unendliche Weite bloß im Sinne der Unabsehbarkeit der Verwirklichung in der Zeit verstanden

Im Folgenden wird der Vorschlag einer Deutung entwickelt werden, die es erlaubt, die von Wimmer diagnostizierten Widersprüche, die in der Tat durch manche Textstellen nahegelegt sind, zu vermeiden. Der Vorschlag wird sich auf kantische Grundsätze und Lehrstücke stützen und insofern also immanent sein; er wird ein verändertes Verständnis jener statutarischen Gehalte der historischen Religionen beinhalten, das sie aus dem Widerspruch zur Vernunftreligion löst und ihre potentielle Vehikelfunktion in der Zeit des Übergangs einsichtig werden lässt. Dem Selbstverständnis der historischen Religionen wird das vorgeschlagene veränderte Verständnis ihrer statutarischen Gehalte allerdings nicht entsprechen, so dass also nicht zur Position Woods zurückgekehrt werden kann, wonach die historischen Religionen so, wie sie sind, als Approximationen an die Vernunftreligion sollen gelten können.

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werden. Unendlichkeit bedeutet hier also nicht wie im Fall einer bloß regulativen Idee, dass in der Zeit bloß ein Annähern, aber kein Erreichen möglich ist. Den Entmutigungen, die im Befund der Unmöglichkeit sofortiger revolutionärer Veränderung und im Hinweis auf eine sehr lange Zeit der Reform gesehen werden mögen, stellt Kant auch eine Ermutigung entgegen. Sie entspringt der Überzeugung, dass, „wenn auch nur das Princip des allmähligen Überganges des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion […] irgendwo auch öffentlich Wurzel gefaßt hat“ (RGV, 06: 122), die Entwicklung eine unumkehrbare, wenn auch eine erst noch durch Menschen auszuführende, sein werde. Man könne dann schon „mit Grunde sagen: ‚daß das Reich Gottes zu uns gekommen sei’“ (RGV, 06: 122), wie Kant es im Vokabular tradierter Religion ausdrückt, das aber hier nichtsdestoweniger jenen reduktionistischen vernunftreligiösen Zustand bezeichnet, in dem nur die moralischen Gesetze reiner praktischer Vernunft gelten, die zugleich als göttliche Gesetze betrachtet werden. Kants Zuversicht ist also: Wenn die Aufklärungsidee der Alleinherrschaft der rein moralischen Vernunftreligion einmal „irgendwo“ die Schwelle zur Öffentlichkeit überwunden hat, wird sie nicht mehr daraus verschwinden und sich auf lange Sicht verbreiten und durchsetzen. Diese Zuversicht in die Wirkmächtigkeit reiner praktischer Vernunft im Punkt der Verwirklichung der Vernunftreligion artikuliert er näherhin wie folgt: „Das Wahre und Gute aber, wozu in der Naturanlage jedes Menschen der Grund sowohl der Einsicht als des Herzensantheils liegt, ermangelt nicht, wenn es einmal öffentlich geworden, vermöge der natürlichen Affinität, in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen überhaupt steht, sich durchgängig mitzutheilen. Die Hemmungen durch politisch bürgerliche Ursachen, die seiner Ausbreitung von Zeit zu Zeit zustoßen mögen, dienen eher dazu, die Vereinigung der Gemüther zum Guten (was, nachdem sie es einmal ins Auge gefaßt haben, ihre Gedanken nie verläßt) noch desto inniglicher zu machen“ (RGV, 06: 122). In der Zeit des Übergangs ist es nun Kant zufolge nicht nötig, dass man dem historischen Kirchenglauben „den Dienst aufsagt“ oder „ihn befehdet“, ja es könne „sein nützlicher Einfluß als eines Vehikels erhalten“ (RGV, 06: 123) bleiben. Dieses Zugeständnis ist problembehaftet. Denn etwas muss sich doch auch schon im Übergang in der Einstellung zur historischen Glaubensart ändern, auch wenn sie noch praktiziert und nicht bekämpft wird, weil ansonsten nicht ersichtlich wird, wie der geschichtliche Prozess zu ihrer Ersetzung vorankommen sollte. Kants Angabe dazu, was sich ändern muss, lautet: Dem historischen Kirchenglauben muss „als einem Wahne von gottesdienstlicher Pflicht aller Einfluß auf den Begriff der eigentlichen (nämlich moralischen) Religion abgenommen werden“ (RGV, 06: 123). Hinreichend ist diese Angabe allerdings nicht, denn sie beinhaltet bloß die um der Integrität der Vernunftreligion willen erhobene defensive Forderung nach einer strikten Trennung von zwei Arten von Praxis, der rein moralischen, nicht spezifisch

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gottesdienstlichen Praxis der Vernunftreligion einerseits und der eben gerade gottesdienstlichen und damit wahnhaften Praxis des historischen Kirchenglaubens andererseits. Aus der Erfüllung allein dieser Forderung resultierte ein Parallelismus zweier nicht bloß verschiedener, sondern widersprüchlicher Arten von Praxis, von dem her nicht einsichtig werden kann, wie es zur Alleinherrschaft der Vernunftreligion sollte kommen können. Zumal der dem Kirchenglauben doch zugesprochene nützliche Einfluss kann so nicht erklärt werden. Wenn es wirklich zur von Kant doch propagierten Ersetzung des Kirchenglaubens der historischen Religionen durch den rein moralischen Vernunftglauben kommen soll, zu mehr also als jenem Parallelismus irrationaler und rationaler Religiosität, dann werden schon in der Phase des Übergangs Modifikationen auf Seiten des Kirchenglaubens unvermeidlich sein, die sich nicht ohne Konfrontation ergeben werden. Die Ablehnung der Befehdung des Kirchenglaubens wird dann nur bedeuten können, dass keine − in Angelegenheiten innerer Überzeugung untauglichen − Zwangsmittel eingesetzt werden dürfen. Sie wird um der Erreichung des projektierten Zieles willen keine Schonung auf dem Gebiet der gedanklichen Auseinandersetzung bedeuten können, so dass also die vom „Wahne von gottesdienstlicher Pflicht“ Befallenen mit der religiösen Aufklärung doch öffentlich konfrontiert werden müssen, mit dem Gedanken also, dass es die von ihnen vermeinte Pflicht in ihren mannigfaltigen und zudem konkurrierenden Ausprägungen nicht gibt, sondern dass Pflicht immer nur Pflicht gegenüber Menschen ist (deren Erfüllung man dann zusätzlich als Gott wohlgefällig annehmen kann). Mit der als unerlässlich betonten gedanklichen Konfrontation ist dem heute vorherrschenden Toleranzbegriff zu widersprechen, dem gemäß jede als religiös deklarierte Erscheinung schon deshalb als legitimiert betrachtet wird, weil sie sich faktisch so deklariert. Dem kantischen Denken entspricht solche Legitimation durch Faktizität nicht, sondern der quid-facti-Frage folgt darin immer die kritische quid-iuris-Frage. Der besagten Toleranz entgegen, durch die sich eher Indifferentismus und Relativismus ausdrücken, ist religiöse Aufklärung im kantischen Sinne gedanklich offensiv, indem sie explizite Legitimationen verlangt. Wo diese nicht geleistet werden können, fordert sie, die irrationalen Gestalten der Religiosität aufzugeben. Sie fordert es allerdings, indem sie die Adressaten zur freien Zustimmung aufruft, d. h. ohne ihrerseits Zwangsmittel auch nur zu erwägen. Wie soll nun angesichts des Ziels der Auflösung in der Zeit des Übergangs dem historischen Kirchenglauben sein ihm von Kant doch zugesprochener „nützlicher Einfluß als eines Vehikels erhalten“ (RGV, 06: 123) bleiben können? Ohne ein modifiziertes Selbstverständnis der historischen Religionen wäre die Unmöglichkeit verlangt, die fortgesetzte Praxis des Wahns gottesdienstlicher Pflicht als nützlich für die Befreiung von diesem Wahn zu betrachten. Der nützliche Einfluss historischer Religion als eines Vehikels wäre nicht verständlich zu machen, wenn ihre

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außerrationalen Statute und ihre daraus entspringende Praxis in unveränderter Geltung stünden. Denn das Verhältnis zwischen einer historischen Glaubensart einerseits, die etwas für moralisch geboten hält, was nicht moralisch geboten ist, und dem Vernunftglauben andererseits, der es als Wahn erkannt hat, „Gott auf andere Weise […] dienen“ zu wollen, als durch Erfüllung der „Pflichten gegen Menschen“ (RGV, 06: 103), ist ein Verhältnis des Widerspruchs. Nach der folgenden Aussage Kants ist ganz ausgeschlossen, dem historischen Kirchenglauben ohne Modifikation eine unterstützende Rolle als Leitmittel zur Vernunftreligion zuzuschreiben: „[A]lles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn“ (RGV, 06: 170). Es gibt leider fast keine Angaben Kants dazu, auf welche Weise modifiziert der historische Glaube auftreten könnte, um als Leitmittel zur Vernunftreligion noch dienen zu können. An einer Stelle allerdings spricht er auf recht kryptische Art, die sich aber als deutungsfähig erweisen wird, die verlangte Modifikation so an, dass in den historischen Glauben, als „Leitmittel“ verstanden, das „Bewußtsein“ eingehen müsse, „daß er bloß ein solches sei“ (RGV, 06: 115). Ein solches Bewusstsein, bloß Mittel zu einem entfernteren Zweck zu sein, erfordert offensichtlich eine Distanzierung vom vormaligen Selbstverständnis, Zweck an sich selbst zu sein. Es erfordert, in der Sprache der Pflichten gesprochen, eine derartige Distanzierung von den statutarischen Pflichten, dass diese nicht mehr als absolute gelten können, sondern nur noch als solche, die auf die echten Pflichten, die moralischen, hin finalisiert sein können. Wenn das Bewusstsein dieser Finalisierung vorliegt, ist es nicht nötig, dass man der gottesdienstlichen Praxis der historischen Religionen „den Dienst aufsagt“ (RGV, 06: 123); der äußeren Handlung nach kann sie bleiben. Erfordert ist allerdings eine veränderte innere Einstellung, in der diese Praxis gedanklich umorientiert ist, nämlich weg von Gott als unmittelbarem Adressaten und hin auf die gegenüber Menschen zu erfüllenden Pflichten. Gleichwohl wird dieses veränderte Bewusstsein auch beinhalten, dass diese Praxis nicht schon als solche die Erfüllung einer Pflicht gegenüber Menschen darstellt, sondern dass sie sich nur eben − auf eine noch zu erläuternde Weise – auf Moralität hin finalisieren lässt. Insofern durch sie als solche weder eine Pflicht gegenüber Gott erfüllt wird noch eine Pflicht gegenüber Menschen, fehlen ihr insgesamt der Charakter einer Praxis der Pflichterfüllung und der damit verbundene Ernst. Es soll hier vorgeschlagen werden, sie als ästhetisch spielerische Praxis zu verstehen, doch ohne sie dadurch zu banalisieren. Gottesdienst in diesem Verständnis, ob im engeren Sinn als rituelle Handlung oder im weiteren Sinn als Befolgung spezieller statutarischer, also moralindifferenter Anweisungen zur Lebensführung, ist nach diesem Vorschlag Quasi-Gottesdienst bzw. Gottesdienstspiel.

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Unter der Voraussetzung eines derart veränderten Verständnisses der religiösen Praxis der historischen Religionen kann die Frage beantwortet werden, worin ihr nützlicher Einfluss als Vehikel auf dem Weg zur Alleinherrschaft der Vernunftreligion bestehen mag. Nach den Maßstäben dieser rein moralischen Religion ist es nämlich als Fortschritt zu werten, wenn eine ästhetisch zu deutende Praxis an die Stelle der Illusion tritt, sich durch eigens an Gott adressierte, also menschenabgewandte Handlungen sein Wohlgefallen zu erwerben, d. h. sich durch die Erfüllung eingebildeter Pflichten, die die der Moral übertreffen sollen, einen besonderen Wert zu verschaffen. Die Abkehr von solch falscher Selbstüberhöhung bedeutet zugleich keine Selbsterniedrigung auf die Stufe eines sinnlichen Bedürfniswesens, denn ästhetische Praxis zielt als interesselos leerlaufende Praxis ohne Zweck nicht auf die Befriedigung von Bedürfnissen und ist insofern selbst eine Gestalt höherer Praxis. Ästhetische Praxis erfüllt im Punkt der Freiheit von Bedürfnis und Neigung eine durch Moral und also auch durch Vernunftreligion statuierte Bedingung. Damit sind deren Bedingungen noch nicht hinreichend erfüllt, denn zur Befreiung von der Neigung müsste noch die moralische Willensbestimmung hinzukommen. Insofern diese in der ästhetischen Praxis nicht hinzukommt, ist diese Praxis als solche moralindifferent. Doch obwohl sie keine moralische Praxis ist, erfüllt sie doch immerhin eine notwendige Bedingung dieser Praxis. Sie kann so trotz ihrer Moralindifferenz als auf Moral hin finalisiert bewertet werden. Das erzielte Ergebnis lässt sich durch Kants Lehrstück von der Schönheit als dem Symbol der Sittlichkeit untermauern. Der schöne Gegenstand, der im gegebenen Kontext durch die Kunsthandlungen eines religiösen Ritus oder durch Handlungen aufgrund statutarischer religiöser Lebensregeln exemplifiziert werden kann, dient, wenn er als Symbol verstanden wird, zum sichtbaren Analogon für Moralität, d. h. für moralische Handlungen, deren eigentümlich moralischer Charakter der Sichtbarkeit entbehrt. Wie bei allem Symbolisieren wird hier „einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann“, dem Begriff des Moralischguten, „eine solche untergelegt“ (KU, 05: 351). Man bedient sich dabei also „empirischer Anschauungen“, um „vermittelst einer Analogie“ eine „indirecte Darstellung[] des Begriffs“ (KU, 05: 352) zu geben. Die beiden Vergleichsstücke der Analogie kommen „nicht dem Inhalte nach“ (KU, 05: 351) überein, was für das hier erwogene Beispiel religiöser Handlungen bedeutet, dass diese, obwohl als Analoga für das Moralischgute verwandt, keine moralischguten Handlungen sind. Es ist aber gleichwohl nicht beliebig, sie als empirische Anschauungen zum Symbol der Sittlichkeit zu machen; sie müssen sich unter gewissen Aspekten zum Analogisieren eignen, was bedeutet, dass sie sich unter diesen Aspekten unter die gleiche „Regel der Reflexion“ (KU, 05: 352) bringen lassen, die auch auf das Vergleichsstück, das Moralischgute, anzuwenden ist.

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Über religiöse Praxis im modifizierten Verständnis als ästhetisch-religiöse Praxis lässt sich so reflektieren, dass sich durch diese „eine[] gewisse[] Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit […] durch Sinneneindrücke“ (KU, 05: 353) ausdrückt. Solche „Veredlung und Erhebung“ ist auch für das moralische Handeln, worin der wahre Gottesdienst der Vernunftreligion besteht, vorauszusetzen. Dabei ist diese Erhebung keine naturwüchsig faktische, die sich etwa von selbst aus der zuvor grob bedürfnisorientierten Sinnlichkeit als deren graduelle Verfeinerung einstellt, wobei dem Subjekt als einem passiven diese Verfeinerung widerführe, es also „einer Heteronomie der Erfahrungsgesetze unterworfen“ (RGV, 05: 353) wäre. Sie ist im Gegenteil Selbsterhebung, d. h. eine solche, die ihren Ursprung in der kontrafaktischen Spontaneität des Subjekts hat, das sich selbst die Möglichkeit zur ästhetischen Einstellung eröffnet, ob in einer ästhetischen Praxis oder in der ästhetischen Beurteilung. „Urtheilskraft […] giebt in Ansehung der Gegenstände eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz“ (KU, 05: 353). Kant fügt an dieser Stelle hinzu, die zur Bildung der Analogie von Sittlichgutem und Ästhetischem geeignete Gleichartigkeit betonend: „so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermögens thut“ (KU, 05: 353). Es mag an dieser Stelle bemerkt sein, dass sich nicht alle Arten religiöser Praxis zu einer ästhetisch modifizierten Deutung eignen werden. Solche etwa werden ausgeschlossen sein, die ein Gottesverständnis ausdrücken, wodurch Gott als Adressat für Bitten und Wünsche betrachtet ist, die die physische Subsistenz oder die Erfüllung von Glücksintentionen betreffen. Ein Beispiel Kants für diese Klasse religiöser Phänomene ist das Gebet um Brot (vgl. RGV, 06: 195). Die Distanzierung vom sinnlichen Bedürfnis sowohl des ästhetisch als auch des moralisch urteilenden und agierenden Subjekts impliziert einen weiteren Aspekt der Gleichartigkeit, nämlich die Erhebung beider vom Individual- zum Allgemeinsubjekt. „Das subjective Princip der Beurtheilung des Schönen wird als allgemein, d. i. für jedermann gültig, aber durch keinen allgemeinen Begriff kenntlich vorgestellt (das objective Princip der Moralität wird auch für allgemein, d. i. für alle Subjecte, zugleich auch für alle Handlungen desselben Subjects, und dabei durch einen allgemeinen Begriff kenntlich erklärt)“ (KU, 05: 354). Trotz des auch zu bemerkenden Unterschieds − Allgemeinheit ohne Begriff im ästhetischen Fall und Allgemeinheit mittels Begriff im moralischen Fall − bleibt als Gemeinsamkeit und als Gewinn in beiden Fällen die Erhebung auf die Stufe eines allgemeinen Selbstverständnisses bzw. die Erhebung auf die Stufe einer Vergemeinschaftung mit allen Subjekten. In beiden Fällen lässt die „Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke […] anderer Werth auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urtheilskraft“ (KU, 05: 353) schätzen. Schon die ästhetische Vergemeinschaftung ist demnach, insofern nämlich die Beteiligten einander als in ihrem Wert gesteigert erscheinen (anders etwa als die an einer öko-

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nomischen Zweckgemeinschaft zur Bedürfnisbefriedigung Beteiligten), eine Vergemeinschaftung im emphatischen Sinn. In seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schlussfolgert Kant nach der Feststellung, dass die ästhetisch allgemeine Gesetzgebung „aus der Vernunft entspringen muß“ und sie so „der Form nach unter dem Princip der Pflicht“ steht: „Also hat der ideale Geschmack eine Tendenz zur äußeren Beförderung der Moralität“ (Anth, 07: 244). Es kann in diesem Zusammenhang bloß noch erwähnt, aber nicht mehr entwickelt werden, dass Vernunftreligion den Zweck der Vergemeinschaftung zum ethischen Gemeinwesen impliziert. Angesichts der herausgestellten Analogie von Ästhetik und Moral unter dem Aspekt der Vergemeinschaftung lässt sich mit Bezug auf eine religiöse Praxis, die im modifizierten Selbstverständnis steht, ästhetischreligiöse Praxis zu sein, verständlich machen, dass sie im Sinne des Zwecks der Vernunftreligion zur universellen Vergemeinschaftung beitragen und also als Leitmittel auf dem Weg zur Vernunftreligion dienen kann (allerdings auch nur als Leitmittel, denn ästhetische Vergemeinschaftung als solche ist noch nicht die moralische des ethischen Gemeinwesens). Insgesamt wird durch die Aspekte der Gleichartigkeit in der entwickelten Analogie nachvollziehbar, wie eine dem Phänomen nach weitgehend unveränderte religiöse gottesdienstliche Praxis zum Vehikel der Beförderung der Vernunftreligion werden kann; indem sie nämlich als Symbol der moralischen, also der durch Vernunftreligion allein geforderten Praxis, gedeutet wird. Dazu ist allerdings das vormalige Selbstverständnis historischer Religionen abzulegen, wonach ihre Praxis buchstäblicher Gottesdienst sein und als solche einen moralischen Wert haben sollte. Durch die ästhetische Umdeutung der religiösen Praxis, die auf moralisch indifferenten statutarischen Gesetzen beruht, wird das Konfliktpotential entschärft, das diese außerrational willkürlichen Gesetze beinhalten. Mit dem Konflikt buchstäblich genommener statutarischer Gesetze konfrontiert, ist reine praktische Vernunft machtlos, auch wenn sie ansonsten als Auslegerin des Gesetzesbestandes der historischen Religionen einen übereinstimmenden Kernbestand nichtstatutarischer, rein moralischer Vorschriften entdecken mag. Wenn also etwa in Bezug auf erlaubte und unerlaubte Speisen konkurrierende Vorschriften gelten, wenn diese von den Anhängern der historischen Religionen jeweils als unwidersprechlich gottgewollt verstanden und auf verschiedene (wechselseitig bestrittene) Offenbarungen zurückbezogen werden und wenn schließlich die Grenze zwischen den Gläubigen und Ungläubigen durch den Maßstab der Befolgung bzw. Missachtung der Gebote dieser Art festgesetzt wird, dann ist eine Entscheidung nach Grundsätzen der Vernunft, d. h. eine aus dem Gesichtspunkt der Moral versuchte vereinheitlichende Auslegung und also die Verträglichkeit der Anhänger der historischen Glaubensarten aussichtslos.

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Gegen diese Unverträglichkeit bietet sich die Umdeutung der zuvor unreflektiert statutarischen zur ästhetisch-religiösen Praxis als friedensstiftendes Mittel an. Durch sie wird den Anhängern der historischen Religionen die Fortsetzung ihrer jeweiligen Praxis nicht in Frage gestellt. Verlangt ist allerdings ein derart verändertes Selbstverständnis, dass der Vollzug dieser Praxis nichts unbedingt Gebotenes ist. Verlangt ist jene den Vollzug begleitende Distanzierung von dieser Praxis, die darin besteht, sie als spielerisch zu betrachten. In der ästhetischen Betrachtung erscheinen die verschiedenen statutarischen Praktiken der historischen Religionen nur noch als verschiedene, miteinander verträgliche Weisen der Symbolisierung desselben, nämlich moralischer Praxis. Die Zumutung, die in der verlangten Umdeutung liegt, ist geringer, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Zum einen wird sie sich durch die Entwicklung des Bewusstseins verringern lassen, dass die fraglichen Gebote, also etwa Religionsvorschriften zur Ernährung, moralisch indifferent sind und damit den unbedeutenden Teil menschlicher Praxis betreffen, für dessen Regelung es zu hoch gegriffen erscheint, Gott als Gesetzgeber zu bemühen. Zum anderen führt das spezifisch Spielerische ästhetischer Praxis nicht auf das Feld des Banalen oder Unernsten. Es kommt solcher Praxis zwar nicht der Ernst der Moral selbst zu, doch aber der des Moralanalogen. Die Ästhetisierung des Religiösen ist einer der (im Ganzen allerdings uneinheitlichen) Züge des Religionszustandes der Gegenwart. Sie äußert sich etwa in einer vorwiegend ästhetisch rezipierenden Einstellung zu Sakralbauten oder durch das Verhalten vieler Kirchgänger, sich auf die Gottesdienste aus Anlass der großen Kirchenfeste zu beschränken, für die ein gesteigerter ästhetischer Aufwand charakteristisch ist. Aus dem Gesichtspunkt der orthodoxen Repräsentanten der historischen Religionen mögen das Phänomene der Dekadenz sein. Aus der hier entwickelten Perspektive einer Ästhetik, die als Leitmittel zur Moralisierung tauglich ist und so dem Zweck der reinen Vernunftreligion dient, ergibt sich eine günstigere Bewertung. Wenn die Phänomene der Ästhetisierung des Religiösen Ausdruck des kantischen idealen Geschmacks sind und nicht etwa eines Interesses an angenehmen Empfindungen, dann drückt sich durch sie eine moralanaloge Tendenz zur Universalisierung aus, die über den Partikularismus der historischen Religionen hinausführt. Zu allerletzt, den Übergang zur Vernunftreligion vollendet gedacht, müssen allerdings auch noch die ästhetische Religion und ihre Erscheinungen zurückbleiben, muss man also auch noch „jenes Leitmittel endlich entbehren […] können“ (RGV, 06: 115), „worauf man bei der Absicht einen Glauben allgemein zu introduciren“ noch „Rücksicht nehmen“ (RGV, 06: 109) muss. Es bedeutet dies, das Bedürfnis zu überwinden, „zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen“, d. h. zu den moralischen Begriffen und ihrer Grundlegung in der Autonomie des freien Subjekts

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und ebenso zum Beleg rein moralischer Gesinnungen, „immer etwas SinnlichHaltbares […] zu verlangen“ (RGV, 06: 109), und sei es auch ein Sinnlich-Haltbares im Verständnis einer ästhetisch veredelten Religiosität. Um zu begründen, warum dieses Bedürfnis nach Anschauung zuletzt ganz aufzugeben ist, müssen nicht wie zuvor die Gemeinsamkeiten des Ästhetischen und Moralischen akzentuiert werden, die ein Analogisieren möglich machen, sondern die Unterschiede, die nicht mehr erlauben als eben bloß ein Analogisieren. Das ästhetische Phänomen, hier die besagte ästhetisch-religiöse Praxis, kommt „bloß der Form der Reflexion“ und „nicht der Anschauung selbst“ (KU, 05: 351) nach mit seinem Analogon, d. h. mit moralischer Praxis, überein. Moralische Praxis ist, den entscheidenden Punkt ihrer Moralität betreffend, gar keiner direkten Anschauung fähig. Es handelt sich bei ihr um einen „ganz andern Gegenstand“, von dem der „Gegenstand einer sinnlichen Anschauung“, dessen man sich „bedient“, hier also die sichtbare religiöse Praxis, „nur das Symbol ist“ (KU, 05: 352). Ästhetisch-religiöse Praxis gehört in die Sphäre des Geschmacks, nicht in die der Moral. Vor der Alleinherrschaft der rein moralischen Begriffe der Vernunftreligion trägt sie aufgrund ihrer Brauchbarkeit als Analogon der Moral zwar zur Moralisierung bei, aber nur bis zur Grenze der Moral. Sie kann, was nach Kant für den Geschmack allgemein gilt, den Menschen zwar „gesittet […] machen“ und man „könnte“ deshalb „Geschmack Moralität in der äußeren Erscheinung nennen“ (Anth, 07: 244). Doch dies, den Menschen „gesittet zu machen“, will „nicht ganz so viel sagen, als ihn sittlich-gut (moralisch)“ (Anth, 07: 244) zu machen, und der Ausdruck „Moralität in der äußeren Erscheinung“ enthält „nach dem Buchstaben genommen, einen Widerspruch“ (Anth, 07: 244). „Gesittetsein“ enthält nur den − durch die Ausführung der obigen Analogie erklärten − „Anschein […] vom Sittlichguten“ (Anth, 07: 244). Kants These von der Entbehrlichkeit der historischen Religionen (vgl. RGV, 06: 115) wird in der Religionsschrift auch konterkariert, wenn es heißt, dass etwas sichtbar Repräsentierendes − „nach einer gewissen Analogie“ − „ein nicht wohl entbehrliches […] Mittel“ sei, um den unsichtbaren „wahre[n] (moralische[n]) Dienst Gottes“ „zum Behuf des Praktischen“ zu „begleiten[n]“ (RGV, 06: 192). Ein Widerspruch beider Aussagen besteht nicht, weil die zweite das Mittel nur für nicht leicht entbehrlich erklärt. In sonstigen Zusammenhängen lässt Kant nur die Unmöglichkeit der Bewältigung einer Aufgabe, nicht aber ihre Schwierigkeit – hier ist es die Schwierigkeit der Vollendung religiöser Aufklärung – als Argument dafür gelten, sie nicht in Angriff zu nehmen². Noch darüber hinaus bietet er im selben

2 Das Verwirklichungsangebot und den kontrafaktischen Anspruch des Sittengesetzes etwa sieht

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Kontext sogar ein Argument dafür, nicht bloß zu bekräftigen, dass auf den symbolischen Gottesdienst verzichtet werden kann, sondern dass letztlich darauf verzichtet werden sollte. Das Argument lautet, dass dieser Gottesdienst „nach einer gewissen Analogie“ doch ein „der Gefahr der Mißdeutung gar sehr unterworfenes Mittel ist“ (RGV, 06: 192). Dieser Fall der Missdeutung liegt vor, wenn der symbolische Gottesdienst „durch einen uns überschleichenden Wahn […] für den Gottesdienst selbst gehalten […] wird“ (RGV, 06: 192), der nur in der Erfüllung der Pflichten gegenüber Menschen bestehen kann. Kants Befund ist, dass diese Verwechslung des Nicht-Moralischen mit dem Moralischen verbreitet ist, der falsche Gottesdienst also „gemeiniglich“ für den wahren gehalten und ohne eine Relativierung „so benannt“ wird; er hält den Wahn dieser Verwechslung für einen, der sich „leichtlich“ (RGV, 06: 192) einstellt. Ein Erklärungsgrund dafür ist, dass seine Vermeidung die intellektuelle Stärke verlangt, sich angesichts der anschaulichen und damit suggestiv wirksamen religiösen Phänomene, die in der Tat eine Analogie mit moralischer Praxis erlauben, sich auf der Höhe des Bewusstseins zu halten, dass sie doch bloß eine Analogie und eben deshalb keine Identifikation erlauben. Ohne diese Phänomene fehlte ersichtlich der äußere Anlass, der die Gefahr der Verwechslung des Nicht-Moralischen mit dem Moralischen birgt. Zur Beseitigung der so sehr dieser Gefahr unterworfenen äußeren religiösen Phänomene wäre es allerdings verfehlt, sie, um diesen wichtigen Punkt zu wiederholen, als diese äußeren Phänomene zu bekämpfen. Sie sind nämlich bloß äußere Wirkung einer inneren Ursache, die damit nicht beseitigt wäre.Vollendete religiöse Aufklärung hat diese innere Ursache zu überwinden, nämlich das verfehlte Bedürfnis nach Veranschaulichung des Moralischen, das nicht veranschaulicht werden kann. Sie muss das Bedürfnis überwinden, dass „das Unsichtbare […] durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentirt“ (RGV, 06: 192) werde, und sei dieses Sichtbare auch Gegenstand einer symbolischen Veranschaulichung. Dem eigenen Ideal verpflichtet, dass Aufklärung nur durch Selbstdenken zu erzielen ist, kann ihr Mittel nur das des intellektuellen Überzeugens sein.

Kant auch für den Fall in Geltung, „wenn es […] nie einen Menschen gegeben hätte, der diesem Gesetze unbedingten Gehorsam geleistet hätte“ (RGV, 06: 62).

Teil 3: Religion und Christentum

Kant über das Böse Im Menschen ist etwas radikal Böses. Diese These aus der Feder Kants, mit voller Dezidiertheit erst in seiner späten Schrift über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu Papier gebracht, mag irritieren. Denn ist Kant nicht der Philosoph eines erhabenen Menschenbildes, der Philosoph des kategorischen Imperativs? Ist dieser Imperativ nicht Prinzip des Guten, das den Menschen adelt? Hat nicht Kant selbst in seinem wohl berühmtesten Diktum mit großer Emphase ausgedrückt: Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes „in mir“ erfüllt – neben dem bestirnten Himmel – „das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht“ (KpV, 05: 161)? Seiner eigenen These von der Grundlegung der Moral entsprechend, muss diese Bewunderung eine solche sein, die der Mensch berechtigt ist, sich selbst entgegenzubringen. Denn die Grundlegungsthese besagt, dass moralische Verpflichtung Selbstverpflichtung des Menschen ist, das moralische Gesetz also Erzeugnis autonomer Setzung. So verstanden, ist der kategorische Imperativ nichts Vorgegebenes, weder in der äußeren noch in der inneren Natur. Aus Natur drängt sich der Gedanke, irgendwozu verpflichtet zu sein, in keiner Weise auf. Auch ist er nach Kant nichts durch Gott Eingepflanztes. Der erste Satz der Religionsschrift lautet: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). Ein höherer Begriff vom Menschen als der bis hierhin skizzierte scheint kaum denkbar. Was macht nun – um vor dem Bösen danach zu fragen – das moralische Gesetz, näherhin betrachtet, zum Prinzip des Guten? Es ist seine Qualität, vom Menschen zu fordern, sich in den Grundsätzen seiner Willensbestimmung und entsprechend in den daraus fließenden Taten vom individuellen, an seinem Glück orientierten Privatsubjekt zum allgemeinen Vernunftsubjekt zu steigern. Es fordert, um den kategorischen Imperativ selbst sprechen zu lassen: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV, 05: 30). In seiner Kritik der praktischen Vernunft legt Kant ein Beispiel einer solchen Maxime nahe, d. h. eines Handlungsgrundsatzes, der der zitierten Forderung nach Verallgemeinerbarkeit genügt bzw. danach, nicht bloß subjektiv für den Willen eines Privatsubjekts, sondern „objectiv […] für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig“ (KpV, 05: 19) zu sein. Das Beispiel ist: Ich will unbedingt, unter allen Umständen, mir anvertraute Deposita zurückgeben (vgl. KpV, 05: 27). Wer nun also aufgrund dieser Maxime, insofern sie ihrerseits als Erfüllungsfall der Forderung des kategorischen Imperativs statuiert ist, Deposita bedingungslos zuhttps://doi.org/10.1515/9783110788099-011

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rückerstattet, scheint es zu verdienen, „gut“ genannt zu werden. Allerdings ist sogleich zu betonen, dass die Voraussetzung, die Maxime müsse als Erfüllungsfall des Postulats des kategorischen Imperativs intendiert sein, unabdingbar ist, denn Maximen wie die genannte können auch bloß gesetzeskonform sein, ohne eine moralische Fundierung zu haben. Das heißt: Man kann auch aus anderen als moralischen Gründen – etwa aus Angst vor Entdeckung oder weil ein Staatsgesetz mit Strafe droht – den Vorsatz fassen, sich anvertraute Güter nicht anzueignen. Als vergleichsweise unproblematisch erscheint demgegenüber das Urteil über den gegenteiligen Fall einer tatsächlichen solchen Aneignung. Ihn sind wir geneigt, als einen Fall des Bösen anzusprechen, dessen Spur hier eigentlich verfolgt werden soll. Worin mag nun der Ursprung einer solchen Verfehlung – zuletzt: der Ursprung des Bösen – liegen? Dem ersten Hinsehen bietet sich die Sinnlichkeit des Menschen an, den Grund des Bösen abzugeben. Denn ist er nicht durch seine sinnliche Bedürftigkeit mit ihrer Orientierung an der Befriedigung, an der Lust, insgesamt am Glück, jenes Privatsubjekt, das in der moralischen Willensbestimmung zu überwinden verlangt ist? In der Tat sind die Glücksorientierungen der Sinnlichkeit nicht allgemeinheitsfähig, sondern partikular. Was glücklich macht, kann nach Kant durch das Individualsubjekt „jederzeit nur empirisch erkannt“ werden, von jedem nur allein für sich selbst, und es kann deshalb „nicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art gültig sein“ (KpV, 05: 21). Zwar sind auch Übereinstimmungen in den Glücksorientierungen möglich, doch können diese nur den Charakter empirischer, komparativer Allgemeinheit haben, d. i. ein zufälliger Allgemeinheitscharakter, der jederzeit brüchig ist und sogar in Konfrontation umschlagen kann. Man denke an die Fragilität der Erscheinungen menschlicher Geselligkeit, wenn ihr Zweck ein gemeinsames Genießen ist. Hinzu kommt der potentielle Konflikt der Glücksorientierungen aufgrund der Knappheit der Glücksgüter. Diesen speziellen Konflikt ironisiert Kant an einer Stelle durch Zitierung eines gewissen „Spottgedicht[s] auf die Seeleneintracht zweier sich zu Grunde richtende[r] Eheleute“, die man sich vielleicht vor dem letzten Stück Sonntagsbraten vorstellen mag, wozu der Vers passen könnte: „O wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie“ (KpV, 05: 28). Zur Partikularisierung in der Ausrichtung auf das Glück heißt es des weiteren: „Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjectiv nothwendiges Gesetz (als Naturgesetz)“ – dazu ist zu erläutern: ein Gesetz, das ein Individuum aufgrund seiner gegebenen singulären empirischen Bedürfnisstruktur nötigt – „ist […] objectiv ein gar sehr zufälliges praktisches Princip, das in verschiedenen Subjecten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es bei der Begierde nach Glückseligkeit nicht auf die Form der Gesetz-

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mäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt, nämlich ob und wieviel Vergnügen ich in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe“ (KpV, 05: 25). Die Begierde nach Glückseligkeit – angestachelt etwa durch ein Annehmlichkeit versprechendes einbehaltenes Depositum – steht zweifellos unter dem Titel der Selbstliebe und damit dem moralischen Erfordernis entgegen, dass „reine Vernunft […] für sich allein praktisch sein“ können muss, „d. i. ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen“. Bezogen auf unser Beispiel bedeutet das: Unter Ausblendung jeglichen Glückskalküls müssen Deposita zurückgegeben werden. Dazu gilt, wieder in Kants Worten: „Alsdann allein ist Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willen bestimmt (nicht im Dienste der Neigungen ist), ein wahres oberes Begehrungsvermögen, dem das pathologisch bestimmbare untergeordnet ist“ (KpV, 05: 24 f.). Darstellungen wie diese der Entgegensetzung von reiner praktischer Vernunft und Sinnlichkeit haben wohl zu dem verbreiteten Bild von Kant geführt, er sei moralischer Rigorist und als solcher Feind alles Sinnlichen. Zutreffend daran ist seine Qualifizierung als Rigorist. In der Religionsschrift bekennt er sich selbst zu diesem „Namen, der einen Tadel in sich fassen soll, in der That aber Lob ist“ (RGV, 06: 22). Ganz unzutreffend aber ist die insinuierte Verbindung, ein moralischer Rigorist müsse Feind der Sinne sein. Um diese These zu entwickeln, wird die Sinnlichkeit vom soeben noch nahegelegten Verdacht zu befreien sein, in ihr als solcher läge der Ursprung des Bösen. Denn wenn sie dieser Ursprung des Bösen wäre, käme Vernunft in der Tat nicht umhin, ihr Feind zu sein. Nach Kant aber ist die sinnliche Natur des Menschen nicht nur nicht böse, sondern in einem gewissen Sinne sogar gut: „Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen“ (RGV, 06: 58). Dem ist als erstes zu entnehmen, dass sinnliche Neigungen, die zweifellos in Konflikt mit moralischen Ansprüchen geraten können, in welchem Fall sie in der Tat rigoros und ohne Kompromiss zurückzusetzen wären, doch nicht immer und überall im Kampf mit dem moralisch Gebotenen stehen, denn in diesem Fall wären sie in keinerlei Hinsicht „gut“ zu nennen. Indem also Neigungen und moralische Ansprüche in keinem notwendigen, sondern allenfalls einem zufälligen Konflikt miteinander stehen, ist das Leben nach Kant kein ununterbrochener moralischer Alarmfall, dem permanent Glücksansprüche zu opfern wären. Im Gegenteil: Solche Glücksansprüche sind „gut“ im Sinne von „unverwerflich“. An anderer Stelle nennt Kant dieses Gute auch das Negativ-Gute, weil es, ohne schon moralisch gut zu sein, doch mindestens dem moralischen Gesetz per se auch nicht entgegensteht (vgl. RGV, 06: 28). Darüberhinaus, dass es demnach gar nicht nötig ist, natürliche Neigungen ausrotten zu wollen, wäre es auch vergeblich. Es wäre dies nämlich der aussichts-

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lose und hybride Versuch des Menschen, über das Erscheinen des empirisch Gegebenen, wozu auch das Erscheinen sinnlicher Bedürfnisexistenzen, wie der Mensch eine ist, gehört, mit der Intention der Unterdrückung dieses Erscheinens disponieren zu wollen.¹ Zuletzt nennt Kant diesen etwaigen Versuch der Ausrottung der Neigungen ausdrücklich „tadelhaft“, d. h. moralisch verwerflich. Zur Erklärung dessen mag seine weitestgehende Aussage zur Apologie der Sinnlichkeit des Menschen dienen. Nach dieser nämlich ist die Anlage für die „Thierheit des Menschen“ (RGV, 06: 26) sogar Anlage zum positiven Guten im Sinne der Beförderung der Befolgung des moralischen Gesetzes (RGV, 06: 28). Damit wird zwar kaum gemeint sein können, dass die den Menschen in der Tat vereinzelnde Sinnlichkeit einen Grund für die moralisch verlangte Qualifikation der Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung (vgl. RGV, 06: 26 Anm.) wird abgeben können, doch aber dies, dass die sinnlich physische Existenz des Menschen durchaus notwendige, wenngleich nicht hinreichende, Bedingung auch für seine moralische Existenz ist. Die mit der physischen Existenz gegebene Selbstliebe als der auf das eigene sinnliche Wohlergehen zielende Wille ist schlicht „natürlich“. Es darf sogar Vernunft ganz legitimerweise ihre Dienerin sein, d. h. die „tauglichsten Mittel“ zum Zweck des „größten und dauerhaftesten Wohlergehen[s]“ (RGV, 06: 45 Anm.) wählen. Was allerdings mit der Selbstliebe, die als schlicht gegebene im Fall eines nicht zugleich vorliegenden Konflikts mit moralischen Maximen ganz unverwerflich ist, dennoch nicht getan werden darf, ist, sie einem hinzukommenden intellektuellen Akt zu unterwerfen, durch den sie „als Princip aller unserer Maximen angenommen“ (RGV, 06: 45; Hervorhebung B. D.) würde.² Sie darf es, weil die zur Maxime erhobene Selbstliebe per se „gar keine Beziehung auf Moralität“ (RGV, 06: 45 Anm.) hat. Als Zwischenergebnis lässt sich an

1 In dieser Position steckt ein vorweggenommener negativer Kommentar etwa zu Schopenhauers ethischem Ideal des entsagenden, den Willen zum Leben verneinenden Asketen. Die historisch vorgängige Schule, die Kant im Punkt einer die Menschennatur verfehlenden Unterdrückung der Sinnlichkeit durchgängig kritisiert, ist die der Stoa, vgl. KpV, 05: 126–127. 2 Es handelt sich bei der hier diskutierten Selbstliebe um die Selbstliebe, die Kant als „Selbstliebe […] des Wohlwollens“ speziell von der „Selbstliebe des unbedingten (nicht von Gewinn oder Verlust als den Folgen der Handlung abhängenden) Wohlgefallens an sich selbst“ (RGV, 06: 45 f. Anm.) unterscheidet. Letztere ist „Vernunftliebe seiner selbst“, steht unter der Bedingung der Moralität und würde bei Nichterfüllung dieser Bedingung sogleich in ein „bitteres Mißfallen an sich selbst,“ (RGV, 06: 46 Anm.) umschlagen. Der Selbstliebe des Wohlwollens, wodurch ein sinnliches Individuum das sucht, was ihm gut tut, wird durch moralischpraktische Vernunft im gelegentlichen Konfliktfall „blos Abbruch“ (KpV, 05: 73) getan. Diejenige einen eigenen Wert beanspruchende „Selbstschätzung“ dagegen, die „vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen“ (KpV, 05: 73) will, wird durch reine praktische Vernunft nicht bloß eingeschränkt, sondern diese, die Selbstschätzung als „Eigendünkel“ ist, „schlägt sie gar nieder“ (KpV, 05: 73).

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dieser Stelle festhalten: Sinnliche Neigungen können zwar in die Entgegensetzung zu moralischen Erfordernissen geraten, in welchem Fall die Priorität des Moralischen bedingungslos zu behaupten wäre, sie stehen aber nicht schon als solche notwendigerweise in dieser Entgegensetzung. Hinsichtlich des Grundes des Bösen kann Kant demnach sagen, dass dieser „nicht, wie man ihn gemeiniglich anzugeben pflegt, in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen gesetzt werden“ (RGV, 06: 34) kann. Ein wenig variierend sagt er im selben Kontext noch, dass diese Neigungen „keine gerade Beziehung aufs Böse haben“ (RGV, 06: 34). Die hier bemerkbare implizite Andeutung, dass sie vielleicht eine ungerade, d. h. eine vermittelte Beziehung aufs Böse haben können, wird noch aufzugreifen sein. Die schon skizzierten Probleme und Konflikte aus der partikularen Natur der Sinnlichkeit, die aus dem Widerstreit der Neigungen untereinander resultieren, sei es in einem Individuum oder intersubjektiv, sind nach Kant tendenziell lösbar, und zwar bereits im vormoralischen Feld. Seine Anweisung zur Lösung der Konflikte lautet schlicht: Man muss die Neigungen „nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt Klugheit“ (RGV, 06: 58). Vernunft als Klugheit also, das ist nicht moralischpraktische Vernunft, sondern im Dienst des Glücksziels der Sinnlichkeit stehende technischpraktische Vernunft, die im Stil des Epikur auf einen ausgeglichenen, maßvollen Glückszustand und auf die zweckmäßigen Mittel, ihn zu erreichen, sinnt, ist das probate Gegenmittel gegen das Sich-Aufreiben der zuweilen über das rechte Maß hinausgehenden oder in Konkurrenz geratenden Neigungen. Die bereits eingeführten sich zu Grunde richtenden Eheleute könnten also schon durch Einsatz bloß von Klugheit, die das nicht geringe Glücksziel des Ehefriedens gegen den Genuss des letzten Stücks Sonntagsbraten kalkulierte, zum weisen Entschluss einer Teilung des Bratens kommen. Es ist allerdings zuzugestehen, dass das Problem der Glückskalküle mittels Klugheit durch unser Beispiel ein wenig verniedlicht ist. Dass die auf diesem Feld zu erzielenden Lösungen keine vollkommenen, sondern eben bloß tendenzielle sein können, liegt nach Kant daran, dass wir es in der Sphäre des Sinnlichen mit einem Willen zu tun haben, der unter der „Voraussetzung der Heteronomie“ (KpV, 05: 36) steht. Zum einen hat das Auftreten der sinnlichen Neigungen den inkonstanten Charakter empirischer Gegebenheiten, und zum anderen muss auch das Wissen um die Befriedigungsmittel ein empirisch erworbenes sein, in der Regel auf einem Lebensweg voller Versuche und Irrtümer. Was also unter der Voraussetzung der Heteronomie glücklich macht, das zu wissen, „erfordert Weltkenntniß“, und was über partielle Erfolge hinaus sogar „wahren, dauerhaften Vortheil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchdringliches

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Dunkel eingehüllt und erfordert viel Klugheit, um die praktische darauf gestimmte Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen“ (KpV, 05: 36). Übrigens hält Kant es demgegenüber für „ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen“, „[w]as nach dem Princip der Autonomie der Willkür zu thun sei“ (KpV, 05: 36), d. h. was nach dem Prinzip der Moral zu tun sei. Der durch sinnliche Neigungen bestimmte Wille ist also heteronom bestimmter Wille. Auch durch den Einsatz von Vernunft als Klugheit wird er zu keinem selbstbestimmten, denn dieser Einsatz ist ja ein der Gegebenheit der Glücksorientierung bloß dienender. Mit dieser Einsicht in die Fremdbestimmtheit des durch sinnliche Neigungen bestimmten Willens ist das zentrale Argument dafür gegeben, Sinnlichkeit als Grund des Bösen auszuschließen. Ganz im Gegensatz zur Fremdbestimmung nämlich muss das Böse, um wirklich Moralischböses zu sein – und nicht etwa nur ein moralisch indifferentes Übel, wie z. B. Krankheit –, einem moralischen Subjekt als auf seiner selbsteigenen Willensbestimmung beruhend zugerechnet werden können, d. h. das Böse muss auf einem „Actus der Freiheit“ (RGV, 06: 21) beruhen. „Mithin kann“, schlussfolgert Kant, „in keinem die Willkür durch Neigung bestimmenden Objecte, in keinem Naturtriebe […] der Grund des Bösen liegen“ (RGV, 06: 21). Das Begehren von Glücksgenüssen einerseits und die auf die Gegenstandsseite gehörende Eigenschaft, Neigung zu erregen, andererseits, gehören zum Bereich des empirisch Vorgefundenen, und nicht etwa zu dem, was auf einem Actus der Freiheit beruht und zugerechnet werden kann. Alles dies ist bezogen auf den tierischen Aspekt der menschlichen Existenz und ist aufgrund seiner bloßen natürlichen Gegebenheit moralisch ganz indifferent, weder gut noch böse. Das Dasein der Neigungen in ihrer Glücksorientierung müssen wir „nicht verantworten (wir können es auch nicht, weil sie als anerschaffen uns nicht zu Urhebern haben)“ (RGV, 06: 35). Jeder Mensch will natürlicherweise, d. h. ohne dass dies ein Resultat von Selbstbestimmung wäre, glücklich sein. Dieser Aspekt seiner Vorfindlichkeit verleiht ihm keinen moralischen Unwert, allerdings auch keinen moralischen Wert. Der Kern des vorgetragenen Arguments – was empirisch gegeben ist kann aufgrund dieser empirischen Gegebenheit und damit aufgrund seiner Nicht-Zuschreibbarkeit kein Grund des moralisch Bösen sein – erlaubt eine aktualisierende Anwendung. Gemeint ist die Anwendung auf die in hoher Konjunktur stehende Gentechnologie. Die Schlüssigkeit des Arguments vorausgesetzt, wird den Technologen der Gene a priori vorausgesagt werden können, dass sie bei allem, was sie vom genetischen Plan des Menschen entschlüsseln werden, auf ein Gen des Moralischbösen nicht werden stoßen können. Die Entdeckung eines Gens der Aggression mag zugestanden sein, d. h. eines Gens, dessen Wirksamkeit viel Übel zur Folge haben kann, doch wird dieses Übel die Qualität des Moralischbösen nicht erreichen kön-

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nen. Denn als fundiert in der empirischen Gegebenheit eines genetischen Plans fehlte dem Übel ein Subjekt der Zuschreibung, wie es der Begriff des Moralischbösen als Subjekt der Zuschreibung von Schuld und Verdienst jederzeit erfordert. Die in Genen als physischen Gegebenheiten fundierten Übel werden auf die gleiche Weise unterhalb der Ebene moralischer Relevanz liegen müssen wie der moralisch ganz irrelevante Vorgang der Tötung des Zebras durch den Löwen. Die dazu passende Aussage Kants lautet: Eine „bloß aus Naturgesetzen erfolgende Handlung“ würde eine „moralisch-gleichgültige Handlung“ (RGV, 06: 23) sein. An einer Stelle erlaubt er sich gegen die physikalistisch genealogische Erklärungsart des Bösen die etwas drastische Polemik, die medizinische Fakultät stelle sich ein erbliches Böses etwa wie einen Bandwurm vor, der in der Folge der Elterngenerationen übertragen werde (vgl. RGV, 06: 40). Wenn nach dem Gesagten mit dem Projekt der genetischen Erforschung des Menschen der Anspruch verbunden sein sollte, den Menschen letztlich und in toto auf der Basis seiner empirischen Physizität zur Verständlichkeit zu bringen, dann muss es als Projekt verstanden werden, das an der Abschaffung der in diesem Fall für chimärisch zu haltenden Moralbegriffe arbeitet, speziell auch an der Abschaffung des Bösen. Wenn Moralbegriffe dagegen nicht illusionär sind, dann muss das wie skizziert auftretende Projekt der Genforschung einer kritischen Einschränkung seiner Ansprüche unterworfen werden. Es muss dann abgewiesen werden, was mancherorts behauptet wird, nämlich dass der Mensch mittels Genforschung bald ganz enträtselt sein werde. Demgegenüber wäre zu betonen, dass der moralische Teil seines Selbstverständnisses – für Kant ist es der absolut prioritäre – solcher Forschung prinzipiell nicht zugänglich ist. Das soeben verwandte Argument, dass das empirisch Gegebene, eben weil gegeben, der Grund des Bösen nicht sein kann, erlaubt in nur leichter Modifikation die Anwendung auf einen weiteren verbreitet angenommenen, in der Tat aber bloß scheinbaren Grund des Bösen. Die Rede ist von dem durch die „theologische Fakultät“ favorisierten Grund, von der Erbsünde. Zwar handelt es sich dabei um kein physikalisch dingfest zu machendes, sondern um ein spirituelles, aber doch um ein gedachtes Erbmerkmal. Das heißt: Die Art, wie der damit Behaftete sich dieser seiner Beschaffenheit gegenüber nur verhalten könnte, wäre im Prinzip keine andere als im Fall ihrer empirisch genetischen Vorfindlichkeit. Er hätte sie als etwas Gegebenes hinzunehmen, als eine in diesem Fall metaphysische Vorprägung; und auch hier hätte er gar keinen Anlass, sie sich selbst als moralischem Subjekt zuzuschreiben. Ein so verstandenes Böses verlöre sich wie im Fall seiner Einordnung in die Kette der empirischen Übertragung von Erbmaterial im Dunkel einer außermenschlichen Anonymität. Schuld etwa könnte auf diese Weise nicht begründet werden. Die Lehre von der Erbsünde eignet sich also in Wahrheit zur moralischen Entlastung. Ein anonymes und außermenschliches, sozusagen gesichtsloses Böses

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wäre in Wahrheit kein Böses, sondern allenfalls eine Unzweckmäßigkeit, unter der der Mensch bedauerlicherweise zu leiden hätte. Das Böse nach Kant ist also entweder zuschreibbar Böses oder gar kein Böses. In Kants Worten: „Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muss er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muss eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein“ (RGV, 06: 44). Der Klarheit und Dezidiertheit von Aussagen wie diesen stehen in der Religionsschrift dem ersten Anschein nach auch andere, relativierende, entgegen, etwa solche, die davon sprechen, der Mensch sei von Natur böse, oder auch, das Böse sei ihm angeboren. Eine nähere Betrachtung ergibt aber in jedem Fall, dass trotz solchen Sprachgebrauchs in Wahrheit keine Relativierung, geschweige denn Widersprüchlichkeit, vorliegt. In der Religionsschrift ist es immer wieder zu beobachten, dass Kant durch Aufnahme und Fortsetzung von tradiertem Sprachgebrauch seinem Publikum entgegenkommen will, dass er es also nicht durch über gewohnte Ausdrücke verhängte Verdikte provozieren will, wohl in der Annahme, dass es auf diese Weise seine Bereitschaft nicht verweigert, sondern so vielleicht sogar eine Offenheit dafür entwickelt, den oft kruden traditionellen Sinn der alten Ausdrücke durch einen neuen, verständlichen zu ersetzen. Die Rezeptionsgeschichte der Religionsschrift hat allerdings gezeigt, dass Kants Entgegenkommen von interessierter Seite nicht selten ausgenutzt wurde und seine rationalen bzw. vernunftreligiösen Umdeutungen aufgrund der beibehaltenen Ausdrücke nicht zur Kenntnis genommen und diese sogar wieder zur Stützung irgendeines Elements des Kirchenglaubens verwendet wurden. Die Redeweise, der Mensch sei „von Natur gut“ oder „von Natur böse“ will Kant gerade nicht so verstanden wissen, dass der Grund des Guten oder Bösen „ein bloßer Naturtrieb wäre“, sondern er rechtfertigt sie durch den Hinweis darauf, dass es sich beim „ersten Grund“ des Guten oder Bösen um einen „unerforschlichen“ handelt, d. h. dass dieser in der Freiheit des Menschen liegt, und dass dies das Wesen seiner „Gattung“ ausdrückt (RGV, 06: 21). Auch wenn wir „von einem dieser Charaktere“ – dem guten oder bösen – „sagen: er ist ihm angeboren“, soll das nicht heißen, dass „die Natur die Schuld […] (wenn er böse ist), oder das Verdienst (wenn er gut ist) trage, sondern daß der Mensch selbst Urheber desselben sei“ (RGV, 06: 21). Die Berechtigung der Rede vom angeborenen moralischen Charakter ergibt sich daraus, dass die von diesem vorausgesetzte Freiheit „mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird: nicht daß die Geburt eben die Ursache davon sei“ (RGV, 06: 22). Das heißt: Wenn der Mensch geboren ist, so wird er als ein freier vorgestellt. In diesem Sinne ist auch das Gute oder Böse als angeboren vorgestellt. Das schließt aus, die Geburt als den determinierenden Grund der Freiheit zu betrachten. Denn: „Von den freien Handlungen als solchen den Zeitursprung (gleich

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als von Naturwirkungen) zu suchen, ist […] ein Widerspruch“ (RGV, 06: 40). Von Natur aus gut oder böse sein heißt also alles andere als aus der Kausalität der Natur so sein. Entsprechend ist nach der Erklärung von „angeboren“ ausgeschlossen, sich etwa das Böse „als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen“ (RGV, 06: 40). Diese letzte Vorstellungsart nennt Kant sogar „unter allen Vorstellungsarten von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste“ (RGV, 06: 40). Abgesehen von der Frage der Vererbung konzediert Kant der biblischen Geschichte vom Sündenfall der ersten Menschen unter einem Aspekt, dass sie mit seiner Vorstellungsart „ganz wohl zusammen“ stimme, nämlich unter dem, dass sie den Ursprung des bösen „in der Menschengattung“ (RGV, 06: 41; Hervorhebung B. D.) schildere. Obwohl er durchaus bemerkt, dass die Schrift „das Böse zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung voranschickt“ (RGV, 06: 43 f.), ist ihm diese Geschichte doch bloß die Veräußerlichung einer Unbegreiflichkeit „in uns“³, nämlich der, „woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne“ (RGV, 06: 43). Der von seiner erhabenen Bestimmung abgefallene Geist eignet sich deshalb zur Darstellung einer in uns angesiedelten Problematik, weil sich auch mit Bezug auf ihn die Frage nach dem Grund des Bösen stellt – „woher bei jenem Geiste das Böse?“ (RGV, 06: 44) – und sie in seinem Fall ebensowenig wie im Fall des Menschen zu beantworten ist. Unter dem weiteren Aspekt der Forderung, dass man „von einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet werden, keinen Zeitursprung suchen“ (RGV, 06: 43) soll, widerspricht Kant wiederum der Sündenfallgeschichte, denn einen solchen Zeitursprung scheint sie doch anzunehmen. Mit dieser Unangemessenheit komme sie „unserer Schwäche“ entgegen, „ihr [der moralischen Beschaffenheit] zufälliges Dasein erklären [zu] wollen“ (RGV, 06: 43), was aber letztlich nichts anderes als ein sinnloser Versuch der Erklärung von Freiheit ist. Implizit ist damit der Bibel ein mangelndes Verständnis der menschlichen Freiheit angelastet. Bezeichnenderweise findet Kant es an der diskutierten Stelle nötig, in einer Fußnote Grundsätzliches zu seiner Bibel-Hermeneutik mitzuteilen. Offenbar ist ihm selbst an seiner Deutung der Geschichte vom Sündenfall aufgefallen, dass sich seine moralphilosophische These zum Ursprung des Bösen, nämlich dass es Erzeugnis aus menschlicher Freiheit sei, in Auseinandersetzung mit dieser Geschichte bei zwei abzulehnenden Elementen (Vererbungslehre des Bösen; sein Zeitursprung) auf ei3 Zur Veräußerlichung des inneren Verhältnisses zwischen dem guten und dem bösen Prinzip vgl. RGV, 06: 78: „Die heilige Schrift (christlichen Antheils) trägt dieses intelligible moralische Verhältnis in der Form einer Geschichte vor, da zwei wie Himmel und Hölle einander entgegengesetzte Principien im [!] Menschen, als Personen außer [!] ihm vorgestellt, nicht bloß ihre Macht gegen einander versuchen“.

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nen dritten Aspekt doch positiv beziehen lässt, dies allerdings nur unter Aufwendung einer gewissen artifiziellen Subtilität, denn die Verortung des Ursprungs des Bösen in der Menschengattung angesichts der Erzählung vom noch vor den Menschen von Gott abgefallenen Geist wird kaum anders als ein wenig künstlich bezeichnet werden können. Zu solcher Künstlichkeit bzw. zu einer Art Prinzip der kreativen Konstruktion bei der Bibelauslegung bekennt sich Kant denn auch in der besagten Fußnote. Seine Deutung der Sündenfallgeschichte will gar „nicht dafür angesehen werden, als ob es Schriftauslegung sein solle, welche außerhalb den Gränzen der Befugniß der bloßen Vernunft liegt“ (RGV, 06: 43 Anm.), nämlich innerhalb der Befugnis der historisch-philologischen Erkenntnisart. Kant seinerseits mag zur Stützung seiner Deutung gar nicht „darüber […] entscheiden, ob das auch der Sinn des Schriftstellers sei, oder wir ihn nur hineinlegen“ (RGV, 06: 43 Anm.). Solches Hineinlegen ist für ihn vollkommen legitim, wenn die hineingelegten Gedanken von innerhalb der „Gränzen der Befugniß der bloßen Vernunft“ stammen, d. h. wenn sie „nur für sich und ohne allen historischen Beweis wahr“ (RGV, 06: 43 Anm.) sind. Es ist natürlich reine praktische Vernunft, die a priori und orientiert an der Moral jene historisch-philologisch vielleicht fragwürdigen Deutungen entwickelt und sich so nach selbstentwickelten Maßstäben „einen historischen Vortrag moralisch zu Nutze macht“ (RGV, 06: 43 Anm.). Ersichtlich liegt bei solcher Art Bibeldeutung die oberste Autorität bei reiner praktischer Vernunft, der gegenüber der Text nicht von sich her belehrend auftreten kann, sondern nur den Anlass bietet, daraufhin beurteilt zu werden, ob er etwas „für sich und ohne allen historischen Beweis“ (RGV, 06: 43 Anm.) Wahres ausdrückt. Im Fall des Bösen kann, wie gesehen, von der Sündenfallgeschichte weniger bleiben als verworfen werden muss; und was bleiben kann, ist von einem – allerdings legitimierten – hineinlegenden Deuten abhängig, das die Erzählung der Bibel verträglich macht mit der These vom im freien Willen des Menschen begründeten Bösen. Keinen Grund im freien Willen hätte das Böse auch nach einer dritten von Kant verworfenen Erklärung, die die zu seiner Zeit innerhalb der leibniz-wolffschen Schule bevorzugte philosophische Erklärung war. Dieser Erklärung nach beruht das Böse auf der Einschränkung der menschlichen Natur, also auf einem Mangel, auf Privation, auf einem Unterlassen aus bloßer Schwäche an moralischem Bewusstsein. So verstanden beruhte es auf keinem Sein, keinem realen Prinzip, sondern auf einem Nichtsein. Ersichtlich ist ein solches Nichtsein außerhalb der Grenzen des beschränkten menschlichen Seins wiederum völlig ungeeignet, den für Kant ganz unverzichtbaren Gedanken der Zuschreibbarkeit des Bösen zu stützen.⁴ Es könnte

4 Schon in der 1763 erschienenen Schrift Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen führt Kant als Beispiel für die Nützlichkeit der Einführung dieses Begriffs die

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nichts Reales, speziell kein realer Mensch als böse adressiert werden, was wiederum die Berechtigung, überhaupt von einem Moralischbösen sprechen zu können, aufhöbe. Dem entgegen ist bei Kant das Böse kein Unterlassen aufgrund naturgegebenen Mangels, sondern ein Tun auf der Grundlage eines realen Prinzips (RGV, 06: 22 f. Anm.). Das Ergebnis mit einbezogen, dass dieses Tun keine Wirkung aus der per se ganz unschuldigen und moralisch indifferenten Sinnlichkeit sein kann, nennt Kant es konsequenterweise „intelligibele That“ (RGV, 06: 31). Worin besteht sie nun näherhin, die freie intelligible Tat, die das Moralischböse als ein notwendig zuschreibbares Böses erzeugt? Zur Beantwortung dieser Frage muss erneut Sinnlichkeit zum Thema werden, von der es hieß sie habe keine gerade Beziehung auf das Böse, von der aber zu vermuten war, sie könne eine ungerade, vermittelte Beziehung darauf haben. Von der Sinnlichkeit sagt Kant in der Religionsschrift an der Zentralstelle seiner Bestimmung des Bösen zunächst noch einmal das bisher Akzentuierte, dass der Mensch „vermöge seiner […] schuldlosen Naturanlage“ (RGV, 06: 36) an ihren Triebfedern hänge. Bloß diese Naturanlage entwickelnd, ist der Mensch ganz absorbiert von bzw. ganz deckungsgleich mit seiner moralisch indifferenten sinnlichen Bedürfnisexistenz, d. i. mit dem bloß tierischen Aspekt seiner Existenz. Darin befangen vollzieht er ganz ohne Reflexion bloß seine gegebene Natur in ihrer Orientierung an der Befriedigung von Bedürfnissen, insgesamt am Glück. Eine Lösung aus diesem bloßen Vollzug der Bedürfnisexistenz stellt es aber schon dar, wenn der Mensch die Triebfedern der Sinnlichkeit „(nach dem subjectiven Princip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf[nimmt]“ (RGV, 06: 36). Schon die Erzeugung überhaupt von Maximen setzt intellektuelle Akte, setzt also die

„Untugend“ an, die „reale Entgegensetzung“ sei, „nicht bloß ein Mangel“ (BnG, 02: 182 f. ). Bohatec (Josef Bohatec. Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen. Hildesheim 1966, Nachruck der Ausgabe Hamburg 1938, 85) verortet Kants Position ganz zutreffend, indem er sagt: „Seine Auffassung der Sünde als realer Entgegensetzung richtet sich gegen die im Grunde neuplatonische, aber in der leibniz-wolffschen Philosophie besonders ausgeprägte Erweichung des Widersittlichen zu einem bloßen Mangel, der in der Undeutlichkeit seine Wurzel hat.“ – Als ein Vorläufer Kants in Erklärung des Bösen kann dagegen der Anti-Wolffianer Crusius (Christian August Crusius. Anweisung vernünftig zu leben. Hildesheim 1969, Nachruck der Ausgabe Leipzig 1744) gelten. Nach Crusius kann wie später nach Kant eine bloße „Einschränkung des menschlichen Wesens“ noch „keine zureichende Ursache“ (307) für das wirkliche Böse sein. Ebenso sieht bereits Crusius, dass für den Fall der Erklärung des Bösen durch eine gegebene Einschränkung das Böse nicht zugerechnet werden kann, damit aber „das moralische Böse nicht erkläret, sondern geleugnet wird“ (S. 308). Schließlich nimmt Crusius Kant auch im Punkt der positiven Erklärung des Bösen vorweg: „Es muß also das moralische Böse seinen Ursprung von dem Mißbrauche des menschlichen freien Willens haben.“ (310)

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Distanzierung vom bloßen reflexionslosen Vollzug der tierischen Bedürfnisexistenz voraus. Von Tieren ist kaum anzunehmen, dass sie allgemeine Handlungsgrundsätze hinsichtlich ihrer Bedürfnisbefriedigung erzeugen. Intellektuell ist der Akt des Aufnehmens einer Triebfeder – man würde heute eher sagen: eines Motivs – auch dann, wenn es sich um ein gegebenes sinnliches Motiv handelt. Was sich durch den freien Akt des Aufnehmens in eine Maxime hinsichtlich des sinnlichen Motivs ändert, ist, dass es nach Aufnahme nicht mehr wie zuvor schlicht gegeben, sondern dass es jetzt gegeben und zusätzlich bejaht ist. Während das Motiv zuvor schlicht wirksam war und nichts weiter, ist es jetzt ein Motiv, das eine freie Zustimmung erfährt. Die Freiheit dieser Zustimmung zu betonen, bedeutet zugleich vorauszusetzen, dass der bloßen Gegebenheit sinnlicher Triebfedern nicht auch noch zuzuschreiben ist, sich reflexiv zur eigenen Bejahung und zuletzt zum subjektiven Handlungsgrundsatz einer allgemeinen Glücksorientierung steigern zu können, in welchem Fall dieser Grundsatz wiederum keinem Subjekt als der eigene zuschreibbar wäre, sondern als Produkt eines anonymen Prozesses betrachtet werden müsste. Zu unseren Maximen aber, und sei es zu der, überall das Glück zu suchen, stehen wir nach Kant nicht in dem passiven Verhältnis, sie an uns bloß konstatieren zu müssen. Aufs ganze gesehen ist nun also durch den freien Akt der Aufnahme der Triebfeder in die Maxime aus dem vorherigen bloßen Vollzug der sinnlichen Glücksorientierung die erkannte, für gut geheißene und ausdrücklich gewollte Ausrichtung auf das Glück geworden. Explizit gemacht, könnte die Maxime etwa lauten: Ich will mein Handeln auf die Befriedigung meiner sinnlichen Bedürfnisse ausrichten. – Bis zu dieser Stelle allerdings gibt es noch keine Spur des Bösen. Der erläuterte Akt der Aufnahme sinnlicher Triebfedern in Maximen ist noch nicht jene freie intelligible Tat, die das Böse erzeugt. Das Böse gerät erst dann ins Blickfeld, wenn in einer moralisch relevanten Situation – man denke an das paradigmatische Beispiel, dass vor den eigenen Augen ein Mensch zu ertrinken droht – zusätzlich zur kontinuierlich zu unterstellenden Glücksorientierung reine praktische Vernunft hinzutritt und ihren Imperativ zur Geltung bringt, die Maxime seines Willens so einzurichten, dass sie „jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV, 05: 30) bzw. den Willen derart gesetzlich zu bestimmen, dass diese Willensbestimmung als „für den Willen jedes vernünftigen Wesens […] gültig erkannt wird“ (KpV, 05: 19). In dieser Situation der offensichtlichen Konkurrenz zweier Maximen, wovon die eine auf dem im Sinnlichen verankerten Prinzip der Selbstliebe jedes Individuums beruht und wovon die andere jene Steigerung zum allgemeinen Vernunftsubjekt verlangt, ist eine Entscheidung unumgänglich. Diese Entscheidung muss wiederum aufgrund der nur so zu sichernden Zuschreibbarkeit freie Entscheidung sein. Fällt sie zugunsten der Maxime der Selbstliebe aus, so liegt in ihr in der Tat jener gesuchte Akt des Bösen. In Ausdrücken Kants ist dieser Akt der Akt der Unterordnung

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der in die eine Maxime aufgenommenen moralischen Triebfeder unter die in die andere Maxime aufgenommene sinnliche Triebfeder (RGV, 06: 36). Es ist dies die Umkehrung dessen, was er „die sittliche Ordnung der Triebfedern“ (RGV, 06: 36) nennt, die nämlich ihrerseits im Fall jenes Konflikts die Überordnung der moralischen Triebfeder verlangt. Der Akt der Entscheidung für die Überordnung des sinnlichen Motivs – etwa sich auch angesichts eines Ertrinkenden keiner Gefahr auszusetzen – kann auch verstanden werden als der freie Akt der Bejahung der Fremdbestimmung durch die eigene gegebene Bedürfnisexistenz, der zugleich freier Akt der Negation der moralischen Selbstbestimmung in der Selbstverpflichtung durch das Sittengesetz ist; kurz: er kann verstanden werden als freier Akt der Zustimmung zur Heteronomie und der Abweisung von Autonomie. Noch anders ausgedrückt: Er ist Akt der Bejahung des Faktischen wider die moralischen Ansprüche, die als Ansprüche eines unbedingten Sollens immer kontrafaktisch sind. Da die sinnlichen Motive, wie schon bemerkt, immer singuläre sind, bezogen auf die Selbstliebe eines Individuums und sogar in einem Individuum dem zufälligen Wandel unterworfen, lässt sich der das Böse setzende Akt schließlich auch als Akt der Zustimmung zur Gesetzlosigkeit begreifen, dessen negative Seite die Zurückweisung von moralischen Imperativen, d. h. von praktischen Gesetzen ist.⁵ Kant beschreibt die Situation des Menschen, der vor der Entscheidung über die beiden möglichen Überordnungen steht, auch als die des Problems, „welche von beiden [Triebfedern]“ der Mensch „zur Bedingung der andern macht“ (RGV, 06: 36). Das eine der beiden Bedingungsverhältnisse, das die „sittliche Ordnung“ ausdrückt, kann etwa so formuliert werden: Wenn die Anforderungen erfüllt sind, die durch die moralische Maxime erhoben wurden, wenn also der Konflikt der Maximen 5 Dass es auch hinter Kants reifer Theorie des Bösen zurückbleibende, im wolffschen Muster verhaftete Phasen gab, belegen die folgenden Reflexionen: „Kan man auch in Ansehung des (moralisch) Bösen eben so aus freyem Vorsatz bestimmt sein? Nein! man kann dazu nur leidend oder gar nicht determinirt seyn“ (Refl 3856, 17: 314). „Niemand rechnet zur Freyheit das Vermögen, das, was verabscheuungswürdig ist (böse), begehren zu können“ (Refl 3867, 17: 317). Noch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 gibt es keinen Raum für eine Freiheit zum Bösen, indem es hier heißt, dass „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei“ (GMS, 04: 447) bzw. dass Freiheit und Autonomie identisch seien (GMS, 04: 450). Darüber hinaus gibt es nach der Religionsschrift wiederum Spuren eines Rückfalls hinter die Höhe ihrer Einsicht, wenn es in der Metaphysik der Sitten etwa heißt: „Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen“ (MS, 06: 227). Das schlagende und wie ein Leitmotiv wiederkehrende Argument der Religionsschrift für eine auch durch das Böse sich ausdrückende Freiheit, das hier vergessen zu sein scheint, ist die unmögliche Zurechenbarkeit des Bösen im Fall der nicht vorausgesetzten Freiheit und damit letztlich die Eliminierung des moralisch Bösen insgesamt. – Vgl. zu dieser Problematik Christoph Schulte: radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche. München 1988, 30, 53 ff.

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aufgehoben ist, kann die für sich genommen ja ganz schuldlose Maxime der Selbstliebe mit ihrer Glücksorientierung wieder in Kraft treten. Das andere Bedingungsverhältnis dagegen, das Ausdruck des Bösen wäre, lautete: Wenn auf dem Feld der Glücksintentionen diese entweder erfüllt sind oder wenigstens auf dem Weg zu ihrer Erfüllung keine Beeinträchtigung droht, kann auch dem entsprochen werden, was durch moralische Imperative verlangt ist. Diese letzte Art, das Böse zu umschreiben, ist von besonderem Interesse. Denn es ist dadurch gesagt, dass Handlungen zur Erscheinung kommen können, die zwar auf der „Umkehrung der Triebfedern“ beruhen und „wider die sittliche Ordnung“ sind, die aber, so Kant, „dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus ächten Grundsätzen entsprungen wären“ (RGV, 06: 36). Man denke etwa an Erscheinungen von Wohltätigkeit, die die Wohltäter innerlich unter die Bedingung stellen, dass es ihnen selbst aufgrund ihrer Wohltaten an nichts fehlen werde; oder auch an die Rettung des Ertrinkenden, die der Retter um des Ruhmes willen unternimmt. Nach kantischen Maßstäben gehören jene Wohltäter, da sie den intellektuellen Akt der Umkehrung der Hierarchie der Triebfedern bewusst vollzogen haben, auf die Seite des Bösen. Der durch seine Ehrbegierde (vgl. RGV, 06: 30) motivierte Retter mag unter Voraussetzung eben dieses Akts auch dazu gehören, kann aber ebenso, wenn er ohne den Vollzug dieses Akts nur durch die Gegebenheit seines sinnlichen Charakters motiviert ist, d. h. wenn er sie gar nicht in Beziehung auf ein moralisches Bewusstsein setzt, sondern nur eben blind seine Natur sich vollziehen lässt, als moralisch indifferent gelten. Sein empirischer Charakter, zu dem die Ehrbegierde gehört, wird sicher nicht als gut, sondern eher als übel bezeichnet werden müssen, wobei es sich aber um ein natürliches Übel handelt, nicht um ein moralisches, d. h. nicht um das Böse. Denn insofern zur natürlichen Vorfindlichkeit des empirischen Charakters gehörig, kann seine Begierde ihm nicht in der Qualität eines moralischen Subjekts zugerechnet werden. Und sei es gar eine gute empirische Beschaffenheit – im Verständnis des Gegenbegriffs zum moralisch indifferenten empirischen Übel, d. h. im Verständnis eines natürlichen Guten –, z. B. ein „gutherziger Instinct, dergleichen das Mitleiden ist“ (RGV, 06: 30 f.), die zur Rettungstat treibt, so ist auch diese Tat insofern sie in der Gegebenheit dieser Beschaffenheit gründet und also wiederum nicht zuschreibbar ist, nicht moralisch gut. – Schließlich ist auch der Fall nach Kant möglich, dass ein moralisches Bewusstsein zwar entwickelt ist, der Handelnde aber doch „nicht, wie es sein sollte, das Gesetz allein zur hinreichenden Triebfeder in sich aufgenommen hat“ (RGV, 06: 30). Dieser Fall eines zur hinreichenden Willensbestimmung noch mitwirkenden sinnlichen Motivs ist der der „Unlauterkeit“ (RGV, 06: 29). Als weitere mögliche Gründe, den Willen zu gesetzeskonformen Handlungen zu bestimmen, unterstellt Kant auch die „guten Sitten (bene moratus)“ (RGV, 06: 30).

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Auch die Verfeinerung des Umgangs unter den Menschen auf der Stufe der Zivilisation also kann den Menschen, der dann gesitteter Mensch ist, zur Wohltätigkeit führen. Wenngleich nun aber das Motiv der Wohltat dieses Menschen etwa sein mag, einer ihm zuteil gewordenen Erziehung zu entsprechen oder ganz im allgemeinen nicht unter das Niveau anerkannter Verfeinerungsstandards abzusinken, handelt es sich hier doch um nichts weniger als einen „sittlich guten Menschen (moraliter bonus)“ (RGV, 06: 30). Sein Status ist eher der eines Vornehmen, dessen Motivation sich aus ästhetischen Quellen speist; ein solcher Mensch macht sich „vielleicht nie“ – bei gleichzeitig immer gewahrter Gesetzeskonformität seiner Handlungen – „das Gesetz […] zur alleinigen und obersten Triebfeder“ (RGV, 06: 30). Zu den „Menschen von guten Sitten“ zu gehören, impliziert also nicht auch schon die Zugehörigkeit zu den „sittlich guten Menschen“ (RGV, 06: 30). Auch Klugheitskalküle, deren oberste Orientierung die Glückseligkeit bleibt, können zum Ergebnis gesetzeskonformer Handlungen führen. In einem solchen Kalkül könnte etwa erwogen werden, „daß die Wahrhaftigkeit, wenn man sie zum Grundsatze annähme, uns der Ängstlichkeit überhebt, unseren Lügen die Übereinstimmung zu erhalten und uns nicht in den Schlangenwindungen derselben selbst zu verwickeln“ (RGV, 06: 37). In diesem Fall wäre „der empirische Charakter gut“ – im Sinne des moralisch indifferenten natürlichen Guten, d. h. im Sinne des Gegenbegriffs zum moralisch indifferenten natürlichen Übel –, „der intelligibele aber immer noch böse“ (RGV, 06: 37), denn in der Überordnung der Orientierung am Glück (hier in Gestalt der Vermeidung einer permanenten Angst) über die Willensbestimmung bloß durch das moralische Gesetz besteht eben das Böse. Aus den zuletzt entwickelten Unterschieden in der Art, den Willen zu bestimmen, ergibt sich eine weitreichende Konsequenz, nämlich die der Unerkennbarkeit des Guten oder Bösen in der äußeren Erscheinung. Sei die Willensbestimmung rein moralisch, sei sie bloß empirisch – gleichgültig ob zurückzuführen auf ein natürliches empirisches Übel (z. B. Ehrbegierde) oder auf ein natürliches empirisches Gutes (z. B. einen gutherzigen Instinkt) –, geschehe sie unter Mitwirkung empirischer Motivation (Unlauterkeit), beruhe sie auf guten Sitten oder auf dem Klugheitskalkül, dass die Konformität mit dem Gesetz eine bessere Glücksaussicht bietet: In allen diesen Fällen kann die äußerliche Handlung – etwa eine in aller Sichtbarkeit stattfindende Rettungstat – auf eine und dieselbe Art erscheinen. Den Unterschieden in den Motivationen korrespondieren hier also keinerlei Unterschiede in der Art der Sichtbarkeit, d. h. diese Motivationen sind nicht durch distinkte Charaktere der Anschauung dargestellt. Erkenntnis aber verlangt eben solche Charaktere der Anschauung zu ihrer Bewährung; ansonsten ist sie leer. – Übrigens gilt die These von der Unerkennbarkeit moralischer Qualität in der äußeren Erscheinung speziell auch hinsichtlich alles Bösen, von dem man geneigt sein wird anzunehmen, es gebe dazu Beispiele zweifelsfreier Erkennbarkeit, etwa bei klar

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zutage liegender Aggression. Doch dem ist entgegenzuhalten, dass Phänomene der Gewalt, bloß als solche betrachtet, ein moralisches Urteil nicht hinreichend begründen können. Es ist dazu immer noch zusätzlich notwendig, das Sinnenfällige auf ein moralisches Subjekt der Zuschreibung zu beziehen. Diese Beziehung selbst aber und das moralische Subjekt als solches entziehen sich der Anschauung. Phänomene der Gewalttätigkeit, die dem Anschauungsbefund nach ununterschieden sind, können in einem Fall die Beziehung auf ein Subjekt der Zuschreibung haben, in einem anderen Fall dagegen nicht, etwa in dem von Zwangshandlungen psychisch Kranker⁶. Wo nun dennoch moralisch über andere geurteilt wird, da handelt es sich im Ausgang von äußerlich beobachtbaren Handlungen immer um eine indirekte Beurteilung, d. h. um eine auf die Weise eines Schlusses von Äußerem auf Inneres, das sich seinerseits der Beobachtung entzieht. Weil aber, wie gesehen, gleichen Phänomenen Verschiedenes als dieses Innere korrespondieren kann, wird solches Schließen nie sicher sein können. In der Konsequenz wird dieser prinzipiellen Unsicherheit kaum anders als durch große Zurückhaltung bzw. durch mit dem Urteil zugleich ausgedrückte Vorbehalte Rechnung getragen werden können. Nach all den enttäuschten Erkenntnisintentionen (trotz klarer begrifflicher Bestimmungen hinsichtlich dessen, was unter „gut“ und „böse“ zu verstehen ist) scheint nun doch ein Weg noch offen, nämlich der der Introspektion. Denn wenn auch bei der Beurteilung anderer, deren Gesinnung, d. i. der entscheidende Ort moralischer Qualifikation, verborgen ist und deren äußeres Erscheinen keine moralischen Data hergibt, die Schwierigkeiten unüberwindlich sein mögen, so scheint doch jeder in Hinsicht auf sein eigenes inneres Leben einen privilegierten Zugang zu haben, der doch wohl, wie man meinen könnte, erlauben wird, sich selbst mittels der Begriffe des Guten und Bösen zu qualifizieren. Doch nach Kant ist eine solche Zuversicht im Blick auf die eigene moralische Durchsichtigkeit naiv und oberflächlich, d. h. sie bedarf einer sie weitgehend einschränkenden Kritik. Eine nahliegende, aber nach kantischen Begriffen falsche moralische Selbsteinschätzung liegt etwa in dem (ansatzweise schon dargelegten) Fall vor, wenn ein moralisches Subjekt sich als moralisch gut beurteilt und sein Anhaltspunkt dafür jenes Gefühl des Mitleids ist, von dem es sich als erfüllt bemerkt. Sich dafür die Auszeichnung „moralisch gut“ zu verleihen, ist nach Kant – trotz der aus Mitleid

6 Rainer Wimmer (Rainer Wimmer. Kants kritische Religionsphilosophie. Berlin/New York 1990, 118) drückt zwar auch Skepsis hinsichtlich einer anschauungsgestützten Erkenntnis des Guten oder Bösen aus, allerdings auf eine relativierende Art: Das Gute oder Böse „einer Gesinnung scheint an den Handlungen und Handlungsweisen eines Menschen – in der Regel jedenfalls – nicht ablesbar zu sein“. Einen Grund für die Berechtigung seiner Relativierung der Nicht-Erkennbarkeit gibt er nicht an.

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möglichen gesetzeskonformen Taten – deshalb nicht gerechtfertigt, weil Mitleid eben unterschieden vom „Gesetz selbst“ zu den „andre[n] Triebfedern“ gehört (RGV, 06: 30). Als jener „gutherzige[] Instinct“ (RGV, 06: 30) ist es zum einen, wie gesehen, vorfindliche Gefühlseigenschaft des empirischen Charakters gewisser Individuen, die wie im Fall jeder Vorfindlichkeit eine Zuschreibung zu einem selbstbewussten moralischen Subjekt nicht erlaubt; zum zweiten müssen aber auch nicht alle Menschen notwendigerweise diese Gefühlseigenschaft besitzen⁷, ohne doch deshalb als Träger von Moralbegriffen auszuscheiden. Es mangelt dieser Eigenschaft also die Universalität des moralischen Gesetzes aus reiner praktischer Vernunft. Hinzukommend ist auch in einem einzelnen empirischen Subjekt nicht sicher von der Konstanz dieser Eigenschaft auszugehen, denn in Hinsicht auf das Auftreten von Gefühlen ist das empirische Subjekt passiv. Gefühle – außer dem der Achtung für das Sittengesetz und denen im Fall rein ästhetischer Beurteilung – gehören zu dem, was in der Rezeptivität des inneren Sinnes erscheint, woraufhin also verlässliche Antizipationen nicht möglich sind; im Fall des Ausbleibens der ganz unverfügbaren Gefühlserscheinung des Mitleids müsste auch – ohne dass dieser Mangel zuschreibbar wäre – die gesetzeskonforme Handlung unterbleiben. Bei gesetzeskonformen Handlungen aus Mitleid ist es also „bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen“ (RGV, 06: 31). Wer sich demnach für seine durch Mitleid geprägte Gefühlsbeschaffenheit moralisch schätzt, welcher Gedanke durchaus eine gewisse suggestive Kraft besitzt, verwechselt doch letztlich seine partikulare empirische Existenz mit der strikte Universalität verlangenden moralischen, d. h. er verkennt, dass sich das Gefühl des Mitleids zur Fundierung eines wahrhaft universellen gattungshaften Selbstverständnisses nicht eignet. Ganz im allgemeinen ist die Bindung der Selbsterkenntnis an den inneren Sinn und an die ihn dominierende Zeitform der Grund dafür, dass wir uns bloß erkennen, wie wir uns selbst in der Sukzession der Zeit erscheinen. Um sich aber als moralisch gut oder moralisch böse zu erkennen, wäre mehr verlangt. Zur adäquaten moralischen Selbsterkenntnis wäre nicht weniger als die Gewissheit verlangt, man habe – gleichgültig ob im Fall des Guten oder Bösen – freie intellektuelle Akte vollzogen. Freie Akte aber können nicht ohne Widerspruch als aus der Sukzession der Zeit erwachsend angesehen werden, welche als Form der Rezeptivität den inneren Sinn determiniert. Freie Akte können nicht aus der Zeitreihe resultieren, sondern müssen Akte sein, die etwas – das Gute oder Böse – in die Zeit hinein setzen. Für ein solches in der Zeitlosigkeit gründendes In-die-Zeit-Hineinsetzen gibt

7 Es ist bekannt, dass Kant vor 1770 selbst von der Gefühlsmoral, etwa Hutchesons, Shaftesburys, aber auch Rousseaus beeinflusst war. Vgl. dazu Josef Bohatec. Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Erstes Buch, Erster Abschnitt.

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es im inneren Sinn aber keine Anschauung, welche doch unabdingbar einen theoretischen Erkenntnisanspruch stützen muss, d. h. einen solchen, der den Erfordernissen des Erkenntnisvermögens Verstand (im Sinne der ersten Kritik) genügt. Insofern also moralische Gebote freie Akte fordern und insofern auch das Böse auf einem freien Akt beruhen muss, um moralisch Böses zu sein, muss eingestanden werden, dass die Instantiierungen des Guten oder Bösen nach Maßstäben des theoretischen Erkenntnisbegriffs nicht erkannt werden können – auch nicht in der Introspektion. Es muss solche Instantiierungen zwar geben, wenn moralische Gebote nichts Sinnloses gebieten sollen und wenn das Böse wirklich als moralisch Böses soll vorkommen können, aber es kann sie nicht als erkennbare geben. „Erfahrung“ kann also etwa „nie die Wurzel des Bösen in der obersten Maxime der freien Willkür in Beziehung aufs Gesetz aufdecken […], die als intelligible That vor aller Erfahrung vorhergeht“ (RGV, 06: 39 Anm.). Und dennoch spricht Kant mit Bezug auf die eigenen moralischen Qualitäten gelegentlich von einer Art Erkenntnismöglichkeit. Man könne hinsichtlich seiner Handlungen „bemerken“, „daß sie mit Bewusstsein gesetzwidrig sind“ (RGV, 06: 20). „[Die] Maximen“ – wodurch über einzelne Handlungen hinaus allgemeine Handlungsgrundsätze thematisch werden – könne man „nicht allemal in sich selbst“ „beobachten“ (RGV, 06: 20); wenn nicht allemal, dann aber doch wohl zuweilen. In diesem Fall wird sich das Bemerken bzw. Beobachten auf den „Gebrauch der Freiheit“ beziehen müssen, „wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen“ (RGV, 06: 31) wird. Es wird die Freiheit bemerkt werden müssen, die den Willen zum Guten oder zum Bösen bestimmt. Da aber beides „intelligible That“ ist, wird es „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ (RGV, 06: 31) sein müssen. Mit dem hier veranschlagten Erkenntnisbegriff ist ersichtlich nicht länger die notwendig auf irgendeine Anschauung bezogene Erkenntnis des Verstandes angesprochen, sondern eine aus dem Gesichtspunkt des Verstandes problematische Erkenntnis allein durch Vernunft. Im Kontext der reinen theoretischen Philosophie hatte Kant eine solche Erkenntnis bloß durch Vernunft durch seine Kritik der reinen Vernunft verworfen. Im Fall der reinen praktischen Vernunft scheint er den Erkenntnisbegriff nun doch wieder zu erweitern, indem Intelligibles als solches, d. h. Akte als freie Akte, soll erkannt werden können, wozu die sonstige Bedingung für Erkenntnis, nämlich das Moment der Anschaubarkeit, hier offenbar aufgegeben ist. Doch auch bei zugestandener praktischer Selbsterkenntnis durch Vernunft ist solche Erkenntnis alles andere als leicht. Widerständig wirkt nämlich die Neigung des Menschen, „sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen“ bzw. die „Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen“ (RGV, 06: 38). Diese Neigung zum Selbstbetrug ist der Abwehrreflex gegen die negativen Folgen, die eine Gewissensprüfung haben kann, worin „die Vernunft sich selbst

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[richtet], ob sie auch wirklich jene Beurtheilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe“ (RGV, 06: 186). Aus dem ungünstigen Ausgang einer solchen Prüfung resultieren nämlich Beunruhigung, Minderung der Selbstschätzung, eine Unlust also, die ein Betroffener wie im Fall jeder Unlust natürlicherweise gerne los wäre. Es gibt also ein natürliches sinnliches Interesse an der unterlassenen Gewissensprüfung, um „sich seiner Gesinnung wegen nicht zu beunruhigen, sondern vielmehr vor dem Gesetze gerechtfertigt zu halten“ (RGV, 06: 38). Günstig für die vordergründige „Gewissensruhe so vieler (ihrer Meinung nach gewissenhaften) Menschen“ (RGV, 06: 38) wirkt sich aus, dass die äußeren Handlungen auch ohne eine korrespondierende moralische Gesinnung gesetzeskonform sein können und so als – in Wahrheit falscher – Anhalt für die Zuschreibung eines moralischen Verdienstes bzw. für die Abweisung von Schuldzuschreibungen dienen können. Die erschlichene Gewissensruhe so vieler, d. i. ein Fall misslungener moralischer Selbsterkenntnis, stellt sich nach Kant ein, „wenn sie mitten unter Handlungen, bei denen das Gesetz nicht zu Rathe gezogen ward, wenigstens nicht das Meiste galt, nur den bösen Folgen glücklich entwischten, und wohl gar die Einbildung von Verdienst, keiner solcher Vergehungen sich schuldig zu fühlen, mit denen sie Andere behaftet sehen: ohne doch nachzuforschen, ob es nicht blos etwa Verdienst des Glücks sei, und ob nach der Denkungsart, die sie in ihrem Innern wohl aufdecken könnten, wenn sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Orts, die in Versuchung führen (lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet werden können) davon entfernt gehalten hätten“ (RGV, 06: 38). Bei aller Schwierigkeit lässt sich nach dem Gesagten doch durch praktische Vernunft, wenn man denn will, die „Denkungsart“ im „Innern“ aufdecken. Um auf das hier speziell thematische Böse zurückzukommen, lässt sich festhalten, dass nach Kant sein Ursprung nirgendwo anders als im Menschen liegt, und zwar im intellektuellen, nicht im sinnlichen Teil seiner Existenz. Der das Böse setzende Akt ist der intellektuell irrationale freie Akt der Zustimmung zur heteronomen Willensbestimmung; er erwächst nicht von selbst aus der Irrationalität der Sinne. Indem er allein dem Menschen zuzuschreiben ist, bietet das Moralischböse auch keinen Grund, etwa die Theodizee-Frage aufzuwerfen, d. h. von Gott eine Rechtfertigung zu verlangen. Der Ursprung des Bösen liegt in der Freiheit des Menschen. Darin liegt auch der Ursprung des Guten, denn, wie gehört, soll nichts Gegebenes, weder etwas äußerlich noch etwas innerlich Gegebenes auf die Weise der Fremdbestimmung einen moralischen Imperativ hervorbringen können, so dass ein solcher also, positiv gesprochen, nur aus Freiheit, d. h. durch einen freien Akt der Selbstverpflichtung, gesetzt sein kann. Aufs Ganze gesehen ist die Freiheit des Menschen also durch und durch ambivalent; sie ist Freiheit zum Guten und Freiheit zum Bösen.

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Es mag nun kritische Stimmen geben, die der wiederholten Rede von der Freiheit, zu welchem Gebrauch auch immer, skeptisch gegenüberstehen, die also den Freiheitsbegriff insgesamt für verdächtig halten. Zur Begründung ihrer Skepsis können sie sich sogar bei Kant bedienen. Denn Kant selbst ist es, der in einer gewissen Hinsicht in seiner Kritik der reinen Vernunft den Freiheitsbegriff zu den illusionären Begriffen, den sogenannten dialektischen Ideen, zählt. Diese Hinsicht ist die Hinsicht theoretischer Vernunft. Für theoretische Vernunft ist Freiheit ein illusionärer Begriff, weil sich durch ihn in der anschaulichen Welt nichts erkennen lässt. Anders gesagt: Es gibt nichts in der Erscheinung, das sich als Manifestation von Freiheit behaupten ließe. Der Freiheitsbegriff hat demnach keine theoretische Realität. – Nun ist aber der Zusammenhang, in dem hier im entfalteten Kontext von Freiheit die Rede sein muss, gar kein erkenntnistheoretischer. Thema hier ist das praktische, speziell das moralischpraktische Selbstverständnis des Menschen, und auf diesem Gebiet ist der Freiheitsbegriff unverzichtbar. Zur Begründung der Unabweisbarkeit des Freiheitsbegriffs beruft Kant sich allerdings nicht – was sich vielleicht als naheliegend aufdrängen könnte – auf das unmittelbare faktische Freiheitsbewusstsein bzw. Freiheitsgefühl, das einen besetzen mag, wenn – etwa an einer üppigen Kuchentheke – vieles zur Wahl steht. Dafür gibt es konkurrierende Erklärungen ohne vorausgesetzte Freiheit, z. B. dass es ein Zustand der Indeterminiertheit aufgrund von Nichtwissen ist – welcher Kuchen mir wohl am wohlsten tun wird. Kants Verfahren zur Begründung von Freiheit ist ein indirektes, schließendes, das sich einer Reflexion auf die Bedingungen von Moralität verdankt. So lesen wir bei ihm, dass der Begriff der Freiheit „aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür“ durch das moralische Gesetz, „als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde“ (RGV, 06: 49 Anm.). Für diesen Schluss ist das Bewusstsein vorausgesetzt, dass es Pflichten gibt, denen man „unbedingt […] treu bleiben“ (RGV, 06: 49 Anm.) soll. Schon in der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant von der Besonderheit eines solchen Sollens gehandelt: „Das Sollen drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt“ (KrV, A 547/B 575). Das Sollen hat, „wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, […] ganz und gar keine Bedeutung“ (KrV, A 547/B 575). „Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen“ (KrV, A 548/B 576). Liegt nun aber doch das unauslöschbare Bewusstsein solchen Sollens vor, dann drückt es „eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders als ein bloßer Begriff ist“ (KrV, A 547/B 575) und keine Erscheinung. Nach Kant schließt der Mensch nun „mit Recht“ aus eben diesem unbedingten Sollen, „er müsse es auch können, und seine Willkür sei also frei“ (RGV, 06: 49 Anm.). Das hier zuletzt verwandte berühmte „Du kannst, denn du sollst“ ist kein bloßes Diktum, sondern ein tragfähiges Argument: Ein unbedingtes Sollen,

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dem kein Können entspräche, wäre eine sinnlose Anforderung an den Menschen und wäre demnach auch als ein Sollen aufgehoben. Dessen aber, dass es gewisse unbedingte Pflichten gibt, ist sich der Mensch bewusst und mithin kann er auch auf das Können und auf die Freiheit schließen. Der hier skizzierte kantische Beweis der Freiheit aus dem moralischen Bewusstsein verschafft diesem Begriff, wie er gelegentlich sagt, praktische Realität. Das ist nach wie vor keine theoretische Realität, weil der Beweis bloß in Gedanken geführt ist, sich auf keine korrespondierende Anschauung stützen kann und also den Bedingungen theoretischer Erkennbarkeit nicht genügt. Aber dennoch wäre es verfehlt, praktische Realität als etwas bloß Schattenhaftes zu verstehen. Es handelt sich dabei nicht um eine schwächere, sondern um eine andere Realität. Im Gegenteil lässt sich sogar die praktische Realität für diejenige halten, die uns am intensivsten beschäftigt. Denn sind es nicht Fragen der Moral, die unser stärkstes Interesse erregen? Dieses Interessenehmen müssten wir für eine schlechte Angewohnheit halten, wenn die praktische Realität des Freiheitsbegriffs nicht vorausgesetzt würde. Denn ohne Freiheit „könnte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen“ (RGV, 06: 21). Ohne die vorausgesetzte praktische Realität des Freiheitsbegriffs müssten konsequenterweise moralische Beurteilungen insgesamt unterbleiben, ebenso alle dann ganz sinnlos gewordenen Erwägungen über das, was aus moralischen Gründen getan oder unterlassen werden soll. Der vormalige Skeptiker der Freiheit müsste an dieser Stelle zugestehen, dass es unmöglich ist, so zu leben, d. h. ohne die Voraussetzung der eigenen Freiheit. Zurückkehrend zu demjenigen Gebrauch der Freiheit, den Kant ihren Missbrauch nennt, d. i. ihr Gebrauch zur bösen Tat, ist nun noch eine Frage nahegelegt, die er jedoch letztlich für sinnlos erklärt. Es ist die Frage: Warum nun ist der Mensch so, dass er seine Freiheit auch zur bösen Tat gebraucht? Kants These dazu ist: Warum wir, und zwar durch „unsere eigene Tat“, Maximen zum Bösen hin verderben, lässt sich nicht beantworten; es lässt sich dafür keine „Ursache“ angeben (RGV, 06: 32). Fragen zu stellen, die nicht zu beantworten sind, ist ersichtlich sinnlos. Doch ganz erledigt ist die Angelegenheit damit noch nicht. Denn die These von der Unerklärlichkeit des Bösen ist nicht etwa resignativer Ausdruck eines eben nicht möglichen Wissens bzw. Ausdruck der Verlegenheit einer an ihre Grenzen stoßenden Theorie. Sie ist vielmehr ein systematisches Erfordernis. Von der bösen Maxime „muß […] nicht weiter gefragt werden können, was der subjective Grund ihrer Annehmung […] sei“ (RGV, 06: 21; Hervorhebung B. D.). Der Grund für diesen notwendigen Ausschluss des Weiterfragens wird deutlich, wenn zum Bewusstsein kommt, wonach mit einem dennoch unternommenen Weiterfragen eigentlich gefragt wäre. Es wäre danach gefragt, was einer freien Tat als äußere Ursache zu-

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grundeliegt. Eine solche determinierende Ursache aber zerstörte sofort gerade die Freiheit der Tat und mit dieser ihre Zuschreibbarkeit. Sie rückte das Böse wiederum hinaus aus dem Menschen in die Anonymität des Außermenschlichen. Dort angesiedelt aber kann es nicht moralisch böse heißen. Im Menschen, in seiner Freiheit, hat nach Kant das Moralischböse notwendigerweise seinen letzten Grund. Deshalb übrigens nennt er es das radikal Böse. In seinen eigenen Worten wird diese Benennung damit gerechtfertigt, dass der „subjective oberste Grund aller Maximen“, d. i. die Freiheit, in der Menschheit selbst „gleichsam gewurzelt ist“ (RGV, 06: 32). Des weiteren sagt er: Wir werden den Hang zum Bösen, „da er doch immer selbstverschuldet sein muß, […] ein radicales […] Böse[s] in der menschlichen Natur nennen können“ (RGV, 06: 32). Mit dieser Erläuterung der Radikalität des Bösen ist eine andere, durchaus in Umlauf befindliche, ausgeschlossen, nämlich die, wonach im Menschen angelegt sei, auf eine nicht mehr zu überbietende Art destruktiv zu sein, sich zur völligen Eliminierung des moralischen Bewusstseins zu steigern und das Böse um des Bösen willen zu tun. Nach einem solchen Verständnis müssten die genannte Ambivalenz der Freiheit und der Konflikt der Maximen derart aufzulösen möglich sein, dass die freie Zustimmung zur Gesetzlosigkeit das Bewusstsein vollständig einnähme bzw. dass nur und allein die Selbstliebe als Prinzip der Willensbestimmung wirksam wäre. So ist der Mensch nach Kant nicht, d. h. er ist kein Teufel. „Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist […] nicht sowohl Bosheit, wenn man dieses Wort in strenger Bedeutung nimmt, nämlich als eine Gesinnung […], das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen (denn die ist teuflisch), sondern vielmehr Verkehrtheit des Herzens“ (RGV, 06: 37). Diese bloße Verkehrtheit des Herzens hat zur Folge, dass auf den anderen Gebrauch der Freiheit, d. h. den gemäß der moralischen Ordnung, dessen Möglichkeit also nie getilgt gewesen sein kann, von selbst zurückzukommen möglich ist. Kants Worte zu einer solchen moralischen Umkehr sind: „Die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns ist also nicht Erwerbung einer verlornen Triebfeder zum Guten; denn diese, die in der Achtung fürs moralische Gesetz besteht, haben wir nie verlieren können“ (RGV, 06: 46). Vor diesem Hintergrund muss Kant der biblischen „Geschichtserzählung“ – mindestens deren buchstäblicher Lesart – vom Bösen „im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabnerer Bestimmung“ (RGV, 06: 43 f.; Hervorhebung B. D.) kritisch gegenüberstehen. Hinsichtlich der Bosheit dieses reinen außermenschlichen Geistes muss gelten, dass hier „die Versuchung des Fleisches nicht zur Milderung seiner Schuld angerechnet werden kann“ (RGV, 06: 44), dass er also ohne den Anlass einer im moralischen Konflikt zur Zustimmung sich darbietenden Sinnlichkeit mit ihrer Tendenz zur partikularisierenden Selbstliebe das Böse nur um des Bösen willen wählte, dass er also die er-

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habene Bestimmung ohne diese Provokation aufgab und demnach als gänzlich verderbt gelten muss, als vollkommen abgefallen vom Guten. Der Mensch nun muss anders als dieser gedachte böse Geist „nur als durch Verführung ins Böse gefallen“ (RGV, 06: 44) vorgestellt werden – eben durch „die Versuchung des Fleisches“ − , wodurch er zwar als durch seine Freiheit, aber nicht als ohne Anlass böse vorgestellt wird. Der Mensch kann so also „nicht von Grund aus […] verderbt, sondern als noch einer Besserung fähig“ (RGV, 06: 44) gelten. Anders als im Fall des ganz durch den bösen Willen erfüllten Geistes liegt bei ihm bloß die genannte Verkehrtheit des Herzens vor, d. h. die Umkehrung der sittlichen Ordnung der Triebfedern, die in dieser Umkehrung doch beide als anwesend zu unterstellen sind. Daher ist im Fall des Menschen davon auszugehen, dass er „bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat“, so dass „Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem er abgewichen ist, übrig gelassen wird“ (RGV, 06: 44).⁸ Es darf dies allerdings keine passive Hoffnung auf das Widerfahren dieser Wiederkehr sein, sondern der Mensch wird sie selbst durch den rechten Gebrauch seiner Freiheit, d. h. durch den Akt der Wiederherstellung der sittlichen Ordnung der Triebfedern, zustande bringen müssen. Alles in allem liegen somit nach Kant sowohl der Ursprung des Bösen als auch die Potenz, es zu bekämpfen, in der Immanenz der Sphäre des Menschlichen. Anders gesagt, ist der Mensch, sein moralisches Leben zwischen den Polen des Gebrauchs und des Missbrauchs der Freiheit betreffend, auf sich allein gestellt. Aus dieser Position ergibt sich eine natürliche Opposition der kantischen Moralphilosophie gegen eine verbreitete Art, sich die moralische Restitution, d. h. die 8 In der Literatur zur Religionsschrift wird gelegentlich moniert, Kant habe ohne Grund und bloß nach Art einer willkürlichen anthropologischen Setzung ausgeschlossen, dass der Mensch teuflisch böse, böse nur um des Bösen willen bzw. nur um des Kampfs gegen das Sittengesetz willen sein könne (vgl. Christoph Schulte. radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche. 103–106). Reiner Wimmer hält Kants Position nicht nur für unbegründet, sondern „aufgrund der Erfahrungen, die der Mensch mit seinesgleichen gemacht hat“ (Reiner Wimmer. Kants kritische Religionsphilosophie. 120), für falsch, obwohl er andernorts (vgl. z. B. 155) durchaus ein kritisches Bewusstsein hinsichtlich der Erfahrbarkeit von moralischen Qualitäten erkennen lässt. Auch hinsichtlich der vermissten Begründung lässt sich wohl Abhilfe schaffen: Die zuzulassen verlangte Möglichkeit eines Bösen um des Bösen willen dürfte in Wahrheit eine Unmöglichkeit sein, insofern sie den widersprüchlichen Begriff einer Intention zu denken verlangt, der es buchstäblich um nichts geht, die also nicht einmal mehr eine Anbindung an den gegebenen Bedürfnischarakter des Menschen mit seiner Orientierung an der Positivität einer sinnlichen Befriedigung hat. Durch einen Gedanken aber, durch den sowohl der noumenal moralische Aspekt des Menschen als auch sein sinnlicher als eliminiert gedacht werden soll, wird gar nicht mehr der Mensch gedacht. Kants Ausschluss des Teuflisch-Bösen bedeutet also: Der Mensch kann nur auf Menschenart böse sein, und zu dieser gehört untrennbar seine Sinnlichkeit. Seine Art, böse zu sein, ist es, dieser im Konfliktfall den Vorzug vor moralischen Geboten zu geben.

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Umkehr vom Bösen zum Guten, vorzustellen. Kant subsumiert diese geläufige Vorstellungsart unter das, was er „allerlei unlautere Religionsideen“ (RGV, 06: 51) nennt. Er macht sie aus in den sogenannten „Religionen […] der Gunstbewerbung“, d. h. in den Religionen, in denen durch Kulthandlungen Gnadenwirkungen erzielt werden sollen, vgl. RGV, 06: 51 f.). Hier, so Kant, „schmeichelt sich […] der Mensch […]: Gott könne ihn wohl zum besseren Menschen machen, ohne daß er selbst etwas mehr dabei zu thun habe, als darum zu bitten“ (RGV, 06: 51). Er fügt dem sogleich hinzu: „welches […] eigentlich nichts getan sein würde“ (RGV, 06: 51). Gunstbewerbungen durch an Gott adressierte Bitten und Kulthandlungen, die Gnadenwirkungen hervorrufen sollen, sind für Kant aus mehreren Gründen suspekt. Zum Beispiel aus dem Grund, weil der Begriff von Ursache und Wirkung hier über die Sphäre der Erscheinungen hinaus angewandt ist, was bereits die Kritik der theoretischen Vernunft verbietet. Der Kausalbegriff ist dann unrechtmäßig angewandt, wenn beansprucht wird, auf Übernatürliches zu wirken; umgekehrt auch dann, wenn der Anspruch ist, aus dem Übernatürlichen Wirkungen zu empfangen. Die Behauptung einer von dorther „vermeinten inneren Erfahrung“ qualifiziert Kant, weil wir kein Sensorium für solche Wirkungen haben, als „Schwärmerei“ (RGV, 06: 53 Anm.). Besonders aber aus dem Grund wird die Berufung auf Gnadenwirkungen problematisch, weil praktische Vernunft sich selbst dadurch insofern verrät, als sie auf ihre Freiheit zur Selbstbestimmung zugunsten einer ihr unwürdigen Passivität verzichtet. Es könnte die Abkehr vom Bösen, durch Gnadenwirkung herbeigeführt, wiederum keinem moralischen Subjekt zugeschrieben werden. Sie wäre „That eines andern Wesens“ (RGV, 06: 53 Anm.). Eine auf Gnadenwirkung gehende Intention bedeutete die Delegation der Zuständigkeit für den Moralitätsstatus des Menschen an dieses andere Wesen. Nach Kant ist eine solche Selbstentlastung durch Unzuständigkeitserklärung nicht möglich, sondern ihmnach liegt die volle Verantwortung für die moralische Beschaffenheit des Menschen beim Menschen selbst. Sie bemisst sich allein an seinen eigenen Taten. Das Erwarten von Gnadenwirkungen ist ersichtlich ein Nichtstun; auch durch die scheinbaren Handlungen des Kultus ist, wenn sie denn auf dem Irrtum beruhen, auf Gott Wirkungen ausüben zu können, „eigentlich nichts gethan“ (RGV, 06: 51), d. h. sie reduzieren sich damit auf in Wahrheit zweckfreie, d. h. rein ästhetische Handlungen. Die Frage, ob die Abkehr vom Bösen durch Gnadenwirkung möglich ist, wodurch dann die in der Fortsetzung geschehenden guten Taten zu göttlich inspirierten Taten würden, mag manchen als eine randständige Frage erscheinen. Sie ist es allerdings nicht, denn ihre Bejahung führt in jene keineswegs harmlosen religiösen Missverständnisse, die gerade heute höchst wirksam sind. Die Hauptakteure auf beiden Seiten des wichtigsten politischen Konflikts unserer Zeit stehen in dem

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Selbstverständnis, aus ihrer intimen Beziehung zu Gott die Kraft für ihren Kampf im Namen des Guten gegen das Böse zu schöpfen. Der selbe Gott wird es allerdings nicht sein können, mit dem sie da auf gutem Fuß zu stehen beanspruchen und den sie dazu benutzen, um ihre Taten schon im Ansatz gegen Kritik zu immunisieren. Gegen ihre Missverständnisse einschließlich der fatalen Folgen könnte die hier entfaltete kantische Theorie des Bösen das probate Gegenmittel sein. Denn sie macht die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse zu einer nur unter Menschen verhandelbaren Sache. Indem sie dies tut, ist sie eine strikt säkularisierende Theorie, die bloß auf den Einsatz reiner praktischer Vernunft vertraut, durch die der Mensch sich selbst unter den kategorischen Imperativ stellt. Allein durch diesen ist leicht einsehbar, dass weder Selbstmordattentate noch Angriffskriege moralisch legitimiert sein können. Insofern sie das nicht sein können, müssen sich die Kriegsherren verhört haben, als sie meinten, die Stimme Gottes befehle Attentate oder Angriffskriege zur Bekämpfung des Bösen. Kants Theorie des Bösen ist nach dem Gesagten insoweit säkular, als sie den Ursprung des Bösen in den Menschen setzt – wie gesehen: nicht in seine Sinnlichkeit, sondern in seinen Intellekt – und das Mittel dagegen ebenso. Sie ist aber dennoch nicht in dem Sinne säkular, dass ihr Menschenbild das des Physikalismus wäre. In ihrem Mittelpunkt steht der Mensch als ein freier. Die ihr implizite Freiheitsthese beruht dabei auf keinem naiven Freiheitspathos, sondern auf einer Reflexion auf die Bedingungen von Moralität. Insgesamt hält sie die vernünftige Mitte zwischen den Vereinseitigungen sowohl eines reduktionistischen Physikalismus als auch einer unaufgeklärten Religiosität.

Die personifizierte Idee des Guten Zugleich ein Beitrag zu Kants Christologie Im Folgenden soll die Eigenart einer Vernunftidee erwogen werden, die Kant die „personifizierte Idee des guten Prinzips“ nennt. Das verlangt herauszustellen, welche spezielle Totalität durch diese Idee gedacht wird, denn Vernunftideen sind Totalitätsbegriffe. Insbesondere soll aber die Frage gestellt und möglichst beantwortet werden, ob es sich bei dieser Idee um eine regulative Idee handelt. Der wesentlichen Charakteristik regulativer Ideen folgend, müsste in diesem Fall durch die Idee etwas gedacht sein, das zwar notwendigerweise gedacht wird, dessen Realität aber problematisch ist, das also nicht über den Status eines Gedankendings hinauskommt. Zugleich müsste diese Idee aber doch einen positiven Nutzen haben; es müsste durch sie ein Ziel gesteckt sein, das, obwohl unerreichbar, doch Orientierung gibt und dazu beiträgt, dasjenige partiell und annäherungsweise zu realisieren, was durch sie eben der Totalität nach gedacht ist. Im Fall der personifizierten Idee des guten Prinzips handelt es sich, was sofort und ohne große exegetische Anstrengung ersichtlich wird, um eine Idee der praktischen Vernunft. Es mag daher auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, dass Kant diese Idee erst in seiner Religionsschrift entfaltet. Eine nähere Betrachtung dieser Schrift zeigt allerdings recht bald, dass diese Idee nicht zu Unrecht, wenn auch vielleicht nicht notwendigerweise in ihrem Kontext verortet ist. Denn zum einen enthält diese Schrift durchgängige Auseinandersetzung mit der christlichen Religion, in der es ein Glaubensartikel ist, die personifizierte Idee des guten Prinzips für realisiert zu halten; und zum anderen entfaltet sie das Konzept einer rein rationalen Religion, deren Zentralbegriffe die Begriffe der reinen praktischen Vernunft sind – die rein moralischen Begriffe also. Zur Verdeutlichung der Nähe zwischen reiner Morallehre und rein rationaler Religion sei das Konzept dieser Vernunftreligion wenigstens in Grundzügen erläutert. Nur die Vernunftreligion erfüllt nach Kant auf adäquate Weise das „große Erfordernis der wahren Kirche“, das in der „Qualifikation zur Allgemeinheit“ bzw. der „Gültigkeit für jedermann“ (RGV, 06: 157) besteht. Das ist so, weil sie als moralische Religion keine anderen als die universellen Morallehren enthält. Was sie zur Religion macht, ist, dass sie die moralischen Gesetze als göttliche Gesetze lehrt. Der Gedanke an Gott als moralischen Gesetzgeber steht dabei nicht im Widerspruch zur Autonomie der Moral, denn er ist ein zusätzlicher, ein abgeleiteter Gedanke unter Voraussetzung dieser Autonomie. Die Grundlegung der Moral betreffend, setzt der Mensch selbst, und zwar ohne den Beistand eines höheren Wesens, bloß vermöge seiner eigenen reinen praktischen Vernunft die moralischen Imperative, das sind https://doi.org/10.1515/9783110788099-012

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Gesetze der Selbstverpflichtung, in Geltung (vgl. RGV, 06: 3). Wenn er aber über die Folgen moralischen Verhaltens in der Welt reflektiert, wird er nach Kant notwendig auf eine Idee von Gott geleitet, wonach dieser erforderlich ist, um ein Vernunftdefizit dieser Welt zu heilen. Es ist das Defizit, dass in der Welt der Nexus zwischen Moralität, d. i. zugleich die Würdigkeit, glücklich zu sein, und tatsächlichem Glück kein notwendiger ist und nicht in der Gewalt des Menschen steht. Der gedachte Gott nun, der um der Überwindung dieses Defizits, d. h. um der vollständigen Rationalität im Verhältnis zwischen Moralität und Glückseligkeit willen gedacht ist, wird keine andere Gesetzgebung als für die Menschen verbindlich erachten können als die, die diese kraft reiner praktischer Vernunft schon für sich selbst verbindlich gemacht haben. Das heißt: Dieser Gott wird als zur selbsteigenen Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft im Menschen hinzukommend gedacht, sozusagen als zweiter moralischer Gesetzgeber, als die veräußerlichte Gestalt jener reinen praktischen Vernunft. Dieser weitestgehenden Koinzidenz zwischen reiner Morallehre und Vernunftreligion entsprechend, handelt Kant in seiner Religionsschrift von jener genannten Idee, die ihrem wesentlichen Gehalt nach beiden zugehört. Es ist die Idee bzw. der Totalitätsbegriff moralischer Perfektion, insofern sie durch eine Person in individuo repräsentiert sein soll. Dem minimalen Unterschied zwischen reiner Morallehre und Vernunftreligion Rechnung tragend, heißt diese Idee in der religionsneutralen Bezeichnung, wie gehört, „personifizierte Idee des guten Prinzips“ (RGV, 06: 60) und in der Variante der Vernunftreligion, die den Gesichtspunkt des darin gedachten Gottes einbezieht, Idee des „Gott wohlgefällige[n] Mensche[en]“ (RGV, 06: 60). Die Religionsidee bezeichnet Kant auch als die Idee des Gott „eingeborene[n] Sohn[s]“ (RGV, 06: 60). Aus dem Gesichtspunkt der Vernunft ist diese Bezeichnung ersichtlich metaphorisch – eine buchstäbliche Lesart verbietet sich schon wegen der darin enthaltenen Restriktion auf ein Geschlecht –, sie erzwingt aber sogleich eine Assoziation über die Vernunftreligion hinaus. In den Blick kommt die historische christliche Religion, die ihre Zentralgestalt, Jesus von Nazareth, als eingeborenen Sohn Gottes und als historische Verwirklichung moralischer Vollkommenheit behauptet, die also das in einem Fall als verwirklicht behauptet, was durch die Vernunftidee des personifizierten Guten bloß gedacht ist. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob dieser oder überhaupt irgend ein Fall auch nach den Rationalitätskriterien Kants als eine solche Verwirklichung gelten kann. Wenn ja, dann hätten wir den außergewöhnlichen Fall zu konstatieren, dass die objektive Realität bzw. die empirische Konkretisierung einer reinen praktischen Vernunftidee zu behaupten wäre, eben der Idee des personifizierten guten Prinzips. Durch die Idee der moralischen Vollkommenheit einer Person wäre im Fall der Bestätigung nicht bloß ein

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Gedankending gedacht, das nur als regulative Idee dienen kann, sondern es könnte ein Mensch, der existiert hat, genannt werden, durch den sie realisiert wurde. Vor der dazu fälligen Prüfung sollte noch erwogen werden, was der Fall des Misslingens zu bedeuten hätte, wenn Jesus vor der Vernunft also nicht als tatsächliche Exemplifikation der Idee des personifizierten Guten gelten könnte. Dazu ist sogleich schon zu sagen, dass es die Dignität der Idee als solcher nicht berührte, denn, so Kant: „Es bedarf keines Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches schon in unserer Vernunft“ (RGV, 06: 62). Kant vergleicht die von Erfahrung unabhängige Berechtigung und die mindestens gedanklich orientierende Vorbildfunktion dieser Idee mit dem Gehorsamsgebot des Sittengesetzes, das seinerseits auch dann in Geltung wäre, „wenn es […] nie einen Menschen gegeben hätte, der diesem Gesetze unbedingten Gehorsam geleistet hätte“ (RGV, 06: 62). Als reine Vernunftidee ist demnach die Idee des personifizierten Guten von keinem existierenden Menschen in der Erfahrung, also auch nicht von Jesus, abgenommen. Im Gegenteil setzt sie erst den Maßstab für eine Prüfung, ob existierende Personen, unter ihnen Jesus, ihr genügen oder genügt haben und also als Beispiele für ihre Verwirklichung in der Erfahrung gelten können. Diese Art des Zugangs stellt eine Spezifikation des Grundprinzips der kantischen Bibelhermeneutik dar, dass nämlich die Bibel nach der Moral und nicht die Moral nach der Bibel ausgelegt werden müsse (vgl. RGV, 06: 109 ff., bes. 110 Anm.). Es drückt sich dadurch der Primat der praktischen Vernunft vor jeder vermeinten Offenbarung aus, oder anders, der Primat der Vernunftreligion vor jeder historischen. Nach Kants Darstellung ist es im Wesentlichen zweierlei, worüber uns die Bibel im Ton des Erfahrungsberichts, also mit dem Anspruch auf empirische Wahrheit, Mitteilung machen will, um uns von Jesus als der objektiv realen personifizierten Idee des Guten zu überzeugen. Zum einen ist es sein „gänzlich untadelhafte[r], ja so viel, als man nur verlangen kann, verdienstvolle[r] Lebenswandel“ (RVG, 06: 62), zum anderen sind es „seine Lehren“ (RGV, 06: 66). Auf die Wunder, die die Bibel Jesus zuschreibt, möchte ich hier nicht näher eingehen. Dass Kant die biblischen Wundererzählungen verwirft, mindestens im Sinne von Erfahrungsberichten, was allenfalls eine symbolische Deutung offen lässt, wird nicht weiter überraschen. Einer seiner Gründe dafür, ihre buchstäbliche Lesart abzulehnen, ist allerdings auch in unserem Zusammenhang relevant. Ein wundertätiger Jesus wäre über die Menschengattung erhoben und eignete sich nicht mehr dafür, an seinem Fall paradigmatisch die Situation des natürlichen Menschen zu erwägen. Die Annahme seiner vollständigen Zugehörigkeit zur Gattung der natürlichen Menschen gilt auch für seinen moralischen Status. Anderenfalls, als über die Menschengattung erhoben, eignete er sich nicht mehr dafür, um an seinem Beispiel die Differenz zwischen einer bloß gedachten und einer ver-

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wirklichten moralischen Perfektion zu erwägen. Diese Differenz wäre immer schon zugunsten der Verwirklichung aufgehoben, was im übrigen das Problem nach sich zöge, die verbleibende Perfektion nicht mehr als moralische ansehen zu können, weil moralische Perfektion nicht ohne den Aspekt des Verdiensts gedacht werden kann. Jesus von vornherein, wie Kant sagt, keine „errungene, sondern angeborne unveränderliche Reinigkeit des Willens“ (RGV, 06: 64) zu unterstellen, ihn also als einen „Heiligen“ in der „Erhebung […] über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ (RGV, 06: 64) vorauszusetzen, hätte zur Folge, dass seine „Distanz vom natürlichen Menschen so unendlich groß“ wäre, dass er als göttlicher Mensch für den natürlichen „nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte“ (RGV, 06: 64). Auf diese Weise der Gattung nach vom natürlichen Menschen unterschieden, hätte er für die Praxis dieses natürlichen Menschen keinerlei Relevanz. Jesus nun aber nicht jene angeborene unveränderlichen Reinigkeit des Willens zu unterstellen, heißt, ihm auch jenen Hang des natürlichen Menschen zuzuschreiben, den Kant den Hang zum Bösen nennt und den er in seiner Theorie des Bösen in der Freiheit des Menschen verwurzelt sieht, die sowohl Freiheit zur Moral als auch Freiheit zur Amoral ist. War Jesus, so lässt sich nun fragen, obwohl vollständig den Bedingungen des natürlichen Menschen unterworfen, dennoch jener wirkliche Fall der Vernunftidee des personifizierten Guten? Hat er also seine Freiheit nie zur Amoral missbraucht? Um seine moralische Perfektion bejahen zu können, muss eine Forderung erfüllt sein, die Kant so formuliert: Es „muss […] eine Erfahrung möglich sein, in der das Beispiel von einem solchen Menschen gegeben werde“ (RGV, 06: 63). Ersichtlich ist der hier verwandte Erfahrungsbegriff nicht der theoretischer Vernunft, wonach verlangt ist, dass der Gegenstand der Erfahrung durch schematisierte Kategorien, angewandt auf sinnliche Anschauung, also unter Einschluss von Empfindungsqualitäten, erkannt werde. Die geforderte Erfahrung müsste eine Erfahrung praktischer Vernunft sein, Resultat der Anwendung praktischer Urteilskraft, für die erkennbar sein müsste, dass ein Mensch der adäquate Fall der Idee der moralischen Perfektion einer Person ist. Wenn das möglich sein sollte, hätten wir es, gemessen an der allgemeinen Ideenlehre Kants, mit einem Ausnahmefall zu tun, denn nach dieser Lehre kann es für keinen Gegenstand, der durch eine Idee der Vernunft gedacht wird, eine adäquate Erfahrungserkenntnis geben. Dass Kant sich dieser Problematik bewusst war, zeigt sich daran, dass in dem Absatz, der mit der zitierten Forderung nach der Erfahrung eines solchen mit der personifizierten Idee des guten Prinzips kongruierenden Menschen beginnt, lauter Einschränkungen folgen. Der Forderung nach dieser Erfahrung fügt er sogleich hinzu: „so weit als man von einer äußeren Erfahrung überhaupt Beweistümer der innern sittlichen Gesinnung erwarten und verlangen kann“ (RGV, 06: 63). Auch die

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Antwort darauf, wie weit man denn von einer äußeren Erfahrung jene Beweistümer erwarten kann, bleibt er nicht schuldig. Diese Antwort nimmt das anfängliche Erfahrungspostulat nahezu vollständig zurück und lautet: Dem „Urbild […] in der Vernunft“ (RGV, 06: 63) – also dem des personifizierten Guten – ist „kein Beispiel in der äußeren Erfahrung adäquat […], als welche das Innere der Gesinnung nicht aufdeckt“ (RGV, 06: 63). Wenn demnach vom Inneren einer Gesinnung, d. i. von dem, was für die Beurteilung moralischer Qualität einsichtig sein muss, keine äußere Erfahrung möglich ist, dann verbleibt – zumindest vorerst – für jene doch geforderte Erfahrung nur der Charakter einer inadäquaten Erfahrung. Wenn es nun auch zum Inneren einer Gesinnung keinen direkten Zugang gibt, so muss doch ein indirekter möglich sein, wenn das Erfahrungspostulat nicht ganz obsolet werden soll. Auch eine inadäquate Erfahrung muss sich auf irgend etwas Gegebenes stützen, wenn sie überhaupt den Namen der Erfahrung verdienen soll. Dieses in der Erscheinung Gegebene ist das, was bei Kant durchgängig als „Lebenswandel“ bezeichnet ist. Der Lebenswandel, der in gewisser Weise vor Augen liegt, obwohl nicht so, wie die Gegenstände sinnlicher Anschauung theoretischer Vernunft vor Augen liegen, ist es, von dem her sich auf das Innere von Gesinnungen, so Kant, „nur schließen läßt“ (RGV, 06: 63). Der Lebenswandel also gilt praktischer Urteilskraft als Zeichen, Ausdruck oder Folge innerer Gesinnung. Von ihm her müsste sie einen indirekten Zugang zu Gesinnungen gewinnen können. Obwohl damit korrekt beschrieben sein dürfte, wie in der Tat allenthalben moralisch geurteilt wird, bliebe Kant doch hinter den eigenen Standards zurück, wenn er sich hinzukommend zur „quid facti“-Frage nicht auch zur „quid iuris“Frage äußerte, also zur Frage nach Tragfähigkeit und Legitimation solchen Schließens. Seine Aussage dazu in der hier diskutierten Passage lautet: Dieses Schließen geschieht „nicht mit strenger Gewissheit“ (RGV, 06: 63). Wenn dem so ist, dann kann von keinem Menschen jemals mit strenger Gewissheit gesagt werden, er sei in der Tat ein Verwirklichungsfall der Vernunftidee des personifizierten guten Prinzips. Über das Bisherige hinaus liefert Kant andernorts in der Religionsschrift so weit gehende Argumente gegen die Erscheinungen menschlichen Handelns als tragfähige Anhaltspunkte für moralische Beurteilungen, dass von jenem Postulat, es müssten Beispiele der Verwirklichung der Idee des personifizierten Guten erfahren werden können, letztlich nichts übrig bleibt. Im Kontext seiner Theorie des Bösen führt er aus, der Mensch könne das Bedingungsverhältnis der Triebfedern in sich so umkehren, dass er die Befriedigung der sinnlichen zur Bedingung der Befolgung der sittlichen mache, welches der Fall einer bösen Gesinnung ist. Und doch könnten die erscheinenden Handlungen „gesetzmäßig“ ausfallen, „als ob sie aus echten Grundsätzen entsprungen wären“ (RGV, 06: 36). Als Beispiel führt er an, es könne Wahrhaftigkeit um der Vermeidung von Nachteilen aus dem Lügen willen zur Maxime erhoben werden, aus einem sinnlichen Motiv also; damit sei zwar „der

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empirische Charakter gut, der intelligible aber immer noch böse“ (RGV, 06: 36). Anders gesagt: Der Lebenswandel in der Erscheinung mag in nichts zu beanstanden sein, und doch kann ihm böse Gesinnung zugrunde liegen. Es kann überdies manche Erscheinung den Anschein einer Pflichtverletzung erwecken, es aber doch nicht sein. Bei einem solchen Verhältnis zwischen erscheinenden Handlungen und inneren Gesinnungen werden moralische Beurteilungen unter dem Gesichtspunkt ihrer rationalen Legitimation vollends fragwürdig. Auch wenn sie im Leben nicht zu vermeiden sein sollten, was das ganz geläufige Schlussfolgern vom Lebenswandel auf Gesinnungen nahelegt, hätten solche Beurteilungen doch nur den Rang faktischer Unvermeidlichkeit und niemals den, dass sie Anspruch auf Notwendigkeit machen könnten. Das aber wäre erforderlich, um zu behaupten, ein bestimmter Mensch sei ein tatsächliches Beispiel für die Verwirklichung der personifizierten Idee des guten Prinzips. Kants Skepsis in Hinsicht auf Gewissheit im Punkt der Moralität von Gesinnungen ist so groß, dass er diese Gewissheit sogar im Selbstverhältnis eines Subjekts für nicht zu erzielen möglich hält. Der Mensch kann, so Kant, „von seiner wirklichen Gesinnung durch unmittelbares Bewußtsein gar keinen sichern und bestimmten Begriff bekommen“ (RGV, 06: 77). Wenn er seinen eigenen „Charakter wenigstens einigermaßen kennen“ (RGV, 06: 77) lernen will, so ist dazu Reflexion und Selbstbeurteilung nötig, durch die über die Punktualität unmittelbaren Bewusstseins hinaus, nämlich die ganze Lebensspanne umfassend, die Geschichte der Gesinnungen und der ihnen korrespondierende Lebenswandel zu prüfen sind. Solche Selbstbeurteilung aber ist fallibel: „man täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt“ (RGV, 06: 68) In der Metaphysik der Sitten heißt es sogar, dass es dem Menschen ganz und gar „nicht möglich [ist], so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, dass er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiss sein könnte; wenn er gleich über die Legalität derselben gar nicht zweifelhaft ist“ (MS, 06: 392). Was demnach allein zur Beurteilung seiner selbst wie zur Beurteilung anderer verbleibt, ist die äußere Pflichtgemäßheit einer Handlung und nicht, ob eine Handlung aus Pflicht erfolgte und also moralisch war. Dieses Ergebnis einer auch im Selbstverhältnis moralischer Beurteilung immer verbleibenden Unsicherheit macht die durch die Schrift tradierten Selbstauskünfte Jesu problematisch, durch die er sich als „einen vom Himmel gesandten“ Menschen „kündigte“ (RGV, 06: 128) bzw. sich selbst als Gottes Sohn bezeichnete. Wenn, wie geschehen, Jesus und auch jedem anderen potentiellen Kandidaten für die Verwirklichung der personifizierten Idee des guten Prinzips keine anderen Bedingungen des Mensch-Seins zugestanden werden als allen sonstigen Menschen, dann müssen sie im Selbstverhältnis von der gleichen prinzipiellen Unsicherheit geprägt

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sein wie diese. Die Selbstauskunft Jesu, Gottes Sohn zu sein, die nach kantischen Begriffen den Anspruch moralischer Perfektion im Sinne der personifizierten Idee des guten Prinzips beinhaltet, erscheint im Licht der Reflexion über die Grenzen moralischer Selbsterkenntnis als überschwänglich, als über das hinausgehend, was kritische Vorsicht erlaubt. Wohl weil bei Kant selbst diese kritische Vorsicht letztlich die Oberhand behält, die erst recht in der moralischen Beurteilung anderer zu walten hat, begründet er die von ihm denn dennoch zugestandene Berechtigung, Jesus als Beispiel für moralische Perfektion zu nehmen, nicht mit einer positiven Erfahrung, wie sie zuvor noch gefordert zu sein schien. Seine Begründung lautet: „Es ist […] der Billigkeit gemäß, das untadelhafte Beispiel eines Lehrers zu dem, was er lehrt, wenn dieses ohnedem für jedermann Pflicht ist, keiner andern als der lautersten Gesinnung desselben anzurechnen, wenn man keine Beweise des Gegenteils hat“ (RGV, 06: 66). Das Fehlen einer Erfahrung dient hier also zur Begründung. Weil Jesus aufgrund seines Lebenswandels in der Erscheinung nicht getadelt werden kann, weil dieser keinen Anlass bietet, auf eine unlautere Gesinnung zu schließen, hält Kant es also für berechtigt, ihm eine vollkommen lautere Gesinnung zuzuschreiben. Zusätzlich dient als Argument, dass seine Lehren rein moralische Lehren sind, worauf noch einzugehen sein wird. Eine so begründete Zuschreibung moralischer Perfektion ist aus dem Gesichtspunkt der von Kant selbst her im Ansatz entwickelten Theorie moralischpraktischer Beurteilung in mehrerlei Hinsicht zu relativieren und wird also kein dezidiertes Urteil von einer solchen Stärke erlauben, dass etwa zu sagen wäre: „Dieser Mensch ist ein Fall der personifizierten Idee des guten Prinzips“. Zunächst ist zu bemerken: Auch wenn Jesus Anlass dazu böte, auf eine unlautere Gesinnung zu schließen, könnte ein solcher Schluss aufgrund der nie auszuschließenden Deutungsambivalenz der äußeren Erscheinung niemals sicher sein und also niemals zum „Beweise des Gegenteils“ seiner vollkommen lauteren Gesinnung dienen. Unterstellt nun, es gebe keinen Anlass für einen Schluss auf eine unlautere Gesinnung, ist entsprechend das Fehlen eines solchen Anlasses auch nicht beweiskräftig. Nach Kants eigenem Beispiel von jenem wahrhaftigen Menschen, der um des eigenen Vorteils willen nicht lügt, gibt es offenbar den Fall eines nicht zu beanstandenden Lebenswandels in der Erscheinung, der es doch nicht erlaubt, auf vollkommene Lauterkeit der Gesinnung zu schließen. Würde auf diesen Menschen der obige Maßstab angewandt, wonach dem auf das Schlussfolgern angewiesenen Betrachter erlaubt ist, auf die lauterste Gesinnung zu schließen, bloß wenn kein gegenteiliges Anzeichen gegeben ist, so resultierte ersichtlich eine falsche Zuschreibung moralischer Vollkommenheit. Bei Anwendung des Maßstabs auf alle Menschen wäre es übrigens auch hier „der Billigkeit gemäß“, aus dem Fehlen von Anhaltspunkten für das Gegenteil auf moralische Perfektion zu schließen. Dadurch

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verlöre der hier akzentuiert thematische Jesus seine Alleinstellung, die zu erhalten zwar nicht im Interesse Kants als dem Sachwalter einer rein moralischen und daher universellen Vernunftreligion liegen muss, mindestens aber im Interesse des christlichen Kirchenglaubens, der ihn zu seiner singulären Zentralgestalt erklärt. Indem Kant es nun doch, wie gesehen, für zulässig hält, Jesus moralische Vollkommenheit zuzuschreiben, kann ein solches Zuschreiben kein striktes Urteilen moralischpraktischer Urteilskraft mit dem Anspruch auf Objektivität sein. Es wird eher als ein Unterstellen anzusehen sein, in dem die bezeichnete urteilstheoretische Unsicherheit durch Wohlwollen ergänzt ist. Darauf weist auch die für das Anrechnen der lautersten Gesinnung beanspruchte „Billigkeit“ hin. Im originären rechtstheoretischen Kontext des Terminus „Billigkeit“ ist der Anspruch auf Billigkeit ein solcher, den man „nach dem strengen Rechte“ auch „abweisen könnte“ (RL, 06: 235). Ihn anzuerkennen setzt also eine gewisse Milde, einen Nachlass an Strenge, voraus. Eine spezielle Art des Zuschreibens ist auch durch den von Kant verwandten Ausdruck des Unterlegens angezeigt. Wir „unterlegen“, wie es heißt, das „Urbild“, d. h. die personifizierte Idee des Guten, das „doch immer in uns (obwohl natürlichen Menschen) selbst gesucht werden muß“, „dieser Erscheinung“ (RGV, 06: 63), d. h. der Erscheinung des Lebenswandels der Person Jesus. Ein solches Unterlegen als Veräußerlichung einer Idee in uns lässt sich auch als Projektion bezeichnen. Die Idee, die wir in uns haben, ist die Idee von etwas schlechthin Innerlichem, nämlich von der vollkommenen moralischen Gesinnung einer Person; obwohl von einem solchen Innerlichen nie eine unmittelbare äußerliche Vorstellung möglich sein wird, veräußerlichen wir sie doch derart, dass wir sie unter einer bestimmten Bedingung einer Erscheinung, dem äußerlich erscheinenden Lebenswandel einer Person, als ihre Innerlichkeit zugestehen. Diese Bedingung ist eine negative, eine conditio sine qua non, keine zureichende Bedingung, nämlich dass dieser Lebenswandel nichts hergibt für die etwaige Unterstellung einer unlauteren Gesinnung. Diese Bedingung, die also die Bedingung für das Zugeständnis einer Projektion ist, sieht Kant offenbar durch den uns durch die biblische Erzählung bekannten Lebenswandel Jesu als erfüllt an. Die Möglichkeit, als Projektionsfläche für die genannte Veräußerlichung einer Vernunftidee zu dienen, muss allerdings, wie schon bemerkt, bei gerecht verteilter „Billigkeit“ im Prinzip jedem Menschen zugestanden werden, dessen sichtbarer Lebenswandel keinen Anlass für einen nachteiligen Schluss auf seine unsichtbare Gesinnung bietet. Die urteilstheoretischen Vorbehalte, die die vollgültige Zuschreibung der Eigenschaft der moralischen Perfektion verhindern, bleiben dabei allerdings in jedem Fall bestehen. Es muss nun noch zur Sprache kommen, dass Kant das Zugeständnis, Jesus die Idee des personifizierten Guten zu unterlegen, nicht bloß mit dessen nicht zu beanstandendem sichtbaren Lebenswandel begründet, sondern auch mit dessen

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Lehren (vgl. RGV, 06: 66 u. ö.). Er hält es für eine „nicht gründlich zu bestreitende Meinung“, dass Jesus als Lehrer im Kern „eine reine aller Welt faßliche (natürliche) […] Religion […] zuerst öffentlich […] vorgetragen habe“ (RGV, 06: 158). Das ist jene „allgemeine Vernunftreligion“ (RGV, 06: 158), die nach Kant „allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann“ (RGV, 06: 162). Damit ist gesagt, dass Jesus als erster die Morallehren der reinen praktischen Vernunft gelehrt habe – verkürzt gesprochen: den kategorischen Imperativ –, ergänzt durch den Aspekt, dass im Fall vernunftreligiöser Morallehren dieselbe moralische Gesetzgebung, die schon allein aufgrund der Autonomie der Vernunft in Geltung ist, hinzukommend auch noch als Ausdruck eines göttlichen Gesetzgebers betrachtet ist. Wenn nun die Frage ist, welche Auszeichnung dadurch eigentlich verliehen ist, wird sich zeigen, dass sie das Problem, ob Jesus als die Konkretion der Idee des personifizierten Guten gelten kann, gar nicht betrifft. Die verliehene Auszeichnung ist die der ohne etwaige neue historische Erkenntnisse nicht zu bestreitenden faktischen Erstmaligkeit der Artikulation einer Lehre, die zu entwickeln prinzipiell innerhalb der Grenzen dessen liegt, was allen Menschen möglich ist. Jeder Vernünftige vor der Zeit Jesu hätte diese reine Morallehre entwickeln können und ebenso jeder Vernünftige danach, und zwar kraft „eigene[r] Vernunft“ (RGV, 06: 162).Von denen, die es danach getan haben, darf wohl Kant hervorgehoben werden. Als Lehrer reiner Morallehren mag Jesus zwar ein Ausgezeichneter unter den Menschen sein, doch nicht auf singuläre Art, sondern so, dass diese Auszeichnung von jedem Menschen erzielt werden kann, der ein klares Bewusstsein davon erlangt, wozu seine moralischpraktische Vernunft ihn verpflichtet. Diese Stufe menschlichen Selbstverständnisses kann sogar, wie Kant es auch tut, aufgrund ihres unbedingten Charakters mit dem Attribut des Göttlichen versehen werden, doch handelt es sich bei dem, was als reine praktische Vernunft in uns allen spricht, ob in Jesus oder in einem anderen, um den „Gott in uns“ (SF, 07: 48), wie es im Streit der Fakultäten heißt, nicht um einen äußerlichen Gott, ohne dessen Selbstmitteilung mittels Jesus wir etwa über unsere moralischen Verpflichtungen unwissend hätten bleiben müssen. Es mag nun vorausgesetzt sein, dass Jesus die reinen Morallehren praktischer Vernunft lehrte. Über die Frage, ob er als Erfüllungsfall der Idee des personifizierten guten Prinzips gelten kann, ob ihm als Individuum also moralische Perfektion im strikten Sinne zugeschrieben werden kann, ist dadurch nichts entschieden. Denn diese Frage entscheidet sich nicht auf der Ebene der Lehre, selbst wenn diese die Forderungen praktischer Vernunft völlig zum Ausdruck bringt, sondern nur in der Anwendung, im tätigen Leben also. Hier aber kann der subjektive moralische Status des Lehrers immer hinter seinen objektiven moralischen Lehren zurückbleiben. Auch für den Lehrer objektiver Moral stellt sich das Leben

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als eine Kette moralisch relevanter Situationen dar, in denen das Rechthandeln nicht schon durch seine Lehre garantiert ist. Er sieht sich wie alle anderen Menschen trotz des nie abwesenden Bewusstseins davon, was nach der Lehre moralisch gefordert ist, von Situation zu Situation vor die freie Entscheidung gestellt, „welche von beiden“ Triebfedern, die sittliche oder die sinnliche, „er zur Bedingung der andern macht“ (RGV, 06: 36). Macht er „die Triebfeder der Selbstliebe […] zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes“ (RGV, 06: 36), so handelt er im Bewusstsein dieses Gesetzes nach Kants einschlägiger Theorie dennoch böse. Im Wissen also um das, was die reine Morallehre verlangt, handelt ein solcher gegen diese Lehre. Die als untadelhaft vorausgesetzte Lehre Jesu eignet sich demnach nicht als Argument dafür, ihm den Rang einer Konkretion der Idee des personifizierten Guten zuzuschreiben. Wir sehen uns an dieser Stelle zurückverwiesen auf seinen Lebenswandel in der Erscheinung, der seinerseits als untadelhaft zuzugestehen war, der aber ebenso keinen sicheren Schluss auf das Entscheidende in der Frage des in concreto und in individuo verwirklichten Guten zuließ, nämlich auf die Gesinnung. Diese müsste im in Rede stehenden Fall moralischer Perfektion sogar so beschaffen sein, dass in keiner einzigen der moralisch relevanten Entscheidungssituationen zwischen dem moralischen Gesetz und der Triebfeder der Selbstliebe die Entscheidung zugunsten der letzteren, also zugunsten des Bösen, ausgefallen wäre. Die Gesinnung aber, etwas schlechthin Innerliches, ist weder hinsichtlich einzelner Lebenssituationen noch erst recht hinsichtlich eines gesamten Lebenslaufs einer verlässlichen Beurteilung zugänglich, so dass sich dazu also keine Überzeugung mit hinreichender Gewissheit gewinnen lässt. Es kann also nie letztlich gewiss sein, ob ein bestimmter Mensch ein Fall der Verwirklichung der Idee des personifizierten Guten ist. Diese Idee stellt also unter dem Aspekt der Erkennbarkeit keine Ausnahme unter den Ideen dar, sondern stimmt mit allen anderen kantischen Ideen darin überein, dass die Existenz ihres Gegenstandes für das Erkenntnisvermögen problematisch ist. Als Idee ist sie dadurch nicht diskreditiert, denn sie liegt „in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft“ (RGV, 06: 62), ist also handlungsorientierend bzw. handlungsanweisend. „Wir sollen ihr gemäß sein“ (RGV, 06: 62), sagt Kant. Das aber, dass sie ein Sollen enthält, ist von größter Bedeutung. Indem sie eine Pflicht enthält, muss nämlich gesagt werden: Wir „müssen“ ihr auch gemäß sein „können“ (RGV, 06: 62). Diese bei Kant in den verschiedensten Variationen immer wieder ausgedrückte Einsicht in die notwendige Möglichkeit der Verwirklichung einer Pflicht ergibt sich rein analytisch aus dem Begriff des Sollens, d. h., aus einer bloßen gedanklichen Operation, die etwa so formuliert werden kann: Das Sollen ist gewiss; allein daraus folgt die Möglichkeit der Verwirklichung, denn ein unmögliches Können höbe das Sollen auf. Auf unsere spezielle Idee bezogen heißt das: Moralische Perfektion, wie sie durch die personifizierte Idee des Guten gedacht wird, muss möglich sein, muss verwirklicht

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werden können. Die Größe der Aufgabe, die nicht weniger als den gesamten Lebenslauf umfasst, spricht nicht gegen diese notwendige Möglichkeit, sondern macht die Erfüllung bloß unwahrscheinlich. Denn wenn es in jedem einzelnen Fall in der Abfolge moralisch relevanter Situationen möglich sein muss, dem moralischen Sollensanspruch gerecht zu werden, weil er anderenfalls gar kein berechtigter Anspruch wäre, ist es nur konsequent, die notwendige Möglichkeit der Erfüllung moralischer Anforderungen auch auf die Gesamtheit der Einzelfälle, d. h. auf den ganzen Lebenswandel, auszudehnen, und zwar unangesehen jeder Wahrscheinlichkeitserwägung. Dieses Ergebnis, dass der Verwirklichungsfall der personifizierten Idee des Guten möglich sein muss, impliziert, dass diese Idee nicht bloß handlungsorientierend ist und dass durch sie kein außerhalb menschlicher Praxis liegendes Ziel gesteckt ist, sondern dass das in der Tat gesetzte Ziel auch erreichbar ist. Die entwickelten Ergebnisse zusammengenommen, lässt sich die eingangs gestellte Frage, ob die personifizierte Idee des Guten eine regulative Idee sie, wie folgt beantworten: Es wird durch sie etwas gedacht, das nie als realisiert erkannt werden kann. Diesem Merkmal der Nichterkennbarkeit nach ist sie wie regulative Ideen. Zweitens ist diese Idee in der Tat handlungsorientierend, d. h. sie gibt dem Handeln, das als moralisches aufgegeben ist, Ziel und Richtung. Auch unter diesem Aspekt ist sie von den regulativen Ideen noch nicht unterschieden. Das dritte Merkmal regulativer Ideen aber, ihre Unerreichbarkeit, trifft auf sie nicht zu. Diese Restriktion regulativer Ideen ist durch die notwendige Möglichkeit der Realisierung des durch die Idee Gedachten aufgehoben. Diese notwendige Möglichkeit des Erfüllungsfalls der Idee, den es noch nie gegeben haben mag und der, wenn es ihn gibt oder geben wird, nicht erkannt werden kann, lässt sich auch so ausdrücken: Die personifizierte Idee des Guten muss konstitutiv sein können.

Die Rolle der Gottesidee in Kants Konzeption des ethischen Gemeinwesens Bevor im engeren Sinne Kant und sein Begriff des ethischen Gemeinwesens zum Thema werden soll, soll eine Erscheinung des politischen Lebens unserer Zeit zur Sprache kommen, die damit in Verbindung steht. Es handelt sich um die Vielzahl von international tätigen Organisationen, die gewöhnlich als humanitäre Hilfsorganisationen bezeichnet werden. Man denke etwa an „amnesty international“, „Ärzte ohne Grenzen“, „Caritas“, Misereor“ und viele mehr. Diese Organisationen verstehen sich selbst ausdrücklich als nichtstaatliche bzw. Nichtregierungsorganisationen; sie wollen keinen partikularen nationalen Interessen dienen, sondern ihr Bemühen gilt der Gattung „Mensch“ im ganzen. Indem ihr Zweck so etwas wie die allgemeine Wohlfahrt aller Menschen ist und indem ihr Anspruch ist, aus moralischen Motiven zu agieren, erfüllen sie den Begriff von ethischen Vereinigungen im kantischen Sinne.¹ Einen wichtigen Gesichtspunkt gibt es allerdings, unter dem sie sich in zwei Klassen teilen. Es ist der der religiösen Gebundenheit bzw. der religiösen Ungebundenheit. Die einen sind ihrem Selbstverständnis nach rein säkular, d. h. ihre Moral ist immanent, eine reine Menschenmoral. Die anderen halten den Gottesbezug als Basis ihrer Tätigkeit für unverzichtbar und ordnen sich meist einer der historischen Religionen zu. Das wirft die Frage auf, wem in dieser Angelegenheit des angeblich nötigen oder angeblich unnötigen Gottesbezugs recht zu geben ist; sogleich aber auch die, ob die Beantwortung dieser Frage überhaupt von mehr als theoretischer Relevanz ist, d. h. ob sie nicht vielleicht praktisch irrelevant ist. Wenn sie allerdings nicht irrelevant für die Praxis sein sollte, dann müsste angegeben werden, worin der praktische Nachteil der unterlegenen Position besteht. Eine erste oberflächliche Hinsicht auf Kants Lehrstück vom ethischen Gemeinwesen, das vor allem in seiner Religionsschrift entfaltet ist, erweckt den Anschein, als ließe sich seine Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit des Gottesbezugs ethischer Vereinigungen eindeutig geben. Sie scheint definitiv schon durch die Überschrift eines Abschnitts im dritten Teil der Religionsschrift gegeben zu sein. Diese lautet: „Der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens ist der Begriff

1 Als Vorformen der moralischen Weltgemeinschaft, d. i. ein heutiger Ausdruck für das ethische gemeine Wesen Kants, bzw. als Indizien für ihr Entstehen versteht auch Martin Leiner („Überwindung und Reform der gegebenen Kirchen. Zu Kants Rede von der Kirche“. In: Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie. Hrsg. von Werner Thiede. Göttingen 2004, 159–190, vgl. bes. 186 f.) die Organisationen der genannten Art. https://doi.org/10.1515/9783110788099-013

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von einem Volke Gottes unter ethischen Gesetzen.“ – Trotz dieser vermeintlichen Eindeutigkeit wird die nähere Hinsicht auf Kants Ausführungen zeigen, dass diese so differenziert und problematisierungsbedürftig sind, dass die These der Abschnittsüberschrift mindestens zu grobschlächtig ist, um als adäquate Antwort auf den skizzierten Fragezusammenhang gelten zu können. Um im vorhinein offenzulegen, worauf die hier entfalteten Überlegungen hinauslaufen werden, seien zwei Thesen formuliert: zum einen die, dass es für die Vernunft, die als theoretische Vernunft die Gesamtsituation der menschlichen Praxis, speziell auch der kollektiven Praxis, reflektiert, einen guten Grund dafür gibt, den Begriff des ethischen Gemeinwesens mit der Idee Gottes zu verbinden; zum zweiten die These, dass diese Idee für die menschliche Praxis selbst, d. h. für den Gebrauch praktischer Vernunft im ethischen Gemeinschaftsleben der Menschen nicht vonnöten ist, ja dass der Gedanke des in dieses Gemeinschaftsleben integrierten und darin wirksamen Gottes Missdeutung nahe legt und auf diese Weise sogar schädlich ist. Um zu diesen Resultaten zu gelangen, sollen jetzt Kants Begriff des ethischen Gemeinwesens und seine wesentlichen Implikationen sukzessive entwickelt werden. Der Mensch hat – wie Kant behauptet – die unbedingte, d. h. die moralische Pflicht, sich mit anderen Menschen zu einem ethischen Gemeinwesen zusammenzuschließen, in dem Tugendprinzipien herrschen. Diese Vergemeinschaftung umfasst dem „Ideal“ nach das „Ganze[] aller Menschen“ (RGV, 06: 96). In der Vorgeschichte dieses Endzustandes, den wir offenkundig noch nicht erreicht haben, bahnt sich dieses eine Gemeinwesen zunächst durch eine Pluralität von partialen ethischen Gesellschaften an; allerdings nur dann, wenn diese, so Kant, die Tendenz „zur Einhelligkeit mit allen Menschen“ (RGV, 06: 96) haben. Die geforderte Vergemeinschaftung unter dem Vorzeichen der Ethik – das ist eine andere als die im Staat unter der Herrschaft des Rechts – muss nun nicht unbefragt als Selbstverständlichkeit genommen werden. Das heißt, es lässt sich fragen, warum sie eigentlich nötig ist. Anders gefragt: Was ist unter ethischem Gesichtspunkt defizitär an der Situation, in der bloß Individuen aufeinander bezogen sind, ohne ausdrücklich in einer ethischen Sozietät vereinigt zu sein? – Eine Teilantwort, der negative Teil der ganzen Antwort, lautet: weil der andere Mensch, insofern er bloß als Individuum begegnet, eine beständige Anfechtung für denjenigen bedeutet, der in sich selbst im Kampf zwischen dem guten Prinzip und dem bösen dem guten zum Sieg verhelfen muss. Dieser Sieg ist demnach im bloßen Selbstverhältnis des einzelnen nicht zu sichern, auch wenn dieser einzelne durchaus bereits ein moralisch Wohlgesinnter ist (vgl. RGV, 06: 96). Allein im Selbstverhältnis wäre er nur dann zu sichern, wenn allein hier auch der Grund für die Anfechtung durch das Böse läge. Nach vordergründiger Betrachtung gibt es im Individuum einen durchaus naheliegenden Kandidaten für diese Anfechtung. Es ist sein sinnlicher Charakter. Doch bemerkenswerterweise setzt Kant die Versuchung

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durch das Böse gerade nicht in die Sinnlichkeit des für sich betrachteten einzelnen. Die Gefahr stamme nicht „von seiner eigenen rohen Natur“ (RGV, 06: 93). Im Gegenteil erscheint die Sinnlichkeit des isoliert betrachteten Individuums in einem geradezu milden Licht, wenn Kant ihm bescheinigt: „Seine Bedürfnisse sind nur klein, und sein Gemüthszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig“ (RGV, 06: 93). Es hat eine „an sich genügsame Natur“ (RGV, 06: 94). Wodurch sind nun die anderen Menschen dem per se Genügsamen und auch schon Wohlgesinnten gefährlich? Kants Antwort ist frappierend: durch ihr bloßes Dasein (vgl. RGV, 06: 94). Es ist „nicht einmal nöthig, dass diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden“ (RGV, 06: 94). Frappierend ist Kants Antwort deshalb, weil aus der skizzierten Konstellation, in der kein Individuum für sich als böse zu unterstellen ist, sich kein Anhalt für eine Anfechtung durch das Böse zu ergeben scheint. Und dennoch ist sie nach Kant gegeben. Die bloße Beziehung zum schlicht mitexistierenden anderen nämlich veranlasse das bis dahin unverdorbene Individuum zu einer aus einer Angst geborenen Überlegung, die offenbar auf der Vorstufe expliziter ethischer Vergemeinschaftung – Kants Ausdruck dafür ist: ethischer Naturzustand (vgl. RGV, 06: 94 f.) –, unvermeidlich ist und die die Untugenden „Neid“, „Herrschsucht“, „Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen“ (RGV, 06: 94 f.) hervorbringe. Der seine Beziehungen zu den Mitmenschen bedenkende einzelne sei nämlich besorgt, „daß ihn andere Menschen“ für„arm“ halten „und darüber verachten möchten“ (RGV, 06: 93). Der ethische Naturzustand ist demnach geprägt von der Besorgnis vor einer Herabwürdigung in den Augen der anderen, zu deren Erregung diese gar keinen faktischen Anlass bieten müssen. Ihr bloßes Dasein ist bereits Grund für diese Besorgnis², die ihrerseits der Keim für jene feindseligen „Leidenschaften“ des einzelnen ist, „welche“, so Kant, „so große Verheerungen in seiner ursprünglich guten Anlage anrichten“ (ZeF, 08: 354). Gegen den skizzierten Zustand nun soll das ethische Gemeinwesen das Gegenmittel sein. Sein Zustandekommen ist nach Kant nicht so zu denken, dass es sich aus der Moralisierung der einzelnen wie von selbst ergäbe, nicht also so, dass bloß „jeder seiner Privatpflicht gehorcht“ (RGV, 06: 151) und aus der Addition all dieser das ethische Gemeinwesen resultierte. Auf diese additive Weise könnte der Zu-

2 Ein Analogon zur Begründung der Notwendigkeit des ethischen Gemeinwesens findet sich übrigens auf dem Gebiet des Rechts in der Begründung der Notwendigkeit des Völkerrechts: „Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurtheilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren, und deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem anderen fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.“ (ZeF, 08: 354).

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sammenhang der einzelnen bloß aggregathaft sein, nicht der in einem System, wozu immer die Einheit eines Zwecks vorauszusetzen ist (vgl. KrV, A 832/B 860). Man könnte so, wenn also jeder bloß seiner Privatpflicht gehorchte, zwar „eine zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten“ folgern, „ohne daß dazu noch besondere Veranstaltung nöthig wäre“ (RGV, 06: 151), aber eben keine bewusst beabsichtigte Vereinigung unter der Einheit eines gemeinsamen Zwecks. Dazu ist eben doch „besondere Veranstaltung nötig“, d. h. die eigens verfolgte Ausführung der„Pflicht von besonderer Art“, „zu einem ethischen gemeinen Wesen sich zu vereinigen“ (RGV, 06: 151). Die Mitglieder des ethischen Gemeinwesens müssen also bewusst „mit andern Mitbürgern […] in eine ethische Vereinigung treten […] wolle[n]“ (RGV, 06: 96). Insofern die Vereinigung sich nicht von selbst ergibt, sind explizite Akte der Gründung, der „Errichtung“ und dann solche zur „Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen“ (RGV, 06: 94) verlangt. Diese Gesellschaft besteht als ethisches Gemeinwesen erst dann, wenn ihre „Gesetze öffentlich sind“ (RGV, 06: 94). Sie bedarf einer „Form und Verfassung“ (RGV, 06: 94), d. h.: Sie bedarf der Institutionalisierung. Dies alles vorausgesetzt, erzeugt der andere Mensch ersichtlich nicht mehr jenen Eindruck der Bedrohung, die der isolierte einzelne meint, mit Aggression beantworten zu müssen. Der bis hierhin betonte negative Aspekt des ethischen Gemeinwesens, Angst und Bedrohung zu verhindern³, verlangt nun allerdings noch die Ergänzung durch einen positiven. Das heißt: Durch das ethische Gemeinwesen sollen nicht bloß die Untugenden des ethischen Naturzustandes vermieden werden, sondern darüber hinaus ist ausdrücklich etwas zu befördern: „Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt“ (RGV, 06: 94). Wenn der Ausdruck „höchstes Gut“ hier keinen anderen als den sonstigen Sinn bei Kant hat, wofür es keine Anzeichen gibt, dann ist damit der Perfektionszustand einer vollkommenen Moralität, verbunden mit einer ihr angemessenen, also ebenso vollkommenen Glückseligkeit, bezeichnet. Neu allerdings ist, dass hier das höchste Gut eben als ein gemeinschaftliches angesprochen ist. Dadurch ist ausgedrückt, dass es sich dabei, weder den Moralitäts- noch den Glückseligkeitsaspekt betreffend, um den Perfektionszustand eines moralischen Individuums als eines solchen handelt, sondern um einen die Vereinigung aller betreffenden. Entsprechend ist denn auch die auf diesen Zustand zielende Pflicht eine „Pflicht von ihrer eignen Art“ genannt, „nicht der Menschen gegen Menschen“,

3 Die Art des Verhinderns ist dabei eine andere als die, die der Staat ausübt, denn der Staat achtet nur auf die Legalität äußerer Handlungen, während im ethischen Gemeinwesen auch und sogar an erster Stelle die Moralität von Gesinnungen intendiert ist.

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d. h. nicht gewisser Individuen gegen andere Individuen, sondern „des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (RGV, 06: 97). Die Formulierung einer solchen Gattungspflicht kann ersichtlich nicht als Antwort auf die Frage „Was soll ich tun?“ verstanden werden, eher als Antwort auf die Frage, „Was sollen wir tun?“. Einer Pflicht der Gattung gegen sich selbst kann also nur im Zusammenwirken der Mitglieder der Gattung genügt werden. In Kants Worten: Dieses höchste Gut kann „durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt“ werden, sondern erfordert „eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu einem System wohlgesinnter Menschen […], in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann“ (RGV, 06: 97). Als Konkretisierung einer durch eine einzelne Person nicht zu befolgen möglichen Gattungspflicht kann etwa die Pflicht zum Frieden unter den Völkern gelten, von der Kant in der Metaphysik der Sitten sagt, sie sei durch „moralisch-praktische Vernunft in uns […] unwiderstehlich[]“ (MS, 06: 354) ausgesprochen. Die Religionsschrift selbst bietet keine solche Konkretisierung.⁴ Zu dem, was da zustande kommen soll, das höchste gemeinschaftliche Gut, gehört nun aber nicht bloß das System der wohlgesinnten Menschen als sein Moralitätsaspekt, sondern auch, wie im Fall des höchsten Guts für die Einzelperson, der Glückseligkeitsaspekt. Es ist dabei an einen nur als gemeinschaftlichen möglichen Glückszustand zu denken. Im angesprochnen Punkt, dass der Gattungspflicht, also etwa der Pflicht zum Frieden, durch die einzelne Person als solche nicht genügt werden kann, anders als im Fall der Pflichten „der Menschen gegen Menschen“, liegt nun nach Kant nicht nur eine neutral zu konstatierende Besonderheit dieser Pflicht, sondern es liegt ein Defizit darin, an das er die wichtige Folgeerwägung anschließen wird, der Gottesbegriff sei zum Ausgleich dieses Defizits zu denken notwendig. Um zunächst aber bloß das gemeinte Defizit näher zu bezeichnen: Wo es um die einzelne Person und ihre eigene moralische Vollkommenheit allein im Verhältnis von Mensch zu Mensch geht, da wissen wir, dass alles Nötige in unserer Gewalt steht, d. h. in der

4 Mit Recht betont Eike Christian Hirsch („Der Frieden kommt nicht durch die Kirche. Thesen zu Kants Friedensschrift“. In: Historische Beiträge zur Friedensforschung. Hrsg. von Wolfgang Huber. Stuttgart/München 1970, 70–94) den engen systematischen Zusammenhang zwischen dem ethischen Gemeinwesen und dem Friedenspostulat. Allerdings meint er, diesen Zusammenhang gegen Kants Lehre behaupten zu müssen, die den Friedensbegriff als bloßen Rechtsbegriff von der Moral abhebe, was aber durch das Zitat aus der Metaphysik der Sitten als widerlegt gelten kann. Obwohl die Religionsschrift nicht von der Friedenspflicht als einer durch das ethische Gemeinwesen zu erfüllenden moralischen Pflicht der Gattung gegen sich selbst spricht, hätte sie doch, ohne in eine Inkonsistenz im Verhältnis zu Kants Rechtsphilosophie zu geraten, davon sprechen können. Die Friedenspflicht ist Rechtspflicht und moralische Pflicht.

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Gewalt des Individuums. Hier gilt das bekannte „Du kannst, denn Du sollst“ (TP, 08: 284). Wo es aber um die Vereinigung der Personen zum Ganzen eines Systems wohlgesinnter Menschen, um die Befolgung einer Pflicht der Gattung und um das höchste Gut als ein gemeinschaftliches geht, da wissen wir, dass dieses nicht in der Gewalt der einzelnen Person steht. Denn das andere moralische Subjekt, dessen Mitwirkung zur Erfüllung der Pflicht unabdingbar ist, steht nicht zu meiner Disposition, ja es darf, wenn es als moralisches Subjekt erhalten bleiben soll – was immer auch heißt: als freies Subjekt – für mich gar nicht disponibel sein. Kant formuliert in diesem Zusammenhang nun aber mehrdeutig, dass wir hinsichtlich des geforderten Ganzen des Systems wohlgesinnter Menschen nicht wissen können, ob es „in unserer Gewalt“ stehe. Es ist dabei nicht klar, ob dieses Ganze bloß nicht in der Gewalt jedes für sich genommenen einzelnen stehen soll, in welchem Fall der Aussage zuzustimmen wäre, oder ob dadurch eine potentielle Unfähigkeit aller einzelnen zusammen, d. h. der Gattung als solcher, ausgedrückt sein soll, in welchem Fall die Aussage zweifelhaft wird. Zur Entwicklung dieser Skepsis sei auf die Begründung des schon angeführten kantischen „Du kannst, denn du sollst“ Bezug genommen. Diese lautet sinngemäß: Wenn gemäß reiner praktischer Vernunft ein moralischer Imperativ unbedingt gilt, dann muss er auch auszuführen möglich sein. Denn könnte er nicht ausgeführt werden, wäre er sinnlos, weil er Unmögliches verlangte. Dann aber wäre unvermeidlich, so Kant selbst, „das moralische Gesetz […] in uns selbst für betrüglich anzunehmen“, was den „Abscheu erregenden Wunsch“ hervorbrächte, „lieber aller Vernunft zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach mit den übrigen Thierclassen in einen gleichen Mechanism der Natur geworfen anzusehen“ (MS, 06: 355). Diese Aussage Kants entstammt dem bereits zitierten Kontext der Erwägung der Friedenspflicht innerhalb der Metaphysik der Sitten, d. h. also dem Kontext der Erwägung einer Pflicht der menschlichen Gattung gegen sich selbst. Unter dem Gesichtspunkt des aus dem unbedingten Sollen abzuleitenden Könnens spielt der Unterschied zwischen den Pflichten „der Menschen gegen Menschen“ und den Pflichten der Gattung gegen sich selbst demnach keine Rolle. Auch im Fall der letzteren muss es der Gattung möglich sein, der Pflicht zu genügen. Das „Du kannst, denn Du sollst“ kann also im Fall von Pflichten der Gattung gegen sich selbst, z. B. im Fall der Friedenspflicht, zu einem „Wir können, denn wir sollen“ modifiziert werden. Ansonsten wäre die Pflicht selbst obsolet und „moralisch-praktische Vernunft in uns“ mit ihrem „unwiderstehliche[n] Veto […]: Es soll kein Krieg sein“ (MS, 06: 354), wäre betrügerisch. Zwar kann und darf im Fall dieser Pflicht der Gattung gegen sich selbst anders als im Fall individuell zu bewältigender Pflichten, in dem nur die eigene Sinnlichkeit untergeordnet werden muss, auf das andere moralische Subjekt kein kausal nötigender Einfluss genommen werden. Doch es muss unterstellt werden, dass in diesem dieselbe moralisch-praktische Vernunft dasselbe unwiderstehliche Veto ausspricht

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und dass auch in ihm etwaige konkurrierende Triebfedern der Pflicht subordiniert werden können, und zwar durch es selbst. Die Notwendigkeit, eine Mitwirkung Gottes zu denken, besteht an dieser Stelle also nicht. Eine weitergehende Frage ist, ob das, wozu das Können, d. h. die praktische Möglichkeit, feststeht, mit Zuversicht als jemals verwirklicht angenommen werden kann. Die Annahme einer tatsächlichen Verwirklichung ist nach Kant „ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urtheil“ (MS, 06: 354), das nicht zur Pflicht gemacht werden kann. Für theoretische Vernunft mag also gelten: Vielleicht wird der moralisch gebotene Zweck, z. B. der Friedenszweck, durch ein ethisches Gemeinwesen einst verwirklicht, vielleicht aber auch nicht. Für theoretische Vernunft mag sogar „nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit“ (MS, 06: 354) da sein, dass er verwirklicht werde. Hinsichtlich des Friedenszwecks wird das nicht selten mit dem Hinweis auf die Faktizität der bisherigen Menschheitsgeschichte vorgetragen. Doch auch ohne jede aus dem bisherigen Geschichtsverlauf zu ziehende Wahrscheinlichkeit kann andererseits durch theoretische Vernunft die „Unmöglichkeit“ des verwirklichten Zwecks „gleichfalls nicht demonstrirt werden“ (MS, 06: 354). Damit ist durch theoretische Vernunft der Raum gelassen, die unbedingte Geltung des Imperativs praktischer Vernunft, deren Forderungen übrigens immer kontrafaktisch sind, als Beweis für die Möglichkeit einer Verwirklichung zu nehmen. Es besteht also die Pflicht zur Beförderung des moralischen Gattungszwecks – hier: des Friedens – in einem ethischen Gemeinwesen auch und gerade angesichts der theoretischen Annahme, die immer problematisch bleiben muss, dass es dazu nicht wirklich kommen wird. Ob es wirklich dazu kommt oder nicht, ist unter den skizzierten Umständen dann der Gattung als ihr Verdienst bzw. als ihr Verschulden zuzuschreiben. Im ungünstigen Fall hätte sie bloß faktisch das nicht ausgeführt, was sie doch hätte ausführen können. Vor dem entwickelten Hintergrund ist es merkwürdig, wenn Kant in der Religionsschrift seine ersten Erwägungen zum ethischen Gemeinwesen mit der – dann von ihm bestätigten – Vermutung enden lässt, dass eine Pflicht der Gattung gegen sich selbst „der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde“ (RGV, 06: 98), und zwar zu dem Zweck, dass „durch dessen allgemeine Veranstaltung die für sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden“ (RGV, 06: 98). Damit würde für die neue Art einer Pflicht der Gattung gegen sich selbst nicht mehr gelten, was durch den berühmten ersten Satz der Religionsschrift gesagt ist, der allgemein als Ausdruck einer autonomen und säkularen Menschenmoral zu nehmen ist. Gesagt ist dort nämlich: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes

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selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3), d. h. um ihr gemäß zu handeln. Wenn Gott nötig wäre, um etwa zur Befolgung der Friedenspflicht durch eine von ihm ausgehende „Veranstaltung“ die einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung zu vereinigen, dann bestünde eine Pflicht der Menschengattung gegen sich selbst, die sie kraft eigener praktischer Vernunft statuiert hätte, der sie aber aufgrund ihrer Vereinigungsunfähigkeit nicht aus eigener Kraft genügen könnte. Der von Kant ansonsten ausgeschlossene Fall eines Sollens ohne Können läge vor. Im übrigen wäre bei solch göttlicher „Veranstaltung“ zur Vereinigung der Kräfte der Menschen die erfüllte Pflicht, also etwa der gesicherte Friede, kein Verdienst der Menschengattung mehr, entsprechend die nicht erfüllte Pflicht nicht mehr ihr Verschulden, denn als Subjekt der Zuschreibung wäre der Mensch ja letztlich durch Gott ersetzt. Demgegenüber ist zu fragen: Warum sollten die im Fall von Gattungspflichten für sich in der Tat unzulänglichen Kräfte der einzelnen nicht durch eine von ihnen selbst herbeigeführte Vereinigung zulänglich werden, denn mit reiner praktischer Vernunft, die per se nicht partikulare Vernunft eines einzelnen ist, liegt das Vermögen zu solcher Vereinigung doch vor. Kant trägt allerdings noch weitere Argumente dafür vor, den Begriff des ethischen Gemeinwesens als „Begriff von einem Volke Gottes“ (RGV, 06: 98) zu denken. Eines versucht er aus der Konfrontation des staatlichen, d. h. des juridischen Gemeinwesens mit dem ethischen zu entwickeln. Als Zentralpunkt der Unterscheidung wird angeführt, dass anders als im ethischen Gemeinwesen auf dem Gebiet staatlichen Rechts der Gesetzgeber„einen gesetzlichen äußeren Zwang“ (RGV, 06: 98) ausüben kann, weil die „Legalität der Handlungen“, die allein von ihm intendiert ist, hier„in die Augen fällt“ (RGV, 06: 99). Ob dem Gesetz des Staats Genüge getan bzw. ob es verletzt wird, kann also buchstäblich gesehen werden, und im Fall der Verletzung kann dem Gesetz durch Zwang wieder Geltung verschafft werden. Die staatliche Rechtspflicht ist – mit einem Ausdruck Kants – „zwangsfähige Rechtspflicht“ (RGV, 06: 99). Die Verhältnisse im ethischen Gemeinwesen sind anders. Hier intendieren die Gesetze „die Moralität der Handlungen“, die „etwas Innerliches ist“ (RGV, 06: 98), die also nicht in die Augen fällt. Ihre Innerlichkeit ist auch der Grund dafür, warum Moralität nicht erzwungen werden kann. Die ethischen Gesetzen gemäße Pflichterfüllung muss demnach immer „freie Tugend“ (RGV, 06: 99) sein. Die Legalität äußerer Handlungen ist unter moralischem Gesichtspunkt also nicht zureichend, und sie kann auch nie innere Moralität bezeugen, weil identische äußere Handlungen zwar einerseits auf moralischen Motiven beruhen können, wozu verlangt ist, dass Pflicht allein ihre Triebfeder ist, andererseits aber auch auf außermoralischen. Für ein Mitglied des ethischen Gemeinwesens oder für eine etwaige Obrigkeit ist also nie zu erkennen, ob im anderen vorliegt, was durch Moral verlangt ist.

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Was folgt nun aus den skizzierten Verhältnissen? – Für Kant folgt daraus, dass wir Gott als die höchste Instanz im für den Menschen selbst nicht durchschaubaren und nicht beherrschbaren moralischen Kosmos denken müssen. Dabei wird der gedachte Gott von ihm im diskutierten Kontext nach spezifischen Eigenschaften differenziert angesprochen: als moralischer „Gesetzgeber“ (RGV, 06: 98), als moralischer „Weltherrscher“ (RGV, 06: 99), als sogenannter „Herzenskündiger“ (RGV, 06: 99) und implizit auch als moralischer Richter. Legt man – was Kant zu tun scheint – die Sphäre des staatlichen Rechts als die Maßstäbe setzend zugrunde, dann ist vom Gesetzgeber verlangt, den Geltungsbereich seiner Gesetze zu beherrschen, ihn zu überwachen, Abweichungen von den Gesetzen zu erkennen, den gesetzlichen Zustand wiederherzustellen und für eine Sanktionierung der Gesetzesbrecher durch richterliche Gewalt zu sorgen. Hinsichtlich des Geltungsbereichs einer ethischen Gesetzgebung sind diese Funktionen allerdings durch keinen Menschen auszuüben möglich. Kein Mensch kann, weil der Ort der Entscheidung über die Gesetzeskonformität bzw. über die Abweichung von den Gesetzen in der unsichtbaren Innerlichkeit von Gesinnungen liegt, etwas von der moralischen Qualität eines anderen Mitglieds seiner Gattung erkennen, was doch Voraussetzung für jede richterliche oder sonstige Beeinflussung wäre. Sollen die genannten Funktionen nun doch auch in einem ethischen Gemeinwesen als ausgeübt gedacht werden, dann muss ihre Ausübung einem anderen, einem göttlichen Wesen zugeschrieben werden, das das kann, was der Mensch nicht kann, nämlich etwa als „Herzenskündiger auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden […] durchschauen“ (RGV, 06: 99). – Es stellt sich allerdings an dieser Stelle die Frage, ob das juridische Gemeinwesen mit Recht als maßstabsetzend auch für das ethische genommen werden darf oder ob nicht vielleicht die Übertragung der genannten Funktionen auf Gott Konflikte mit den besonderen Bedingungen der Sphäre des Ethischen erzeugen muss. Die Qualifikation des gedachten Gottes als moralischer Gesetzgeber ist an erster Stelle problematisch. Denn bliebe es schlechthin und uneingeschränkt bei dieser Kennzeichnung, dann wäre die Autonomie der Moral, dieses Zentralstück der praktischen Philosophie Kants, nicht zu retten. Dann bliebe der Mensch nicht länger, wie der schon zitierte Anfangssatz der Religionsschrift doch sagte, jenes „sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindende[] Wesen“ (RGV, 06: 3). Selbstbestimmung als Selbstverpflichtung wäre ersetzt durch fremde, äußere Gesetzgebung. Heteronome Gesetze aber hätten den Charakter der von Kant ansonsten „statutarisch“ genannten Gesetze, die in einem auf Offenbarung beruhenden Kirchenglauben schlicht deshalb gelten, weil es Gott beliebt hat, sie zu erlassen, die aber aus der dem Menschen zu Gebote stehenden Vernunft nicht zu entwickeln sind und daher für diese aus dem Rahmen des Rationalen herausfallen.

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Allerdings löst Kant diese von ihm selbst erkannte Schwierigkeit im diskutierten Kontext unmittelbar im Anschluss an die Einführung jenes übermenschlichen moralischen Gesetzgebers durch eine Relativierung auf: „Gleichwohl können ethische Gesetze auch nicht als bloß von dem Willen dieses Obern ursprünglich ausgehend (als Statute, die etwa, ohne daß ein Befehl vorher ergangen, nicht verbindend sein würden) gedacht werden“ (RGV, 06: 99). Das heißt, ins Positive gewendet: Ethische Gesetze sind verbindlich vor einem etwaigen göttlichen Befehl. Wenn sie es aber sind, dann kann diese Verbindlichkeit ihren Ursprungsort nur im Menschen selbst haben, genauer in seiner für sich selbst praktisch werden könnenden Vernunft. Eine moralische Person, so in der Metaphysik der Sitten, ähnlich aber auch vielfach andernorts, steht unter „keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie […] sich selbst giebt“, und zwar gilt das auch für die Gesetze, die sie sich „zugleich mit anderen“ (MS, 06: 223) gibt, d. h. also für die Pflichten der Gattung gegen sich selbst. Wenn nun doch zum Ausgleich gewisser Defizite im ethischen Universum der Menschen eine höhere moralische Instanz gedacht werden muss, so kann diese allenfalls noch hinzukommend zum Menschen als Gesetzgeber angesehen werden, dessen Gesetze aber in nichts von den bereits in reiner praktischer Vernunft gegründeten abweichen. Es werden dann, so Kant, „alle wahren Pflichten“, die der Mensch also schon aus sich erzeugt hat, „zugleich“ als göttliche Gebote vorgestellt (RGV, 06: 99). Der zusätzliche Gedanke eines göttlichen Gesetzgebers ist demnach derivativ und setzt eine Gesetzgebung durch reine praktische Vernunft immer schon voraus. Diese statuiert bereits unbedingte Pflichten, auch solche der Gattung gegen sich selbst, wobei ihr Verbindlichkeitscharakter als unbedingte Pflichten bereits vollständig ist, durch das Hinzudenken eines zweiten Gesetzgebers also nicht mehr zu steigern ist. Der menschlichen Praxis scheint also, wenn es um die Erzeugung der wahren Pflichten geht, aber auch um ihre Erfüllung, denn einem unbedingten Sollen korrespondiert, wie gesehen, auch ein Können, nichts zu fehlen, d. h. auch dann nicht, wenn das Gebotene nicht zugleich als von Gott geboten vorgestellt wird. Diskussionsbedürftig sind neben der Gesetzgebungsfunktion des gedachten Gottes auch seine eng zusammenhängenden Kennzeichnungen als moralischer Weltherrscher, Herzenskündiger und Richter. Weltherrscher ist er nach Kants Angabe dann, wenn er, „wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen“ (RGV, 06: 99) lässt. Um diese richtende, d. h. nach Wert und Unwert zuteilende Tätigkeit adäquat ausüben zu können, muss er ersichtlich Herzenskündiger sein, also „das Innerste der Gesinnungen eines jeden […] durchschauen“ (RGV, 06: 99). Der Gedanke, dass das moralische Betragen des Menschen in Hinsicht auf Lohn oder Strafe nicht folgenlos bleiben soll, ist ein seit der Kritik der reinen Vernunft, d. h. seit der frühen Entwicklung des Begriffs des höchsten Guts geläufiger. Das Projekt reiner praktischer Vernunft wäre nach diesem

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Begriff unvollständig, es bliebe durch ein Moment des Irrationalen bedroht, wenn der Moralische, der deshalb auch der Glückwürdige genannt wird, nicht notwendig auch glücklich wäre, wenn also der Nexus zwischen Moralitätsstatus und Glückseligkeit kein notwendiger wäre. Kant propagiert also im Namen der Vernunft das „System der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, A 809/B 837) bzw., dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV, A 809/B 837). Da nun aber in der wirklichen Welt im Leben des Menschen im Fall moralischer Handlungen nicht bestimmt ist, „wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden“ (KrV, A 810/B 838), mindestens aber „das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht“ (RGV, 06: 8), Glücksfolgen als notwendige zu erzeugen, muss, so Kant, ein „allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher“ gedacht werden, „unter dessen Vorsorge dieses geschieht“ (RGV, 06: 8). Das hier genannte Defizit im Menschenvermögen, über die durch Moralität erworbene Glückswürdigkeit hinaus um der vollendeten Realisierung praktischer Rationalität willen sich nicht auch noch das tatsächliche Glück als notwendige Folge verschaffen zu können, ist der eingangs angekündigte gute Grund, sich zum ethischen Gemeinwesen Gott hinzuzudenken. Wenn die Verhältnisse also im Sinne reiner praktischer Vernunft vollständig rational sein sollen, dann muss dieser Weltherrscher das ergänzen, was nicht im Vermögen des Menschen steht. Ob sie derart rational sind und ob dieser Weltherrscher also existiert, kann der Mensch nicht wissen. Allerdings spricht ein starkes Interesse praktischer Vernunft, wovon Kant überzeugt ist, dass es nicht trügt, dafür. Die skizzierten Verhältnisse sind auf dem Gebiet des ethischen Gemeinwesens, d. h. auf dem Gebiet der Gattungsmoralität, nicht prinzipiell anders. Unter zustimmendem Bezug auf die Bibel, die für Kant ja nicht in erster Linie Offenbarungsschrift ist, sondern im Kern Ausdruck rationaler Morallehre, gibt er die für unser Thema einschlägige Lehre Jesu wie folgt wieder: „Der Lehrer des Evangeliums hatte seinen Jüngern das Reich Gottes auf Erden nur von der herrlichen, seelenerhebenden, moralischen Seite, nämlich der Würdigkeit, Bürger eines göttlichen Staats zu sein, gezeigt und sie dahin angewiesen, was sie zu thun hätten, nicht allein um selbst dazu zu gelangen, sondern sich mit andern Gleichgesinnten und wo möglich mit dem ganzen menschlichen Geschlecht dahin zu vereinigen. Was aber die Glückseligkeit betrifft, die den andern Theil der unvermeidlichen menschlichen Wünsche ausmacht, so sagte er ihnen voraus: daß sie auf diese sich in ihrem Erdenleben keine Rechnung machen möchten“ (RGV, 06: 134 f.). Gemäß diesem Hinweis auf die aus dem Erdenleben auszuschließende notwendige Synthese von Glückswürdigkeit und Glück, ist das Erdenleben ersichtlich so eingeschätzt, dass hier die Glücksumstände letztlich zufällig bleiben, d. h. dass hier sowohl für das Individuum als auch für die Gattung selbst bei Erfüllung der Moralitätsbedingung

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die Befriedigungsmittel für den glücksbedürftigen Teil ihrer Existenz nicht garantiert sind – anders also, als es in einem System belohnter Moralität sein müsste. Aus der ausgeschlossenen Synthese von Glückswürdigkeit und Glück im Erdenleben folgt nun, dass der um der finalen Perfektion der Verhältnisse willen gedachte Gott als ein in diesem Erdenleben mitwirkender Akteur strikt auszuschließen ist. Genau darin aber, ihn, der in einer letzten Endes perfektionierenden Rolle denknotwendig ist, noch zusätzlich als mitten in den menschlichen Angelegenheiten wohltätig anzunehmen, liegt das eingangs genannte, durch den Gottesgedanken nahegelegte Missverständnis. Die Annahme seiner immanenten Mitwirkung ist hinsichtlich der Moralität des Menschen zersetzend, denn sie erzeugt das „faule[] Vertrauen, ein höherer moralischer Einfluß werde wohl die ihm [dem Menschen] mangelnde sittliche Beschaffenheit und Vollkommenheit […] ergänzen“ (RGV, 06: 161). Derart ihre moralische Selbstbestimmung aufgebende Menschen erwarten das „moralische Gute mit der Hand im Schooße, als eine himmlische Gabe von oben herab, ganz passiv“ (RGV, 06: 161), wodurch es, ihnen nicht zuschreibbar, gar kein moralisch Gutes mehr wäre. Noch eine andere Gefahr resultiert aus einer weiteren falschen Verwendung des Gedankens einer durch Gott als Weltrichter mit Glück belohnten Moralität, auch wenn dieser nicht als in das Erdenleben eingreifend gedacht ist. Es ist die Gefahr, dass die Menschen sich den Gedanken göttlicher Belohnung „zur Triebfeder der Handlungen“ (RGV, 06: 162) machen, d. h. dass sie ihn als Motiv für ihre (ansonsten unterbleibenden) Handlungen benötigen. Solche Praxis wäre gar nicht eigentlich Praxis der Menschen, d. h. keine Praxis „aus bloßen Bewegungsgründen der Pflicht“ (RGV, 06: 162), die durch den Menschen autonom gesetzt ist, sondern beruhte auf einem heteronomen Bestimmungsgrund. Dass demgegenüber die völlige Abwesenheit des Gedankens an den belohnenden Weltrichter vorzuziehen wäre, schreibt Kant, wiederum in Ausdeutung einer Bibelstelle, dem Weltrichter selbst als dessen Standpunkt zu. Dieser nämlich erkläre „für die eigentlichen Auserwählten zu seinem Reich“ diejenigen, „welche den Nothleidenden Hülfe leisteten, ohne sich auch nur in Gedanken kommen zu lassen, daß so etwas noch einer Belohnung werth sei“ (RGV, 06: 162). Zur Abwehr der bezeichneten Gefahr ist es demnach aus dem Gesichtspunkt des Weltrichters selbst vorzuziehen, den Gedanken an ihn, den Weltrichter, nicht zu vollziehen. Dadurch ist gesagt, dass dieser Gedanke zum Gelingen der moralischen Praxis der Menschen nichts beiträgt. Dafür, den Gottesgedanken im Vollzug menschlicher Praxis nicht wirksam werden zu lassen, plädiert Kant auch ausdrücklich im Zusammenhang der Erwägung, wie das ethische Gemeinwesen zu errichten sei, wobei er gleichzeitig die Unvermeidlichkeit dieses Gedankens betont. Für unvermeidlich erklärt er ihn, weil die Idee eines ethischen Gemeinwesens eine aus menschlichem Vermögen „nie

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völlig erreichbare Idee“ (RGV, 06: 100) sei. Zwar führt er ein moralisches Defizit der Menschen als Grund für den ergänzenden Gottesgedanken an, was nicht überzeugend ist angesichts dessen, dass die moralische Komponente des höchsten gemeinschaftlichen Guts im Vermögen der Menschen stehen muss, insofern ihnen allen reine praktische Vernunft zu Gebot steht. Er hätte also besser, wie sonst, das menschliche Defizit nicht in das Zurückbleiben hinter der Glückswürdigkeit gesetzt, sondern in das Zurückbleiben hinter dem ihr angemessenen Glück selbst. Doch selbst bei Annahme eines moralischen Defizits der Menschen ist es ihmnach nicht erlaubt, dass sie auf ihre Praxis den Gedanken einer Ergänzung durch Gott einwirken lassen, denn eine solche Einwirkung würde auch hier die Tendenz zur Passivität einführen. Es ist also dem Menschen hinsichtlich der Statuierung des ethischen Gemeinwesens „nicht erlaubt, […] unthätig zu sein und die Vorsehung walten zu lassen“ bzw. „das Ganze der Angelegenheit des menschlichen Geschlechts […] einer höhern Weisheit [zu] überlassen“ (RGV, 06: 100). „Er muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen“ (RGV, 06: 100). Die Menschen müssen demnach in Errichtung des ethischen Gemeinwesens und in Verfolgung des höchsten gemeinschaftlichen Guts, worin das materiale Glücksmoment mit enthalten ist, so verfahren, als ob nichts auf Gott ankäme. Sie müssen, schlicht gesagt, das Menschenmögliche tun. Das aber ist gerade dann gefährdet, wenn ihr praktisches Bewusstsein von dem Gedanken besetzt ist, dass etwas auch auf eine höhere Weisheit ankommt. Zur gelingenden gemeinschaftlichen Praxis trägt dieser Gedanke nicht nur nichts bei, sondern er hindert sie sogar. Ergänzung durch höhere Weisheit ist nur dann zu erhoffen, wenn das Menschenmögliche auch getan ist, wenn also nichts davon an diese Weisheit delegiert wird, was wiederum voraussetzt, dass sie in das praktische Kalkül der Menschen nicht mit einbezogen ist. Insofern der Gedanke an Gottes ergänzende Mitwirkung ein aus der menschlichen Praxis radikal auszuschließender ist, insofern er aber zugleich, den Glücksaspekt im Begriff des höchsten Guts betreffend, unvermeidlich ist, ist er ein Gedanke theoretischer Vernunft, d. h. einer Vernunft, die, wenn Praxis ruht, über die im Menschenleben nicht mögliche Vollendung des Projekts praktischer Rationalität bloß reflektiert. Es soll nun abschließend nicht verschwiegen werden, dass Kant im Anschluss an die soeben diskutierten Aussagen das ethische Gemeinwesen als Kirche konzipiert, also unter Einschluss des Gottesbezugs.⁵ Diese Konzeption ist aber nach dem

5 Die meisten der Interpreten des kantischen Lehrstücks über das ethische Gemeinwesen problematisieren die Rolle nicht bzw. nicht ausreichend, die darin der Gottesidee zugeschrieben wird

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und in deren Gefolge dieses Gemeinwesen schließlich als Kirche zu etablieren sein soll. Insbesondere differenzieren sie unter dem Gesichtspunkt menschlichen Vermögens bzw. Unvermögens oft nicht genügend zwischen den folgenden Frageaspekten: 1. Wer ist als Ursprung der Verpflichtung zur Vereinigung in einem ethischen Gemeinwesen zu denken, der Mensch oder Gott (das ist die Frage nach dem Gesetzgeber in Hinsicht auf die Statuierung von Gattungspflichten)? 2. Ist der Mensch nach Statuierung der Gattungspflichten vermögend genug, das Gemeinwesen zu stiften, oder bedarf er dazu göttlicher Beihilfe? 3. Ist er nach Gründung des Gemeinwesens als Mensch vermögend genug, die aufgegebenen Gattungspflichten auch zu erfüllen (das ist die Frage nach der Erfüllbarkeit des durch die Idee des höchsten gemeinschaftlichen Guts gedachten Moralitätserfordernisses)? 4. Hat der Mensch in der ethischen Vergemeinschaftung schließlich das Vermögen, der Gattung den Glückszustand nach Maßgabe der durch die erfüllten Pflichten erworbenen Glückswürdigkeit zu garantieren (neben dem Moralitätsaspekt ist dieser Glücksaspekt der zweite, der durch die Idee des höchsten gemeinschaftlichen Guts gedacht wird)? – Der vorliegende Beitrag argumentiert dafür, dass der Gedanke göttlicher Assistenz nur unter der vierten Hinsicht notwendig ist, dass das aber von keiner Relevanz für die (hier: gemeinschaftliche) menschliche Praxis als solche ist und also auch nicht dazu zwingt, die institutionalisierte Gestalt dieser Praxis, das ethische Gemeinwesen, als Kirche zu etablieren. Dieses Ergebnis weicht ab vom kantischen, das dieser allerdings eher verkündet als begründend herleitet. Hinzukommend stehen die Aussagen Kants zu den genannten Frageaspekten untereinander nicht selten in einem Spannungsverhältnis, wenn nicht gar in einem widersprüchlichen, was eigene systematische Erwägungen und eigene begründete Entscheidungen herausfordert. Hans Michael Baumgartner („Gott und das ethische gemeine Wesen in Kants Religionsschrift“. In: Kant in der Diskussion der Moderne. Hrsg. von Gerhard Schönrich und Yasushi Kato. Frankfurt a. M. 1996, 408–424) dokumentiert durch die Auswahl seiner Kant-Zitate beispielsweise das Spannungsverhältnis zwischen Aussagen, die das ethische Gemeinwesen als Forderung der moralischgesetzgebenden Vernunft des Menschen darstellen (vgl. 418 f.) und es also auch als durch ihn zu realisieren unterstellen, und solchen, die die Pflicht zu seiner Einführung und seine Einführung selbst auf Gott zurückführen (vgl. 423). Baumgartners Ergebnis fällt allerdings ohne Problematisierung zugunsten des göttlichen Gesetzgebers aus, der das ethische gemeine Wesen zur Pflicht mache, „für das niemand sonst als Gesetzgeber in Frage“ (422) komme. Der Grund, warum reine praktische Vernunft des Menschen, die durch ihre moralischen Imperative überall die Überwindung seines individualistischen Selbstverständnisses verlangt, dies nicht auch im Hinblick auf seine ethische Vergemeinschaftung zur Erfüllung von gemeinsamen Gattungspflichten verlangen können sollte, wird weder bei Baumgartner noch bei Kant ersichtlich. Sharon Anderson-Gold („God and Community: An Inquiry into the Religious Implications of the Highest Good“. In: Kant’s Philosophy of Religion Reconsidered. Hrsg. von Philip J. Rossi and Michael Wreen. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1991, 113–131) nimmt zwar zur Kenntnis, dass die Idee eines ethischen Gemeinwesens bei Kant schon vor der Religionsschrift in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten enthalten ist, und zwar ohne dass diesem hier eine Abhängigkeit von Gott zugeschrieben wäre (vgl. 125 f.); ebenso wie sie zur Kenntnis nimmt, dass auch nach der Religionsschrift im Opus Postumum die Totalität der im Namen der reinen praktischen Vernunft vereinigten rationalen Wesen als in keiner äußeren Relation zu Gott stehend vorgestellt ist (vgl. 129). Dennoch kann sie dem durch den Wortlaut der Religionsschrift nahegelegten, für das ethische Gemeinwesen anscheinend konstitutiven Gottesgedanken etwas abgewinnen, nämlich dass durch ihn und darüberhinaus durch den geteilten Glauben der Mitglieder des ethischen Gemeinwesens an Gott eine hinderliche Distanz und Fremdheit zwischen ihnen als den moralischen Subjekten überwunden werde (vgl. 128 f.). Der hohe

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Gesagten nicht dem Erfordernis geschuldet, dass das um der im Rahmen des Menschenmöglichen gelingenden Praxis des ethischen Gemeinwesens nötig wäre. Es ist bloß Ausdruck der bezeichneten theoretischen Reflexion über die Perfektionsbedingungen des Praktischen. Im Interesse gelingender menschlicher Praxis als solcher spricht im Gegenteil viel für eine säkulare Gestalt des ethischen Gemeinwesens bzw. seiner bis jetzt erst zu verzeichnenden Vorformen, d. h. der eingangs angeführten partikularen ethischen Vereinigungen.

Preis für die dem gedachten Gott zugestandene konstitutive Rolle ist allerdings der, reiner praktischer Vernunft als solcher die Fähigkeit zu wahrer Allgemeinheit abzusprechen, womit nicht weniger als die Vernünftigkeit dieser Vernunft in Frage steht. Wie Christine Axt-Piscalar gezeigt hat („Das gemeinschaftliche höchste Gut. Der Gedanke des Reiches Gottes bei Immanuel Kant und Albrecht Ritschl“. In: Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie. Hrsg. von Werner Thiede. Göttingen 2004, 231–255), hat der noch heute wirkmächtige protestantische Theologe Albrecht Ritschl (1822–1889) Kants Lehre vom ethischen Gemeinwesen bevorzugt rezipiert und in ihr, speziell im darin wirksamen Gedanken göttlicher Beihilfe, den Anlass für seine eigene verschärfende Positionsbestimmung gefunden, wonach Religion (vorzugsweise die christliche) eine unverzichtbar konstitutive Funktion für die Verwirklichung des Guten habe und die Gesetzgebung praktischer Vernunft weder im einzelnen noch in einer Gemeinschaft für sich selbst praktisch werden könne (vgl. 249). Es zeigt sich hier, dass im Ausgang von Kant, wenn dem Gottesgedanken in seiner Theorie des ethischen Gemeinwesens nicht die ihm gebührenden kritischen Restriktionen beigegeben werden, sich Konsequenzen ziehen lassen, die die kantische Konzeption autonomer Sittlichkeit ins Gegenteil verkehren. Einer der wenigen, der in seiner Ausdeutung des ethischen Gemeinwesens bei Kant in Zweifel zieht, ob zu seiner Begründung und Realisierung auf Gott rekurriert werden muss, ist Reiner Wimmer (Kants kritische Rreligionsphilosophie. Berlin/New York 1990, vgl. bes. 196).

Kants Projekt der unsichtbaren Kirche als Aufgabe zukünftiger Aufklärung In der Rückschau auf die maßgeblich durch Gewalt und Krieg geprägte Menschheitsgeschichte stellt Kant mit besonderem Blick auf die nicht unerhebliche Rolle, die dabei religiös motivierte Gewalt und religiös motivierte Kriege gespielt haben, in seiner Religionsschrift von 1793 fest: Es „sind die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (RGV, 06: 108). Davon, dass solche Religionsstreitigkeiten auch mehr als 200 Jahre nach diesem Befund nicht etwa aufgehört haben die Welt zu erschüttern und mit Blut zu bespritzen, kann man sich gerade in unserer Zeit wieder einmal überzeugen. Der Kirchenglaube also, oder besser, da es davon mehrere Arten gibt, die Kirchenglaubensarten stehen im Zentrum des Streits. Mit einem anderen Ausdruck Kants benannt, sind es die historischen Glaubenslehren (vgl. RGV, 06, 115 u. ö.), die deshalb historisch heißen, weil sie beanspruchen, auf geschichtlichen, in Raum und Zeit situierten Ereignissen der Selbstmitteilung Gottes zu beruhen. Den Glauben daran nennt er aufgrund der beanspruchten Fundierung in historisch zufälliger Faktizität zuweilen auch den empirischen Glauben (vgl. RGV, 06: 109 f.). Die ansonsten geläufige Bezeichnung Offenbarungsreligion vermeidet er, weil er den wahren Begriff der Religion durch die Glaubensarten verfehlt sieht – und dies nicht bloß aufgrund eines etwaigen graduellen Mangels an Vollkommenheit, der zu beheben wäre, sondern aufgrund ihrer wesentlichen Beschaffenheit. Dass in seiner Sicht zu ihrem Wesen der Konflikt gehört, drückt er durch sein Urteil aus, dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden kann“ (RGV, 06: 115). Damit ist nicht weniger gesagt als dass der Streit ein notwendiges Merkmal des Begriffs der historischen Glaubenslehre ist. Offenbarungsreligionen, um doch den eingebürgerten Ausdruck zu verwenden, sind demnach per se konfliktträchtig, und es ist schon jetzt zu sehen, dass unter dieser Voraussetzung die moderate Variante, diesem Übel begegnen zu wollen, nämlich das Toleranzpostulat zu bemühen, nicht zu Gebote stehen wird. Denn das würde das Unmögliche verlangen, dass die Glaubenslehren blieben, was sie sind, nur eben auf den Streit verzichteten. Wenn das also unmöglich ist, dann ist in den Blick zu nehmen, um der Vermeidung des Streites willen die Glaubenslehren in toto aufzuheben. Die Aufhebung der historischen Glaubenslehren nimmt Kant mit seinem Postulat der unsichtbaren Kirche − das ist die, die er als Kirche einer Vernunftreligion den sichtbaren historischen Kirchen entgegensetzt − in der Tat in den Blick. Für Kant ist Vernunft – genauer: reine praktische Vernunft – Auslegerin aller Religion https://doi.org/10.1515/9783110788099-014

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und da ihren Maßstäben prinzipiell keine historische Religion genügen kann, sind alle diese Glaubensarten, die auf Geschichte beruhen, letztlich zu überwinden. Reine praktische Vernunft verfolgt demnach den Zweck, dass Religion, damit sie diesen Namen erst wirklich verdiene, „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen […], losgemacht werde“ und dass sie so als „reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche“ (RGV, 06: 121). Eine von allen empirischen Bestimmungsgründen und geschichtlichen Statuten losgemachte historische Religion aber hat aufgehört, als eine solche zu existieren. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Kant – analog seiner Konzeption politischen Fortschritts – zum Erreichen dieses Zustands keine Revolution propagiert, wodurch widersinnigerweise ein projektierter Friedenszustand durch Gewaltakte gestiftet würde, sondern dass er auf einen Reformprozess setzt, in dem die Kraft aufgeklärten Denkens wirksam wird. Ebenso ist zu erwähnen, dass er mit einer sehr langen Dauer dieses Reformprozesses rechnet, was unter den Kirchenleuten den Schrecken bis heute in Grenzen gehalten haben mag. Schließlich soll bemerkt sein, dass er den Kirchenglaubensarten für den Verlauf des Reformprozesses eine Funktion zuspricht − eine provisorische allerdings, eine dienende, was die Zumutung beinhaltet, an der eigenen Abschaffung mitzuwirken. Doch ändert der von Kant propagierte Reformismus nichts an der Radikalität der Zielbestimmung, d. h. an der kompromisslosen Utopie eines religiösen Friedenszustandes, der nur ohne die historischen Religionen zu haben ist. Worin besteht nun näherhin die bisher bloß als Kants Behauptung wiedergegebene notwendige Konfliktträchtigkeit der historischen Religionen? Sie besteht, um es in einem Satz zu sagen, in den von diesen erhobenen Forderungen eines „Glauben[s] an statutarische göttliche Gesetze“ (RGV, 06: 106). Angesichts einiger leicht zu findender Beispiele solcher Gesetze mag verwundern, dass in ihnen der Keim eines Übels zu finden sein soll. Denn ist es in moralischer Hinsicht nicht ganz gleichgültig, wenn etwa in der christlichen Glaubensart, und das ist Kants bevorzugtes Beispiel für ein statutarisches göttliches Gesetz, an „die Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar verordnetes Religionsstück“ (RGV, 06: 187), geglaubt wird? Ist es nicht ebenso moralisch indifferent, wenn eine einmal im Leben zu unternehmende Pilgerfahrt nach Mekka angeordnet wird? Da sich bei erstem Hinsehen eher ein Eindruck von Harmlosigkeit einstellt, wird der spezifische Gesetzescharakter der statutarischen göttlichen Gesetze näher zu betrachten sein. Das Eigentümliche dieser Gesetze ist, dass sie den Menschen Gebote auferlegen, die aus Vernunft nicht zu entwickeln sind, auf die also praktische Vernunft von sich her nie gekommen wäre. Ihr Anspruch auf Verbindlichkeit ist demnach nicht durch diese zu legitimieren. Sie sind aus diesem Grund keine moralischen, sondern außermoralische Gesetze. Die thematischen göttlichen Statute können, „ohne daß [s]

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ein Befehl vorher ergangen, nicht verbindend“ (RGV, 06: 99) sein; ihre Gesetzgebung ist also „eine der Offenbarung bedürftige göttliche Gesetzgebung“ (RGV, 06: 106). Während ich im Fall eines moralischen Gebots, wenn ich es denn gemäß der durch Kants rationalen Religionsbegriff eröffneten Möglichkeit aufgrund hinzukommender Reflexionsakte zugleich als göttliches Gebot ansehe, „zuvor wissen“ muss, „daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (RGV, 06: 154), verhält es sich im Fall eines statutarischen göttlichen Gebots umgekehrt. Hier muß ich „vorher wissen […], daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen“ (RGV, 06: 153 f.). Vorschriften aber, die an einen Adressaten ergehen, der sie nicht aus sich selbst entwickeln und der sie auch im Nachhinein in kein rationales Konzept integrieren kann, müssen diesem Adressaten als zufällige und willkürliche Vorschriften erscheinen (vgl. RGV, 06: 105 f.). Aus statutarischen Gesetzen, die auf die besagte Art Akzeptanz gebieten, folgt, so Kant, „nicht das Bewußtsein, daß der geglaubte Gegenstand so und nicht anders sein müsse, sondern nur, daß er so sei“ (RGV, 06: 115). Indem der historische Glaube „mithin […] das Bewußtsein seiner Zufälligkeit“ (RGV, 06: 115) enthält, ist durch ihn die schwierige gedankliche Verknüpfung verlangt, willkürliche und zufällige Vorschriften als absolut geltend anzuerkennen, denn der angeführte Geltungsgrund, kein geringerer als Gott, ist nicht zu überbieten. Göttliche statutarische Gesetzgebung ist nach all dem zunächst einmal äußere Gesetzgebung. Statutarische Gesetze sind nicht wie moralische innerlich im Selbstverhältnis auf die Weise des Selbstdenkens zu verifizieren. Sie begegnen dem Angesprochenen autoritativ und verlangen von diesem also die Anerkennung ihrer Autorität, ohne dass Gründe dafür einsichtig werden. In den Überzeugungszustand ihrer Geltung zu gelangen, scheint also Unterwerfung und Selbstüberredung zu verlangen. Der Weg, sie, wenn nicht auf Selbstdenken, so doch vielleicht auf Erfahrung zu gründen, ist nach Kant versperrt, sowohl äußere als auch innere Erfahrung betreffend. Zwar ist die äußere Erfahrung davon möglich, dass eine Stimme einen Befehl göttlichen Ursprungs behauptet, wie im Fall des Befehls an Abraham, seinen Sohn zu opfern, doch die Göttlichkeit dieses Ursprungs ist kein möglicher Gegenstand der Erfahrung. In Kants Worten: „Wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden, und ihn woran kennen solle.“ (SF, 07: 63). Nebenbei bemerkt, ist es im Fall des Abraham aus moralischen Gründen klar, dass es nicht Gott sein kann, der da spricht (vgl. SF, 07: 63) – Schließlich ist nach Kant auch der innere Sinn nicht dazu fähig, in eine „Gemeinschaft mit Gott“ (SF, 07: 55) zu treten, die als Erfahrung gelten könnte. Im Zusammenhang seiner Kritik am pietistischen Mystizismus führt er aus: „Den unmittelbaren Einfluß der Gottheit als einer solchen f ü h l e n wollen ist, weil die Idee von dieser bloß in der Vernunft liegt,

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eine sich selbst widersprechende Anmaßung.“ (SF, 07: 57 f.). Dass es für dieses Verdikt gegen die gefühlte Allianz mit Gott auch noch genügend heutige Adressaten gibt, und zwar solche in höchsten politischen Ämtern, dürfte jedem klar sein, der den Aufklärungszustand der Gegenwart an den kantischen Maßstäben misst. Kant belegt jene angemaßten gefühlsmäßigen Gotteserfahrungen mit dem wenig schmeichelhaften Namen eines „Illuminatism innerer Offenbarungen“ und fügt hinzu, dass davon „ein jeder alsdann seine eigene hat und kein öffentlicher Probirstein der Wahrheit mehr Statt findet“ (SF, 07: 46). Es ist dies, nämlich die mangelnde Allgemeinheit, nach Kant ein universelles Kennzeichen historischer Glaubensarten, selbst wenn die empirische Faktizität von Offenbarungsereignissen doch einmal probeweise angenommen sein mag. Da dem historischen Glauben gemäß Gott sich unter empirischen Bedingungen gezeigt hat, d. h. auf bestimmte Weise räumlich und zeitlich situiert, und da diese mit dem Verkünden statutarischer Gesetze verbundene Selbstmitteilung zugleich als singulär ausgezeichnet wird, d. h. als dem gesetzlichen Erfahrungszusammenhang mit seiner Möglichkeit gleichartiger Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten enthoben, gewinnen die Subjekte solcher Erfahrung einen exklusiven Status, den diejenigen nie erreichen können, die in anderen Raum- und Zeitumständen leben, ganz zu schweigen von denjenigen vom historischen Offenbarungsglauben vollkommen Ausgeschlossenen, die vor dem singulären Ereignis lebten. Kant qualifiziert die nach den Annahmen notwendigerweise exklusive Erfahrung der Begünstigten, die seinem Erfahrungsbegriff widerspricht, so, dass sie „auf keine Regel der Natur unseres Verstandes zurückgeführt und dadurch bewährt werden kann“ (SF, 07: 57). Er stellt fest, dass eine auf die skizzierte Art von außerhalb des Erfahrungskontextes in den Erfahrungskontext gekommene statutarische Gesetzgebung „nicht an jeden Menschen gekommen ist“ und darüber hinaus, dass sie auch nicht an jeden Menschen „kommen kann“ (RGV, 06: 104). Abgesehen von der Nicht-Wiederholbarkeit absolut singulärer Erfahrungen meint letzteres auch, dass es unter empirischen Bedingungen unmöglich, mindestens aber nie gesichert ist, die Kunde von den nun gelten sollenden statutarischen Gesetzen an jeden Menschen zu bringen. Das unter anderem unterscheidet sie von den dann in der unsichtbaren Kirche allein Geltung beanspruchenden moralischen Gesetzen, die nicht unter empirischen Bedingungen an oder in den Menschen erst kommen müssen. Aus dem entwickelten Defizit der göttlichen statutarischen Gesetze schließt Kant nun, dass sie „nicht als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden können“ (RGV, 06: 104), dass sie also keine allgemeine Geltung beanspruchen können. Obwohl natürlich so etwas wie ein Weitersagen der vermeintlich als göttlich erfahrenen Anweisungen möglich ist und der historische Glaube ein „durch Schrift weit ausgebreiteter“ sein kann, ist er doch, so Kant, „keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig“ (RGV, 06: 109).

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Aufgrund der bis hierhin herausgestellten Merkmale statutarischer göttlicher Gesetze dürfte einsichtig werden, warum über historische Glaubenslehren, die wesentlich durch diese Gesetzesart charakterisiert sind, wie Kant sagt, der Streit unvermeidlich ist (vgl. RGV, 06: 115). Unvermeidlich ist er nicht erst dann, wenn mehrere dieser Glaubensarten und ihre jeweiligen statutarischen Gesetze miteinander konkurrieren, sondern eben aus dem Grund der Eigentümlichkeit der Gesetzesart als solcher. Diese ist einerseits unter dem Gesichtspunkt ihrer aus Vernunft nicht zu entwickeln möglichen Empirizität gekennzeichnet durch Zufälligkeit, mangelnde Allgemeinheit und Willkür der Setzung, andererseits aber aufgrund der vermeinten Göttlichkeit ihres Ursprungs durch einen universellen Geltungsanspruch und trägt so als partikulares Allgemeines den Widerspruch in sich. Während nun der soeben angesprochene Streit ein Streit zwischen denjenigen ist, die nur rationale Geltungsansprüche anerkennen, und denjenigen, die sich auch Verbindlichkeiten unterwerfen, welche bloß auf Autorität beruhen, sind verschiedene faktische Szenarien denkbar und auch in der Tat zu beobachten, in denen die letzteren untereinander in Streit geraten. Innerhalb einer Glaubensart, deren Anhänger sich auf dieselbe ursprüngliche Offenbarung und auf dieselben für sie heiligen Texte berufen, ist es gewöhnlich so, dass gewisse Unbestimmtheiten in der sprachlichen Fixierung der göttlichen Anweisungen und also die Interpretationsbedürftigkeit dieser Texte zu verschiedenen Ausdeutungen führen, von denen naturgemäß jede den auf Gott zurückgeführten absoluten Geltungsanspruch erhebt. Es entstehen so die von Kant beklagten Sektenverschiedenheiten. Zudem vermehren sich gewöhnlich in der kirchlichen Tradition einer Glaubensart die statutarischen Regeln, die als Spezifikationen oder Derivate eine mindestens indirekte Verankerung in der ursprünglichen göttlichen Gesetzgebung beanspruchen. Mit der Vermehrung der statutarischen Regeln vermehren sich selbstredend auch die möglichen Gegenstände für Konflikte. Auch werden gewöhnlich die Stätten der ursprünglichen heiligen Ereignisse als besonders zu verehrende und als unter besonderen Schutz zu stellende ausgezeichnet, weshalb denn auch der Kampf um ihren Besitz zu den durchgängigen Merkmalen der Religionsstreitigkeiten gehört. Die Potenzierung der Konflikte ist ersichtlich vorgezeichnet, wenn es eine Mehrzahl von historischen Glaubensarten gibt, eine Mehrzahl von vermeinten göttlichen Selbstmitteilungen, und also auch eine Mehrzahl statutarischer Gesetzgebungssysteme. Abgesehen davon, dass sich damit jeweils intern die erwähnten Sektenverschiedenheiten vermehren, ist im äußeren Verhältnis jede hinzukommende Glaubensart für eine bestehende insofern provokativ, als sie ihr mindestens die Singularität und Exklusivität der ursprünglichen Gotteserfahrung bestreitet, wenn nicht darüberhinaus, dass es sich überhaupt um eine solche gehandelt hat. Letzteres ist sogar unvermeidlich, wenn die jeweiligen statutarischen Gesetzgebungen in einen inhaltlichen Widerspruch geraten, und sei es nur hinsichtlich des

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zur Gottesverehrung eingesetzten Tages. Denn es ist dann ausgeschlossen, dass in beiden Fällen derselbe Gott gesprochen haben kann. Zur Unvermeidbarkeit des Streits kommt erschwerend hinzu, dass ein solcher auch nie wird entschieden werden können. Als ein Streit um Möglichkeit, Geltung oder Konsistenz von heteronomen Gesetzgebungen, zu deren jeweiligen als göttlich vermeinten Ursprüngen die Vernunft der Streitenden keinen Zugang hat und die dem Inhalt nach etwas nicht durch Vernunft selbst Gebotenes vorschreiben, kann er nicht mit der Aussicht auf die Einhelligkeit der Meinungen geführt werden. Solche Einhelligkeit wäre nur zu erzielen möglich, wenn eben gerade Vernunft den gemeinsamen Maßstab böte, an dem die Rationalität und also die Allgemeinverbindlichkeit der Gesetze gemessen werden könnte, wenn es sich also um Gesetze handelte, die mit ihrer eigenen Gesetzgebung koinzidierten. Das wird der Fall sein in der hier angesteuerten unsichtbaren Kirche, in der die autonome moralische Gesetzgebung reiner praktischer Vernunft hinzukommend auch noch als göttliche Gesetzgebung betrachtet wird. Wo aber Gesetze strittig sind, die ihrem Ursprung und ihrem partikularen Inhalt nach außervernünftig sind, die aber gleichwohl aufgrund des vermeinten göttlichen Ursprungs absolute Geltung beanspruchen, da ist die Überwindung der Entgegensetzung auf keine einsichtige Weise möglich. Statutarische göttliche Gesetzgebung ist auch, und zwar schon ihrem Begriff nach, keiner Reform fähig. Der Begriff dieser Gesetzesart wäre nämlich aufgehoben, wenn Menschen korrigierende Eingriffe vornähmen, etwa um Konsistenz im System der fraglichen Gesetze herbeizuführen. Etwaige Modifikationen der Gesetze dieser Gesetzesart müssten wiederum auf faktische Setzungen eines sich offenbarenden Gottes zurückgehen, dessen Selbstmitteilungen jedoch, ihre Vernehmbarkeit einmal unterstellt, durch Menschen nicht zu antizipieren sind, so dass für diese also nur eine rein passive Rolle bliebe, künftige Offenbarungen zu erwarten. Unter den skizzierten Bedingungen der Unvermeidbarkeit und zugleich der rationalen Unentscheidbarkeit des Streits ist die naheliegende Konsequenz, dass die Beteiligten in ihrer intellektuellen Hilflosigkeit den Streit durch Machtspruch und bei ausbleibender Unterwerfung der Gegner auf gewaltsame Art bis zu deren Vernichtung, damit der Unglaube oder der Irrglaube nicht mehr zu Gehör kommen kann, zu beenden suchen. Da alle Beteiligten in dem Selbstverständnis stehen, eine Sache höchsten, nicht zu steigernden Interesses zu vertreten, d. h. nicht weniger als die Angelegenheit Gottes, ist auch erklärlich, warum ihr Kampf besonders hitzig, also auf besondere Weise affektiv aufgeladen ist. Verglichen mit Verstößen etwa gegen menschliche Rechtssetzungen scheinen solche gegen göttliche Erlasse einen besonderen Grad von Verwerflichkeit anzuzeigen. Bei Kant kommen diese den historischen Glaubensarten nicht zufälligen Eigenarten wie folgt zur Sprache:

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Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die einige allgemeine ausgibt (ob sie zwar auf einen besondern Offenbarungsglauben gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Theil (im Nichtwesentlichen) davon abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden. Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein Ketzer und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch […] ausgestoßen, und allen Höllengöttern übergeben (RGV, 06: 108 f.).

Es ist nach all dem nicht verwunderlich, wenn Kant befindet, es sei „wenig Hoffnung vorhanden“, eine „Glaubenseinheit […] in einer sichtbaren Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen“ (RGV, 06: 123 Anm.).¹

1 Jürgen Habermas („Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie“. In: Recht − Geschichte − Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart. Hrsg. von Herta Nagl-Docekal und Rudolf Langthaler. Berlin 2004, 141–160) bewertet im expliziten Widerspruch gegen Kant die Pluralität religiöser Gemeinschaften nicht nur positiv, sondern er erklärt diese sogar zur notwendigen Bedingung für die „Schubkraft“ der universellen Vernunftmoral, deren Verhältnis zu den „vielfältigen Kontexte[n] von Weltbildern und Lebensweisen“ er metaphorisch als das der „Einbettung“ bezeichnet (158). Zwar erkennt er auch, dass in diese Vielfalt „konkurrierende Zwecke eingeschrieben sind“ und „Dissens“ zu erwarten ist, doch müsse dieser „nicht zur stummen Gegnerschaft führen und Gewalt ausbrüten“, wenn er nur „in öffentlichen Diskursen zur Sprache gebracht“ werde (158). Dabei könne die Philosophie durch ihre Begriffsarbeit, „in der Rolle eines Übersetzers, moralische, rechtliche und politische Eintracht nur fördern, wenn sie in der legitimen Vielfalt der substantiellen Lebensentwürfe von Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen aufklärend“ wirke (158). Angesichts der im Ausgang von Kant herausgestellten Eigenart religiös fundierter Geltungsansprüche muss Habermas’ Konfliktlösungsstrategie wohl als verharmlosend und als vorschnell harmonisierend bewertet werden, insgesamt als den strukturellen Widerstreit religiöser Pluralität verkennend. Wo Weltbilder und Lebensweisen auf historische Art religiös fundiert sind, werden sie alle auf verschiedene Ursprünge zurückgeführt, mit denen jeweils der Anspruch verbunden ist, dass mit zufällig Faktischem, nämlich mit bestimmten in Raum und Zeit situierten Erfahrungen, doch absolute Geltungsansprüche verbunden werden können, weil nichts Geringeres als göttliche Mitteilung erfahren worden sein will. Solchen vermeinten religiösen Erfahrungen, die ihrem Wesen nach dogmatisch autoritativ sind, steht eine sich selbstkritisch in den Grenzen ihres restringierten Erfahrungsbegriffs haltende Vernunft verständnislos gegenüber, so dass sie sich also auch nicht als Übersetzerin für dieses Unverstandene eignet, das für sie nicht als Erfahrung gelten kann. Entsprechend ist die befriedende Wirkung öffentlicher Diskurse im Fall konkurrierender religiöser Weltbilder und Lebensweisen in Zweifel zu ziehen, denn dazu wäre mehr verlangt als Kommunikation im Sinne eines bloßen Zur-Sprache-Bringens; verlangt wäre die Erfüllung des strengeren Maßstabs der kantischen allgemeinen Mitteilbarkeit, damit aber die Anerkennung der Priorität einer universellen Vernunft, der zugestanden würde, partikulare Ansprüche zu relati-

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Glaubenseinheit bewirken könnte dagegen eine „unsichtbare Kirche“, deren wesentliches Merkmal es nach Kant sein müsste, von der „moralischen Gesetzgebung“ (RGV, 06: 101) beherrscht zu sein und in keiner Weise von der bisher thematischen statutarischen. Indem diese Kirche als „Vereinigung unter keinen andern, als moralischen Triebfedern“ zu denken ist, „[g]ereinigt vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei“ (RGV, 06: 101), wäre „alles“, was sie verlangte, „die standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel“ (RGV, 06: 103), d. h. zur Erfüllung seiner „Pflicht gegen Menschen (sich selbst und andere)“ (RGV, 06: 103). Zum von Kant genannten und von ihm im Interesse der Moral abzulegen verlangten Aberglauben gehört für ihn ausdrücklich der Glaube, dass ein partikularer „Geschichtsglaube Pflicht sei“ (SF, 07: 65). Ersichtlich ist es demgegenüber die Universalität reiner praktischer Vernunft, die der unsichtbaren Kirche die „Qualification zur Allgemeinheit“ bzw. die „Gültigkeit für jedermann“ (RGV, 06: 157) verschaffen kann. „Unsichtbar“ müsste diese Kirche deshalb genannt werden, weil zum einen die moralische Gesetzgebung ihrem Ursprung nach rein intellektuell ist, weil also keine inneren oder äußeren Erfahrungen, wie in den historischen Glaubensarten beansprucht, sie etablierten, weil sie zum zweiten, die Handlungsmotivationen betreffend, auf inneren Gesinnungen beruhte, die nicht veranschaulicht werden können, und weil schließlich an äußeren Handlungen, und seien sie innerlich auch moralisch motiviert, der moralische Charakter doch nie auf anschauliche Weise zum Ausdruck kommen kann. Wer nach der angegebenen Gesetzgebung der unsichtbaren Kirche handelte, verhielte sich nicht anders als jeder, der allein den rein moralischen Gesetzen folgte, d. h. hier unter völliger Abstraktion von Religionsbegriffen, die sich allerdings vermittels einer hinzukommenden Reflexion auf die Morallehre an diese anschließen lassen. Dass eine solche Abstraktion von Religionsbegriffen der Moral nicht schadet, diese also weder für Moralbegründung noch für moralische Praxis notwendig sind, wird von Kant gleich zu Beginn seiner Religionsschrift klargestellt, die dann im weiteren Verlauf doch auch legitimiert, dass Moral sich zusätzlich als integriert in das Konzept einer Vernunftreligion begreifen kann, die hier mit der

vieren. Das aber verlangte von den religiös Inspirierten die Unmöglichkeit, die Gedanken der Fallibilität und der Relativität in ihr Selbstverständnis aufzunehmen, womit sie den Sonderstatus ihrer vermeinten religiösen Erfahrungen, letztlich also diese Erfahrungen selbst, in Frage stellen müssten. Die von Habermas potentiell konfliktfrei gedachte religiöse Pluralität widerspricht demnach gewissen notwendigen Merkmalen des Begriffs einer religiösen Erfahrung; deshalb kann nach Kant auf einen religiösen Friedenszustand nicht im Verhältnis sichtbarer Kirchen, sondern nur unter der Herrschaft der einen einzigen unsichtbaren Kirche der moralischen Vernunftreligion gehofft werden.

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unsichtbaren Kirche thematisch ist. Die zuvor getroffene und durch das Spätere nicht revidierte Klarstellung aber lautet: „Moral […] bedarf […] zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keinesweges der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug“ (RGV, 06: 3). Was hier besonders zu betonen ist, ist die Ununterscheidbarkeit von Handlungen, die einerseits nur in der reinen Morallehre oder andererseits noch zusätzlich in der Vernunftreligion der unsichtbaren Kirche gründen, denn ihre Gesetzgebungen sind, weil Vernunftreligion rein moralische Religion ist, vollkommen inhaltsgleich. Unter der Herrschaft der unsichtbaren Kirche werden also aufgrund der Identität der Gesetze keinerlei Phänomene erzeugt, die als spezifisch religiöse gelten könnten, denn auch in ihr geht es nur um die Pflichterfüllung „gegen Menschen (sich selbst und andere)“ (RGV, 06: 103). Die Phänomene aber, die landläufig als speziell religiöse betrachtet werden und in der Tat in die Augen fallen, nämlich die auf statutarischer Gesetzgebung beruhenden, liegen ganz außerhalb der Grenzen der Vernunftreligion und sind nach deren Maßstäben, nämlich den rein moralischen, gar keine Erscheinungen wahrer Religion. Dazu gehört das, was Kant gerne herabwürdigend die „Observanzen“ (RGV, 06: 84 u. ö.) nennt, die auf bloßen Setzungen beruhenden Bräuche, Kulthandlungen, Zeremonien, Gottesdienste, diese verstanden als vermeinte Pflichterfüllungen nur Gott gegenüber, und eben nicht gegenüber Menschen. Einer der aus der Religionsschrift zu entnehmenden (vgl. RGV, 06: 103 f.) Gründe für Kants Herabwürdigung von nur an Gott allein adressierten vermeinten Pflichterfüllungshandlungen ist zweifellos der, dass ein Gott, der ein Wohlgefallen an solchen Handlungen hätte, anthropomorphistisch gedacht und kaum gegen den Vorwurf der Eitelkeit zu verteidigen wäre. Das Vorkommen all dieser quasi-religiösen Phänomene bietet aus dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion keine Indizien für eine positive Beurteilung des Religionszustandes einer Gesellschaft. Entsprechend bedeuten aus dem Gesichtspunkt der unsichtbaren Kirche, deren einziges Anliegen die moralische Praxis ist, Reduktion oder gar Abwesenheit dieser Phänomene – konkret gesprochen etwa: Kirchenaustritte, schlecht besuchte Gottesdienste – nicht, dass daraus eine negative Beurteilung ihres Religionszustandes abzuleiten wäre. Obwohl darin auch noch keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine positive Beurteilung liegen, denn Indifferentismus oder Atheismus liegen noch im Bereich des Möglichen, ist die Tendenz zur Unsichtbarkeit doch mindestens notwendige Bedingung dafür, einen Religionszustand zu erzielen, der durch kein konfliktträchtiges statutarisches Beiwerk verunreinigt ist, welches Beiwerk von den historischen Glaubensarten nicht selten als Hauptsache behandelt wird. Kant kommt also zu dem schon erwähnten Ergebnis, dass die moralische Anlage in uns, die „die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist“, verlangt, „daß diese endlich von allen empirischen Be-

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stimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, allmählig losgemacht werde“ (RGV, 06: 121). Für die Vertreter der Kirchenglaubensarten liegt darin zweifellos die Zumutung, in ihr Selbstverständnis aufzunehmen, sich überflüssig zu machen, doch Kant hält diese in aufgeklärten Religionsbegriffen begründete Zumutung für erforderlich und rät unter der Bedingung, dass die Veränderung sukzessive als Reform geschieht, „auf das Geschrei der Alarmisten (das Reich ist in Gefahr) nicht zu achten“ (SF, 07: 65). Neben der bis hierher betonten Übereinstimmung zwischen der reinen Morallehre und der in der Konsequenz der Vernunftreligion liegenden Konzeption der unsichtbaren Kirche, die die Identität der durch sie gestellten praktischen Anforderungen betraf, gibt es doch auch einen Unterschied zwischen beiden. In der reinen Morallehre wird ein moralisches Gesetz allein als Ausdruck der Autonomie der reinen praktischen Vernunft betrachtet; nach Begriffen der Vernunftreligion wird nun dasselbe Gesetz „auch“ – das heißt: hinzukommend, zusätzlich – „als göttliches Gebot angesehen“ (RGV, 06: 113). Die Vorstellung des zusätzlichen Gesetzgebers widerspricht dabei dem Autonomiegedanken deshalb nicht, weil nach Kant ein eindeutiges Bedingungsverhältnis zwischen den beiden Gesetzgebungen besteht, in dem die Selbstgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft Priorität hat, d. h. in dem sie Bedingung dafür ist, eine von außen an uns ergehende moralische Gesetzgebung überhaupt als eine solche zu vernehmen. Entsprechend heißt es hinsichtlich des hermeneutischen Problems in Bezug auf eine von außen an uns herangetragene moralische Gesetzgebung im Streit der Fakultäten: „[…] der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, so fern sie rein-moralisch und hiemit untrüglich sind, erkannt werden kann“ (SF, 07: 48). Damit reduziert sich der Unterschied zwischen der reinen Morallehre und dem, was Vernunftreligion impliziert, auf das Minimum des Unterschieds zwischen einer inneren und einer äußeren moralischen Gesetzgebung, wobei das Denken der äußeren Gesetzgebung ganz von der Tatsache der inneren Gesetzgebung abhängig ist. Bei Kant selbst heißt es dazu in der Metaphysik der Sitten: „Das Formale aller Religion, wenn man sie so erklärt: sie sei ‚der Inbegriff aller Pflichten als […] göttlicher Gebote‘, gehört zur philosophischen Moral, indem dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“ (TL, 06: 487). Im gleichen Zusammenhang gibt Kant auch noch den Grund dafür an, warum Vernunft, die ursprüngliche Gesetzgeberin, sich auch noch die Idee vom äußeren moralischen Gesetzgeber macht. Es heißt: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nöthigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen Anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken.“ (TL, 06: 487). Damit ist als Grund für

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die Veräußerlichung der moralischen Gesetzgebung vermittels der – durch Vernunft selbst gemachten – Idee Gottes eine Veranschaulichungsintention dieser Vernunft angegeben. Eine solche Intention kann aber nach der sonstigen zentralen Charakterisierung der moralischen Gesetzgebung, nämlich als rein intellektuelle innere Selbstverpflichtung, nur als Ausdruck einer Schwäche der Vernunft betrachtet werden. Diese Schwäche, das per se Innerliche und Intellektuelle, d. h. den „Gott in uns“, der der originäre moralische Gesetzgeber ist, zu veräußerlichen, ist aber gleichwohl unter Beachtung der Priorität der inneren Gesetzgebung zu vernachlässigen, denn sie ist aufgrund der völligen Identität der moralischen Gesetze selbst ohne praktische Relevanz. Hinsichtlich der Vorstellung einer statutarischen äußeren Gesetzgebung Gottes folgt allerdings aus dem Gesagten, dass eine Koinzidenz der Gesetze ausgeschlossen ist. Denn wenn wir, wie es hieß, nur den Gott verstehen, der durch „unsere eigene Vernunft mit uns redet“ (SF, 07 : 48), dann sind die statutarischen Gesetze, jedenfalls was ihre Göttlichkeit und ihren unbedingten Anspruch angeht, für uns völlig unverständlich und können also schon aus diesem Grund von uns nicht verinnerlicht und als unsere eigenen Gesetze angesehen werden. Der Streit über das Statutarische in Kirchenglaubensarten ist demnach ein Streit über unverständliche Setzungen, von denen weder die der eigenen noch die der anderen Partei innerlich vollzogen und als legitimiert angesehen werden können. Trotz dieses Befunds gesteht Kant, wie erwähnt, den wesentlich durch statutarische Gesetzgebung charakterisierten historischen Glaubensarten eine Rolle als „Leitmittel“ (RGV, 06: 115), als „Vehikel“ (RGV, 06: 118), auf dem Weg zur unsichtbaren Kirche zu. Seine Aussagen dazu sind allerdings schwankend. Affirmativ heißt es zwar an einer Stelle, dass „ein historischer Glaube als Leitmittel die reine Religion afficiert“ und dass dieser „als Kirchenglaube ein Princip bei sich führe, dem reinen Religionsglauben sich continuirlich zu nähern“ (RGV, 06: 115), doch die Art dieser Affektion und das genannte Prinzip finden sich nicht erläutert. An anderer Stelle setzt Kant sich in Gedanken in die Zeit, in der das „Leitband der heiligen Überlieferung, mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, […] entbehrlich“ ist, gesteht rückblickend aber zu, dass all das „zu seiner Zeit gute Dienste that“ (RGV, 06: 121). Eine Erläuterung der guten Dienste fehlt allerdings auch hier. Mit geringerer Anerkennung blickt er an einer dritten Stelle zurück, an der es heißt, dass die unsichtbare Kirche „durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war“ (RGV, 06: 122). Doch auch für das verbleibende minimal Positive findet sich keine Begründung. Eine solche dürfte auch schwerlich zu finden sein, denn wenn, wie es hieß, eine statutarische Gesetzgebung „nicht als den Menschen überhaupt verbindend betrachtet werden“ (RGV, 06: 104) kann, dann ist nicht einzusehen, was ihr auch nur übergangsweise für eine positive Funktion zur Herrschaft einer Gesetzgebung sollte

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zukommen können, die eben gerade als den Menschen überhaupt verbindend angesehen werden muss. Etwas überzeugender ist eine Art geschichtsteleologisches Argument, das die Entgegensetzung des partikular Statutarischen und des universell Rationalen beachtet. Es deutet die „Hemmungen“, die der sich im Geschichtsprozess entwickelnden Vernunftreligion zustoßen mögen, als nützlich dafür, „die Vereinigung der Gemüther zum Guten (was, nachdem sie es einmal ins Auge gefasst haben, ihre Gedanken nie verläßt) noch desto inniglicher zu machen“ (RGV, 06: 123). Etwas originär Konstruktives liegt in solchen Hemmungen als Mittel zum verstärkten Widerstand gegen sie allerdings nicht. Kant bescheinigt den Menschen aufgrund eines „Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher Dinge“ (RGV, 06: 103), gemeint ist die intelligible moralische Welt, sie seien „nicht leicht zu überzeugen: daß die standhafte Beflissenheit zu einem moralischen Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert“ (RGV, 06: 103); er fordert also nicht auch noch die Sichtbarkeit von für spezifisch religiös gehaltenen Erscheinungen. Bis zur Lösung der schweren Überzeugungsaufgabe scheint mehr ein vorläufiges Hinnehmen der sichtbaren Kirche und die vorübergehende Anerkennung einer noch andauernden Schwäche in der Religionsentwicklung der Gattung dem Befund zu entsprechen, als dass mit einer positiven Rolle der historischen Glaubensarten im Übergang zur unsichtbaren Kirche, der nicht weniger als der Übergang zu deren Auflösung sein müsste, gerechnet werden könnte. Zu Kants Konzept der unsichtbaren Kirche bleibt nun noch der wichtige Punkt zu ergänzen, dass sie, obwohl der angegebene Grund, sie unsichtbar zu nennen, d. i. die Unsichtbarkeit des Moralischen, in Geltung bleibt, doch als real wirksame geschichtliche Kraft gedacht ist und als solche nicht schlechthin unsichtbar wird bleiben können. Zu ihrer Konstitution reicht die individuell und rein innerlich bleibende Orientierung an der Vernunftreligion allein nicht aus. Wenn sie denn überhaupt Kirche sein soll, bedarf sie der tatsächlichen Vereinigung der Menschen, d. h. sie muss öffentlich werden. „[D]urch Vernunftreligion jedes Einzelnen“ existiert „noch keine Kirche als allgemeine Vereinigung“ , noch keine „omnitudo collectiva“ (RGV, 06: 157). Das moralische gemeine Wesen bedarf „einer öffentlichen Verpflichtung, einer gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form“ (RGV, 06: 105). Es bedarf also der konkreten historischen Situierung und Institutionalisierung. Als derart institutionalisiertes Gemeinwesen bedarf es – schon um seiner Selbsterhaltung unter konkreten historischen Bedingungen willen (vgl. RGV, 06: 157) – auch gewisser statutarischer Regeln, die als solche den Charakter der Zufälligkeit haben und also nicht aus Vernunft zu deduzieren sind. Da aber die Menschen diese statutarische Form „selbst ausführen“, haben wir „nicht Ursache, […] die Gesetze geradezu für göttliche statutarische zu halten“ (RGV, 06: 105). Die Art der Sichtbarkeit der unsichtbaren Kirche, wenn dieser paradoxe Ausdruck erlaubt

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sein mag, ist also von vornherein keine Sichtbarkeit, die als Ausfluss göttlicher Setzung bzw. als Versinnlichung von Göttlichem verstanden werden will. Sie ist deshalb auch der Reform fähig, ohne dass dadurch die Besorgnis der Verletzung göttlicher Gebote entstehen müsste. Zu ihrer auf das menschliche Maß reduzierten Sichtbarkeit gehört nach Kant übrigens nicht das „Übel einer hierarchischen Verfassung“ (RGV, 06: 79) mit einem Beamtentum (vgl. RGV, 06: 157), dem durch fein ausdifferenzierte Kennzeichnungen die verschiedenen Grade der Gottesnähe anzusehen sein sollen. In der institutionalisierten unsichtbaren Kirche gibt es nach Kant zwar auch Obere, doch sind diese „Obern“ nur „Lehrer“ – Lehrer der Moral selbstredend – und „Seelenhirten“ (RGV, 06: 101), wobei zur Art ihrer Lehre zu sagen ist, dass diese nicht fremde Mitteilung, sondern nur Veranlassung sein kann, die moralischen Begriffe und Grundsätze aus der eigenen Vernunft zu entwickeln. Wenn nun die Frage ist, in welchem Religionszustand, gemessen an den entwickelten aufgeklärten Maßstäben Kants, sich unsere Zeit befindet, so kann der Befund nur ernüchternd ausfallen. Die Welt wird nach wie vor und sogar wieder verstärkt mit Blut bespritzt, das aufgrund von Streitigkeiten innerhalb von Kirchenglaubensarten, zwischen verschiedenen Kirchenglaubensarten oder zwischen Kirchenglaubensarten und vermeintlich Ungläubigen fließt. Es ist nicht zu erkennen, dass eine der partikularen historischen Glaubensarten den absoluten Anspruch aufgegeben hätte, die einzig wahre zu sein. Verlangt wäre allerdings noch mehr als dies, nämlich das Ziel der letztlichen Selbstaufhebung um der Universalität der moralischpraktischen Vernunft willen ins Selbstverständnis aufzunehmen. Stattdessen werden aber nach wie vor die kleinlichsten statutarischen Vorschriften, die für Vernunft zufällig und willkürlich sind, für wesentliche Religionsstücke ausgegeben. Der maßlose Bedeutsamkeitsüberschuss, mit dem die Stätten der ursprünglichen religionsstiftenden Ereignisse und Erfahrungen versehen werden, der bei konkurrierenden Inanspruchnahmen Übereinkünfte ausgeschlossen erscheinen lässt, wurde bereits erwähnt. Nach Kant dürften jene vermeinten originären Erfahrungen übernatürlicher Art gar nicht Erfahrungen genannt werden. Wo Religion − anders als im Fall der moralischen Vernunftreligion − auf historisch Faktisches gegründet wird, da gilt der Einspruch des alle empirische Erkenntnis restringierenden Erfahrungsbegriffs, d. h. da gelten die Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft, die die theoretische Erkenntnis des Übernatürlichen sowohl mit Bezug auf den äußeren als auch mit Bezug auf den inneren Sinn ausschloss. Nach kritischen Maßstäben müsste speziell dem „Illuminatism innerer Offenbarungen“ (SF, 07: 46), für den es, wie gehört, keinen öffentlichen Probierstein der Wahrheit gibt, der sich also gegen Kritik immunisiert, mit größter Skepsis begegnet werden, was dann besonders wichtig wird, wenn etwa Politiker, deren Handeln eben gerade der öffentlichen Kontrolle bedarf, ihr Sendungsbewusstsein aus einer solchen

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vermeinten Allianz mit Gott herleiten und auf diese Weise sogar Kriege legitimieren. Zum heutigen Religionszustand gehören auch starke beharrende oder restaurative Kräfte im Punkt einer buchstäblichen Auslegung der jeweiligen Heiligen Schriften, d. h. der Hauptquellen des Statutarischen in den Kirchenglaubensarten. Verlangt wäre demgegenüber das, wozu Kant in seiner kritischen „hermeneutica sacra“ im Streit der Fakultäten die Maßstäbe liefert, nämlich eine kompromisslose Unterwerfung dieser Schriften unter die reine praktische Vernunft als ihre Auslegerin, wo nötig gegen ihren Wortlaut, wodurch die Bedeutung dieser Schriften sich auf ihren rein moralischen Gehalt reduzierte, wenn denn vorhanden. Mord und Angriffskrieg auf göttliche Anweisung zurückzuführen, wäre damit unmöglich gemacht. Angesichts der hier von Kant her entwickelten Hauptergebnisse, dass die Offenbarungsreligionen wesentlich durch ihre statutarischen Gesetze charakterisiert sind, dass diese für Vernunft prinzipiell unverständlich sind, dass der Streit darüber unvermeidlich und zugleich aber auch nicht entscheidbar ist, ist die weit verbreitete Nachsicht mit diesen Glaubensarten erstaunlich. Zwar werden die religiös motivierten Gewalttätigkeiten unserer Zeit erkannt und beklagt, doch werden sie meist für außerwesentliche Auswüchse gehalten, für Ausdruck eines bloßen falschen Verständnisses der historischen Glaubensarten. Der Konflikt, der ihnen immanent ist, wird gerne für akzidentell und vorübergehend angesehen. Bezogen auf dieses Außerwesentliche wird durchaus auch der Hinweis auf eine noch zu leistende Aufklärung gegeben. Der Begriff der Aufklärung bleibt dabei allerdings meist vage. Würde er auf kantische Weise spezifiziert, würde deutlich werden, dass Aufklärung provokativ für die historischen Glaubensarten als solche bleibt. Würden diese, wie durch Kants Entwurf der unsichtbaren Kirche vorgezeichnet, „von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, […] losgemacht“ (RGV, 06: 121), verbliebe von ihnen – wie gesagt: falls zuvor enthalten – bloß reine moralische Vernunftreligion. Das heißt, dass sie ihrer konfliktträchtigen Spezifik beraubt und als historische Glaubensarten aufgehoben wären. Aufklärung in diesem Sinne ist weit davon entfernt, bereits geleistet zu sein, bleibt also zukünftige Aufgabe.

Teil 4: Religion und Gesellschaft

Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen Der politische Weltzustand unserer Zeit ist zu einem beträchtlichen Teil durch Religion geprägt, und zwar nicht unbedingt zum Vorteil dieser Zeit. Der Führer der sogenannten westlichen Welt steht in dem Selbstverständnis, god’s own country zu repräsentieren und auserwählt zu sein, in Gottes Auftrag die Welt vom Bösen zu befreien, wenn nötig auch durch Angriffskriege. Seinen Krieg gegen das Böse nennt er auch gerne „Kreuzzug“. Über Massenmedien verbreitete Bilder, die ihn und sein Kabinett beim Beten zeigen, sollen offenbar ein inniges Verhältnis zu Gott suggerieren. Angesichts dessen wird der, der die aus einem solchen Verhältnis gespeiste Politik zu kritisieren wagt, wohl tendenziell gottlos sein. Ein auf Gott zurückgehender politischer Auftrag scheint jedenfalls gegen Einwände immun zu sein, die bloß den Stempel des Menschlichen tragen, Einwände etwa, die sich auf ein so unvollkommenes Menschenwerk wie das Völkerrecht berufen. Doch auch unter den religiös-politischen Antipoden des genannten Führers wird verbreitet göttliche Inspiration bemüht. Männer, die als weise verehrt werden und die dem Verehrungsbedürfnis ersichtlich schon ästhetisch durch ihr Erscheinungsbild entgegenkommen wollen, Männer mit wie geschnitzt wirkenden erhabenen Physiognomien, verkünden nicht selten Anweisungen Gottes, die hineinreichen ins politisch Konkrete, etwa in die schreckliche Konkretion von Selbstmordattentaten. In den Besitz des Wissens um die göttlichen politischen Absichten scheinen sie als Koryphäen des intimen Zwiegesprächs mit Gott gekommen zu sein. In der skizzierten Situation, die nicht anders als polemisch skizziert werden konnte, tut Aufklärung not, und zwar Aufklärung als Kritik an anmaßenden religiösen Ansprüchen. Glücklicherweise muss diese Kritik nicht aus dem Stande Null erst entwickelt werden. Denn sie liegt seit mehr als 200 Jahren bereits vor, in Gestalt der Religionsschrift Kants, die auch den Titel „Kritik der Unvernunft in Religionen“ tragen könnte. Kant hat es zwar vorgezogen, den Begriff der Religion mit der positiven Konnotation der Vernünftigkeit in den Titel zu setzen, doch zum Komplement der darin angesprochenen einen einzigen Vernunftreligion gehört eben nicht wenig Unvernünftiges, mindestens Nicht-Vernünftiges in den Glaubensarten (das ist Kants Ausdruck für die mehreren gegebenen historischen Religionen). Mit Kant soll nun der Frage nach der uns möglichen Begegnung mit Gott nachgegangen werden. Speziell lässt sich fragen: Gibt es Ansprüche, aus einem unmittelbaren Umgang mit Gott etwas darüber zu wissen, was in der Welt zu tun ist, die vor der Vernunft gerechtfertigt werden können? In seiner Religionsschrift hat https://doi.org/10.1515/9783110788099-015

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Kant Fragen wie diese auf ganz spezifische Weise in seinen Theoriestücken zum Gebet und zum Gottesdienst behandelt.Vor der Entfaltung dieser Theoriestücke soll aber zunächst der systematische Ort bestimmt werden, den sie im System der Philosophie Kants haben. Je nach Akzentuierung dieser Philosophie könnte nämlich für einen Moment bezweifelt werden, ob Kant der rechte Experte für die Frage nach der Beziehung zu Gott ist. Denn ist er nicht der Widerleger aller nur zu unternehmen möglichen Gottesbeweise und mithin jener „Alleszermalmer“, als den ihn Moses Mendelssohn bezeichnet hat? Ist Gott nach Kant etwa nicht bloß Gegenstand einer illusionären Idee, die eine überschwengliche spekulative Vernunft sich erdichtet? – In der Tat legt der die Ansprüche des Erkennens einschränkende Zug der Kritik der reinen Vernunft zwar keinen Atheismus nahe, weil auch ein Dogmatiker der Nichtexistenz Gottes mehr sagt, als er wissen kann, aber eben doch so etwas wie eine agnostizistische Urteilsenthaltung. Das weitestgehend Positive, das theoretische Vernunft über Gott sagen kann, ist, weil er widerspruchsfrei gedacht werden kann, dass er nicht unmöglich ist. Doch bleibt solche Nicht-Unmöglichkeit als bloß logische Möglichkeit weit hinter dem Begriff der realen Möglichkeit zurück. Auf der Basis bloß der Nicht-Unmöglichkeit Gottes wird kaum die Chance ergriffen werden können, die Kant durch sein berühmtes Diktum ausdrückt: „Ich mußte […] das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (KrV, B XXX). Praktische Vernunft dagegen erlaubt weitergehende Aussichten. Allerdings liegen diese auch hier noch nicht sogleich vor Augen, denn den Kern der kantischen Moralphilosophie macht seine Lehre von der Autonomie der Moral aus, d. i. die Lehre von der freien Erzeugung sittlicher Verpflichtung allein im Selbstverhältnis des Menschen, ganz ohne Gott. Die Religionsschrift sagt dazu unmissverständlich: Moral ist „vermöge der reinen praktischen Vernunft […] sich selbst genug“ und bedarf „zum Behuf ihrer selbst […] keinesweges der Religion“ (RGV, 06: 3); oder auch: Der Mensch bedarf „weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, 06: 3). Die Dezidiertheit dieser Aussagen ist nicht zu überbieten. Sie stellen allerdings nicht das letzte Wort zum Verhältnis zwischen Moral und Religion dar. Denn wenn praktische Vernunft hinsichtlich der Folgen ihrer so sehr auch immer autonom begründeten moralischen Praxis und über ihre Situation im ganzen reflektiert, stellt sie unvermeidlich ein durch sie selbst nicht zu heilendes Defizit fest, das wiederum unumgänglich auf den Gedanken Gottes führt, der zur Behebung dieses Defizits gedacht werden muss. Es ist das Defizit, dass der Nexus zwischen dem Moralitätszustand der Welt und ihrem Glückszustand kein notwendiger ist. Das aber, dass ihr auf Totalität gehendes Rationalitätsprojekt an einer unverfügbaren Sinnlichkeit seine Grenze finden soll, ist aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft ein Skandal. Sie muss um ihrer eigenen Vollendung willen fordern, dass

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„das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV, A 809/B 837); sie fordert das „System der sich selbst lohnenden Moralität“ (KrV, A 809/B 837). Doch eben deshalb, „weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, [muß] ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. h. Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, 06: 8 Anm.). Über die Art des Annehmens dieses göttlichen moralischen Wesens mag nun gestritten werden: Ist es auf die Weise der subjektiven Gewissheit eines Glaubens an seine Existenz möglich? Nach Kant spricht dafür das überragende Interesse (ein allgemeines, kein Privatinteresse) reiner praktischer Vernunft. Oder ist jener moralische Weltherrscher bloß Gegenstand eines notwendigen Gedankens, so dass seine Existenz für uns fraglich bliebe? Es muss darüber hier nicht entschieden werden, denn auch derjenige, der Gott noch erst unter einer Bedingung für existierend hält, nämlich unter der Bedingung „Wenn es aufs ganze gesehen rational im Sinne reiner praktischer Vernunft zugeht“, kann näherhin darüber reflektieren, in welcher Beziehung der Mensch zu diesem Gott stünde, wenn er existierte. Dazu ist schon an dieser Stelle festzuhalten, dass das gedachte göttliche moralische Wesen ausschließlich in der Funktion denknotwendig ist, nach Maßgabe der Moralität bzw. der Glückswürdigkeit der Menschen ein tatsächliches Glück zu gewährleisten. Das bedeutet, dass durch diesen Gedanken Gott zwar als eine Art moralisches Subjekt gedacht ist, das ein Wissen von der sittlichen Verpflichtung hat, unter der die Menschen stehen, doch wird es dieses Wissen nur um der Ausübung seiner richterlichen Aufgabe willen haben müssen, dagegen nicht aus dem Grund, weil es etwa selbst unter dieser sittlichen Verpflichtung stünde. Letzteres würde ihm eine durch Pflichten einzuschränkende Sinnlichkeit zuschreiben und es nicht länger Gott sein lassen, sondern aus ihm einen Menschen machen. Diesem Gedanken nach ist Gott also kein moralischer Akteur, auf den Handlungen zurückgeführt werden könnten, die die wahren und alleinigen moralischen Akteure, die Menschen, in der Welt zu vollziehen haben. Wer nun entgegen dieser Einsicht doch seine Handlungen zu Ausführungen göttlicher Absichten erklärt, der beweist damit einerseits ein anthropomorphistisches und damit irrationales Gottesverständnis, und andererseits ein Verständnis vom Menschen, das diesem seine Autonomie, seinen Status als Subjekt der Zuschreibung seiner Taten und in eins seine Fähigkeit zu Schuld oder Verdienst entzieht. Einer Schuld nicht fähig zu sein, mag manchem, der sich als Werkzeug Gottes versteht, recht günstig erscheinen, doch der Preis dafür ist sowohl die Erniedrigung Gottes zu dem, was vormals der Mensch war, als auch die Erniedrigung des Menschen zu einem unfreien Wesen. Zwar werden auch in Kants Konzeption der moralischen Vernunftreligion die moralischen Gebote als göttliche Gebote angesehen,

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doch mit dem entscheidenden Zusatz, daß darin die Pflicht „zugleich göttliches Gebot“ (RGV, 06: 103; Hervorhebung B. D.) ist, also nicht nur göttliches Gebot, sondern auch und vor allem Gebot, unter das der Mensch im bloßen Selbstverhältnis der Selbstverpflichtung sich selbst schon stellt. Die Konzeption der Vernunftreligion ist also vollkommen konsistent mit der These von der Autonomie der Moral. Nach der Vernunftreligion gilt, dass die Menschen, wenn sie ihre im Selbstverhältnis der Selbstverpflichtung erzeugten „Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten“ und dass es sogar „schlechterdings unmöglich“ ist, „Gott auf andere Weise näher zu dienen“ (RGV, 06: 103; Hervorhebung B. D.). Dass moralische und auch politische Praxis, die ihrerseits unter der Moralitätsbedingung steht, aber um Klugheitsregeln zu ergänzen ist, ihren Ort ganz in der Sphäre der Immanenz der Beziehungen unter den Menschen haben, drückt sich bei Kant durch eine tiefe Skepsis gegenüber Handlungen aus, die sich um eines moralischen oder sonstigen Gewinns willen eigens auf Gott beziehen. Der Gottesdienst und das Beten werden demnach Gegenstand scharfer Kritik. Zwar gibt er beiden auch noch eine für praktische Vernunft akzeptable Deutung, doch – wie noch zu sehen sein wird – eine solche, in der die vermeintlichen Koalitionäre Gottes ihre Intentionen kaum wiederfinden dürften. Gottesdienstliche Handlungen im Verständnis von ausschließlich für Gott bestimmten Handlungen sind aus dem Gesichtspunkt praktischer Vernunft leerlaufende Handlungen, die, so Kant, „für sich keinen moralischen Werth“ (RGV, 06: 169) haben. Ausgeübt werden sie aber nicht selten in der Absicht, eben durch sie Gott zu gefallen und also auch noch durch andere als moralische Handlungen Verdienst und Glückswürdigkeit zu erwerben. Den Anthropomorphismus dieser Einstellung erkennt Kant darin, dass Gott hier wie ein Gutsherr gedacht ist, der wie „ein jeder große Herr der Welt ein besonderes Bedürfniß“ verspürt, „von seinen Unterthanen geehrt und durch Unterwürfigkeitsbezeigungen gepriesen zu werden“ (RGV, 06: 103). Solche der Selbstliebe geschuldeten Interessen sind dem in der Vernunftreligion gedachten Gott nicht zu unterstellen. Zwar wird er ein Interesse an der Moralität der Menschen nehmen müssen, doch der Erwerb moralischen Verdienstes setzt nichts weiter als den moralischpraktisch selbstbestimmten guten Lebenswandel unter den Menschen voraus; dies allein kann ihm wohlgefällig sein, keine darüber hinaus gehende Liebedienerei. Der gute Lebenswandel als wahrer Gottesdienst im Sinne der Vernunftreligion bietet demnach in der Anschauung kein einziges spezielles religiöses Phänomen, sondern ausschließlich moralische Erscheinungen. Wo dagegen spezifische gottesdienstliche Erscheinungen anschaulich werden – sei es in Freitagsgebeten oder bei den Gebetshandlungen ganzer Kabinette −, da ist der Gottesdienstcharakter der Handlungen gerade zweifelhaft.

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Neben dem Wunsch zu gefallen, werden gottesdienstlich gemeinte Handlungen nicht selten auch unter dem Kalkül unternommen, wie es wohl zu erreichen sei, Gott im Kontext unserer weltlichen Projekte „zu unserem Vortheil“ zu gewinnen (RGV, 06: 168). Es ist nach Kant solcher Gottesdienst eskapistische Ersatzhandlung, denn durch ihn entzieht sich der Mensch der ureigenen Zuständigkeit für sein Handeln. Sich schließlich für begünstigt haltend, wird er sich dem eigentlichen moralischen Erfordernis selbstbezüglicher moralischer Reflexion entziehen; er wird sich für der selbsteigenen „beschwerlichen ununterbrochenen Bemühung, auf das Innerste“ seiner „moralischen Gesinnung zu wirken, überhoben“ (RGV, 06: 169) halten. Aus diesem Grund der Ersetzung des Vollzugs moralischer Reflexion durch die faule, Begünstigung heischende Vernunft wird den Ansprüchen, über solche Begünstigung zu verfügen, mit Verdacht begegnet werden müssen. Dagegen wird etwa politisch Handelnden eher zu trauen sein, die an die Stelle des Gebets um den eigenen Vorteil die Bemühung um das Innerste ihrer moralischen Gesinnung setzen. Der Gottesdienst, der„gemeiniglich so benannt wird“ (RGV, 06: 192), der also aus jenen direkt an Gott adressierten Handlungen besteht, wird von Kant als „Wahn“ bezeichnet, wenn mit ihm das Bewusstsein verbunden ist, er (und nicht der gute Lebenswandel allein) sei der wahre Gottesdienst. Speziell drückt sich ihmnach der verbreitete Wahn, etwas für Gottesdienst zu halten, was kein Gottesdienst ist, durch das als Gnadenmittel eingesetzte Gebet aus. Davon überzeugt zu sein, der Mensch könne in einem solchen Verhältnis zu Gott stehen, dass er wie im Verhältnis zu einem Mitmenschen zu einem Mittel der Beeinflussung greifen könne, um erwünschte Rückwirkungen zu erzielen, zählt Kant zusammen mit dem Glauben an Wunder und an Geheimnisse zum Wahnglauben (vgl. RGV, 06: 194). Die erwünschten Rückwirkungen aus der illusionären kausalen Wechselwirkungsbeziehung zu Gott können verschiedenster Art sein. Während im Beten um Gnade als Wirkung ein verbesserter moralischer Status erwünscht ist, kann Beten auch Ausdruck „eines bloß thierischen gefühlten Bedürfnisses“ (RGV, 06: 195 Anm.) sein und die gewünschte Wirkung also ein von Gott bereitgestelltes Mittel zur sinnlichen Befriedigung. Kants Beispiel dafür ist das Beten um das heutige Brot (vgl. RGV, 06: 195 Anm.). Auf der Ebene der von Kant personenanalog gedachten Staaten und ihrer Repräsentanten könnte entsprechend um die Segnung mit Rohstoffen gebetet werden. Doch ist ein solches Beten nach Kant nicht eigentlich personales Beten, sondern „mehr ein Bekenntniß dessen, was die Natur in uns will“ (RGV, 06: 195 Anm.). Auch dies nennt Kant wiederum einen „vermessene[n] Wahn“ (RGV, 06. 196 Anm.), von Gott durch das Gebet einen übernatürlichen Eingriff in unsere Lebensumstände „zum gegenwärtigen Vortheil für uns“ zu verlangen, welches Verlangen nicht selten mit „pochende[r] Zudringlichkeit des Bittens“ (RGV, 06. 196 Anm.)

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vorgetragen werde. Es ist der Wahn, Gott sei dafür zu beanspruchen, für die Erhaltung unserer am Glück orientierten empirisch leiblichen Existenz bzw. – auf der Ebene des Staats – für die Sicherung des Staatsglücks zu sorgen. Dem von solchem Wahn um seine Selbsterhaltung Besessenen wirft Kant eine doch sehr herabgeminderte Gottesidee vor und hält ihm entgegen, es könne vielleicht mit der Weisheit Gottes „besser zusammenstimmen“, ihn „heute sterben zu lassen“ (RGV, 06. 196 Anm.). Kants oft wiederholte Rede vom Wahn, Wahnsinn, Wahnglauben, von der Besessenheit, von der Schwärmerei und vom Aberglauben zur Charakterisierung einer falschen Gottesidee und eines vor der Vernunft auszuschließenden Verhältnisses zu Gott mag ein wenig überschießend aggressiv erscheinen, etwa wenn es um das landläufige Beten geht, das man für, wenn schon nicht nützlich, so doch auch nicht schädlich halten könnte. Eine solche Sicht wäre allerdings für Kant verharmlosend. In seinen Augen ist – wie landläufig und unschuldig unreflektiert auch immer – das als Mittel um die Gunst übernatürlichen Einflusses eingesetzte Gebet in der Tat gefährlich, nämlich gemessen am Maßstab reiner praktischer Vernunft, die auf moralische Praxis aus autonomer Selbstbestimmung unter Einsatz der eigenen Kräfte dringt. Nach diesem Maßstab ist durch das Beten buchstäblich „nichts gethan“ (RGV, 06: 194), d. h. es ist nicht als Praxis anzuerkennen, sondern Ausdruck einer durch ihre Faulheit moralitätshemmenden Vernunft. Solches Beten kann, so Kant mit Blick auf das in der Vernunftreligion gedachte moralische göttliche Wesen, „keine Beziehung aufs göttliche Wohlgefallen haben“ (RGV, 06: 196). Den Menschen, die man laut betend oder auch nur in der Gebärdung des Betens antrifft – und man trifft sie, wie gesagt, etwa im Weißen Haus an –, schreibt Kant an einer Stelle – hier um eine Spur milder gestimmt – eine „kleine Anwandlung von Wahnsinn“ zu, weil ein solches Sprechen oder Gebärden doch eigentlich nur dem möglich sei, „welcher jemand außer sich vor Augen hat, was doch in dem angenommenen Beispiele der Fall nicht ist“ (RGV, 06: 195 Anm.). An anderer Stelle stellt er das äußerliche Praktizieren des Betens aufgrund seiner „Form als Anrede“ allerdings unter den explizit moralischen Verdacht der Heuchelei. In Entgegensetzung zu einer von ihm akzeptierten (und sogleich noch zu erörternden) Form des Betens, die ihmnach mit „Aufrichtigkeit“ stattfinden könne, impliziere die Form der Anrede die Anmaßung, die aktuelle Präsenz Gottes „als völlig gewiß betheuren zu können“ (RGV, 06: 195 Anm.). Die Prätention eines derart faktischen Umgangs mit Gott, einer sozusagen physischen Allianz mit ihm, lässt alle kritische Vorsicht hinsichtlich einer möglichen Beziehung zum Intelligiblen hinter sich. Bei aller bisheriger Kritik an Gottesdienst und Gebet soll nun nicht verschwiegen werden, dass Kant doch für beides auch Erklärungen und partielle Rechtfertigungen findet, die sie in etwas sanfterem Licht erscheinen lassen, aller-

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dings keine solchen Erklärungen, die dem Selbstverständnis der ausgeprägt gottesdienstlichen Religionen entsprechen dürften. Die sichtbare Art des Gottesdienstes, der nicht der wahre ist, führt Kant auf eine Schwäche des Menschen als eines sinnlichen und rationalen Wesens zurück; es ist die Schwäche seines „Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher Dinge“ (RGV, 06: 103). Gemeint ist die Schwäche des Unvermögens in Erkenntnis dessen, was durch die reine Vernunftreligion allein verlangt ist, nämlich die ganz unsichtbare und durch kein zusätzliches Phänomen zu verbessernde „standhafte Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandel“ (RGV, 06: 103). Aufgrund seiner Schwäche stellt sich beim Menschen das Bedürfnis ein, dass „das Unsichtbare […] durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentirt“ werde. Er hat das Bedürfnis, „durch dieses“ – das Sichtbare – „zum Behuf des Praktischen begleitet“ zu werden, und er will, dass das Praktische, „obzwar es intellectuell ist, gleichsam (nach einer gewissen Analogie) anschaulich gemacht“ werde (RGV, 06: 192). Die erscheinende gottesdienstliche Handlung, die – und dabei bleibt es – „für sich keinen moralischen Werth hat“, kann demnach doch „als Mittel“ einen relativen Wert haben, nämlich den, „das sinnliche Vorstellungsvermögen zur Begleitung intellectueller Ideen des Zwecks zu erhöhen, oder um, wenn es den letztern etwa zuwider wirken könnte, es niederzudrücken“ (RGV, 06: 169 f.). Wenn nun die Frage ist, was die gottesdienstliche Handlung zu einem solchen Mittel zur Moralität („zum Behuf des Praktischen“) geeignet macht, so ist zu antworten: gerade ihr Charakter als leerlaufende Handlung, d. h. als per se zwecklose Handlung. Sie geht nämlich nicht bloß auf keinen moralischen Zweck, sondern auch, wo nicht missverstanden, auch auf keinen Zweck im Kontext sinnlicher Bedürfnisbefriedigungen. Es verbleibt der gottesdienstlichen Handlung somit eine rein ästhetische Qualität. Diese ästhetische Qualität erlaubt es, wie es hieß, das Praktische nach einer gewissen Analogie anschaulich zu machen. Auf diese Weise wird der sichtbare Gottesdienst zum symbolischen Gottesdienst, der den wahren moralischen unsichtbaren symbolisiert. Kants Aussagen aus der Kritik der Urteilskraft zum Symbolisieren und Analogisieren zugrunde legend, kann gesagt werden: Der symbolische Gottesdienst enthält sichtbare Handlungen, über die in einem wesentlichen Punkt so gedacht werden kann wie über die moralischen Handlungen des wahren Gottesdienstes, nämlich dass es Handlungen sind, die auf keinen sinnlichen Zweck bezogen sind. Aufgrund dieser Freiheit von sinnlicher Zwecksetzung kann dieser Gottesdienst als Eröffnung der Sphäre moralischer Bestimmbarkeit bzw. als auf moralische Zwecke hin finalisiert betrachtet werden. So verstanden, besitzen die symbolischen Handlungen einen aus dem Kontext der sinnlichen Bedürfnisse hinausragenden Wert.

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Allerdings ist dies trotz aller Finalisierung auf das Moralische zunächst bloß ein ästhetischer Wert, wie überhaupt die auf Analogisieren beruhende symbolische Darstellung unter Restriktionen steht. Analogisieren bedeutet (vgl. KU, § 59) Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung – das ist hier die sichtbare gottesdienstliche Handlung – auf einen ganz anderen Begriff – d. i. der des wahren moralischen Gottesdienstes –, dem keine direkte Anschauung korrespondieren kann. Ein Symbol ist bloß eine indirekte mittelbare, keine direkte Darstellung. Dass der wahre moralische Gottesdienst ein Gottesdienst ist, kann auf keine Weise angeschaut werden, denn unmittelbar ist er moralischer Dienst am Menschen. Durch Analogisieren werden nie die beiden Vergleichsstücke identifiziert, sondern es wird bloß eine Übereinstimmung in der Art, über beide zu reflektieren, festgestellt – bei im übrigen bestehen bleibenden Unterschieden. So ist denn auch die Befreiung aus dem Kontext der sinnlichen Bedürfnisse bloß notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung moralischer Handlungen. Das heißt: Moralische Bestimmbarkeit ist noch nicht moralische Bestimmung selbst. Angesichts dieser kritischen Einschränkungen, die ein Bewusstsein der Grenzen symbolischer Darstellung verlangen, ist sehr die Frage, ob im Selbstverständnis der positiven Religionen und in der von ihnen bestimmten gottesdienstlichen Praxis, wenn sie denn überhaupt Praxis heißen soll, dieses Bewusstsein der Uneigentlichkeit des Tuns verbreitet ist. Wo dieses Bewusstsein aber nicht vorliegt, da wird ein bloßes Mittel zum Zweck der Moralisierung für den Zweck selbst gehalten, so dass Moralisierung also gerade ausbleibt. Kant hält das Mittel, das der symbolische Gottesdienst bloß ist, für „der Gefahr“ dieser „Mißdeutung gar sehr unterworfen[]“ (RGV, 06: 192), und er belegt diese Verwechslung des Mittels mit dem Zweck wiederum mit dem Kraftwort vom Wahn – wohl weil das durch diese Illusion verfehlte Ziel der Moralität doch der höchste Zweck des Menschen ist. Es sei nun herausgestellt, was neben dem symbolischen Gottesdienst nach Kants vielfältiger Gebetskritik doch auch auf diesem speziellen Feld noch Bestand vor der prüfenden Vernunft hat. Es ist, wie er sagt, „der Geist des Gebets“ (RGV, 06: 195). Dieser finde in uns statt, nicht wenn wir eine an den uns äußerlichen Gott adressierte Bitte um etwas artikulieren, sondern schlicht wenn wir einen bestimmten Wunsch hegen; den Wunsch nämlich, „Gott in allem unserm Thun und Lassen wohlgefällig zu sein, d. i. die alle unsere Handlungen begleitende Gesinnung, sie [die Handlungen], als ob sie im Dienste Gottes geschehen, zu betreiben“ (RGV, 06: 194 f.). Durch diesen Wunsch wirke der Mensch auf sich selbst, nämlich „zu Belebung seiner [moralischen] Gesinnungen vermittelst der Idee von Gott“ (RGV, 06: 195 Anm.). Das dadurch ausgedrückte Selbstverhältnis kennzeichnet Kant denn auch ausdrücklich als ein Sprechen mit sich selbst (vgl. RGV, 06: 197). Die vor der Vernunft legitimierte verbleibende Gestalt des Gebets hält sich somit ganz in der Immanenz des menschlichen Bewusstseins, d. h. sie verzichtet auf

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die Anmaßung, ein wirkliches Zwiegespräch mit dem existierenden Gott zu halten. Doch auch bloß die Vorstellung Gottes, die keine andere ist als die des Gottes der Vernunftreligion als des moralischen Weltherrschers, kann als Mittel zur Hebung des moralischen Status des auf sich selbst bezogenen Menschen dienen. Wer im Geist des Gebets steht, fingiert nach dem Gesagten die Beobachtung seiner Reflexion moralischer Gegenstände und seines Tuns und Lassens durch Gott als moralische Autorität. Über den Ausgang seiner Reflexion und über sein wirkliches Tun und Lassen muss er allerdings selbst entscheiden, denn dem Gott in der Idee kann er nur die eigene Stimme leihen; eine eigene verselbständigte Stimme kann dieser Gott der Vorstellung nicht haben.¹ Es ist dies aber auch nicht erforderlich, denn Gott als moralische Autorität kann vom Menschen nichts anderes fordern, als der Mensch als autonomes moralisches Subjekt schon von sich selber fordert. Ersichtlich ist es nach dieser Erklärung nicht möglich, dass der im Geist des Gebets stehende Mensch etwa seine Rolle als Subjekt der Zuschreibung seines Tun und Lassens verliert und womöglich die Täterrolle zur eigenen Entlastung auf Gott überträgt. Mit Bezug auf unseren Anwendungsfall vermeintlich göttlich inspirierter Politiker lässt sich nach dem Bisherigen also sagen: Auf keine Weise können sie beanspruchen, nicht die eigenen, sondern Initiativen Gottes auszuführen. Wenn sie aber nun in jeder Hinsicht die alleinigen Täter ihrer Taten bleiben, ist ihnen doch dringend nahezulegen, künftig nur für sich selbst in ihrer Qualität als Menschen zu handeln und zu sprechen. Nur so kommt auch zum Ausdruck, dass sie und kein

1 Wer das religiöse Bewusstsein rationalen Maßstäben unterwirft, zieht, wie auch die Rezeptionsgeschichte der kantischen Religionsschrift durchgängig zeigt, leicht den Einwand auf sich, er verfehle damit sein Wesen, das in außerrationalen Erfahrungen, ja speziell in gefühlsmäßigen Gotteserfahrungen, bestehe. – Abgesehen davon, dass viel dafür spricht, solchem Bewusstsein gemäß den sauberen kantischen terminologischen Distinktionen den Titel „Erfahrung“ zu versagen, der wohl besser auf den Bereich der objektiv gültigen Erfahrungsurteile beschränkt bleibt, können dem genannten Einwand die Worte Allen W. Woods (Allen W. Wood: Kant’s Moral Religion. Ithaca, London 1970, 202) entgegengehalten werden: „Kant would not undertake to dispute with anyone about the completely private content of his ‘inner feelings’, but he would deny that the presence of such feelings – of whatever sort – could ever give to any belief or action the justification and validity which can come only with universal communicability. Kant is therefore not interested in the ‘inner’ content of religious feelings, but focuses his attention on the justifiability of the claims made by those who argue from their own private feelings. No belief or action could ever be justified by the presence of a private feeling of any kind.“ – Der Weg zu etwaigen Begründungen und Rechtfertigungen von Aktionen (von denen hier insbesondere politische Aktionen im Namen eines Gemeinwesens, speziell Angriffskriege und Terrorakte, interessieren) mittels vermeintlicher gefühlsmäßiger Gotteserfahrungen ist damit ganz und gar versperrt. In dieserart gestützten Begründungen und Rechtfertigungen wird ein partikulares Bewusstsein als solches für universell erklärt, was widersprüchlich ist. Sie sind somit im Prinzip keine Begründungen und Rechtfertigungen.

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anderer die Subjekte der Verantwortung und die Adressaten moralischer Beurteilungen bleiben. Auch wenn sie die vor der Vernunft legitimierte Form des Gebets pflegen, den Geist des Gebets, ist durch den darin liegenden Gottesbezug eine Distanzierung von der eigenen Täterschaft nicht möglich. Im Gegenteil ist durch den Gedanken der Beobachtung durch Gott als moralische Autorität gefordert, das im Selbstverhältnis moralischpraktischer Reflexion vorzubereitende eigene selbstbestimmte Tun und Lassen auf die gewissenhafteste Art zu bedenken. Wenn dies geschieht, dürfte nicht mehr fraglich sein, ob mit Berufung auf Gott ein Angriffskrieg begonnen oder ein Selbstmordattentäter beauftragt werden darf. So moralisch wohltuend nun auch eine Reflexion im Geiste des Gebets sein kann, Kant hält sie gleichwohl nicht für notwendig. Die darin entwickelte „Idee von Gott“ hat ihmnach zwar den „Werth eines Mittels“ zur Belebung moralischer Gesinnungen, doch könne sein Gebrauch „nicht für jedermann Pflicht“ sein, denn es hat, wie er sagt, „bei weitem nicht jedermann dieses Mittel […] nöthig“ (RGV, 06: 195 ff.). An dieser Stelle spricht ersichtlich Kant als der Vertreter jener reinen praktischen Vernunft, die „sich selbst genug“ ist und die „zum Behuf ihrer selbst […] keineswegs der Religion“ (RGV, 06: 3) bedarf, d. h. auch keiner Vernunftreligion, die zur Entwicklung des Geists des Gebets die Idee Gottes als einer moralischen Autorität beisteuert. Es muss also auch ganz allein im Selbstverhältnis einer moralischen Reflexion, worin keine beobachtende göttliche Autorität fingiert wird, möglich sein, das moralisch Geforderte zu erkennen, denn originär ist es das, was der Mensch von sich selbst fordert; und es muss möglich sein, ihm gemäß zu handeln. Konkret gesprochen, muss der Mensch auch als ganz auf sich gestelltes und Gott auf keine auch nur hilfsweise ins Bewusstsein hebendes moralisches Subjekt in der Lage sein, die Verwerflichkeit von Angriffskriegen oder von Selbstmordattentaten zu erkennen. Um noch einmal vom Geist des Gebets als der inklusive des Gedankens an Gott stattfindenden moralischen Reflexion zu sprechen: Er muss nach Kant gar keinen Ausdruck in der Erscheinung finden, wenn er „in uns hinreichend belebt“ ist. Es kann dann, so Kant „der Buchstabe desselben […] endlich wegfallen“ (RGV, 06: 197). Er kann wegfallen, weil das Artikulieren eines Gebets keine Praxis im nachdrücklichen Sinn des Worts ist, d. h. keine moralische Praxis. Das Artikulieren als solches macht, um es mit dem Ausdruck der Vernunftreligion zu sagen, nicht Gott wohlgefällig. Kant gibt sogar die Einschätzung zu erkennen, es könne der moralische Weltzustand ohne den „Buchstabe[n]“, d. h. ohne das Erscheinen des Betens, sogar ein verbesserter sein: „Denn dieser [der Buchstabe] schwächt vielmehr wie alles, was indirect auf einen gewissen Zweck gerichtet ist, die Wirkung der moralischen Idee“ (RGV, 06: 197). Warum indirekt auf den Zweck der Moralität wirken, ist hier die implizite Frage, wo doch direkt ohne Erscheinungen der Mittelbarkeit darauf gewirkt werden kann? Und es kann dieses direkte Wirken doch in eins ein religiöses

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Wirken im Sinne der moralischen Vernunftreligion sein, d. h. wenn ein Mensch ohne jede Faktizität ausdrücklichen Betens doch im Geist des Gebets moralisch reflektiert und handelt. Nach dem Bisherigen lässt sich allgemein sagen: Nach Kant ist in Religionen so viel Vernunft, wie Moral in ihnen ist. Diesem Maßstab genügen gewisse spezifische religiöse Erscheinungen aus dem Phänomenbereich von Gottesdienst und Gebet nicht. Ein Teil der Erscheinungen dieses Gebiets, der Gottesdienst im symbolischen Verständnis und das Gebet als Ausdruck des Geists des Gebets sind für Vernunft akzeptabel, weil als Mittel zur Moralisierung brauchbar. Im strengen Sinne nötig sind sie allerdings nicht, denn der wahre Gottesdienst der Vernunftreligion ist nichts anderes als der gute Lebenswandel ohne hinzukommende spezifische religiöse Phänomene. Vernunftreligion ist demnach nichts als Moral, erweitert um die begleitende Vorstellung Gottes als zusätzlicher moralischer Autorität, welche Vorstellung aber keinen Ausdruck in der Erscheinung zu finden braucht.² Aus dem Gesichtspunkt einer derart reduzierten Vernunftreligion erscheint viel ansonsten in der Erscheinung für religiös wichtig Gehaltenes als entbehrliches Beiwerk. Es ergibt sich aber auch als Konsequenz aus dieser Reduktion, dass sich der religiöse Zustand eines Menschen bzw. einer Gesellschaft nicht an der Vielfalt sichtbarer, empirisch gegebener religiöser Praktiken ablesen lässt. Weder weist ein geringes Maß solcher ausdrücklich vollzogener Praktiken auf den areligiösen Charakter einer Gesellschaft hin, noch umgekehrt ein hohes Maß auf ihre ausge-

2 Der Versuch Aloysius Winters (Aloysius Winter: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Hildesheim 2000), Kants Kritik an den äußeren Formen der Religiosität zu entschärfen und zu relativieren, um sie so für die katholische Kant-Rezeption akzeptabel zu machen, überzeugt nicht. Zu seinen Relativierungen gehört der Vorschlag, Kants Kritik vor allem im Sinne einer „innerprotestantischen Kritik“, noch mehr als eine Kritik nur gegenüber den selbst „erlebten einseitigen Frömmigkeitsformen“ (120) zu lesen. Nach Winter finden sich in Kants „Werk und in seinen Biographien sowohl positive als auch negative Aussagereihen“ zu Gebet und Gottesdienst (119). Belegt wird dies allerdings nicht durch Kants Druckschriften, sondern vorzugsweise durch einige wenige Reflexionen und eine Vorlesungsnachschrift (Moralphilosophie Collins), die hinsichtlich ihres (ihrerseits relativen) Aussagewerts nicht problematisiert werden. Die Berufung auf frühe Kant-Biographien überzeugt am wenigsten, denn diese sind gerade im Punkt der Darstellung der Religiosität Kants zweifelhaft. Manfred Kühn (Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie. München 2003, 22 ff.) urteilt über die Biographen Borowski, Jachmann, Wasianski und Rink, dass ihnen am Bild eines in Religionsdingen die Konventionen in Frage stellenden Kant nicht gelegen war; im Gegenteil waren sie „daran interessiert, die Rolle zu verteidigen, die der Pietismus in der Königsberger Kultur spielte“ (24). Alles in allem hatte Kant nicht, wie Winter meint, bloß ein „scheinbar distanziertes Verhältnis zu äußeren Formen der Religiosität“ (138), sondern ein tatsächlich distanziertes. Speziell zu seiner Konzeption des Gebets ist wohl doch eher F. Heiler zuzustimmen, der zu Kants „Geist des Gebets“ feststellt, dies allerdings beklagend, dass damit „kein Gebet mehr, sondern ein moralisches Surrogat des Gebets“ gegeben sei (zitiert nach Winter, 154).

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prägte Religiosität. Es ist dies in dem Zusammenhang bemerkenswert, dass verbreitet die leeren Kirchen in gewissen Gesellschaften bzw. die vollen Gebetshäuser in anderen genau in diesem Sinne oberflächlich gedeutet werden. Aus dem Gesichtspunkt der Vernunftreligion dient sogar derjenige moralisch intakte Mensch Gott und ist ihm wohlgefällig, der jene eingangs skizzierte, zur Vernunftreligion führende theoretische Reflexion über die vollständige Realisierung moralischpraktischer Rationalität mit Hilfe Gottes nie vollzogen haben mag. Er dient Gott in diesem Fall sozusagen objektiv, wenn auch nicht subjektiv. Selbst derjenige moralisch Wohlmeinende, der jene Reflexion zwar zur Kenntnis genommen hat, ihren Schlüssen jedoch widerspricht, muss von Vernunftreligion als Gott wohlgefällig anerkannt werden, insofern er eben moralisch intakt ist und damit alles erfüllt, was durch den Gott der Vernunftreligion verlangt ist. Die zur Vernunftreligion führende Reflexion ist theoretischer Art, d. h. sie ist ein bloßes Bedenken des Gesamtkontextes der moralischen Situation des Menschen, die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der Folgen betreffend. Eine moralische Verpflichtung zu diesem theoretischen Bedenken gibt es nicht und selbst dem dezidierten Abweichler kann bloß aufgrund seines Abweichens kein moralischer Defekt zugeschrieben werden, allenfalls der Intelligenzdefekt der Nichtakzeptanz einer schlüssigen Theorie. Dem in der Vernunftreligion gedachten Gott kann allein das moralische Verhalten wichtig und wohlgefällig sein. Er wäre nicht mehr bloß als moralische Autorität gedacht, sondern – wiederum vermenschlicht – sogar als ein wenig eitel, wenn er auch noch die elaborierteste ihn selbst betreffende Theorie mit seinem Wohlgefallen belohnte. Ebenso wie sich nicht denken lässt, dass Gott ein moralisch indifferentes Theoretisieren belohnt, lässt sich auch kein Lohn für die bestenfalls prämoralischen Praktiken eines eigens ihm gewidmeten Gottesdienstes denken. Im Gegenteil ist hinsichtlich dieser Praktiken eine Überprüfung nach Maßstäben reiner praktischer Vernunft erforderlich. Diese kann im günstigen Fall ergeben, dass die ausdrücklichen gottesdienstlichen Handlungen in dem Bewusstsein ausgeübt werden, symbolische Handlungen zu sein, die zwar per se moralisch indifferent sind, die aber doch als Mittel zur Moralisierung taugen. Im ungünstigeren Fall, der der verbreitetere sein dürfte, drücken die Praktiken die Selbsttäuschung und den Wahn einer familiären Wechselwirkungsbeziehung mit dem buchstäblich anwesenden existierenden Gott aus und nehmen den Charakter von Moralersatzhandlungen an. Der für reine praktische Vernunft katastrophale Fall allerdings ist der, wenn mit Berufung auf eine solche vorgebliche Allianz mit Gott sogar moralwidrige Handlungen – Angriffskriege oder Terrorakte – unternommen werden. Zu verhindern ist die Katastrophe nur, wenn auch im Fall vermeinter Gotteserfahrungen mit Anweisungen zu solchen Taten zuletzt doch praktische Vernunft die oberste Autorität behauptet, wenn also dem vermeintlichen göttlichen Befehlshaber so entgegenge-

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treten wird, wie Kant seinen Abraham der göttlichen Stimme entgegentreten lässt, die befiehlt, den Sohn zu töten, nämlich mit den Worten: „‘Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden’, wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte“ (SF, 07: 63 Anm.).

Kant über moralische, juridische und religiöse Gesetze Wer im Ausgang von Kant das Thema des Verhältnisses zwischen Staat und Religion behandelt, sollte wohl, bevor er diese Beziehung thematisiert, einen möglichst deutlichen Begriff von ihren Bestandteilen entwickeln. Das bedeutet zunächst einmal zu bestimmen, welche Begründung und Legitimation der Staat nach Kant hat. Wenn damit in Frage ist, mit welcher Befugnis und wozu der Staat da ist, dann muss ein weiterer Schritt zurück zu einem noch vorgängigen Begriff getan werden; es ist der Schritt zurück zum Begriff des Rechts.

1 Staat und Recht Der Begriff des Rechts ist einer, der die Beziehungen unter den Menschen bereits normiert, bevor sie sich im Staat vergemeinschaften. Doch normiert er sie hier so, dass aus gewissen Defiziten der vorstaatlichen Rechtsverhältnisse ersichtlich wird, dass der Staat eine Notwendigkeit zur Überwindung dieser Defizite ist. Es gilt hinsichtlich dieses Übergangs: Der Staat ist a priori zu deduzieren aus reiner praktischer Vernunft, die, weil ihr Begriff des Rechts hier zentral ist, auch die reine praktische Rechtsvernunft genannt werden kann. Mit den Ausdrücken „a priori“ und „rein“ soll gesagt sein, dass Recht und Staat notwendige und strikt allgemeine nichtempirische Begriffe sind, die aus keinem bloß faktischen Auftreten – etwa von wirklichen Staaten oder von Gestalten positiven Rechts – im Geschichtsverlauf abstrahiert werden müssen, sondern die eben reine praktische Vernunft als solche charakterisieren. Damit sind Recht und Staat Begriffe, die reine praktische Vernunft immer schon von sich her denkt, wenn sie daran denkt, wie die Beziehungen unter den Menschen geregelt sein sollen. Nach dem Begriff des Rechts geht es speziell um die Beziehungen unter den Menschen, die sich ergeben, wenn sie als freie Wesen durch ihnen zuschreibbare Handlungen äußerlich aufeinander einwirken. Das ursprüngliche Rechtsprinzip a priori, das die genannten Beziehungen regeln soll und das also unabhängig von allem faktischen Verhalten der Menschen aus dem bloßen Denken reiner praktischer Vernunft als Norm entspringen soll, ist nach Kant das folgende: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (MS, 06: 230). Handlungen, die diesem Prinzip nicht genügen, sind unrecht. Dem Rechtsprinzip entsprechend lautet Kants Defihttps://doi.org/10.1515/9783110788099-016

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nition des Rechts: „Das Recht ist […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (MS, 06: 230). Ersichtlich ist nach dem Rechtsprinzip Kants zum einen jeder Person die Freiheitsausübung zugesichert, zum anderen aber durch die Bedingung, dass diese „nach einem allgemeinen Gesetz“ mit der Freiheitsausübung jeder anderen Person zusammenstimmen soll, auch eingeschränkt. Wären die Verhältnisse unter den Menschen dem Rechtsprinzip entsprechend eingerichtet, dann hätte jeder von ihnen in ihrem wechselseitigen Verhältnis eine gleiche Sphäre der Ausübung der Freiheit, die an der Freiheitssphäre des anderen ihre Grenze hat. Grenzüberschreitung dagegen bedeutete Verletzung einer fremden Freiheitssphäre, also Rechtsverletzung. Wo Rechtsverletzung stattfindet, da ist nach Kant, und zwar gedeckt durch den Rechtsbegriff der Vernunft, die tätliche Abwehr dieser Verletzung erlaubt, d. h. der Rechtsbegriff beinhaltet eine Zwangsbefugnis (vgl. MS, 06: 232 f.). Der illegitimen, die Vernunftordnung verletzenden Gewalt darf also eine legitime, diese Ordnung wieder herstellende Gewalt entgegengesetzt werden. Den Rechtszustand, in dem das ersichtlich beiderseitig gewalttätige Wechselspiel zwischen der Rechtsverletzung und der Wiederherstellung des Rechts sich ohne den Staat entfaltet, d. h. nur unter den beteiligten Einzelnen, nennt Kant den „juridische[n] Naturzustand“ (RGV, 06: 95). Der juridische Naturzustand ist also charakterisiert durch die Partikularisierung der Rechtsbeziehungen; hier ist, wie Kant es ausdrückt, „ein jeder sein eigner Richter“ (RGV, 06: 95). Mit der Gefahr der Bindung des Rechts an das Individuum aber, die die Gefahr der unangemessenen Auslegung zu seinen eigenen Gunsten ist, ist bereits die Notwendigkeit des Staats ersichtlich. Verlangt ist eine Macht, die nicht Macht eines bestimmten Individuums ist, das bei vermeinter oder tatsächlicher Rechtsverletzung das Recht nach eigenem Gutdünken wieder herstellt, sondern die als überindividuelle Macht jedem Individuum äußerlich ist. In Kants Worten: Verlangt ist eine „öffentliche machthabende Autorität“ (RGV, 06: 95). Diese soll den vereinigten Willen aller repräsentieren. Sie soll durch öffentliche Gesetze die mannigfaltigen Rechtsbeziehungen in einen Gesamtzusammenhang integrieren und die durch den Begriff des Rechts geforderte Ausgewogenheit in den wechselseitigen Beziehungen unter den individuellen Freiheitssphären garantieren. Insofern diese rechtliche Ausgewogenheit aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft sein soll, kann gesagt werden, dass der Staat sein soll, d. h. dass es moralische Pflicht ist, dass die Menschen sich zum Staat vergemeinschaften. Es ist hier allerdings schon zu bemerken, dass, die Staatsbildung moralische Pflicht zu nennen, nicht bedeutet, die Rechtsverhältnisse im etablierten Staat zugleich auch als moralische Verhältnisse zu verstehen; doch davon später. Im Blick auf die hier angezielte Thematik, nämlich die des Verhältnisses zwischen Staat und Religion, ist an der ausgeführten Skizze der kantischen Staats-

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theorie etwas signifikant, und zwar etwas, das in dieser Skizze fehlt. Was fehlt, ist jede Bezugnahme auf Gott und Religion. Kants Staatstheorie kommt ohne religiöse bzw. theologische Voraussetzungen aus. Kein göttliches Gebot also gebietet die Etablierung des Staates, in welchem Fall ersichtlich der Staat selbst gewisse göttliche Züge annehmen müsste, sondern der Staat ist hier allein Ausdruck der reinen autonomen Rechtsvernunft des Menschen. Der für Kants Moral- und Rechtsphilosophie zentrale Autonomiegedanke, d. i. der Gedanke der Selbstgesetzgebung durch Vernunft, bedeutet dabei so viel, dass die Menschen kraft ihrer eigenen Vernunft von sich selbst fordern, in rechtlichen Verhältnissen zu leben, was, wie gesehen, den Staat als den Garanten des Rechts in die Forderung einschließt. Kurz gesagt, ist der Staat im Sinne Kants ein entschieden säkularer Staat. Den Staat „säkular“ zu nennen, geht nach dem Gesagten allerdings nicht so weit, ihn als empirisch begründet anzusehen. Wenn man ihn – wie das etwa bei Hobbes der Fall ist – als empirisch begründet betrachtete, dann führte man ihn letztlich auf die vorfindliche physische Beschaffenheit der Menschen zurück. Da diese Beschaffenheit wesentlich die eines sinnlichen Bedürfniswesens ist, wäre sein Hauptzweck also, der vitalen Selbsterhaltung des Einzelnen und der Gattung zu dienen, ihre Bedürfnisbefriedigung möglichst zweckmäßig zu organisieren. Der Staat wäre so nicht Ausdruck reiner praktischer Vernunft, sondern bloß einer instrumentellen Vernunft, die sich dem physischen Bedürfnis unterordnete, selbst wenn sie es um der Bedürfnisbefriedigung willen für klug hielte, dass rechtliche Verhältnisse herrschten. – Bei Kant dagegen sollen Recht und Staat als Garant des Rechts nicht deshalb sein, weil sich mit ihnen die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse am effizientesten organisieren lässt, sondern weil die reine praktische Menschenvernunft die Norm setzt, dass freien Wesen eine Freiheitssphäre eröffnet werden muss, dass diese an der Freiheit der anderen ihre Grenzen finden muss und dass eine äußere machthabende Gewalt das garantiert. Dass hinzukommend zu diesem ideellen Zug der Staat als empirischer Staat auch noch materiale Zwecke im Blick auf das physische Wohl seiner Bürger verfolgt, ist von Kant durchaus anerkannt. Der empirische Staat tut dies übrigens mittels seiner wandelbaren positiven juridischen Gesetzgebung und durch die Handlungen seiner Exekutive. Doch dass in der Ordnung der Gesetzgebungen und der Zwecksetzungen die unwandelbaren rein vernunftrechtlichen Prinzipien die Priorität haben und dass der Staat in der Idee die Bedingungen und den Rahmen für den empirischen Staat setzt, ist nach Kant unverrückbar.

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2 Das Interesse des Staats an der Religion Nachdem nun deutlich wurde, dass der Staat seiner Begründung nach von Religion unabhängig ist, dass er als Staat in der Idee der Garant vernunftrechtlicher Verhältnisse sein soll und dass er als empirischer Staat das Wohl seiner Bürger nur im vernunftrechtlichen Rahmen verfolgen darf, ist jetzt zu thematisieren, wie er sich nach Kant den Erscheinungen von Religiosität gegenüber, die in seinem Einflussbereich doch auf verschiedenste Art vorkommen, verhalten sollte. Dass der Staat sich für diese Erscheinungen interessieren muss, ist darin begründet, dass sie relevant hinsichtlich seiner eigenen Zwecke sein können. Sie können diese Zwecke unterstützen, ihnen zuwiderlaufen, sich aber auch gleichgültig dazu verhalten. Besonders interessiert den Staat nach Kant, was „die eingesetzte[n] Volkslehrer (in Schulen und auf Kanzeln)“ (SF, 07: 8) an religiösen Lehren vertreten. Zwischen dem empirischen Staatszweck, der Wohlfahrt seiner Bürger, und dem Zweck der Religion, sieht Kant eine gewisse Ähnlichkeit, denn auch der Religion ist es um eine Art Wohlfahrt zu tun. Sie intendiert „eines jeden ewiges Wohl“ (SF, 07: 21); es ist ihr „um die Seligkeit zu thun“, um die „Glückseligkeit der künftigen Welt“ (SF, 07: 22). Diese Ähnlichkeit führt ihn allerdings nicht dazu, die beiden Zwecke zu vermischen und etwa den Religionszweck auch zum Staatszweck zu machen. Er vertritt vielmehr die Ansicht, dass es „der Regierung Sache gar nicht sei, für die künftige Seligkeit der Untertanen Sorge zu tragen, und ihnen den Weg dazu anzuweisen“ (SF, 07: 59). Der Staat ist demnach, seinem materialen Zweck nach, auf das Gemeinwohl in der diesseitigen Welt eingeschränkt; er ist also auch unter diesem Aspekt säkularer Staat. Aber dennoch interessiert ihn eben, wie seine Bürger sich um der jenseitigen Welt willen in der diesseitigen Welt, die ja seine Domäne ist, verhalten; insbesondere, zu welchem Verhalten ihn die Religionsgemeinschaften, die Kirchen, durch ihre Lehren anhalten. Es interessiert dies den Staat um seiner selbst willen. Wenn nun die Frage ist, von welcher Beschaffenheit aus dem Gesichtspunkt des Staats die religiösen Lehren sein sollten, um seinem ideellen Zweck zu nutzen, die Herrschaft des Rechts zu etablieren, wonach „die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (MS, 06: 230), dann lautet die scheinbar einfache, in Wahrheit aber höchst erläuterungsbedürftige und auch problembehaftete Antwort so: Dem Staatszweck der Rechtlichkeit der Verhältnisse unter den Menschen wäre am besten gedient, „wenn jene Lehre der Kirche geradezu auf die Moralität gerichtet sein würde“ (SF, 07: 60 Anm.), wenn die Kirche also nichts anderes als Moral lehrte. Diese These provoziert gleich mehrere Fragen. Da Kirchen de facto weit mehr als Moral lehren, sollen sie es um des genannten Staatszwecks willen nicht mehr

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lehren bzw. es für sekundär erklären? Was sie an Außermoralischem lehren, ist von Kant durch den Ausdruck „statutarisches Gesetz“ zusammengefasst. Darunter sind religiöse Gesetze zu verstehen, die etwas vorschreiben, was für reine praktische Vernunft unverständlich bleibt, was ihr willkürlich und zufällig vorkommt, dem also kein moralischer Gehalt zugesprochen werden kann. Es soll gelten, nur weil es eben auf göttlicher Setzung, auf Offenbarung, beruht. Zum Beispiel, dass jeder 7. Tag eigens für die Gottesverehrung zu reservieren ist. Auf eine andere Offenbarung soll zurückgehen, dass nur koscheres Fleisch gegessen werden darf, und auf eine dritte, dass einmal im Leben eine Pilgerreise nach Mekka unternommen werden soll. – Soll also mit der Festlegung auf die reinen Morallehren all dieses Außermoralische zu den Beiläufigkeiten gezählt bzw. sogar für überflüssig erklärt werden? Das ist in der Tat Kants Ansicht, so dass der provokative Gehalt der um des Staates willen am besten bloß auf Moralität zu reduzierenden Kirchenlehren schon hier deutlich wird. Auf die Gründe, die dafür sprechen, wird zurückzukommen sein. Eine zweite Frage ergibt sich aus der Forderung, dass Kirchenlehren reine Morallehren sein sollten. Sie lautet: Sind Kirchen überhaupt originäre Quellen für Morallehren? Diese Frage ergibt sich aus der schon angesprochenen kantischen These von der Autonomie der Moral, d. i. die These, dass der Mensch ohne jeden äußeren Anstoß, also auch ohne eine äußere göttliche Gesetzgebung sich selbst durch das Sittengesetz zur Moralität verpflichtet. Gleich zu Beginn seiner Religionsschrift heißt es bei Kant unmissverständlich: Moral „bedarf […] zum Behuf ihrer selbst […] keineswegs der Religion“ (RGV, 06: 3). Kants Antwort, die noch durch Gründe unterlegt werden muss, wird sein: Kirchen sind keine originären Quellen von Morallehren, können aber nach einer zulässigen gedanklichen Übertragung der moralischen Gesetzgebung von der reinen praktischen Vernunft auf einen göttlichen Gesetzgeber als sekundäre Quellen solcher Lehren betrachtet werden. Eine dritte Frage drängt sich zum Verhältnis zwischen der auf Morallehre restringierten Kirche und dem auf den Rechtsbegriff festgelegten Staat auf. Moralität und Legalität, sind nämlich nicht in eins zu setzen und werden von Kant auch unterschieden, so dass zu fragen ist, welchen Gewinn der Staat, der an der Beachtung seiner juridischen Gesetze, d. h. der Rechtsgesetze, interessiert ist, davon haben soll, wenn die Kirche seine Bürger (wenn auch nur als eine Art Zweitgesetzgeber) auch noch moralischen Gesetzen unterstellt. Es müsste etwa so sein, dass die Befolgung moralischer Gesetze trotz des wesentlichen Unterschieds der Befolgung der juridischen Gesetze förderlich ist. Diese dritte Frage soll als erste näher betrachtet werden. Dazu ist zunächst der Unterschied zwischen moralischen und juridischen Gesetzen herauszustellen.

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3 Moralische und juridische Gesetze In der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant als Beispiel eines moralischen Gesetzes an, dass ein Depositum, also ein Gut, das einem zur Aufbewahrung anvertraut ist, unter allen Umständen wieder herauszugeben ist (KpV, 05: 27). Diese Vorschrift gilt unbedingt, wäre also nicht etwa dann außer Kraft gesetzt, wenn mir nicht mehr nachzuweisen wäre, es erhalten zu haben, und wenn mir kein Nachteil daraus entstehen könnte, es meinem Vermögen zuzuschlagen. Indem das Gesetz gilt und befolgt wird, ohne dass irgend ein äußerer Zwang es mir auferlegte und seine Befolgung unter Zwangsandrohung durchsetzte, gilt es allein deshalb, weil ich es mir selbst innerlich zur Pflicht mache, weil ich also mein eigener autonomer moralischer Gesetzgeber bin. Nur der moralische Charakter meiner inneren Gesinnung ist hier also der Grund dafür, mir ein Depositum niemals anzueignen. Die strikte Trennung moralischer Gesetzgebung von äußerem Zwang lässt also zweierlei festhalten: zum einen, dass jene schon angesprochenen moralischen Kirchenlehren, eben insofern sie moralisch sein sollen, auch nicht durch Zwang wirken dürfen, sondern nur Veranlassung oder Appell zur innerlichen Selbstgesetzgebung als Selbstverpflichtung sein können; zum anderen, dass moralische Gesetze sich von juridischen wesentlich unterscheiden. Im Fall von juridischen Gesetzen sind sowohl Ursprung als auch Bedingungen ihrer Befolgung anders zu denken. Als Beispiel kann – bloß scheinbar paradox – dasselbe Gesetz dienen, das auch Beispiel moralischer Gesetzgebung sein konnte, das Gesetz also, dass Deposita nicht angeeignet werden dürfen. Obwohl es ersichtlich dem Inhalt nach vom moralischen Gesetz nicht zu unterscheiden ist, tritt es im Verständnis eines staatlichen Gesetzes doch auf ganz andere Weise auf. Als Gesetz staatlichen Rechts begegnet es mir von außen. Die Forderung, sich Deposita nicht anzueignen, wird hier an mich herangetragen, unabhängig davon, ob ich das auch innerlich von mir selbst fordere. Zudem tritt das staatliche Rechtsgesetz mit der Befugnis auf, seine Befolgung zu erzwingen (MS, 06: 231). Damit aber wird die Furcht vor dem Zwang zu einem möglichen Motiv für rechtliches Verhalten. Dieses Motiv ist ersichtlich kein moralisches, d. h. hier wirken nicht innere Selbstverpflichtung und moralische Gesinnung. Da nun durch äußeren Zwang niemals Moralität der inneren Gesinnung bewirkt werden kann, sondern diese immer nur auf innerer Selbstverpflichtung beruhen kann, gehören die Gesinnungen und Motive von Handlungen nicht zum Gegentandsbereich rechtlicher Bewertung. Das Recht hat „nur das zum Objekte […], was in Handlungen äußerlich ist“ (MS, 06: 232). Unter rechtlichem Gesichtspunkt ist es also gleichgültig, warum ein Depositum herausgegeben wird, ob aus dem egoistischen Motiv der Selbstliebe, den Zwang des Staats nicht erleiden zu wollen, oder aus dem moralischen Motiv, das auf der freien

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Selbstverpflichtung beruht. Unter rechtlichem Gesichtspunkt genügt also die bloße Legalität der Handlungen, ihre Moralität ist nicht verlangt und mit dem Mittel des Zwangs auch gar nicht herbeizuführen möglich. Obwohl nun bis hierhin der Unterschied zwischen der moralischen und der juridischen Gesetzgebung hervorzuheben war, ist dadurch doch bereits die Antwort auf die Frage vorbereitet, warum dem Staat in Beobachtung von Kirchenlehren im eigenen Interesse daran gelegen ist, dass diese „geradezu auf die Moralität gerichtet“ (SF, 07: 60) sind, auch wenn er selbst nicht Moralität, sondern bloß Legalität verlangen kann. Unterstellt nämlich, die Kirchenlehren sind auf Moralität gerichtet, was sie allerdings ohne Zwang sein müssen, und diese ist in den Adressaten wirksam, fallen die Handlungen, die von ihnen verlangt sind, also etwa ein Depositum herauszugeben oder, allgemein gesprochen, die Freiheit eines anderen nicht zu lädieren, genau so aus, wie durch den Staat verlangt, allerdings aus einem verlässlicheren und stärkeren Grund, als es seine Zwangsandrohung ist. Auch wenn es für den Staat hinreichend ist, wenn seinem Rechtsprinzip der Achtung der Freiheit des anderen ohne innere Überzeugtheit gefolgt wird (und mehr kann er als äußerer Gesetzgeber, der keine inneren Überzeugungen erzwingen kann, auch nicht verlangen), so ist es darüberhinaus doch möglich, dass der Bürger nicht aufgrund der staatlichen Zwangsandrohung, sondern eben gerade aus der inneren Überzeugung der Vernünftigkeit das Rechtsprinzip befolgt. Für den Fall also, dass das Rechtsprinzip durch den Bürger, dem das ganz selbst überlassen bleibt, zum moralischpraktischen Gesetz erhoben wird, er es also in seine innere Gesinnung aufnimmt, kann der Staat auf die Rechtsmäßigkeit der Handlungen dieses Bürgers vertrauen. Die staatliche Zwangsandrohung ist in diesem Fall nicht nötig. Wo der Bürger dagegen nur aufgrund der Zwangsandrohung rechtmäßig handelt, d. h. also aus dem Motiv der Selbstliebe, keinen Zwang zu erleiden, kann nicht in gleicher Weise auf die Rechtmäßigkeit seiner Handlungen vertraut werden. In diesem Fall wird der Staat auf die Omnipräsenz seiner Zwangsandrohung setzen müssen, weil das Motiv der Selbstliebe den Bürger bei unwirksamer staatlicher Zwangsandrohung leicht zu unrechtmäßigen Handlungen bewegen kann, etwa zur Aneignung eines Depositum. Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Kirchenlehren, wenn sie rein moralische Lehren sind, sind der Intention des Staates, die die Intention rechtskonformer Handlungen ist, förderlich. Moralkonforme Handlungen sind immer auch vernunftrechtskonforme Handlungen, was allerdings nicht auch umgekehrt gilt.

4 Vernunftreligion versus historische Kirchen Dass die der Idee nach skizzierte mögliche Koinzidenz dem tatsächlichen Verhältnis zwischen Staat und Kirche nicht entspricht, wird klar, wenn bewusst wird, dass die

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wirklich vorkommenden Kirchen die genannte Hauptbedingung nicht erfüllen. Sie lehren nicht bloß reine universelle Moral, wenn sie sie denn überhaupt lehren. Eine Kirche, die bloß Moral lehrte, könnte keine jüdische, christliche oder islamische sein, sondern müsste Kirche einer ganz unspezifischen, eben deshalb aber auch universell sein könnenden Vernunftreligion sein. Mit einer reinen Vernunftreligion würde im Ausgang von reiner praktischer Vernunft, die die originäre Gesetzgeberin moralischer Gesetze ist, ein Gott gedacht, der von den Menschen die Befolgung genau dieser, d. h. ihrer eigenen moralischen Gesetze fordert – und nichts sonst. Der Gott der Vernunftreligion hätte es übrigens nicht nötig, sich irgendwann und irgendwo zu offenbaren, denn der Gedanke an ihn könnte kraft reiner praktischer Vernunft immer und überall eröffnet werden. – Die wirklich vorkommenden Kirchen dagegen sind solche, die nicht von der moralische Normen setzenden Vernunft ausgehen, sondern von der Faktizität bestimmter historischer Ereignisse irgendwann und irgendwo, durch die Gott sich auf empirisch erfahrbare Weise mitgeteilt haben soll. Dabei soll er von den Menschen noch ganz anderes als Moralität gefordert haben, eben durch die erwähnten statutarischen Gesetze. Diesen speziellen außermoralischen religiösen Gesetzen gegenüber, ihren durch Vernunft nicht einsichtigen inhaltlichen Forderungen gegenüber, überhaupt ihrem bloßen historisch faktischen Gesetz-Sein gegenüber, ist Kant überaus skeptisch. Ganz abgesehen davon, dass eine beanspruchte Erfahrung göttlicher Mitteilung als göttlich seiner allgemeinen Theorie der Erfahrung widerspricht, wie sie die Kritik der reinen Vernunft entfaltet, gilt seine Skepsis insbesondere der Kompatibilität der religiösen statutarischen Gesetze mit dem Staat. Die historischen Kirchen in ihrer Orientierung an der Faktizität einer vermeinten Selbstmitteilung Gottes und an der Faktizität einer diese Mitteilung fixierenden Heiligen Schrift haben nach Kant die Tendenz, diese vermeinten Fakten, die in ihrer Sicht an Autorität nicht zu überbieten sind, da sie ja einen göttlichen Ursprung haben sollen, gegen eine Überprüfung durch Vernunft zu immunisieren. Kant schreibt dem „theologischen Fache“ den Hang zur Annahme zu, „daß buchstäblich „glauben“, ohne zu untersuchen (selbst ohne einmal recht zu verstehen), was geglaubt werden soll, für sich heilbringend sei“ (SF, 07: 31). Dem setzt er den Primat der reinen praktischen Vernunft entgegen, die er auch als das Göttliche in uns bezeichnet (vgl. SF, 07: 48). Ihr, eben weil sie das Göttliche in uns ist, kommt die Beurteilungskompetenz zu, alles, was uns mit dem Anspruch entgegentritt, göttlichen Ursprungs zu sein, also etwa Heilige Schriften, daraufhin zu qualifizieren, ob es einsichtig zu machen ist oder nicht. Im Fall rein moralischer Lehren spricht nichts gegen ihre Göttlichkeit; vor den statutarischen Vorschriften ohne moralischen Gehalt steht reine praktische Vernunft dagegen verständnislos, kann sich also nicht erklären, warum Gott das Jeweilige, etwa nur ihm gewidmete Gottesdiensthandlungen, von uns fordern sollte; im Fall von amoralischen Gehalten bean-

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sprucht Vernunft sogar, der Göttlichkeit der Anweisungen explizit zu widersprechen. So kann für sie z. B. die Anweisung an Abraham, seinen Sohn zu töten, keine göttliche sein. Insgesamt verweigert die philosophische Fakultät, der nach Kant die Rolle der Sachwalterin reiner praktischer Vernunft und der Ratgeberin des Staats zukommt, einer ungeprüften bloßen Faktizität von erhobenen Ansprüchen, wie sie sich eben in den statutarischen Vorschriften von Kirchen ausdrücken, ihre Anerkennung. Sie legt dem Staat nahe, davon Abstand zu nehmen, diese Vorschriften zu sanktionieren, d. h. sie mit dem Gütesiegel anerkannter Lehren zu versehen. Aus dem Gesichtspunkt der Vernunft sind die moralisch indifferenten statutarischen religiösen Gesetze Beiläufigkeiten und zuletzt sogar überflüssig. Statutarischen religiösen Gesetzen, die die Moral verletzen, kann dagegen keine auch nur temporäre Akzeptanz gewährt werden; diesen muss der unbedingte Widerspruch reiner praktischer Vernunft ohne Aufschub entgegengesetzt werden. Nur rein moralische religiöse Lehren, nichtstatutarische religiöse Gesetze also, können bleiben, weil sie sich in dem, was sie gebieten, von religionsunabhängigen moralischen Lehren nicht unterscheiden. Mit dem erzielten Ergebnis, dass nämlich dem Staat nahegelegt ist, nur die rein moralischen religiösen Gesetze mit seiner Zustimmung zu versehen, ist ersichtlich eine radikale Konsequenz hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Staat und den in seiner Sphäre vorkommenden historischen Religionen verbunden. Wenn der Staat dem Ratschlag folgte, müssten die „Geschäftsleute“ (SF, 07: 35) der Theologie, also die Lehrer der Religion „in Schulen und auf Kanzeln“ (SF, 07: 8) mit seiner ausdrücklichen Zustimmung nichts als reine Moral lehren. Sie könnten diese reine Moral, wenn sie denn dort vorhanden ist, weiterhin aus ihren Heiligen Schriften ziehen, wobei aber die Bedingung zu erfüllen wäre, dass die von dort entnommenen Gesetze sich zugleich „aus jedes Menschen eigener Vernunft entwickeln lassen“ (SF, 07: 36) können. Allein aus der Gegebenheit der Schriften, also etwa aus der bloßen Vorfindlichkeit der Bibel oder des Koran, lässt sich keine Moral in den Menschen bringen, d. h. als eine bloß von außen an ihn herangetragene Botschaft, der gegenüber er ganz passiv wäre, müsste sie ihm unverständlich bleiben. In Kants Worten: Die Moral „kann kein Mensch in irgend einer Schrift finden, als wenn er sie hineinlegt, weil er die dazu erforderlichen Begriffe und Grundsätze nicht von irgend einem andern gelernt“ haben kann, sondern diese nur„bei Veranlassung eines Vortrages aus der eigenen Vernunft […] entwickelt werden müssen“ (SF, 07: 32). Die historischen Kirchen sind demnach nicht die originären Quellen für Morallehren, sondern können bloß den Anlass dafür bieten, dass praktische Vernunft diese Lehren auf die Weise der Selbstgesetzgebung etabliert.

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5 Der philosophisch beratene Staat als Wächter über die Kirchenlehren Wenn allein die moralischen Lehren gesucht sind, kann das, was sich aus der Bibel, aus dem Koran oder aus irgendeiner anderen Offenbarungsschrift unter der Leitung praktischer Vernunft entnehmen lässt, in keinen Widerspruch geraten. Wenn nur diese Morallehren als günstig für den Staatszweck vernunftrechtlicher Verhältnisse erkannt sind, dann sind alle statutarischen religiösen Gesetze von der ausdrücklichen Zustimmung des Staates auszunehmen, alle bloßen Satzungen also, die aus Vernunft nicht zu entwickeln sind und für sie „aus der Willkür eines andern ausfließen“ (SF, 07: 36), auch wenn dieser andere von den historischen Religionen als Gott behauptet ist. Mit dem Ausschluss der statutarischen Gesetze aus der Lehre aber könnte die verbleibende Lehre nicht mehr die irgend einer speziellen Offenbarungsreligion sein. Das heißt: Sie könnte z. B. keine christliche oder muslimische Lehre sein, denn nur durch die statutarischen Gesetze sind beide spezifisch; durch die in ihnen enthaltenen moralischen Lehren können sie aufgrund der Einheit und Unteilbarkeit reiner praktischer Vernunft in keinen Widerstreit geraten. Der dem Ratschlag der philosophischen Fakultät folgende Staat kann also letztlich keine der historischen Offenbarungsreligionen, wenn sie im Kern die reinen Morallehren enthalten, vor einer anderen auszeichnen. Herabgesetzt werden könnte allenfalls eine solche, die gar keine Morallehre enthielte oder eine solche Lehre nur in Ansätzen. Es kann an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass Kant das Christentum für die „schicklichste“ (SF, 07: 36) der historischen Religionen hielt. Sein Grund dafür, es auszuzeichnen, ist, dass es neben den statutarischen Gesetzen eine ausgeprägte reine Morallehre enthält. Diese für sich genommen, ist allerdings nicht spezifisch christlich, insofern sie eben Ausdruck der allgemeinen reinen praktischen Menschenvernunft ist. Kants Auszeichnung lässt sich daher auch so lesen, dass das Christentum aufgrund seines ausgeprägtesten unspezifischen, d. h. rein moralischen Kernbestands am ehesten dazu geeignet ist, sich als spezifische historische Religion zugunsten der allgemeinen Vernunftreligion überflüssig zu machen. Kant fügt seiner Auszeichnung des Christentums allerdings ein relativierendes „so viel wir wissen“ (SF, 07: 36) an, was angesichts seiner tendenziellen Unkenntnis anderer historischer Religionen und ihres etwaigen moralischen Gehalts wohl auch angebracht ist. Seinen negativen Urteilen über das Judentum, dem er zuweilen bescheinigt, nur statutarische Gesetze zu enthalten, ist übrigens überzeugend durch den jüdischen Neukantianer Hermann Cohen entgegengetreten worden.

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Aus der Gleichsetzung der Religionslehren, die der Prüfung durch Vernunft standhalten, mit der Lehre moralischer Gesetze folgt ein weiterer philosophischer Rat hinsichtlich dessen, wie sich der Staat zu einer gewissen Art von Lehre verhalten möge. Es ist die Art von Lehre, die sich „mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der ganzen Moral unvereinbar findet“ (SF, 07: 41), der gegenüber Skepsis anzuraten ist und die also nicht in den Kanon der staatlich zertifizierten Religionslehren aufgenommen werden sollte. Kants Beispiel für eine solche ist die Lehre von der „Gnadenwahl“ und der „Prädestination“ (SF, 07: 41), wie sie von Paulus vertreten worden ist. Sie stellt den Menschen als ganz passives Objekt göttlicher Einwirkung dar und hebt eben gerade jene Zuschreibbarkeit von Handlungen auf, die sowohl Moral als auch der Staat voraussetzen müssen, der letztere im Blick auf seine Bürger als freie Rechtssubjekte, die er im Prinzip als Täter ihrer Taten voraussetzt. Was aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft dem Staat des Weiteren zur wachsamen und skeptischen Betrachtung anempfohlen werden muss, ist, wenn vorhanden, die bloße Mehrzahl der Offenbarungsreligionen in der Sphäre seines Einflusses und in seiner Nachbarschaft, ebenso die Sektenunterschiede innerhalb der einzelnen Religionen. Denn die Zersplitterung auf dem Feld der verschiedenen Glaubensarten und Glaubensunterarten ist dem Staatszweck der Friedenssicherung zuwider. Als Gründe für die Tendenz zum Unfrieden müssen wieder die außervernünftigen statutarischen Gesetze einer jeder dieser Glaubensarten und Sekten genannt werden. Über historische Glaubenslehren kann nach Kant „der Streit nicht vermieden werden“ (RGV, 06: 115). Eine jede der historischen Religionen hält nämlich „für kein Gesetz, was nicht das ihrige ist“ (SF, 07: 50 Anm.), besteht also auf der Exklusivität ihrer eigenen als gottursprünglich vermeinten statutarischen Gesetze. Die einem statutarischen Glauben anhängenden Völker „benennen andere Völker, die nicht eben dieselbe kirchlichen Observanzen haben, mit dem Titel der Verwerfung“ (SF, 07: 50 Anm.). Aus dem Gesichtspunkt ihrer vermeinten Exklusivität liegt das nahe, denn dem anderen Glauben muss unter der Exklusivitätsvoraussetzung zumindest eine unwahre ursprüngliche Gotteserfahrung unterstellt werden. Der Schritt zur moralischen „Verwerfung“ ist dann nur noch der, die Vorhalte des Unwahren und der Täuschung zu denen der Unwahrhaftigkeit und der Heuchelei zu steigern. Die Mehrzahl der Quellen statutarischer Gesetze und die Mehrzahl der aus jeder von ihnen entspringenden Gesetze selbst bergen zudem die Gefahr, dass gewisse Regelungsbereiche jeweils anders geregelt sind, und sei es auch nur, dass etwa andere Tage als Tage zur Gottesverehrung festgesetzt sind. Die Inkonsistenz der Regeln also wird zum Problem, und zwar zu einem bei aller scheinbaren Geringfügigkeit zuhöchst bedeutungs- und affektbeladenen, denn der Ursprung der jeweiligen widersprüchlichen Anweisungen soll, wie peripher ihr Gehalt auch

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scheinen mag, doch jedesmal kein geringerer als Gott sein. Da Gott keine widersprüchliche Gesetzgebung unterstellt werden kann, da zudem aufgrund des außervernünftigen Ursprungs der Gesetze ein auftretender Widerspruch prinzipiell durch Vernunft nicht zu lösen ist, liegt nahe, ihn durch Machtspruch zugunsten der eigenen historischen Glaubensart zu lösen, dem sich der andere unterwerfen soll. Tut er es nicht, dann liegt aufgrund der Unmöglichkeit rationaler Entscheidung auch die Anwendung von Gewalt nicht fern. Der Weg jedenfalls, die Inkonsistenzen unter den statutarischen Gesetzen verschiedener Religionen durch menschliche Bemühung zu beseitigen, durch Konsensbildung etwa oder durch Verzicht auf ein inkriminiertes Statut, bleibt versperrt, denn wie sollte außervernünftig göttlich Geoffenbartes durch Menschen modifiziert werden können. Im Rahmen des Offenbarungsparadigmas wäre neue Offenbarung erforderlich. Der folgende kantische Befund ist in den skizzierten Zusammenhängen begründet, beruht also nicht bloß auf Beobachtungen in Hinsicht auf einen zwar bedauerlichen, aber verbesserungsfähigen Geschichtsverlauf. Er bezeichnet eine in der Eigenart der historischen Religionen liegende unlösbare Problematik. Er lautet: Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die einige allgemeine ausgiebt (ob sie zwar auf einen besonderen Offenbarungsglauben gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Teil (im Nichtwesentlichen) davon abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden. Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein Ketzer und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch […] ausgestoßen, und allen Höllengöttern übergeben […]. (RGV, 06: 108 f.)

Es ist nach all dem nicht verwunderlich, wenn Kant befindet, es sei „wenig Hoffnung vorhanden“, eine „Glaubenseinheit […] in einer sichtbaren Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen“ (RGV, 07: 123 Anm.). Für den dem Rechtsprinzip verpflichteten Staat in seiner friedenswahrenden Absicht sind die statutarischen Anteile der historischen Religionen anders als ihre etwaigen vernunftreligiösen Anteile, die nur aus moralischen Gesetzen bestehen können, alles andere als günstig, so dass er im Interesse seines Friedensziels darauf zu achten hat, das Konfliktpotential der statutarischen Glaubensarten nicht zum Ausbruch kommen zu lassen. Kants Gesamturteil zur religiös motivierten Gewalt und zu den religiös motivierten Kriegen in der Geschichte lautet: Es „sind die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (RGV, 06: 108). Der Kir-

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chenglaube bzw. die Kirchenglaubensarten aber erhalten ihre konfliktträchtige Spezifik eben durch jene statutarischen Gesetze, die aus Vernunft nicht zu entwickeln sind, die keine moralischen Gesetze sind, die ihr also fremd und zufällig bleiben müssen. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn Vernunft dem auf das Friedensziel festgelegten Staat nicht raten kann, sich mit einer der historischen Glaubensarten zu identifizieren und sich deren partikulare Satzungen zu eigen zu machen, sondern wenn sie ihm als wünschenswertes Ziel die „Verlassung aller alter Satzungslehren“ (SF, 07: 53) nahelegt, und zwar nicht in Absicht auf die Vernichtung aller Religion, sondern um der Etablierung der einen Vernunftreligion willen, die keine statutarischen religiösen Gesetze mehr kennt, sondern nur noch moralische. In diesem Sinne formuliert Kant das Ziel, dass „unter Begünstigung der Regierung“ die Zeit uns „der Religion selbst […] näher bringen werde“, wobei er für den Glauben dieser Vernunftreligion selbst die Bedingung aufstellt, dass es „nicht ein Glaube sein muß [lies: darf ], Gott sich durch etwas anders, als durch reine moralische Gesinnung günstig zu machen“ (SF, 07: 52). Das hier ausgeschlossene „andere“ ist ein Verhalten gemäß den außermoralischen und, wie gesehen, per se konfliktträchtigen statutarischen religiösen Gesetzen.

6 Die Rolle des Staats auf dem Weg zur Vernunftreligion Obwohl nach dem Gesagten, wenn es um die Zielvorstellung des Staates geht, welche Art von Religiosität ihm am günstigsten wäre, dieses Ziel in einer rein moralischen Religion bestünde, die gar keine spezifisch religiösen Erscheinungen mehr hervorbrächte, weil die Befolgung der moralischen Gesetze als göttlicher Gebote vollkommen identisch wäre mit der Befolgung dieser Gesetze als Ausdruck bloß der reinen praktischen Menschenvernunft, projektiert Kant dieses Ziel doch nicht so, dass Religion, jetzt reine Vernunftreligion, gar nicht mehr zum Erscheinen käme. Er nennt die noch verbleibende Kirche in diesem anvisierten Endzustand zwar unsichtbare Kirche, weil in der Tat die von den statutarischen Gesetzen ausgehenden Erscheinungen, z. B. Gottesdienste, entfallen und auch die Moralität von Gesinnungen nichts Sichtbares ist, doch denkt er sie eben immer noch als Kirche. Das bedeutet, dass er sie als real institutionalisierte menschliche Gemeinschaft denkt. Diese Gemeinschaft bedarf „einer öffentlichen Verpflichtung, einer gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form“ (RGV, 06: 105). In dieser öffentlichen Kirche gäbe es zwar keine Priester innerhalb einer hierarchischen Verfassung mit einem vermeintlich privilegierten Zugang zum sich geoffenbart habenden Gott, aber es gäbe noch „Lehrer“ und „Seelenhirten“ (RGV, 06:

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101), welche an nichts als an den allgemeinen moralischen Gesetzen orientiert wären. Zur Art ihrer Lehre ist zu ergänzen, dass durch diese nichts Fremdes und Unverständliches mitgeteilt würde, sondern dass sie bloß Anlass gäbe, die moralischen Begriffe und Grundsätze aus der eigenen Vernunft zu entwickeln. Aus dem Gesichtspunkt des Staates ist der Punkt der Institutionalisierung und der Öffentlichkeit der verbleibenden Kirche der Vernunftreligion von erheblichem Interesse, weil eine völlig im Verborgenen wirkende Religiosität sich „dem Einfluß der Regierung gänzlich entzieht“ (SF, 07: 60). Es ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass dieser Einfluss der Regierung nach der Idee des Staats keiner zu partikularen und willkürlichen Zwecken sein sollte, sondern als Ziel die Rechtskonformität der Bürger hat. Mit dem Postulat der Öffentlichkeit der Kirche eines rein moralischen Vernunftglaubens geht Kants Stoßrichtung auch gegen den Gefühlsglauben, der in seiner Zeit und in seiner Umgebung durch den Pietismus besonders wirksam war. Im Streit der Fakultäten stellt er sich zunächst die Frage: „ob die Regierung wohl einer Sekte des Gefühlsglaubens die Sanktion einer Kirche könne angedeihen lassen: oder ob sie eine solche zwar dulden und schützen, mit jenem Prärogativ“, nämlich als Kirche anerkannt zu sein, „aber nicht beehren könne, ohne ihrer eigenen Absicht zuwider zu handeln“ (SF, 07: 59). Seine Antwort lautet: Die Regierung kann „am wenigsten den Mystizism als Meinung des Volks, übernatürlicher Inspiration selbst teilhaftig werden zu können, zum Rang eines öffentlichen Kirchenglaubens erheben, weil er gar nichts Öffentliches ist, und sich also dem Einfluss der Regierung gänzlich entzieht“ (SF, 07: 60). Den mystischen Gefühlsglauben qualifiziert Kant als „Illuminatism“ vermeinter „innerer Offenbarungen“ ab und fügt hinzu, dass davon „ein jeder alsdenn seine eigene hat und kein öffentlicher Probirstein der Wahrheit mehr statt findet“ (SF, 07: 60). Das heißt: Über privatsubjektive Gefühle und etwas durch sie Geoffenbartes lässt sich – anders als über die moralischen Gesetze der allgemeinen praktischen Menschenvernunft, die in der Vernunftreligion zugleich als göttliche Gesetze angesehen werden – in keiner Weise intersubjektive Verständigung erzielen. Ein privater Gefühlsglaube ist somit der Antipode zum Vernunftglauben. Während der Vernunftglaube Gemeinschaft unter den Menschen stiftet, und zwar unter moralischen Gesetzen, woran der Staat ein Interesse nehmen muss, wirkt der Gefühlsglaube partikularisierend, ja atomisierend, wenn wirklich ein jeder seinen eigenen hat. Obwohl, wie gesehen, der Rat des Philosophen für den Staat der ist, in Religionsdingen den Vernunftglauben zu befördern, wodurch in letzter Konsequenz nicht bloß der Glaubensindividualismus, sondern auch der Glaubenspartikularismus aller Offenbarungsreligionen überwunden wäre, muss bis zum Erreichen dieses Ziels doch mit dem tatsächlichen Vorkommen dieser in der Sicht der reinen praktischen Vernunft defizitären Glaubensgestalten gerechnet werden. Der Rat des an der

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Vernunft orientierten Philosophen geht nun zwar so weit, ihnen die ausdrückliche staatliche Zustimmung zu verweigern, was die Verweigerung einschließen muss, eine der historischen Religionen zur Staatsreligion zu machen, doch geht dieser Rat nicht so weit, sie etwa zu bekämpfen und staatlichen Zwangsmassnahmen zu unterwerfen. So lange seine eigene Rechtsordnung durch sie nicht verletzt wird, ist es sogar Aufgabe des Staates, sie trotz der erkannten rationalen Defizite zu schützen. Im obigen Zitat gegen den religiösen Gefühlsindividualismus war in einem und demselben Zusammenhang von der Verweigerung der Anerkennung und gleichwohl auch vom Dulden und Schützen (vgl. SF, 07: 61) die Rede. Auch für die Ausprägungen der Religionsausübung, die aus dem Gesichtspunkt reiner praktischer Vernunft als defizitär und als zu überwinden nötig beurteilt werden, gilt also Religionsfreiheit. Wenn demnach einerseits die Forderung nicht aufgegeben wird, zum reinen Religionsglauben überzugehen, der kein christlicher, kein muslimischer und kein jüdischer ist, sondern das Kondensat des rein Moralischen aus ihnen allen beinhaltet, und wenn andererseits das Vorkommen dieser Glaubensarten zu tolerieren und vor Zwang zu schützen ist, dann folgt daraus, dass die Auseinandersetzung mit ihren rationalen Defiziten eine rein gedankliche sein muss, d. h. es folgt daraus, auf gut aufklärerische Art auf die Kraft der Überzeugung zu setzen. Schutz vor Zwangsmassnahmen bedeutet also nicht Schutz vor geistiger Auseinandersetzung; ebenso bedeutet Toleranz nicht, dass irrationale Ansprüche unangetastet bleiben und mit allgemeiner Nachsicht rechnen können, was von der Vernunft die Unmöglichkeit verlangte, die Erreichung ihres moralischen Endzwecks für gleichgültig zu halten oder einem Geschichtsverlauf zu überlassen, dem sie bloß zusehen könnte. Schutz und Toleranz bedeuten nur, dass der in der Sache unvermeidliche Konflikt auf rationale und nicht auf gewaltsame Art ausgetragen wird, es sei denn die historischen Glaubensarten verletzten ihrerseits, wozu sie aufgrund ihrer Verabsolutierungstendenz in der Tat neigen, die Rechtsordnung, wodurch staatlicher Zwang gegen sie legitimiert wäre. Ein nicht derart rechtlich legitimierter Angriff gegen die außerrationalen statutarischen Glaubensarten allerdings bedeutete, wie diese, wenn sie ihrer Neigung nachgeben, gegen die Einsicht zu verstoßen, dass innere Überzeugungen nicht erzwungen werden können. Vernunftreligion, die der Staat den historischen Religionen vorziehen muss, verlangt rein moralische Gesinnungen, die sich auf keine Weise äußerlich, erst recht nicht durch staatlichen Zwang, erzeugen lassen, sondern die einen autonomen Akt des moralischen Subjekts voraussetzen. Der projektierte Zustand der allgemeinen Geltung der moralischen Vernunftreligion ist als Zustand eines umfassenden Religionsfriedens gedacht. Es wäre widersinnig, die Friedenspflicht für den Prozess hin zu diesem Endzustand zu suspendieren. Der Prozess hin zur universellen Vernunftreligion ist also nur als ein

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Reformprozess denkbar, der auf fortschreitender Aufklärung beruht. Auf der Ebene der gedanklichen Auseinandersetzung aber muss sich die kritische Stimme solcher Aufklärung bemerkbar machen können und alle Gestalten von Religiosität am Maßstab der moralischpraktischen Vernunft messen. Ein letzter hier zu nennender Rat der philosophischen Fakultät für den Staat lautet also, immer auch für den Freiheitsraum der kritischen Beurteilung der religiösen Erscheinungen durch Vernunft zu sorgen, und dafür, dass diese sich öffentlich artikulieren kann.

Kant zum Verhältnis von Staat und Religion Philosophie beansprucht – und damit folge ich dem Philosophiebegriff Kants – immer dann ein originäres Mitspracherecht, wenn es über die zu verhandelnden Gegenstände, die auch Gegenstände anderer Wissenschaften sein mögen, etwas aus Prinzipien, am besten aus Prinzipien a priori bzw. aus reiner Vernunft, zu erkennen gibt. Anders ließe sich auch formulieren: wenn es dazu etwas strikt Universelles, das nicht bloß auf empirischer Induktion beruhen kann, zu sagen gibt. Insofern das nach Kant mit Bezug auf Staat und Religion der Fall ist, gibt es ihm zufolge also eine reine Vernunftidee vom Staat und eine reine Vernunftidee der Religion, die sich keiner zufälligen geschichtlichen Faktizität verdanken, nicht also dem quasi naturwüchsigen Auftreten von Staaten aus dem Ungefähr des historischen Geschehens, ebenso nicht dem wirklichen Vorkommen von in der Geschichte gestifteten Religionen. Die Entwicklung der Idee des Staats – um mit dieser zu beginnen – erfordert allerdings den Rückgang auf einen noch vorgängigen Begriff, von dem her sie erst zu deduzieren ist. Es ist der Begriff des Rechts, der seinerseits als ein rein vernunftursprünglicher zu denken ist, nicht also als abstrahiert aus den diversen Gestalten positiven Rechts. Durch den reinen Vernunftbegriff des Rechts ist nach Kant noch vor jedem Gedanken an den Staat eine Norm gedacht, die die Beziehungen unter den Menschen regeln soll, insofern diese als freie Wesen durch ihnen zuschreibbare Handlungen äußerlich aufeinander einwirken. Diese Norm kommt durch das von ihm formulierte ursprüngliche Rechtsprinzip a priori zum Ausdruck: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (MS, 06: 230). Dem Rechtsprinzip entsprechend lautet Kants Definition des Rechts: „Das Recht ist […] der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (MS, 06: 230). Handlungen außerhalb dieses Inbegriffs sind unrecht. Ersichtlich ist nach dem Rechtsprinzip jeder Person Freiheitsausübung zugesichert, andererseits aber durch die Bedingung, daß diese „nach einem allgemeinen Gesetz“ mit der Freiheitsausübung jeder anderen Person zusammenstimmen soll, auch eingeschränkt. Dem Rechtsprinzip gemäß hätte jede von ihnen eine gleiche Sphäre der Ausübung der Freiheit, die an der Freiheitssphäre der anderen ihre Grenze hat. Grenzverletzung bedeutete Rechtsverletzung. Wo nun Rechtsverletzung stattfindet, da ist nach Kant, und zwar gedeckt durch den Rechtsbegriff der Vernunft, die tätliche Abwehr dieser Verletzung erlaubt, d. h. der Rechtsbegriff beinhaltet eine Zwangsbefugnis (vgl. MS, 06: 232 f.). https://doi.org/10.1515/9783110788099-017

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Der illegitimen, die Rechtsordnung verletzenden Gewalt darf eine legitime, diese Ordnung wiederherstellende Gewalt entgegengesetzt werden. Den Rechtszustand, in dem das ersichtlich beiderseitig gewalttätige Wechselspiel zwischen der Rechtsverletzung und der Wiederherstellung des Rechts sich ohne den Staat entfaltet, d. h. nur unter den beteiligten Einzelnen, nennt Kant den „juridische[n] Naturzustand“ (RGV,06: 95). Der juridische Naturzustand ist also charakterisiert durch die Partikularisierung der Rechtsbeziehungen; hier ist, wie Kant es ausdrückt, „ein jeder sein eigener Richter“ (RGV, 06: 95). Diese Bindung des Rechts inklusive der Zwangsbefugnis an das Individuum birgt nun offensichtlich die Gefahr der unangemessenen Auslegung zum eigenen Vorteil und die Gefahr fortgesetzter wechselseitiger Gewaltausübung. Es ist daraus die Notwendigkeit des Staats ersichtlich. Gegen die genannten Gefahren ist nämlich eine Macht verlangt, die als überindividuelle jedem Einzelnen äußerlich ist. In Kants Worten: Verlangt ist eine „öffentliche machthabende Autorität“ (RGV, 06: 95). Diese soll den vereinigten Willen aller repräsentieren. Sie soll durch öffentliche Gesetze die mannigfaltigen Rechtsbeziehungen in einen Gesamtzusammenhang integrieren und die durch den Vernunftbegriff des Rechts geforderte Ausgewogenheit in den wechselseitigen Beziehungen unter den individuellen Freiheitssphären garantieren. Von dieser Skizze von Grundzügen der kantischen Staatstheorie her ist nun im Blick auf die angezielte Thematik des Verhältnisses zwischen Staat und Religion ein signifikantes Zwischenergebnis festzuhalten, das etwas darin Fehlendes betrifft. Was fehlt, ist jede Bezugnahme auf Gott und Religion. Das heißt: Kants Rechts- und Staatstheorie ist nicht theonom; sie kommt ohne religiöse bzw. theologische Voraussetzungen aus. Sie ist, positiv gesprochen, Ausdruck des Autonomiegedankens, d. i. der Gedanke der Selbstgesetzgebung durch Vernunft, was in unserem Kontext bedeutet, dass die Menschen kraft ihrer eigenen Vernunft von sich selbst fordern, in rechtlichen und schließlich in staatlichen Verhältnissen zu leben. Noch anders gesagt, ist der Staat im Sinne Kants entschieden säkularer Staat. Dabei bleibt es auch, wenn man hinzukommend zum Staat in der Idee, durch den das Formale vernünftiger Rechtsverhältnisse gedacht ist, den empirischen Staat in Betracht zieht. Der materiale Zweck des empirischen Staats ist die Wohlfahrt seiner Bürger unter den Aspekten, die nur kollektiv zu bewältigen sind, wozu etwa der Friedenszweck gehört. Auch der materiale Zweck des empirischen Staats hält sich in der Immanenz der säkularen, irdischen Wohlfahrt. Kant vertritt dezidiert die Ansicht, dass es „der Regierung Sache gar nicht sei, für die künftige Seligkeit der Untertanen Sorge zu tragen, und ihnen den Weg dazu anzuweisen“ (SF, 07: 59). Den Staat „säkular“ zu nennen, geht nach dem Gesagten allerdings nicht so weit, ihn als empirisch begründet anzusehen. Wenn man ihn – wie das etwa bei Thomas Hobbes der Fall ist – als empirisch begründet betrachtete, dann führte man ihn letztlich auf die vorfindliche physische Beschaffenheit der Menschen zurück. Da

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diese Beschaffenheit wesentlich die eines sinnlichen Bedürfniswesens ist, wäre sein Hauptzweck also, der vitalen Selbsterhaltung des Einzelnen und der Gattung zu dienen, ihre Bedürfnisbefriedigung möglichst zweckmäßig zu organisieren. Der Staat wäre so nicht Ausdruck reiner praktischer Vernunft, sondern bloß einer instrumentellen Vernunft, die sich dem physischen Bedürfnis unterordnete, selbst wenn sie es um der Bedürfnisbefriedigung willen für klug hielte, dass rechtliche Verhältnisse herrschten. – Bei Kant dagegen sollen Recht und Staat als Garant des Rechts nicht deshalb sein, weil sich mit ihnen die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse am effizientesten organisieren lässt, sondern weil die reine praktische Menschenvernunft die Norm setzt, dass freien Wesen eine Freiheitssphäre eröffnet werden muss, dass diese an der Freiheit der anderen ihre Grenzen finden muss und dass eine äußere machthabende Gewalt das garantiert. Dass hinzukommend zu diesem ideellen Zug der Staat als empirischer Staat auch noch materiale Zwecke im Blick auf das physische Wohl seiner Bürger verfolgt, ist von Kant durchaus anerkannt. Der empirische Staat tut dies übrigens mittels seiner wandelbaren positiven juridischen Gesetzgebung und durch die Handlungen seiner Exekutive. Doch dass in der Ordnung der Gesetzgebungen und der Zwecksetzungen die unwandelbaren rein vernunftrechtlichen Prinzipien die Priorität haben und dass der Staat in der Idee die Bedingungen und den Rahmen für den empirischen Staat setzt, ist nach Kant unverrückbar. Ungeachtet seines eigenen säkularen Status sieht der Staat sich in seinem Geltungsbereich doch mit den verschiedensten Erscheinungen von Religiosität konfrontiert, denen gegenüber er sich verhalten muss. Er muss sich für diese Erscheinungen interessieren, weil sie relevant hinsichtlich seiner eigenen Zwecke sein können. Sie können diese Zwecke unterstützen, ihnen zuwiderlaufen, sich aber auch gleichgültig dazu verhalten. Besonders interessiert den Staat nach Kant, was „die eingesetzte[n] Volkslehrer (in Schulen und auf Kanzeln)“ (SF, 07: 8) an religiösen Lehren verbreiten. Auf die Frage nun, von welcher Beschaffenheit aus dem Gesichtspunkt des Staats die religiösen Lehren sein sollten, um seinem ideellen Zweck zu nutzen, die Herrschaft des Rechts zu etablieren, lautet Kants einfache, allerdings erläuterungsbedürftige Antwort so: Dem Staatszweck der Rechtlichkeit der Verhältnisse unter den Menschen wäre am besten gedient, „wenn jene Lehre der Kirche geradezu auf die Moralität gerichtet sein würde“ (SF, 07: 60), wenn Kirche also nichts anderes als Moral lehrte. Abgesehen von der noch aufzugreifenden Frage, was Religionsgemeinschaften dafür qualifiziert, Moral zu lehren, stellt sich angesichts dieser These zunächst die noch allgemeinere Frage nach dem Verhältnis von Morallehren überhaupt zum Rechtsbegriff. Moralität und Legalität bzw. moralische Gesetze und Rechtsgesetze sind nämlich nicht in eins zu setzen. Was also unterscheidet moralische Gesetze von juridischen Gesetzen und warum muss der Staat als Inbegriff der Rechtsgesetze

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trotz des Unterschieds ein Interesse an der Wirksamkeit moralischer Gesetze nehmen? In der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant als Beispiel eines moralischen Gesetzes an (vgl. KpV, 05: 27), dass ein Depositum, ein anvertrautes Gut, unter allen Umständen wieder herauszugeben ist. Als moralische gilt diese Vorschrift unbedingt, also nicht etwa bloß unter der Bedingung einer Zwangsandrohung. Wenn ich die Vorschrift als eine moralische befolge, befolge ich sie aus dem Grund, weil ich sie mir selbst innerlich zur Pflicht mache, weil ich also, sie betreffend, mein eigener autonomer moralischer Gesetzgeber bin. Im Fall von juridischen Gesetzen sind sowohl Ursprung als auch Bedingungen ihrer Befolgung anders zu denken. Als Beispiel kann – bloß scheinbar paradox – das Gesetz zur Herausgabe von Deposita dienen. Auch wenn es dem Inhalt nach vom moralischen Gesetz nicht zu unterscheiden ist, tritt es im Verständnis eines juridischen Gesetzes doch auf ganz andere Weise auf. Als Gesetz staatlichen Rechts begegnet es von außen; zudem begegnet es in Verbindung mit der Befugnis, seine Befolgung zu erzwingen (vgl. MS, 06: 231). Damit aber wird die Furcht davor, Zwang zu erleiden, zu einem möglichen Motiv für rechtliches Verhalten. Dieses Motiv ist ersichtlich ein Motiv der Selbstliebe und kein moralisches, das auf der autonomen inneren Selbstverpflichtung kraft universeller praktischer Vernunft beruhen müsste, welche Selbstverpflichtung schon dem Begriff nach unmöglich durch äußeren Zwang herbeigeführt werden kann. Der Staat kann, eben weil er äußerer Gesetzgeber mit Zwangsbefugnis ist, die Moralität innerer Gesinnungen nicht bewirken und darf sie dementsprechend auch nicht bewirken wollen. Unter rein rechtlichem Gesichtspunkt muss es nach dem Gesagten genügen, wenn ein Depositum aus dem außermoralischen Motiv der Selbstliebe, den Zwang des Staats nicht erleiden zu wollen, herausgegeben wird. Anders gesagt, genügt unter rein rechtlichem Gesichtspunkt die bloße Legalität von Handlungen; ihre Moralität kann von Staats wegen nicht bewirkt und nicht eingefordert werden. Doch obwohl das so ist, kann und muss der Staat doch ein Interesse an der Moralität nehmen. Als Staat kann er zwar, um vom allgemeinen Rechtsprinzip zu sprechen, nur als äußerer Gesetzgeber mit Zwangsbefugnis garantieren, dass die Freiheitssphäre der Individuen nach einem allgemeinen Gesetz zugleich eröffnet, vor Läsion geschützt und eingeschränkt wird. Er muss dabei auf die Omnipräsenz seiner Zwangsandrohung setzen und zugleich damit rechnen, dass dort, wo sie nicht wahrgenommen wird, die Rechtsverletzung Raum greift. Wenn aber die Individuen das Rechtsprinzip nicht aus dem äußeren Grund der Zwangsandrohung akzeptieren, sondern wenn sie es sich selbst durch einen autonomen Akt der Selbstverpflichtung auferlegen, wenn sie es also zum moralischpraktischen Gesetz erheben, ist die Geltung des Prinzips aus einem verlässlicheren und stärkeren Grund garantiert, als es die Zwangsandrohung ist.

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An dieser Stelle kann als begründet gelten, warum der Staat, obwohl er durch sein eigenes Handeln bloß Legalität und nicht Moralität befördern kann, doch daran interessiert ist, dass in seinem Geltungsbereich Moral gelehrt werde. Wenn sie durch Kirchen gelehrt wird, gilt dabei selbstredend, dass diese sie ihrerseits ohne Zwangsandrohung werden lehren müssen. Ihre Lehren werden nur Appell und Angebot zu jener autonomen Selbstverpflichtung sein dürfen, die für Moralität konstitutiv ist. Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Kirchenlehren, wenn sie rein moralische Lehren sind, sind der Intention des Staates, die die Intention rechtskonformer Handlungen ist, förderlich. Moralkonforme Handlungen sind immer auch vernunftrechtskonforme Handlungen, was allerdings nicht auch umgekehrt gilt. Es ist nun nach Kants Moralphilosophie nicht unmittelbar einsichtig und scheint dieser auf den ersten Blick sogar zu widersprechen, wenn Kirchen als Quellen von Morallehren angenommen werden. Denn den Kern dieser Philosophie bildet die These von der Autonomie der Moral, wonach der Mensch kraft reiner praktischer Vernunft, also ohne jede heteronome Bestimmung, sich selbst zur Moralität verpflichtet. Diese reine praktische Menschenvernunft ist und bleibt nach Kant die originäre Quelle von Moral. Dementsprechend setzt er zu Beginn seiner Religionsschrift sogleich ein Vorzeichen, das in seiner ganzen Religionsphilosophie nirgends relativiert oder gar außer Geltung gesetzt wird: Moral „bedarf […] zum Behuf ihrer selbst […] keineswegs der Religion“ (RGV, 06: 3). Und dennoch ist es nach Kant möglich, zusätzlich auch Religion als Quelle der Moral anzuerkennen, welche dann allerdings nur den Rang einer sekundären Quelle wird haben können und welche den Moralitätsbedingungen wird genügen müssen, die durch die vorgeordnete reine praktische Menschenvernunft gesetzt sind. Auch noch Religion als Quelle von Moral zu betrachten, beruht darauf, exakt dieselben moralischen Gesetze, die reine praktische Vernunft schon sich selbst gibt, hinzukommend noch als göttliche Gebote zu betrachten. In seiner Metaphysik der Sitten erläutert Kant diesen Akt der Übertragung der dem Menschen immanenten moralischen Gesetzgebung auf einen göttlichen Gesetzgeber so, dass Vernunft sich „die Idee von Gott […] selber macht“ (MS, 06: 487), um sich durch diese Veräußerlichung ein Veranschaulichungsbedürfnis zu erfüllen: „Wir können uns nämlich Verpflichtung (moralische Nötigung) nicht wohl anschaulich machen, ohne einen anderen und dessen Willen (von dem die allgemein gesetzgebende Vernunft nur der Sprecher ist), nämlich Gott, dabei zu denken“ (MS, 06: 487). Eine auf die skizzierte Art verstandene Religion, Kant nennt sie die reine moralische Vernunftreligion, ist offensichtlich von allen historischen Erscheinungsformen von Religion unterschieden. Sie ist derart reduziert und minimalistisch, dass sie nichts anderes lehrt als praktische Vernunft, nämlich reine universelle Moral. Das einzige Zusätzliche in ihr ist, dass sie die moralischen Gesetze auch noch

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als göttliche Gesetze versteht, woraus sich aber keine zusätzlichen Pflichten ergeben. Anknüpfend an das schon erzielte Ergebnis, dass der Staat daran interessiert ist, dass in Kirchen nur Moral gelehrt werde, kann jetzt festgehalten werden, dass damit sein Ideal einer Kirche die Kirche der reinen moralischen Vernunftreligion ist. Das aber impliziert zugleich ein distanziertes Verhältnis des Staats zu den historischen Religionen, die jetzt näher zu betrachten sein werden. Die Kirchen der historischen Religionen lehren weit mehr als Moral. Was sie an außermoralischen Vorschriften lehren, ist von Kant durch den Ausdruck „statutarisches Gesetz“ zusammengefasst. Darunter sind religiöse Gesetze zu verstehen, die etwas vorschreiben, was für reine praktische Vernunft unverständlich bleibt, was ihr willkürlich und zufällig vorkommt, dem also kein moralischer Gehalt zugesprochen werden kann. Es soll gelten, nur weil es auf göttlicher Setzung, auf Offenbarung, auf einer faktischen geschichtlichen Selbstmitteilung Gottes, beruht; etwa dass an jedem 7. Tag Gott verehrt werden soll, dass nur koscheres Fleisch gegessen werden darf, dass der Gläubige einmal im Leben nach Mekka pilgern soll und sehr vieles mehr. Aus dem Gesichtspunkt der reinen moralischen Vernunftreligion sind alle religiösen statutarischen Gesetze und überhaupt alle religiösen Erscheinungen, die keine Beziehung zu moralischpraktischer Vernunft haben, überflüssiges Beiwerk. Es ist schon daraus ersichtlich, dass diese Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft keine jüdische, christliche oder islamische wird sein können, welche alle durch spezifische statutarische Gesetzgebungen geprägt sind, sondern dass sie als strikt universelle zu denken ist. Doch wie verhalten sich jene außerrationalen religiösen Erscheinungen zu den Zwecken des Staats? Wie sollte der Staat ihnen begegnen? Die Antwort fällt zweiseitig aus und lässt sich vorweg etwa so in Thesen ausdrücken: 1. Der Staat muss, obwohl er, wie gesehen, um seiner selbst und seines Rechtsprinzips willen eine rein moralische und nichtstatutarische Vernunftreligion favorisieren muss, die außerrationalen Gestalten von Religion, also etwa das Judentum, das Christentum und den Islam ihren vielfältigen statutarischen Anteilen nach, doch dulden und schützen. 2. Der Staat sollte eben diesen statutarischen Anteilen gegenüber, die das Spezifische, sozusagen das Antiuniversalistische der Religionsgemeinschaften ausmachen, zugleich höchst wachsam sein, weil in ihnen nicht bloß zufällig, sondern notwendigerweise ein Potential für Streit und Gewalt enthalten ist und sie demgemäß eine mögliche Gefahr für das Staatsziel der Wahrung der Rechtsordnung und für das der Friedenserhaltung darstellen. Um mit der Erläuterung der positiven These zu beginnen, die das Toleranz- und Schutzgebot bzw. das Gebot der Religionsfreiheit ausdrückt, so leiten sich diese Gebote daraus ab, dass der Staat säkularer Staat ist und, wie gehört, die Bemühung um das ewige Seelenheil nicht in seine Zuständigkeit fällt. Sie ergeben sich aber

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auch aus dem Rechtsprinzip, auf das der Staat verpflichtet ist. Denn wenn nach diesem Prinzip „jede Handlung […] recht [ist], die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ (MS, 06: 230), dann ist die dadurch eröffnete Freiheitssphäre nicht nur für solche Handlungen eröffnet, die das Prädikat der Rationalität verdienen, sondern auch für jede Art außerrationalen Handelns, durch die keine fremde Sphäre der Freiheitsausübung lädiert wird. Im selben Zusammenhang, in dem Kant im Streit der Fakultäten den pietistischen Gefühlsglauben seiner Zeit, den Antipoden des Vernunftglaubens, kritisiert, weil dieser seinem kritischen Erfahrungsbegriff entgegen ein Mystizismus und Illuminatismus sei, der privatsubjektive innere Gotteserfahrungen präsumiere, der seinem Wesen nach gesellschaftlich atomisierend wirke und sich gegen eine öffentliche intersubjektive Verständigung immunisiere (vgl. SF, 07: 60 u. 07: 46), verlangt er, diese Sekte des Gefühlsglaubens staatlicherseits zu dulden und zu schützen. Über ein solches Zulassen des außerrational Religiösen und über die Gewährung von Schutz hinaus, wenn es sich im Rahmen der vernunftrechtlichen Ordnung hält, kann der Staat sich den historischen Religionen allerdings nicht annähern. Im Gegenteil ist ihm durch die philosophische Fakultät, seiner Ratgeberin, die Wahrung einer skeptischen Distanz nahe gelegt. Denn die historischen Kirchen in ihrer Orientierung an der Faktizität einer vermeinten Selbstmitteilung Gottes und an der Faktizität einer diese Mitteilung fixierenden Heiligen Schrift haben nach Kant die Tendenz, diese vermeinten Fakten, die in ihrer Sicht an Autorität nicht zu überbieten sind, da sie ja einen göttlichen Ursprung haben sollen, gegen eine Überprüfung durch Vernunft zu immunisieren. Kant schreibt dem „theologischen Fache“ den Hang zur Annahme zu, „daß buchstäblich „Glauben“, ohne zu untersuchen (selbst ohne einmal recht zu verstehen), was geglaubt werden soll, für sich heilbringend sei“ (SF, 07: 31). Dem setzt er den Primat der reinen praktischen Vernunft entgegen, die er auch als das Göttliche in uns bezeichnet (vgl. SF, 07: 48). Ihr, eben weil sie das Göttliche in uns ist, kommt die Beurteilungskompetenz zu, alles, was uns mit dem Anspruch entgegentritt, göttlichen Ursprungs zu sein, also etwa Heilige Schriften, daraufhin zu qualifizieren, ob es einsichtig zu machen ist oder nicht. Im Fall rein moralischer Lehren spricht nichts gegen ihre Göttlichkeit; vor den statutarischen Vorschriften ohne moralischen Gehalt steht reine praktische Vernunft dagegen verständnislos, kann sich also nicht erklären, warum Gott das Jeweilige, etwa nur ihm gewidmete Gottesdiensthandlungen, von uns fordern sollte; im Fall von amoralischen Gehalten beansprucht Vernunft sogar, der Göttlichkeit der Anweisungen explizit zu widersprechen. So kann für sie z. B. die Anweisung an Abraham, seinen Sohn zu töten, keine göttliche sein. Insgesamt verweigert die philosophische Fakultät, der nach Kant die Rolle der Sachwalterin reiner praktischer Vernunft und eben der Ratgeberin des Staats zukommt, einer ungeprüften

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bloßen Faktizität von erhobenen Ansprüchen, wie sie sich in den statutarischen Vorschriften von Kirchen ausdrücken, ihre Anerkennung. Sie legt dem Staat nahe, davon Abstand zu nehmen, diese Vorschriften zu sanktionieren, d. h. sie mit dem Gütesiegel anerkannter Lehren zu versehen. Aus der Gleichsetzung der Religionslehren, die der Prüfung durch Vernunft standhalten, mit der Lehre moralischer Gesetze folgt ein weiterer philosophischer Rat hinsichtlich dessen, wie sich der Staat zu einer bestimmten Art von Lehre verhalten möge, die für historische Religionen aufgrund ihrer Akzentuierung eines durch und durch abhängigen Menschen charakteristisch ist. Es ist die Art von Lehre, die sich „mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der ganzen Moral unvereinbar findet“ (SF, 07: 41), der gegenüber Skepsis anzuraten ist und die also nicht in den Kanon der staatlich zertifizierten Religionslehren aufgenommen werden sollte. Kants Beispiel für eine solche ist die Lehre von der „Gnadenwahl“ und der „Prädestination“ (SF, 07: 41), wie sie von Paulus vertreten worden ist. Sie stellt den Menschen als ganz passives Objekt göttlicher Einwirkung dar und hebt eben gerade jene Zuschreibbarkeit von Handlungen auf, die sowohl Moral als auch der Staat voraussetzen müssen, der letztere im Blick auf seine Bürger als freie Rechtssubjekte, die er im Prinzip als Täter ihrer Taten voraussetzt. Wenn Kant einerseits die Forderung nicht aufgibt, zum reinen Vernunftglauben überzugehen, der kein christlicher, kein muslimischer und kein jüdischer wird sein können, sondern, wenn vorhanden, nur das universelle Kondensat des rein Moralischen aus ihnen übrig lassen wird, und wenn er andererseits fordert, das faktische geschichtliche Vorkommen dieser partikularen Religions-erscheinungen zu tolerieren und vor Zwang zu schützen, dann folgt daraus, dass die Auseinandersetzung mit ihren rationalen Defiziten eine rein gedankliche sein muss, d. h. es folgt daraus, auf gut aufklärerische Art auf die Kraft der Überzeugung zu setzen. Schutz vor Zwang bedeutet also nicht Schutz vor geistiger Auseinandersetzung; ebenso bedeutet Toleranz nicht, dass Immunisierungsstrategien und Legitimationsverweigerungen anerkannt werden könnten, dass also irrationale Ansprüche unangetastet bleiben und mit allgemeiner Nachsicht rechnen könnten. Das zu tun hieße, Religion in toto als Phänomen des Irrationalismus anzuerkennen und Rationalitätsansprüche von vornherein nicht an sie heranzutragen. Schutz und Toleranz im hier entwickelten Sinn dagegen bedeuten nur, dass die in der Sache unvermeidliche intellektuelle Auseinandersetzung auf rationale, und deshalb übrigens auch auf öffentliche Art, nicht aber gewaltsam ausgetragen wird. Kant denkt also den Prozess hin zu der einen einzigen Universalreligion aus reiner praktischer Vernunft, der letzten Endes mangels streitender Parteien zu einem umfassenden Religionsfrieden führte, als einen Reformprozess fortschreitender Aufklärung. Dass der Staat dabei auch den Freiheitsraum für die kritische Stimme solcher Aufklärung zu schützen hat, die alle Gestalten von Religiosität am Maßstab

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der moralischpraktischen Vernunft misst, ist selbstverständlich und liegt, wie gesehen, sogar im ureigenen Interesse des Staats. Obwohl nach dem Gesagten, wenn es um die Zielvorstellung des Staates geht, welche Art von Religiosität ihm am günstigsten wäre, dieses Ziel in einer rein moralischen Religion bestünde, die gar keine spezifisch religiösen Erscheinungen mehr hervorbrächte, weil die Befolgung der moralischen Gesetze als göttlicher Gebote vollkommen identisch wäre mit der Befolgung dieser Gesetze als Ausdruck bloß der reinen praktischen Menschenvernunft, projektiert Kant dieses Ziel doch nicht so, dass Religion, jetzt reine Vernunftreligion, gar nicht mehr zum Erscheinen käme. Er nennt die noch verbleibende Kirche in diesem anvisierten Endzustand zwar unsichtbare Kirche, weil in der Tat die von den statutarischen Gesetzen ausgehenden Erscheinungen, z. B. Gottesdienste, entfallen und auch die Moralität von Gesinnungen nichts Sichtbares ist, doch denkt er sie eben immer noch als Kirche. Das bedeutet, dass er sie als real institutionalisierte menschliche Gemeinschaft denkt. Diese Gemeinschaft bedarf „einer öffentlichen Verpflichtung, einer gewissen auf Erfahrungsbedingungen beruhenden kirchlichen Form“ (RGV, 06: 105). In dieser öffentlichen Kirche gäbe es zwar keine Priester innerhalb einer hierarchischen Verfassung mit einem vermeintlich privilegierten Zugang zum sich geoffenbart habenden Gott, aber es gäbe noch „Lehrer“ und „Seelenhirten“ (RGV, 06: 101), welche an nichts als an den allgemeinen moralischen Gesetzen orientiert wären. Zur Art ihrer Lehre ist zu ergänzen, dass durch diese nichts Fremdes und Unverständliches mitgeteilt würde, sondern dass sie bloß Anlass gäbe, die moralischen Begriffe und Grundsätze aus der eigenen Vernunft zu entwickeln. Aus dem Gesichtspunkt des Staates ist der Punkt der Institutionalisierung und der Öffentlichkeit der verbleibenden Kirche der Vernunftreligion von erheblichem Interesse, weil eine völlig im Verborgenen wirkende Religiosität sich „dem Einfluß der Regierung gänzlich entzieht“ (SF, 07: 60). Es ist an dieser Stelle daran zu erinnern, dass dieser Einfluss der Regierung nach der Idee des Staats keiner zu partikularen und willkürlichen Zwecken sein sollte, sondern als Ziel die Rechtskonformität der Bürger hat. Obwohl nun bis hierhin für begründet gelten kann, warum der Staat im eigenen Interesse Vernunftreligion favorisieren muss und warum er aus diesem Interesse an der Herrschaft des Vernunftrechts mit distanziertem Unverständnis vor den statutarischen Gesetzgebungen der historischen Religionen stehen muss, ist die Brisanz seines Verhältnisses zu diesen Religionen noch nicht ausreichend entwickelt. Warum er sich ihnen gegenüber nicht bloß als neutraler Beobachter und gegebenenfalls als Beschützer verhalten kann, sondern er sich auch selbst vor ihnen schützen muss, liegt an der Natur ihrer statutarischen Gesetze, die über ihren außerrational unverständlichen Charakter hinaus, welcher als harmlos betrachtet und mit Gleichgültigkeit hingenommen werden könnte, ein erhebliches friedens-

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störendes Potential besitzen. Der Friedenszweck aber ist ein Hauptzweck des vernunftrechtlich verfassten Staates. Über historische Glaubenslehren kann nach Kant „der Streit nicht vermieden werden“ (RGV, 06: 115). Eine jede der historischen Religionen hält nämlich „für kein Gesetz, was nicht das ihrige ist“ (SF, 07: 50), und besteht damit auf der Exklusivität ihrer eigenen als gottursprünglich vermeinten statutarischen Gesetze. Die einem statutarischen Glauben anhängenden Völker „benennen andere Völker, die nicht eben dieselbe[n] kirchlichen Observanzen haben, mit dem Titel der Verwerfung“ (SF, 07: 50 Anm.). Aus dem Gesichtspunkt ihrer vermeinten Exklusivität liegt das auch nahe, denn dem anderen Glauben muss unter dieser Voraussetzung nicht weniger als eine unberechtigte Berufung auf Gott bzw. die fälschliche Annahme seines Ursprungs in einer wirklichen geschichtlichen Offenbarung unterstellt werden. Die Mehrzahl der vermeinten Quellen statutarischer Gesetze, d. h. die Mehrzahl der beanspruchten Offenbarungen, und die Vielzahl der auf jede von ihnen zurückgeführten Gesetze bergen zudem die Gefahr, dass gewisse Regelungsbereiche jeweils anders geregelt sind, und sei es auch nur, dass etwa andere Tage als Tage zur Gottesverehrung oder andere Regeln zum Fleischverzehr festgesetzt sind. Die Inkonsistenz der Regeln also wird zum Problem, und zwar zu einem bei aller scheinbaren Geringfügigkeit zuhöchst bedeutungs- und affektgeladenen, denn der Ursprung der jeweiligen widersprüchlichen Anweisungen soll, wie peripher ihr Gehalt auch scheinen mag, doch jedes Mal kein geringerer als Gott sein. Der Streit mag also ein Streit um objektive Belanglosigkeiten sein, sein aggressives Potential unter dem Aspekt der subjektiven emotionalen Intensität ist dagegen nicht zu überbieten, weil diese sich nicht aus dem Inhalt des jeweiligen Statuts speist, sondern daraus, dass es ein durch Gott gesetztes sein soll. Da Gott keine widersprüchliche Gesetzgebung unterstellt werden kann, da zugleich aufgrund des außervernünftigen Ursprungs der Gesetze ein auftretender Widerspruch prinzipiell durch Vernunft nicht zu lösen ist, liegt nahe, ihn durch Machtspruch zugunsten der eigenen historischen Glaubensart zu lösen, dem die andere sich unterwerfen soll. Tut sie es nicht, dann liegt eben aufgrund der Unmöglichkeit rationaler Entscheidung die Anwendung von Gewalt in der Konsequenz der Durchsetzung des eigenen Exklusivitätsanspruchs. Der Weg jedenfalls, die Inkonsistenzen unter den statutarischen Gesetzen verschiedener Religionen durch menschliche Bemühung zu beseitigen, durch Konsensbildung etwa oder durch Verzicht auf ein inkriminiertes Statut, bleibt versperrt, denn wie sollte außervernünftig göttlich Geoffenbartes durch Menschen modifiziert werden können. Im Rahmen des Offenbarungsparadigmas wäre neue Offenbarung erforderlich, die aber durch Menschen schon dem Begriff nach nicht verfügt werden kann. Der folgende kantische Befund ist in den skizzierten prinzipiellen Zusammenhängen begründet, beruht also nicht bloß auf Beobachtungen in Hinsicht auf

Kant zum Verhältnis von Staat und Religion

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einen zwar bedauerlichen Geschichtsverlauf, der aber innerhalb des konzeptionellen Rahmens der historischen Religionen verbesserungsfähig wäre. Der Befund bezeichnet eine in der Eigenart der historischen Religionen liegende unlösbare Problematik. Er lautet: Wenn nun eine Kirche sich selbst, wie gewöhnlich geschieht, für die einige allgemeine ausgiebt (ob sie zwar auf einen besonderen Offenbarungsglauben gegründet ist, der als historisch nimmermehr von jedermann gefordert werden kann): so wird der, welcher ihren (besondern) Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehaßt; der nur zum Teil (im Nichtwesentlichen) davon abweicht, ein Irrgläubiger und wenigstens als ansteckend vermieden. Bekennt er sich endlich zwar zu derselben Kirche, weicht aber doch im Wesentlichen des Glaubens derselben (was man nämlich dazu macht) von ihr ab, so heißt er, vornehmlich wenn er seinen Irrglauben ausbreitet, ein Ketzer und wird so wie ein Aufrührer noch für strafbarer gehalten als ein äußerer Feind und von der Kirche durch einen Bannfluch […] ausgestoßen, und allen Höllengöttern übergeben […]. (RGV, 06: 108 f.)

Es ist nach all dem nicht verwunderlich, wenn Kant befindet, es sei „wenig Hoffnung vorhanden“, eine „Glaubenseinheit […] in einer sichtbaren Kirche zu Stande zu bringen, wenn wir hierüber die menschliche Natur befragen“ (RGV, 06: 123 Anm.). Für den dem Rechtsprinzip verpflichteten Staat in seiner friedenswahrenden Absicht sind nach dem Gesagten die statutarischen Anteile der historischen Religionen anders als ihre etwaigen vernunftreligiösen Anteile, die nur aus moralischen Gesetzen bestehen können, alles andere als günstig, so dass er im Interesse seines Friedensziels und der Wahrung seiner Rechtsordnung darauf zu achten hat, das Konfliktpotential der statutarischen Glaubensarten nicht zum Ausbruch kommen zu lassen. Kants Gesamturteil zur religiös motivierten Gewalt und zu den religiös motivierten Kriegen in der Geschichte lautet: Es „sind die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anderes als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (RGV, 06: 108). Der Kirchenglaube bzw. die Kirchenglaubensarten aber erhalten ihre konfliktträchtige Spezifik eben durch jene statutarischen Gesetze, die aus Vernunft nicht zu entwickeln sind, die also keine im Menschen gründenden vernunftrechtlichen juridischen Gesetze oder aus der Autonomie der Menschen-vernunft entspringenden moralischen Gesetze sind, die dieser also als willkürlich, fremd und zufällig erscheinen müssen. Zwar sind auch die Gesetze des positiven staatlichen Rechts nicht a priori aus Vernunft zu deduzieren, doch sind diese zumindest pragmatischen Zweckmäßigkeitserwägungen zugänglich, erlauben Konsens und Kompromiss und sind insgesamt, weil von Menschen gemacht, auch durch Menschen zu verändern möglich. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn Vernunft – in Gestalt der Philosophie – dem auf das Rechtsprinzip und auf das Friedensziel festgelegten Staat

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nicht raten kann, sich mit einer der historischen Glaubensarten zu identifizieren und sich deren partikulare Satzungen zu Eigen zu machen, sondern wenn sie als wünschenswertes Ziel die, so Kant, „Verlassung aller alter Satzungslehren“ (SF, 07: 53) nahelegt, und zwar nicht in Absicht auf die Vernichtung aller Religion, sondern um der Etablierung der einen universellen Vernunftreligion willen, die keine statutarischen religiösen Gesetze mehr kennt, sondern nur noch moralische. In diesem Sinne formuliert Kant das Ziel, dass „unter Begünstigung der Regierung“ die Zeit uns „der Religion selbst […] näher bringen werde“, wobei er für den Glauben dieser Vernunftreligion die Bedingung aufstellt, dass es „nicht ein Glaube sein muß [lies: darf ], Gott sich durch etwas anderes, als durch reine moralische Gesinnung günstig zu machen“ (SF, 07: 52).

Eine neuere Religionsauffassung im Licht einer älteren Habermas und Kant Unsere Zeit bietet wieder verstärkt Anlass, über Religion nachzudenken. Dass diese Einschätzung von nicht wenigen geteilt wird, zeigt sich auch am Anwachsen religionsphilosophischer Literatur speziell im letzten Jahrzehnt. Zu den am aufmerksamsten wahrgenommenen Diskussionsteilnehmern gehört zweifellos Jürgen Habermas. Im Ausgang von einer, wie ich meine, weitgehend zutreffenden deskriptiven Charakteristik des gegenwärtigen weltweiten Religionszustandes hat er in zahlreichen Schriften eine erwägenswerte Deutung des Wiederauflebens religiöser Erscheinungen und eine normative Theorie zu ihrer systematischen Verortung vorgelegt. Zusammengefasst, lautet sein Befund zur Situation: „Es sind vor allem drei, einander überlappende Phänomene, die sich zum Eindruck einer weltweiten resurgence of religion verdichten: die missionarische Ausbreitung großer Weltreligionen (a), deren fundamentalistische Zuspitzung (b) und die politische Instrumentalisierung ihrer Gewaltpotentiale (c).“¹ Obwohl Habermas erkennbar nicht blind gegenüber den pathologischen Zügen der Religionen ist – übrigens auch nicht gegenüber deren Auswüchsen in der Geschichte –, beinhaltet seine intellektuelle Reaktion auf die skizzierte Situation doch vor allem eine Apologie des Religiösen. Er entwirft in seinen Schriften in bester friedensstiftender Absicht ein Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem Religion ihren Platz hat und haben soll, selbstverständlich ohne jene fundamentalistische Zuspitzung und ohne Gewaltpotential. Es ist das Modell einer Balance zwischen den Ansprüchen säkularer Bürger einerseits, zu denen Habermas sich selbst zählt, und religiöser Bürger andererseits; zudem soll es auch Modell für friedliche Verhältnisse der Religionen untereinander sein. Neben den religiösen Fundamentalisten gilt Habermas’ Kritik in gleichem Maße den sogenannten Säkularisten, die er von den gemäßigteren Säkularen dadurch unterscheidet, dass sie das Verschwinden der Religionen nicht bloß voraussagen, sondern sogar propagieren.² Für Säkularisten, so seine Kritik, sei Religion, „kognitiv betrachtet, eine historisch überwundene ‚Gestalt des Geistes‘“³, ein „aus vormodernen Gesellschaften in die

1 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft. Philosophische Texte, Bd. 5. Frankfurt a. M. 2009, 388. 2 Vgl. Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 392. 3 Habermas, Jürgen: „Die Dialektik der Säkularisierung“. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2008, 43. https://doi.org/10.1515/9783110788099-018

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Gegenwart hineinreichendes Relikt“⁴ ohne innere Berechtigung. Die Einstellung von Säkularisten gegenüber der Religion könne so – die Trennung von Kirche und Staat und das Recht auf Religionsfreiheit vorausgesetzt – allenfalls die Einstellung eines „schonenden Indifferentismus“⁵ sein und „nicht mehr als einen modus vivendi gewährleisten“⁶. Den die positiven Gehalte der Religionen verfehlenden Säkularismus sieht Habermas auf zweifache Weise ausgeprägt: zum einen auf die Weise eines Naturalismus, der das naturwissenschaftliche Denken verabsolutiert und es derart zu schlechter Metaphysik werden lässt⁷, zum anderen aber auch durch das aufklärerische Konzept der „Autonomie der Vernunft“, das besage, „daß der Glaube zum Weltwissen nichts mehr beitragen kann“⁸, und das speziell praktische Vernunft als „konstruktive Vernunft“ begreife, „die alle normativen Gehalte aus sich selbst schöpft“⁹. Mit dieser Position identifiziert Habermas – und das nicht zu Unrecht – Kant. Ihm hält er entgegen, dass die autonome Vernunft dem durch die historischen Religionen dargebotenen „fremden Anderen nicht auf Augenhöhe“¹⁰ begegne, was näherhin heißt, dass sie über die moralischen Intuitionen und normativen Gehalte „aus erlösungsreligiösen Offenbarungswahrheiten“¹¹ hinwegsehe und überhaupt verkenne, dass die geschichtlichen Religionen Bedingungen der Genese der Vernunft selbst seien.¹² Auch wenn Habermas, wie noch näher zu sehen sein wird, in Absicht auf einen gelingenden gesellschaftlichen Diskurs dafür plädiert, jene moralischen Intuitionen und normativen Gehalte aus Offenbarungswahrheiten von der Ebene der religiösen Sprache auf die Vernunftebene öffentlich zugänglicher Sprache zu heben, wird doch deutlich, dass er der religiösen Ebene nicht bloß den Charakter des Anlasses für vernünftige Reflexion zuschreibt, sondern dass er historische Religion, die sich auf Offenbarung beruft, als Quelle sui generis für Normativität und moralische Wahrheit betrachtet, als Quelle also, die durch Vernunft nicht zu ersetzen sei. Entsprechend gilt seine Skepsis einer Vernunft, die eigenmächtig und mittels eines allein aus sich erzeugten normativen Wissens an die historischen Religionen her-

4 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 145. 5 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 145. 6 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 402. 7 Vgl. Habermas, Jürgen: „Die Dialektik der Säkularisierung“ (wie Anm. 3), 44. 8 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 403. 9 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 404. 10 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 404. 11 Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 406; vgl. auch Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 137 u. ö. 12 Vgl. Habermas, Jürgen: The Holberg Prize Seminar 2005. Holberg Prize laureate professor Jürgen Habermas: Religion in the Public Sphere. Hrsg. vom Holberg Prize Seminar 2005. Bergen. 2005, 17.

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antritt, um zu entscheiden, was an ihnen als vernunftkonform bestehen bleiben kann und was als unvernünftig zu verwerfen ist. Dass Kant als ein Hauptadressat solcher Skepsis wird gelten müssen, lässt sich leicht durch die Erinnerung an dessen oberste Autorität in der Auslegung aller Offenbarungsschriften vergegenwärtigen. Diese ist keine andere als reine praktische, d. h. moralischpraktische Vernunft beziehungsweise der rein rationale Religionsglaube. Dass durch diesen letzten Ausdruck Vernunftreligion, also immerhin Religion, als Auslegerin von Offenbarungsreligion bezeichnet ist, mildert den hier herausgestellten Gegensatz nicht. Denn Vernunftreligion ist von Kant allein aus moralischem Bewusstsein entwickelt und von etwaigen geoffenbarten Wahrheiten historischer Religionen, d. h. von dem von Habermas verteidigten fremden Anderen dieser Religionen, ganz unabhängig. Wenn nun ein Säkularist ein solcher ist, der keine vernunftexterne, in positiver Religion begründete moralische Normativität anerkennt und darüber hinaus die Zielvorstellung des Verschwindens solcher Religion hegt, dann ist Kant nach Habermasschen Maßstäben inklusive seines Lehrstücks von der Vernunftreligion ein Säkularist – ein nicht-naturalistischer selbstverständlich. Denn Vernunftreligion ist rein immanente ideelle Religion, die sich dem Inhalt nach, so Kant, „nicht […] in irgend einem Stücke von der Moral [unterscheidet]“ (SF, 07: 036.22 f.), nur der Form nach, nämlich in dem Punkt, dass autonome Vernunft den moralischen Gesetzen noch die zusätzliche Beziehung auf „die Idee von Gott“ gibt, das ist eine Idee, die Vernunft, so wieder Kant, „sich selber macht“ (MS, 06: 487.10 f.). Den positiven historischen Religionen, die sich auf empirische Faktizität des Göttlichen berufen, versagt Kant sogar die Bezeichnung ‚Religion‘; er nennt sie durchgängig bloß kirchliche Glaubensarten. Habermas selbst ordnet Kant übrigens nicht den Säkularisten zu, doch mit der bezweifelbaren Begründung, bei Kant finde sich der uneingestandene Beleg der Schwäche der Vernunftmoral, etwa in der Lehre vom Postulat der Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens, das aus reiner praktischer Vernunft nicht zu entwickeln sei.¹³ Auch gehe sein Konzept der Vernunftreligion in Wahrheit nicht aus reiner praktischer Vernunft hervor, wie an dem darin zentralen Begriff des höchsten Guts zu sehen sei.¹⁴ Beide Lehrstücke hätten eine außerhalb der Menschenvernunft gelegene „epistemische Anregung“ zur notwendigen Bedingung, nämlich den „historischen Vorschuss, den die positive Religion mit ihrem unsere Einbildungskraft stimulierenden Bilderschatz liefert“; so sei der Begriff des ethischen Gemeinwesens von Kant nur aus der christlichen „Metapher einer Gottes-

13 Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 230 f. 14 Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 223 ff.

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herrschaft auf Erden philosophisch ausbuchstabiert“¹⁵. Die Argumente und Gegenargumente zu diesen Lehrstücken, ihre Vernunftimmanenz oder ihre Abhängigkeit von positiver Religion, gar von ihrem Bilderschatz, betreffend, sollen hier nicht im Einzelnen erwogen werden, auch weil Habermas von anderen in diesen Punkten bereits überzeugend widersprochen wurde, an erster Stelle von Rudolf Langthaler ¹⁶ und Herta Nagl-Docekal¹⁷. Es soll aber doch gesagt sein, dass es der kantischen Vernunftkonzeption völlig entgegenliefe, wenn eine außermenschliche anonyme, quasi naturwüchsige und ursprünglich unbekannte Vernunft waltete, ob in einem Bilderschatz versteckt oder nicht, der gegenüber die menschliche Vernunft bloß passiv sein könnte und von der her sie durch Ablernen und Ausbuchstabieren mit normativen Gehalten und moralischen Anforderungen erst bekannt würde. Bei einer solchen Nachträglichkeit der menschlichen Vernunft zum sittlich Gebotenen könnte dieses nie zur ureigenen inneren Angelegenheit der Menschenvernunft werden. Mag auch der Inhalt der fremden Aufforderung ein objektiv moralischer sein, wie z. B. ein auf einer Gebotstafel vorgefundenes Lügenverbot, ohne inneren, d. h. bei nur äußerem Geltungsgrund könnte das Gebot nur den Charakter eines statutarischen Gesetzes haben, einen zufälligen und willkürlichen Charakter also, so dass kraft eigener Einsicht nicht vollzogen werden könnte, warum etwa nicht gelogen werden sollte. Nach Kant zeigt sich an demjenigen, an dem sich das Bedürfnis nach einem äußeren Ursprung der Moral vorfindet, nicht bloß ein relatives Defizit, sondern ein völliges moralisches Vakuum, das Kant diesem Bedürftigen sogar als dessen „eigene Schuld“ zurechnet, nämlich als die Schuld, sich nicht „selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze“ zu binden. Diesem Mangel autonomer Selbstverpflichtung kann ihm zufolge durch „nichts anders abgeholfen werden“, das heißt: „was nicht aus ihm [dem Menschen] selbst und seiner Freiheit entspringt, [gibt] keinen Ersatz für den Mangel seiner Moralität“ (RGV, 06: 3). Allein durch autonome Selbstverpflichtung ist Moral die Angelegenheit des Menschen selbst; d. h. nur so kann er im Selbstverständnis stehen, in Erfüllung seiner Pflichten keinen fremden und also im Grunde gleichgültigen Befehl auszuführen oder für keine anonymen Natur- oder Geschichtskräfte bloß als Werkzeug ihrer Planerfüllung zu agieren, wodurch er gleichermaßen in einem distanzierten Verhältnis zur Pflichterfüllung stünde. –

15 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 231. 16 Vgl. Langthaler, Rudolf: „Zur Interpretation und Kritik der Kantischen Religionsphilosophie bei Jürgen Habermas“. In: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Hrsg. von Rudolf Langthaler und Herta Nagl-Docekal. Wien 2007, 32–92. 17 Vgl. Nagl-Docekal, Herta: „Eine rettende Übersetzung? Jürgen Habermas interpretiert Kants Religionsphilosophie“. In: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Hrsg. von Rudolf Langthaler und Herta Nagl-Docekal. Wien 2007, 93–119.

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Dass Habermas der Selbstständigkeit und Selbstgesetzgebung der Vernunft prinzipiell misstraut und sie sogar in die Nähe der Hybris rückt, zeigt sich neben der Priorisierung der positiven Religionen in der von ihm als geschichtliches Werden verstandenen Genese der Vernunft auch an seiner Bewertung nachkantischer Religionsphilosophie. Habermas bewertet es erkennbar als Fortschritt, dass etwa Schleiermacher und Kierkegaard wieder die Abhängigkeit und Unterworfenheit des Menschen hinsichtlich eines fremden Anderen betonen. Er formuliert in diesem Zusammenhang den seines Erachtens fortschrittlichen Gedanken so: „Die auf ihren tiefsten Grund reflektierende Vernunft entdeckt ihren Ursprung aus einem Anderen, dessen schicksalhafte Macht sie anerkennen muss, soll sie nicht in der Sackgasse hybrider Selbstbemächtigung ihre vernünftige Orientierung verlieren.“¹⁸ Aus der Perspektive Kants muss eher eine solche Vernunft mit dem Anspruch der Entdeckung ihres transzendenten Ursprungs als anmaßend erscheinen. Die Entdeckung des Ursprungs der Vernunft müsste auch die für Kant widersinnige Entdeckung des Grundes der Freiheit enthalten. Im Folgenden möchte ich mich nun einem anderen Aspekt des Themas zuwenden, wie nämlich nach Habermas der wohlverstandene Säkulare – nicht der Säkularist also – den historischen Religionen und ihren Repräsentanten in der Gesellschaft begegnen sollte, um auch die Ergebnisse dieser Darstellung mit Kant zu konfrontieren. Dabei soll eine akzentuierte Rolle spielen, ob die Friedensintention, die Habermas zweifellos verfolgt, durch sein Konzept tatsächlich zu erfüllen ist, und zwar mehr als durch das kantische, das auf den ersten Blick eher provokativ und konfrontativ zu sein scheint, indem „vermöge der überhand genommenen wahren Aufklärung“ (RGV, 06: 123.14 Anm.) die letztliche Auflösung der historischen Religionen anvisiert ist. Zu den Merkmalen der Habermasschen Normgestalt des Säkularen, dem eine entsprechende Normgestalt eines nicht-fundamentalistischen Religiösen beigeordnet wird, gehört die Festlegung auf die diskursive Rede der Vernunft¹⁹, das ist die allgemeine und öffentlich zugängliche Rede des Begründens und Rechtfertigens. Zugleich gehört aber auch die Einstellung dazu, aus der religiösen Offenbarungsrede mit dem ihr zuzugestehenden Wahrheitspotential einen Gewinn schöpfen zu können, was ersichtlich voraussetzt, ihre potentiell erkenntniserweiternden Gehalte in jene diskursive Rede der Vernunft zu übertragen. Habermas nennt diese

18 Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort hrsg. von Florian Schuller. Freiburg 2005, 29. 19 Vgl. Habermas, Jürgen: „Eine Replik“. In: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Hrsg. von M. Reder und J. Schmidt. Frankfurt a. M. 2008, 105 und Habermas, Jürgen: The Holberg Prize Seminar 2005. Holberg Prize laureate professor Jürgen Habermas: Religion in the Public Sphere. Hrsg. vom Holberg Prize Seminar 2005. Bergen 2005, 14 u. ö.

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Übertragung „rettende Übersetzung“²⁰. Die Übersetzungsarbeit ist ihm zufolge eine Aufgabe, die beiden beteiligten Seiten zukommt, der säkularen als eine Art Holschuld und der religiösen als Bringschuld. Es seien die besagten lehrreichen religiösen „semantischen Gehalte […] in einen vo[n] […] Offenbarungswahrheiten entriegelten Diskurs [zu] übersetzen“²¹, bzw. sei den in religiöser Sprache artikulierten Erfahrungen ein „profane[r] Sinn“²² zu geben; sie seien, so ein anderer Ausdruck, zu neutralisieren²³, um universell akzeptabel werden zu können. Ersichtlich setzt Habermas tatsächliche religiöse Erfahrungen hier voraus, obwohl er sie durch sein bekanntes Diktum, religiös unmusikalisch zu sein, nicht für sich selbst beansprucht. Dass er sie voraussetzt, geht auch aus seiner an den Säkularen gerichteten Mahnung hervor, bei seiner Übersetzungsarbeit keinen bloß metaphorischen Gebrauch religiöser Vokabeln zu unterstellen bzw. die religiöse Rede bloß als literarische zu verstehen.²⁴ Das Verhältnis zwischen dem Säkularen und dem Religiösen im Zuge ihrer gemeinsamen Übersetzungsbemühung bezeichnet er als das einer kooperativen Wahrheitssuche,²⁵ als ein symmetrisches und komplementäres, als das reziproker Perspektivübernahmen mit der Einstellung auf beiden Seiten, vom andern etwas lernen zu können.²⁶ Das Gelingen der kooperativen Wahrheitssuche ist nach Habermas schon vorgezeichnet, wenn der Dialog überhaupt nur aufgenommen wird. Dafür sorge die „Normativität der Sprache“²⁷, d. h. die jedem Sprechakt als solchem schon innewohnende Rationalität. Ein solcher Akt kommunikativen Handelns bzw. diskursiver Rede enthalte nämlich die idealisierende Unterstellung, dass Geltungsansprüche, Ansprüche auf Wahrheit oder moralische Richtigkeit, im Medium des Begründens und Rechtfertigens zur Diskussion gestellt bzw. der Kritik dargeboten werden.²⁸ Dabei ist Zustimmung auf der Basis überzeugender Gründe intendiert, aber auch Ablehnung, ebenfalls mittels Begründungen, erwartet. Den Fall letztlichen Scheiterns eines solchen diskursiven kommunikativen Handelns hält Habermas für ausgeschlossen; er hält es für falsch, partikulare und geschlossene Universen von

20 Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung (wie Anm. 18), 32. 21 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, 255. 22 Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge. Frankfurt a. M. 2001, 192. 23 Vgl. Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 428. 24 Vgl. Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 428. 25 Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 145. 26 Vgl. Habermas, Jürgen: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Frankfurt a. M. 1997, 45 u. 58. 27 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 79. 28 Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 31.

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Bedeutungen anzunehmen, die inkommensurabel sind.²⁹ – Allerdings gibt es doch Arten sprachlicher Äußerung, die nach Habermas’ eigenen Maßstäben keine Fälle kommunikativen Handelns sind und die demnach auch nicht die Rationalität beanspruchen können, die diesem innewohnen mag. Eine Äußerung als bloße Mitteilung sieht nicht die Möglichkeit vor, „daß deren Geltung von anderen Aktoren bestritten wird“; sie fordert kein „Gegenüber zu einer rational motivierten Stellungnahme“³⁰ auf. Auf forcierte Weise muss das für eine vermeinte Selbstmitteilung Gottes, d. h. für die Offenbarungsrede, gelten: Mit dem autoritativen Anspruch einer faktischen göttlichen Mitteilung kann nicht verbunden sein, dass Geltungsansprüche zur Diskussion gestellt oder der Kritik dargeboten werden. Es ist ja auch nach Habermas, wie gehört, eine Übersetzungsarbeit nötig, um die religiöse Rede auf die Ebene des begründenden Diskurses zu heben. Trotz der offensichtlichen Wichtigkeit der Übersetzungsproblematik findet sich bei Habermas kein explizites Lehrstück dazu, das etwa der kantischen hermeneutica sacra mit ihren ausformulierten Auslegungsregeln entspräche. Es finden sich auch nur wenige Beispiele, aus denen ein solches Theoriestück rekonstruiert werden könnte. Eines davon – ein mehrfach wiederholtes – ist, dass es als rettende Übersetzung verstanden werden könne, wenn die religiöse Vorstellung von der „Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen“³¹ transformiert werde; es zeige sich daran, dass das Vernunftrecht, so Habermas, „vom egalitären Universalismus der Gottesebenbildlichkeit „des“ Menschen zehren“³² könne. Die nähere Betrachtung dieses Beispiels führt allerdings eher in Probleme, als dass es das Gelingen des zuvor skizzierten Übersetzungsgedankens belegen könnte. Was nämlich lernen die beiden an der Übersetzungsarbeit Beteiligten in diesem Fall voneinander? Der säkulare Vernunftrechtler kann zur Kenntnis nehmen, dass es eine religiöse Vorstellung gibt, die zu der auch von ihm gebilligten Konsequenz des rechtlichen Schutzes von Personen führt. Seine Begründung dieses Schutzes stützt sich aber auf die Würde, die der Mensch sui generis hat – auf dessen Selbstzweckcharakter, kantisch gesprochen. Seine Begründung allein durch die Berufung auf das Selbstverständnis des Menschen ist unabhängig davon, von der Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit zu lernen oder zu zehren. Er muss dieser Vorstellung sogar mit Skepsis begegnen, denn nach ihr hat der Mensch bloß eine geliehene Würde, die sekundäre und derivative Würde eines Abbilds, die zudem von der unsicheren Bedingung abhängig ist, dass 29 62. 30 31 32

Vgl. Habermas, Jürgen / Derrida, Jacques: Philosophie in Zeiten des Terrors. Berlin / Wien. 2004, Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1995 (1. Aufl. 1981), 148. Habermas, Jürgen / Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung (wie Anm. 18), 32. Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 404.

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die gläubige Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit sich erhält. Diese Bedingung ist deshalb unsicher, weil nach ursprünglich religiöser Voraussetzung diese Vorstellung keine selbstgemachte und keine in der Immanenz des menschlichen Selbstverständnisses verifizierbare ist, sondern auf der Gunst fremder Mitteilung beruht, die überdies auf direkte Art in historisch ausgezeichneter Zeit nur an wenige ergangen ist. Auch könnte eine Kritik der religiösen Erfahrung verunsichernd wirken, die die Erfahrbarkeit göttlicher Mitteilungen problematisierte oder auch nur auf den Irrtumsvorbehalt bei jeder empirischen Erkenntnis hinwiese, womit im speziellen Fall nicht weniger als die Grundlage für die Überzeugung von der unverletzlichen Würde der Person verunsichert wäre. Es mag darauf geantwortet werden, dass Habermas’ Übersetzungspostulat eben Ausdruck solcher Skepsis gegenüber offenbarungsreligiösen Begründungen ist und gerade aufgrund der Fragilität und Partikularität solcher Begründungen in die säkulare Sprache der Vernunft übersetzt werden soll. Doch mit der Aufgabe der Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit zur Begründung der unverletzlichen Würde der Person und mit ihrer Ersetzung durch die Vorstellung eigenursprünglicher personaler Würde hätte die Transformation ein solches Ausmaß angenommen, dass sie kaum noch ein Übersetzen genannt werden könnte. Denn sie verlangte vom religiösen Partner nicht weniger als die Aufgabe seines spezifisch religiösen Selbstverständnisses, d. h. die Aufgabe seiner Art des Begründens mittels geoffenbarter Wahrheit. Es wäre so kaum noch von einem symmetrischen Verhältnis, von gleichberechtigter Kooperation, von Komplementarität oder reziproker Perspektivenübernahme zu sprechen. Der unübersetzten, originär religiösen Rede als dem Reservoir für potentielle Übersetzungen weist Habermas die geschlossene Sphäre der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu, verlangt jene Übersetzungen also nur für den Fall des Hinaustretens in den öffentlichen Raum. Auch hinsichtlich dieser Grenzziehung erscheint es fraglich, ob sie mit dem Selbstverständnis positiver Religionen verträglich sein kann, die doch keine geringeren Ansprüche erheben, als über göttliche Wahrheiten zu verfügen, die also die Tendenz zu allgemeiner und ganzheitlicher Wirksamkeit haben müssen und sich nicht mit dem Dasein in einer Art Reservat begnügen können, das sie nur verlassen dürfen, wenn sie sich auf Übersetzungen ins säkular Vernünftige einlassen und damit ihr religiöses Proprium aufgeben. All das weist auf Inkommensurabilitäten, die durch das Habermassche Harmonievokabular bloß verdeckt werden. Kants Blick auf diese Unverträglichkeiten ist schärfer. Sein Auslegen von Texten eines „empirischen Glauben[s], den uns dem Ansehen nach ein Ungefähr in die Hände gespielt hat“ (RGV, 06: 110.01 f.), ist nicht als ein Übersetzen im Ausgang von der Autorität der Texte konzipiert, das sich bei näherem Hinsehen dann doch als ein essentielles Verändern herausstellt, sondern es ist von vornherein ein Verändern, sowohl im Fall der moralischen Lehren dieser Texte, deren Anspruch auf einen

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heteronomen Ursprung durch den Anspruch autonomen Vernunftursprungs ersetzt wird, als auch im Fall ihrer sonstigen Lehren. In diesem zweiten Fall verfolgt die Auslegerin, nämlich reine praktische Vernunft, die Intention des Hineinlegens von moralischem Sinn in die Texte. Dabei scheut Kant die offene Opposition gegen den Text nicht, d. h. das Hineinlegen darf ihm zufolge gegen das Buchstäbliche des Textes und gegen eine als wahrscheinlich anzunehmende Autorenintention auch „gezwungen“ (RGV, 06: 110). sein, was durch Ausnutzung von textlichen Ambiguitäten oder durch symbolische Interpretation möglich ist. Als letzte Möglichkeit bleibt schließlich auch das Verwerfen von eindeutig amoralischem Textsinn. Die Legitimation zum Zwang im Zuge des Hineinlegens von moralischem Sinn in religiöse Texte zieht Kant aus dem Anspruch dieser Texte, heilige Texte zu sein. Sie als solche ernst zu nehmen, bedeutet nicht, wie es bei Habermas zu sein scheint, ihnen aufgrund ihrer historischen Faktizität einen Ehrwürdigkeitsvorschuss zu geben, sondern sie auf ihre Heiligkeit hin zu prüfen und sie gegebenenfalls in dieser Hinsicht zu verbessern, eben durch das Hineinlegen von moralischem Sinn. Es ist dies bei Kant ein ganz bewusstes Verändern gegebenen Sinns von der Autorität reiner praktischer Vernunft her, die er auch den „Gott in uns […] selbst“ (SF, 07: 48) nennt, allerdings ohne die Illusion, dass es darüber mit dem offenbarungsreligiösen Ausleger der Texte, den er den ‘biblischen Theologen’ nennt, einen Konsens geben könnte. Dieser bleibt, indem er aus der für ihn nicht diskutablen Faktizität der Texte und aus der Faktizität der durch sie gesetzten Lehren schöpft, der Antipode des philosophischen Auslegers. Käme er, wie Habermas es offensichtlich verlangt, dem rationalen Ausleger auf halbem Weg entgegen, d. h. ließe er sich auf ein diskursives Deliberieren nach Maßstäben der Vernunft ein, dann verliefe er sich, wie Kant es ausdrückt, „in das offene, freie Feld der eigenen Beurtheilung“ (SF, 07: 24), wodurch unsicher würde, ob die Lehren des Textes, der doch nicht weniger als Gottes Wort ausdrücken soll, der Prüfung standhalten können. Der biblische Theologe hätte durch sein Entgegenkommen den Geltungsgrund seiner Lehren – sein: Der Herr hat’s gesagt – relativiert und die Möglichkeit eröffnet, dass diese Lehren im Licht des nun anerkannten neuen Geltungsgrundes, der Vernunft, modifiziert oder sogar verworfen werden könnten. Demgegenüber besteht Kant auf der strikten gedanklichen Trennung dessen, was nicht versöhnt werden kann, nämlich die Orientierungen an der äußeren Autorität des sich historisch mitteilenden Gottes einerseits und an der inneren Autorität der reinen praktischen Vernunft andererseits. „Denn so bald wir zwei Geschäfte von verschiedener Art vermengen und in einander laufen lassen, können wir uns von der Eigenthümlichkeit jedes einzelnen derselben keinen bestimmten Begriff machen“ (SF, 07: 024).

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Auch Habermas gesteht ein verbleibendes Problem im Verhältnis zwischen „Glaubensgewissheiten und öffentlich kritisierbaren Geltungsansprüchen“³³ zu, hält also offenbar seinen eigenen Übersetzungsgedanken nicht für vollständig problemlösend. Wenn Glaubensgewissheiten sich allein auf die „dogmatische Autorität […] von infalliblen Offenbarungswahrheiten“ stützten, seien sie „vorbehaltloser diskursiver Erörterung“³⁴ entzogen. Bei der Beanspruchung solcher Wahrheit handelt es sich dann ersichtlich um jene bloße Mitteilung, die kein Fall kommunikativen Handelns ist. Bei Kant heißen die für Vernunft gar nicht einsichtigen, sich allem Hineinlegen von moralischem Sinn entziehenden Lehren und Gesetze die statutarischen, wovon es in den historischen Religionen unzählige gibt, die nicht selten konkurrieren und das Leben der jeweiligen Glaubensgemeinschaften bis ins Einzelne regeln. Sie alle sind, weil eben jeweils auf Gott zurückgeführt, zugleich strikt verbindlich und nicht diskutabel. Aus der Sicht der Philosophie hält Habermas solche „diskursive Exterritorialität“³⁵ für eine „kognitiv unannehmbare Zumutung“³⁶, und er formuliert im Blick auf die hier nicht durch Übersetzung zu mildernde Konfrontation zwischen Philosophie und Offenbarung: „Die Perspektiven, die entweder in Gott oder im Menschen zentriert sind, lassen sich nicht ineinander überführen.“³⁷ Doch trotz dieser zugestandenen Unversöhnlichkeit „auf der kognitiven Ebene“ hält er den Konsens auf „der sozialen Ebene“³⁸ doch für möglich. Hier ließe sich der „Dissens zwischen Gläubigen, Andersgläubigen und Ungläubigen“ so handhaben, dass die „Interaktionen zwischen Bürgern des politischen Gemeinwesens nicht berührt“³⁹ werden müssten. Was von der religiösen Seite dazu zu verlangen sei, nennt er„reflexive[s] Bewußtsein“⁴⁰ bzw. ein „reflexives Verhältnis zur Partikularität des eigenen Glaubens“⁴¹. Mit dem reflexiven Bewusstsein ist von den religiösen Traditionen eine „Distanzierung von sich selbst“ verlangt, wenn sie sich nämlich „des Umstandes inne werden, daß sie mit anderen Glaubensmächten dasselbe Universum von Geltungsansprüchen teilen“⁴². Verlangt ist, anders gesagt, das Bewusstsein der „nichtexklusiven Stellung“, dies als Voraussetzung dafür, „sich mit den Augen der anderen

33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 149. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 135. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 135. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 252. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 252. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 319. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 319. Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge (wie Anm. 22), 177. Habermas, Jürgen: Kritik der Vernunft (wie Anm. 1), 421. Habermas, Jürgen: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Frankfurt a. M. 1997, 56.

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zu betrachten.“⁴³ Durch die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft zu solch reflexivem Bewusstsein definiert Habermas den Fundamentalismus.⁴⁴ Das verlangte reflexive Bewusstsein soll dennoch seines Erachtens „keine Relativierung der Glaubenswahrheiten selbst zur Folge haben“⁴⁵. Da Wahrheiten als solche einen universellen Anspruch haben, muss hier offensichtlich, um den Widerspruch mit der doch auch geforderten Einsicht in die eigene Partikularität zu vermeiden, von der eingeführten Unterscheidung zwischen der gedanklichen Ebene, der kognitiven, und der faktischen, der sozialen Ebene, Gebrauch gemacht werden. Wenn universalistische Wahrheitsansprüche bloß noch in Gedanken gehegt werden, wenn aber im Faktischen des sozialen Lebens eine partikulare Rolle akzeptiert wird, dann ist durch die Trennung der Hinsichten ein formeller Widerspruch in der Tat vermieden. Es resultieren, so Habermas, keine „Relativierung[en] eigener Überzeugungen“, sondern es ergeben sich bloß „Einschränkung[en] ihrer praktischen Wirksamkeit“, nämlich „das eigene Ethos nur begrenzt ausleben zu dürfen und die praktischen Folgen des Ethos der anderen hinnehmen zu müssen“⁴⁶. An dieser Stelle muss gefragt werden, ob das skizzierte Modell dem Selbstverständnis positiver Religionen entsprechen und tatsächlich einen Konsens tragen kann, der ja nach Habermas kein brüchiger modus vivendi sein soll. Es muss gefragt werden, ob ein solcher Schnitt durch das religiöse Bewusstsein, der die Innerlichkeit der Überzeugungen von ihrer praktischen Wirksamkeit trennt, nicht die völlige Preisgabe des Selbstverständnisses verlangt und für sie also mehr sein muss als die akzeptable Zumutung, für die Habermas sie hält.⁴⁷ Denn es handelt sich bei diesen Überzeugungen um normative Überzeugungen vom richtigen Leben, die als moralische und außermoralisch-statutarische auf keinen geringeren als Gott zurückgeführt werden. Schon für nicht theonom fundierte normative Überzeugungen, deren Intentionen doch nur durch praktische Wirksamkeit zu erfüllen sind, muss es unmöglich erscheinen, ohne ein Widerstreben an der Grenze zum Faktischen des sozialen Lebens innezuhalten. Erst recht muss für theonom begründete Normen gelten, und zwar inklusive der unübersetzbaren und mit keinem moralischen Sinn unterlegbaren statutarischen Vorschriften, dass sie ihre mit einem absoluten und nicht verhandelbaren Anspruch verbundene Tendenz zur Wirksamkeit nicht aus freien Stücken an der Grenze zum Faktischen werden aufhalten können. Das verlangte die Unmöglichkeit, mit Überzeugung, gewonnen aus dem propagierten reflexiven Bewusstsein, von der Verwirklichung dessen abzusehen, wovon eine ge43 44 45 46 47

Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge (wie Anm. 22), 177. Vgl. Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge (wie Anm. 22), 177. Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge (wie Anm. 22), 177. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 320 f. Vgl. Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 320.

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genläufige Überzeugung sagt, dass es nach dem Willen Gottes verwirklicht werden sollte. Habermas selbst bringt an einer Stelle das Argument zum Ausdruck, ohne allerdings die entsprechende Konsequenz daraus zu ziehen, das gegen sein Harmoniemodell des Zusammenlebens verschiedener positiver Religionen spricht. Es lautet: Aus den jeweils beanspruchten „göttliche[n] Perspektive[n]“ müssen „andere Lebensweisen nicht nur als anders, sondern als verfehlt erscheinen“⁴⁸. Solchen als verfehlt betrachteten anderen Lebensweisen kann weder indifferent noch gar mit wirklichem Respekt begegnet werden, so dass also von den jeweiligen göttlichen Perspektiven her der Konflikt nicht zu vermeiden sein wird. Diesen strikten Zusammenhang hat Kant klar gesehen. Ihm zufolge kann über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden (vgl. RGV, 06: 115). Ein etwaiger Versuch, die anderen Lebensweisen nicht als verfehlt, sondern bloß als anders zu betrachten, bedeutete die Preisgabe der göttlichen Perspektive und also die Preisgabe des religiösen Selbstverständnisses. Die Zwischenlösung, die Habermas vorschwebt, nämlich die freiwillige Begrenzung der Wirksamkeit auf der sozialen Ebene, lässt von dieser Perspektive nicht etwa einen Teil übrig, sondern hebt sie, die als göttliche keine Relativierung zulässt, ganz auf. Wenn demnach mit der Beanspruchung einer göttlichen Perspektive schon dem Begriff nach ein Exklusivitätsanspruch verbunden ist und ebenso der Anspruch auf Universalisierung der praktischen Lehren bis hin zum letzten statutarischen Gesetz, das durch Vernunft nicht eingesehen werden kann, dann ist, die Habermassche Charakteristik des Fundamentalismus zugrunde legend, der Fundamentalist der eigentlich adäquate und unvermeidliche Typus der historischen Religionen. Dieser wird zwar außer in Gottesstaaten in der Wirklichkeit des sozialen Lebens oft notgedrungen eine partikulare Rolle spielen müssen, weil die faktischen Kräfteverhältnisse in einer Gesellschaft dazu zwingen und das säkulare staatliche Recht mit der gleichmäßig auf die konkurrierenden Religionen verteilten Religionsfreiheit keine andere Rolle zulässt. Doch in sein Selbstverständnis wird der Fundamentalist diese ihm abgenötigte oder ihm durch das Recht zugewiesene Rolle nicht integrieren können. Wenn er sie demnach nicht mit innerer Überzeugung übernehmen kann, dann ist unter der Voraussetzung der Fortexistenz der – kantisch gesprochen – kirchlichen Glaubensarten nur jener modus vivendi in ihrem Verhältnis möglich, den Habermas mit einigem Recht „unzureichend“ nennt, den er als ein „prekäres Nebeneinander“⁴⁹ beschreibt, der aber durch seinen Vorschlag auch nicht zu überwinden ist. In seiner faktisch oder rechtlich erzwungenen partikularen Rolle wird der doch innerlich ungebrochen Exklusivitäts- und Universa-

48 Habermas, Jürgen: Zwischen Naturalismus und Religion (wie Anm. 4), 321. 49 Habermas, Jürgen: „Die Dialektik der Säkularisierung“ (wie Anm. 3), 39.

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litätsansprüche hegende religiös Überzeugte dazu tendieren müssen, seine Rolle offensiv und zu Lasten der konkurrierenden Glaubensarten zu erweitern und auch die durch das säkulare Recht gesetzten Grenzen zu überschreiten. Diese Tendenz zur Rechtsverletzung und zur Theokratie ist – in Kants Worten – die Tendenz hin auf „ein Volk Gottes nach statutarischen Gesetzen“ bzw. „ein juridisches gemeines Wesen […], von welchem […] Gott der Gesetzgeber […] sein würde“ und „Priester, welche seine Befehle unmittelbar von ihm empfangen, eine aristokratische Regierung führten“ (RGV, 06: 99 f.). Der wesentliche Grund dafür, dass „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden“ (RGV, 06: 115) kann, liegt nach Kant in der Eigenart des religiösen statutarischen Gesetzes. Für diesen Gesetzestypus ist die fatale Verbindung von Irrationalität und absolutem Geltungsanspruch wesentlich. Das religiöse statutarische Gesetz ist, weil kein moralisches Gesetz, für reine praktische Vernunft nicht einsichtig, muss dieser demnach als zufällig und willkürlich erscheinen; es kann, wie Kant sagt, „nicht verbindend sein“, „ohne daß ein Befehl vorher ergangen“ (RGV, 06: 99), verlangt also auf der Seite des Adressaten eine Befehlsempfängermentalität, die offen ist für die Ausführung unverständlicher Anweisungen. Verlangt ist, mit einer Wendung Kants ausgedrückt, der Geist „passiven Gehorsam[s]“ (RGV, 06: 103). Insofern als der äußere Gesetzgeber Gott behauptet ist, muss dem Adressaten, der das nicht in Zweifel zieht, jeder Widerspruch, aber auch schon jeder Versuch der Modifikation, als frevelhaft erscheinen. Für deliberative Erörterungen, also für den Habermasschen Diskurs, kann er nicht zur Verfügung stehen. Während auf dem Gebiet des staatlichen positiven Rechts, dem Analogon religiöser statutarischer Gesetzgebung, das auch Züge von Willkür und Zufall aufweist, aufgrund des als fehlbar vorausgesetzten menschlichen Gesetzgebers das Deliberieren, Modifizieren und Verwerfen einmal ergangener Gesetze keine Probleme aufwirft, müssen religiöse statutarische Gesetze trotz ihrer für Vernunft nicht einsehbaren Gehalte, so wieder Kant, „allen Menschen auf alle künftige Zeiten unverfälscht […] mitgetheilt werden“ (RGV, 06: 163). Ohne die Möglichkeit, über religiöse statutarische Gesetze unter Menschen zu verhandeln, muss der „alle Einwürfe niederschlagende[] Machtspruch“ des statutarischen Kirchenglaubens lauten: „da stehts geschrieben“ (RGV, 06: 107). Wenn nun im Fall konkurrierender positiver Religionen mit konkurrierenden statutarischen Gesetzgebungen ihre zivile Begegnung an solchen Machtsprüchen ihre Grenze und das Sprechen also ein Ende hat und wenn zugleich jede von ihnen ihren Totalitätsanspruch aufrecht erhält, was angesichts der göttlichen Beauftragung, in der sie sich wähnen, unvermeidlich erscheint, dann liegt der Schritt in die Sphäre der gewaltsamen Auseinandersetzung in der Konsequenz ihres fortbestehenden Dissenses. Kants Diagnose, dass „die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders

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als Zänkereien um den [statutarischen] Kirchenglauben gewesen“ (RGV, 06: 108). seien, kann somit nicht bloß als Aussage über den faktisch zufälligen Verlauf der Geschichte der statutarischen Religionen gelten. Sie beschreibt eine Notwendigkeit, die in diesen Religionen angelegt ist. Angesichts dieser Tendenz zum Religionskrieg ist nach Kant eine moralische Forderung die „nothwendige Folge“, nämlich dass Religion „endlich […] von allen Statuten […] losgemacht werde“ (RGV, 06: 121), dass die positiven statutarischen Religionen also letztlich verschwinden. Was dann noch verbleiben kann, ist reine Vernunftreligion, die aber nichts anderes lehrt als die Moral reiner praktischer Vernunft. Das Gegenmittel gegen die friedensgefährdenden positiven Religionen ist nach Kant, allgemein gesprochen, die überhandnehmende wahre Aufklärung (vgl. RGV, 06: 123 Anm.). Im Einzelnen ist darunter neben dem Hineinlegen moralischen Sinns in die „heiligen“ Texte, das ein Umdeuten ist und kein herauslesendes Übersetzen wie bei Habermas, und neben der Entschärfung dieser Lehren durch Symbolisierung auch die Entwicklung eines kritischen theoretischen Bewusstseins zu verstehen. Da die historischen statutarischen Glaubensarten von empirischen Fakten ausgehen müssen, kann zu ihrer Aufklärung auch die über sich selbst belehrte theoretische Vernunft beitragen. In diesem Sinne formuliert Kant vor dem Hintergrund der erfahrungskritischen Ergebnisse seiner ersten Kritik: „[…] wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle“ (SF, 07: 63). Wie für den äußeren Sinn, gilt das Gesagte auch für den inneren: „Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens […] wäre eine Empfänglichkeit einer Anschauung, für die in der menschlichen Natur kein Sinn ist“ (RGV, 06: 175); „Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist eine Art Wahnsinn“ (RGV, 06: 174). Kant unterstellt, dass sich im Grunde auch jeder dieser Erkenntnisrestriktionen bewusst ist, so dass, wie er sagt, selbst „der kühnste Glaubenslehrer“ statutarischer Lehren „zittern“ müsste, wenn er gefragt würde: Traust du dich, „mit Verzichtthuung auf alles, was dir werth und heilig ist, dieser Sätze Wahrheit zu betheuren?“ (RGV, 06: 189). Die moralischen Qualifikationen, mit denen Kant den dogmatischen Glauben, „der sich als ein Wissen ankündigt“ (RGV, 06: 52), belegt, die Bekundung von Wahrheit also, wo sich innerer Einsicht nach Wahrheit nicht beanspruchen lässt, lauten: Unaufrichtigkeit, Heuchelei also, Vermessenheit (vgl. RGV, 06: 52), Anmaßung (vgl. RGV, 06: 201). Die vermeinte innere Gotteserfahrung nennt er „Schwärmerei“, die angebliche äußere „Aberglaube“ (RGV, 06: 053). Die moralischen Qualifikationen erwecken zunächst den Anschein von Härte und Unerbittlichkeit, vielleicht sogar von Aggressivität. Auch die begrifflichen Bestimmungen zur Charakteristik der statutarischen historischen Religionen sind

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strikt grenzziehend und nicht vermittelnd. Sie betonen den Widerspruch zwischen einer wahrhaft universellen Vernunft und einer Pluralität von partikularen Absolutheitsansprüchen, die sich durch Machtspruch für universell erklären und so die Tendenz zum Unfrieden in sich tragen. Auch die von Kant daraus gezogene Konsequenz ist eine radikale, eben jene Forderung nach dem Ende der historischen Religionen. – Verglichen damit ist Habermas’ Sprache der Versöhnung unmittelbar einnehmend. Seinen Appellen an die säkularen und religiösen Bürger, einander aufgeschlossen zuzuhören und voneinander zu lernen, ist die menschenfreundliche Intention auf Anhieb anzumerken. Sie rufen in Absicht auf ein ausbalanciert harmonisches Verhältnis die säkularen Bürger dazu auf, die Religionen als vernunftexterne Wahrheitsquellen, speziell in Hinsicht auf Normen, anzuerkennen, und umgekehrt die religiösen, in Distanz zu sich selbst zu gehen, um die Priorität der Vernunft im öffentlichen Raum und die Gleichberechtigung anderer Religionen anzuerkennen; der eigene Wahrheitsanspruch könne innerlich weiter gehegt werden. – Bei allem Respekt vor der Versöhnungsabsicht muss das aus dem Gesichtspunkt der von Kant her entwickelten Begriffe doch als verundeutlichend und verharmlosend bewertet werden. Das Habermassche Modell verfehlt zum einen das säkulare Konzept der autonomen Vernunft, indem es eine äußerlich gesetzte Normativität unterstellt, und zum anderen das Selbstverständnis geoffenbarter Religion, die ihrem Wesen nach die Selbstdistanzierung abweisen muss, die also nicht pluralistisch sein kann, sondern im Gegenteil ihren Absolutheitsanspruch faktisch zu realisieren suchen muss. Sie kann ihn nicht bloß innerlich im Medium der Überzeugungen halten. Die Friedensperspektive des Modells ist somit illusionär. Während die Aussicht auf einen dauerhaften Religionsfrieden unter der Bedingung der Existenz statutarischer Religion nicht zu begründen ist, ist sie durch Kants Projekt ihrer Auflösung und ihrer Ersetzung durch reine Vernunftreligion doch gegeben, denn diese lehrt nichts als die Moral, die ihren Ursprung in reiner praktischer Vernunft hat. Dass das kantische Projekt im Verhältnis zu den positiven Religionen trotz der Radikalität des Auflösungspostulats doch nicht aggressiv ist und es auch nicht sein kann, leitet sich aus seinem Zweck ab, nichts als Moral zur Geltung zu bringen. Denn das erfordert die Ausbildung von Überzeugungen, die nur durch Selbstdenken und unmöglich durch Zwang entstehen können. Kants Aussage, das Ende statutarischer Religion sei „nicht von einer äußeren Revolution zu erwarten“, sondern werde „durch allmählig fortgehende Reform zur Ausführung gebracht“ (RGV, 06: 122), ist Ausdruck dieser Notwendigkeit des Verzichts auf Zwang, entspringt also keinem Klugheitskalkül angesichts realer Kräfteverhältnisse. Die überhandnehmende wahre Aufklärung kann sich nach Kant nur „mit jedermanns Einstimmung“ (RGV, 06: 123 Anm.). durchsetzen. Die militanteste Art, diese zu gewinnen, ist die Verbreitung von Gedanken.

Nachweise der Erstveröffentlichung Zur Unmöglichkeit eines theoretischen und zur Möglichkeit eines praktischen Gottesbeweises (Originalbeitrag) Zum Entwicklungsstand der Rationaltheologie Kants in seiner Vorlesung im Wintersemester 1783/84, erschienen in: Kant’s Lectures / Kants Vorlesungen, hrsg. von Bernd Dörflinger (u.a.). Berlin / Boston 2015, 275–288 Kant über das Defizit der Physikotheologie und die Notwendigkeit der Idee einer Ethikotheologie, erschienen in: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, hrsg. von Norbert Fischer und Maximilian Forschner. Freiburg/Br. 2010, 72–84 Führt Moral unausbleiblich zur Religion? Überlegungen zu einer These Kants, erschienen in: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, hrsg. von Norbert Fischer. Hamburg 2004, 207–223 Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts, erschienen in: Theologie und Glaube 1/2012 (102. Jahrgang), 45–68 Offenbarung – nicht jedermanns Sache. Kants Kritik der historischen Religionen, erschienen in: Wozu Offenbarung? Philosophische und theologische Beiträge zur Begründung von Religion, hrsg. von Bernd Dörflinger, Gerhard Krieger und Manfred Scheuer. Paderborn 2005, 141–164 Über den aufgeklärten Umgang mit Gottes Wort. Kant zur Auslegung „heiliger“ Schriften, erschienen in: Die Kultur des Textes. Studien zur Textualität, hrsg. von Christian Bermes (u. a.). Würzburg 2009, 123–141 Kants Kritik religiöser Gefühle, erschienen in: Vernunftreligion und Offenbarungsglaube, hrsg. von Norbert Fischer und Jakub Sirovátka. Paderborn 2015, 219–231 Kant über das Ende der historischen Religionen, erschienen in: Kant und die Religionen – Die Religionen und Kant, hrsg. von Reinhard Hiltscher und Stefan Klingner. Hildesheim (u.a.) 2012, 159–175 Kant über das Böse, erschienen in: Kant-Lektionen. Zur Philosophie Kants und zu Aspekten ihrer Wirkungsgeschichte, hrsg. von Manfred Kugelstadt. Würzburg 2008, 81–107 Die personifizierte Idee des Guten. Zugleich ein Beitrag zu Kants Christologie, erschienen in: Worauf Vernunft hinaussieht. Kants regulative Ideen im Kontext von Teleologie und praktischer Philosophie, hrsg. von Bernd Dörflinger und Günter Kruck. Hildesheim (u.a.) 2012, 177–190 Die Rolle der Gottesidee in Kants Konzeption des ethischen Gemeinwesens, erschienen in: Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 1, hrsg. von Valerio Rohden (u. a.). Berlin / New York 2008, 51–69 Kants Projekt der unsichtbaren Kirche als Aufgabe zukünftiger Aufklärung, erschienen in: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hrsg. von Heiner F. Klemme. Berlin / New York 2009, 165– 180 Kant über Vernunft und Unvernunft in Religionen, erschienen in: Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, hrsg. von Herta Nagl-Docekal und Rudolf Langthaler. Berlin 2004, 161–172 Kant über moralische, juridische und religiöse Gesetze, erschienen in: Die Macht der Religion. Wie die Religionen die Politik beeinflussen, hrsg. von Werner Zager. Neukirchen / Vluyn 2008, 99–119 Kant zum Verhältnis von Staat und Religion, erschienen in: Universalität und Menschenrechte: kulturelle Pluralität, hrsg. von Bernd von Hoffmann. Frankfurt a. M. 2009, 69–82

https://doi.org/10.1515/9783110788099-019

282

Doerflinger

Eine neuere Religionsauffassung im Licht einer älteren. Habermas und Kant, erschienen in: Religion in der Moderne. Religionsphilosophische Beiträge zu einer aktuellen Debatte, hrsg. von Rudolf Langthaler (u. a.). Göttingen 2013, 85–102

Personenregister Abraham 96, 116, 209, 235, 245, 259 Albrecht, Michael 68 Allison, Henry E. 9 Anderson-Gold, Sharon 204 Axt-Piscalar, Christine 205 Baumgarten, Alexander Gottlieb 15 Baumgartner, Hans Michael 204 Beiser, Frederick C. 79 Beyer, Kurt 15, 25 Bohatec, Josef 163, 169 Borowski, Ludwig 233

Jesus von Nazaret („Christus“) 184–87 Kierkegaard, Søren 96, 269 Kleingeld, Pauline 68 Kühn, Manfred 233 Langthaler, Rudolf 79, 213, 268 Leiner, Martin 191 Lübbe, Hermann VIII Lütterfelds, Wilhelm 79 Mendelssohn, Moses

Cohen, Hermann 246 Cooper, Anthony Ashley (3. Earl of Shaftesbury) 169 Crusius, Christian August 163

Engstrom, Stephen Essen, Georg VIII

47

Palmquist, Stephen R. VII, 52 f., 97, 103 Pasternack, Lawrence VIII Paulus von Tarsus 116, 247, 260 Perovich, Anthony N. 97

63

Firestone, Chris L. VII Fischer, Norbert VII, 6 Forschner, Maximilian 6, 47 Francke, August Hermann 130, 132 Geismann, Georg 68 Grünewald, Bernward 63 Habermas, Jürgen VIII, 79, 213 f., 265–276, 278 Heiler, Friedrich 233 Hiltscher, Reinhard VIII, 13 Himmelmann, Beatrix 36, 63 Hirsch, Eike Christian 96, 195 Hobbes, Thomas 239, 254 Hutcheson, Francis 169 Jachmann, Reinhold Bernhard

58, 224

Nagl-Docekal, Herta 79, 213, 268 Nonnenmacher, Burkhard 13 f. O’Neill, Onora

Denis, Lara 51 Despland, Michel VII Düsing, Klaus VIII, 6, 60, 84

93, 180–182,

233

https://doi.org/10.1515/9783110788099-020

Rink, Friedrich Theodor Ritschl, Albrecht 205 Rosenau, Hartmut 96 Rousseau, Jean-Jacques

233

169

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Schopenhauer, Arthur 68, 156 Schulte, Christoph 165, 175 Silber, John 79 Spener, Philipp Jacob 130, 142 Striet, Magnus VII

96

Thiede, Werner VIII, 191, 205 Tuschling, Burkhard 9 Vossenkuhl, Wilhelm

46

Wasianski, Ehregott Andreas Christoph 233 Wimmer, Reiner 96, 139 f., 168, 175, 205

284

Personenregister

Winegar, Reed 9 f. Winter, Aloysius 97, 233

Wood, Allen W.

VIII, 53, 100, 139 f., 231