Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen

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Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen

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Schmucker / Die Ursprünge der Ethik Kants

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MONOGRAPHIEN

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ZUR PHILOSOPHISCHEN FORSCHUNG $,? ,( begründet\von Dr. Georgi Schischkoff-1, ./

Band XXIII

DIE URSPRUNGE DER ETHIK ,KANTS .

.

In seInen vorkritischen Schriften und Reflektionen

von JOSEF SCHMUCKER

1961

VERLAG ANTON HAIN KG . MEISEN HEIM AM GLAN

MONOGRAPHIEN

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ZUR PHILOSOPHISCHEN FORSCHUNG $,? ,( begründet\von Dr. Georgi Schischkoff-1, ./

Band XXIII

DIE URSPRUNGE DER ETHIK ,KANTS .

.

In seInen vorkritischen Schriften und Reflektionen

von JOSEF SCHMUCKER

1961

VERLAG ANTON HAIN KG . MEISEN HEIM AM GLAN

Dem Andenken an meine lieben Eltern

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

@

1961 Verlag Anton Hain KG, Meisenheim am Glan Herstellung : Verlag Anton Hain KG, Meisenheim am Glan Printed in Germany

Dem Andenken an meine lieben Eltern

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

@

1961 Verlag Anton Hain KG, Meisenheim am Glan Herstellung : Verlag Anton Hain KG, Meisenheim am Glan Printed in Germany

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INHALTSÜ BE RSICHT

Zur Einführung 1. Die Gründe, die eine Neubearbeitung der vorkritischen Ethik Kants rechtfertigen .•••• 2. Methode und Ziel der Abhandlung . • 1.

21 24

KAPITEL:

Der Ausgangspunkt der moralphilosophischen Entwicklung Kants: die Morallehre der Wolffschule 1. Bedeutung des Ausgangspunktes für die Interpretation der vorkritischen Ethik • • • . . . . . • • . • . . . • • • . • •• 2. Nachweis, daß die Wolffsche Morallehre den Ausgangspunkt der kantischen Entwicklung bildete: a) aus der Freiheitstheorie und den psychologischen Voraussetzungen der Nova Dilucidatio . • . . • . • • • • . . • •• b) aus der anthropologischen und ethischen Lehre der Kosmogonie von 1755 • • • • • • . . . • . . • . • • • • • • •• 3. Die Grundzüge der Morallehre Wolffs . . • • • • • • • • • . 4. Ethische Grundauffassungen Wolffs, die unverändert oder in abgewandelter Form in das System Kants eingehen .. ' • • • . 5. Der frühe Gegensatz zu Wolff in der Frage der diesseitigen Eudämonie als Summum Bonum . • • • • • • • . • • . . •• 6. Ansätze zu einer neuen Auffassung des Ethischen bzw. des Intellektualen überhaupt im Verhältnis zum sinnlichen Triebstreben .

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4ß 49

11. KAPITEL: Die erste Phase der ethischen Entwicklung Kants: Von der Nova Dilucidatio zur Preisschrift des Jahres 1762 1. Die Ansicht, Kant habe während der fünfziger Jahre sich noch nicht selbständig mit den Problemen der Ethik auseinander gesetzt,und ihre Fragwürdigkeit. • • • . . . • • . • • • • . • 2. Kants Bemerkung im 'Einzig möglichen Beweisgrund' über seine durch lange Zeit fortgesetzten Untersuchungen über den Begriff der Vollkommenheit und ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung • • . . . • . • • • • • • • • • . • • • • • • 3. Die Preisschrift des Jahres 1762 und ihre einzigartige Stellung innerhalb der vorkritischen Veröffentlichungen Kants . • . •• a) sie enthält die neuen Ergebnisse der seit der Nova Dilucidatio durchlaufenen Entwicklung auf dem Gebiet des Theoretischen sowohl wie vor allem auf dem der Ethik • • • • • • • • • . b) sie ist die einzige unter den vorkritischen Schriften Kants, die thematisch über die ethische Prinzipienlehre handelt c) die Bewertung der Preisschrift in der bisherigen Interpretation, bes. bei Menzer: kritische Beleuchtung der Methode, nach der Menzer die Preis schrift analysiert . • • • • • • .

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INHALTSÜ BE RSICHT

Zur Einführung 1. Die Gründe, die eine Neubearbeitung der vorkritischen Ethik Kants rechtfertigen .•••• 2. Methode und Ziel der Abhandlung . • 1.

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KAPITEL:

Der Ausgangspunkt der moralphilosophischen Entwicklung Kants: die Morallehre der Wolffschule 1. Bedeutung des Ausgangspunktes für die Interpretation der vorkritischen Ethik • • • . . . . . • • . • . . . • • • . • •• 2. Nachweis, daß die Wolffsche Morallehre den Ausgangspunkt der kantischen Entwicklung bildete: a) aus der Freiheitstheorie und den psychologischen Voraussetzungen der Nova Dilucidatio . • . . • . • • • • . . • •• b) aus der anthropologischen und ethischen Lehre der Kosmogonie von 1755 • • • • • • . . . • . . • . • • • • • • •• 3. Die Grundzüge der Morallehre Wolffs . . • • • • • • • • • . 4. Ethische Grundauffassungen Wolffs, die unverändert oder in abgewandelter Form in das System Kants eingehen .. ' • • • . 5. Der frühe Gegensatz zu Wolff in der Frage der diesseitigen Eudämonie als Summum Bonum . • • • • • • • . • • . . •• 6. Ansätze zu einer neuen Auffassung des Ethischen bzw. des Intellektualen überhaupt im Verhältnis zum sinnlichen Triebstreben .

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11. KAPITEL: Die erste Phase der ethischen Entwicklung Kants: Von der Nova Dilucidatio zur Preisschrift des Jahres 1762 1. Die Ansicht, Kant habe während der fünfziger Jahre sich noch nicht selbständig mit den Problemen der Ethik auseinander gesetzt,und ihre Fragwürdigkeit. • • • . . . • • . • • • • . • 2. Kants Bemerkung im 'Einzig möglichen Beweisgrund' über seine durch lange Zeit fortgesetzten Untersuchungen über den Begriff der Vollkommenheit und ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung • • . . . • . • • • • • • • • • . • • • • • • 3. Die Preisschrift des Jahres 1762 und ihre einzigartige Stellung innerhalb der vorkritischen Veröffentlichungen Kants . • . •• a) sie enthält die neuen Ergebnisse der seit der Nova Dilucidatio durchlaufenen Entwicklung auf dem Gebiet des Theoretischen sowohl wie vor allem auf dem der Ethik • • • • • • • • • . b) sie ist die einzige unter den vorkritischen Schriften Kants, die thematisch über die ethische Prinzipienlehre handelt c) die Bewertung der Preisschrift in der bisherigen Interpretation, bes. bei Menzer: kritische Beleuchtung der Methode, nach der Menzer die Preis schrift analysiert . • • • • • • .

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8 4. Analyse des moralphilosophischen Abschnittes der Preisschrift: • . • • . • . • • • • . • . . . . . • • . • • . • . a) die neue Lehre von der Verbindlichkeit als dem ersten und fundamentalen Begriff der Ethik und von den zwei wesentlich verschiedenen Arten des Sollens oder Imperativs und ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Mißdeutung bei Menzer und Küenburg . • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • b) das Prinzip der unbedingten sittlichen Imperative (im Unterschied zu den bloß hypothetischen, insb. pragmatischen):der an sich notwendige Zweck des Wollens: das Verhältnis der Unterordnung der speziellen sittlichen Imperative unter den umfassenden an sich notwendigen Zweck des Wollens c) die damit gegebene grundsätzliche Unerweislichkeit des obersten praktischen Prinzips, d. h. seine Unableitbarkeit aus einer der sittlichen Bestimmung (logisch) vorausgehenden theoretischen Erkenntnis. • . • • • • • • • • • • • • • • d) Stellungnahme zur Kritik Küenburgs und Schilpps an den Lehren Kants . • • • . . • • • • • • • • • . • • . • • • • • e) Kants Lösung der Frage nach den konstitutiven Prinzipien der obersten Regel der Verbindlichkeit nach Analogie der Crusiusschen Theorie von den Prinzipien der theoretischen Gewißheit: Sinn und Funktion der formalen und materialen obersten Prinzipien der praktischen Erkenntnis im Unterschied zu Wolff- . . • . • • • • • • • • • . . • • . • . • • • • f) die Frage des inneren Zusammenhangs der in diesem Abschnitt auftauchenden Grundbegriffe des Vollkommenen (= Guten) als der leeren und unbestimmten Vorstellung der im moralischen Gefühl gegebenen Inhalte des Guten und dem im Formalprinzip enthaltenen des an sich notwendigen Zweckes. • • g) das daraus resultierende Problem, ob das Formalprinzip (im Gedanken des an sich notwendigen Zweckes) der Vernunft entspringt oder letztlich (mit den Wertinhalten) dem moralischen Gefühl selber • • • • • • • • • • . . • . . • • • • . • • h) Stellungnahme zur Interpretation Sc h i I P ps. • • • • • • • 5. Das Problem des Ursprunges der neuen ethischen Konzeption in der Preis schrift . . • • • . • • • • • • • . • • • • a) der Einfluß der Crusiusschen Morallehre . • • • . • • • • "') Zusammenfassung der in das Kantische System mehr oder weniger unverändert eingehenden Grundlehren der Crusiusschen 'Anweisung'. • • • • . . . • • . • • • • • • ß) der quellenmäßige Nachweis der Abhängigkeit des ethischen Standpunktes Kants in der Preisschrift von der letzteren . b) die wesentliche Umgestaltung der Crusiusschen Grundthese durch Kant: die Ablösung der necessitas legalis vom Gesetz des göttlichen Willens und ihre immanente Begründung in dem objektiv und an sich notwendigen Zweck des Wollens . • • . • c) der Einfluß der Morallehre Hutchesons auf die Ethik Kants. • "') dieWerkeHutchesons als eine der wesentlichen Ursprungsquellen der letzteren (D. Henrich). • • • • • • • • • • • ß) Grundlehren Hutchesons, die ins System der 'kritischen' Ethik Kants eingehen • • • • • • •• .•. • • • • y) der wesentliche Einfluß Hutchesons in der moralphiloso-

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phischen Prinzipienlehre der Preis schrift im Verhältnis zu dem des Crusius. Bestimmung des Sinnes der von Kant noch offen gelassenen Frage nach dem letzten Grunde der Verbindlichkeit. • • • • • • • • • • • • • . . 6. Die Ergänzung der Lehre der Preisschrift durch die des Versuchs über die Negativen Größen. • • • • • • • a) das Verhältnis der Abhandlung zur Preisschrift im allgemeinen hinsichtlich des ethischen Standpunktes Kants. • • • •• b) die besonderen moralphilosophischen Lehren der Abhandlung, die sich aus der Anwendung des Gesetzes der Realopposition auf das praktische Gebiet ergeben, insbes. die Unmöglichkeit, aus dem Handeln unmittelbar auf den Grad der sittlichen Gesinnung zu schließen. • • • • • • • • • • • • • c) Widerlegung der Auffassung Schilpps und Menzers • • • •• III.

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KAPITEL:

Die 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' 1. Die Interpretation der vorkritischen Ethik am S c h eid ewe g in der Auffassung der Rolle und Bedeutung der Abhandlung über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. • • • • • • • • • • • •• a) die Auffassungen Foersters, Menzers und Schilpps • • • •• b) die Fragwürdigkeit des Weges der traditionellen Interpretation aus dem Vergleich mit der Lehre der Preis schrift . • • •• 2. Die Bestimmung der Rolle und Bedeutung der Abhandlung für die Interpretation der vorkritischen Ethik im allgemeinen. • • •• a) die Beobachtungen als Traktat von wesentlich ästhetischer Thematik, in dem auch der moralische Charakter des Menschen primär nach ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wird . • • . • • • • • • • • • • • • • . . • • • • • •• b) die Bedingung, unter der allein die dortigen die Moralphilosophie betreffenden Ausführungen zur Bestimmung der damaligen ethischen Prinzipi:enlehre Kants dienen können . • . •• 3. Analys.e der die Moralphilosophie betreffenden Abschnitte •• a) die Tugendgesinnung als das Erhabene am moralische'n Cha.o rakter des Menschen, das tugendähnliche Handeln aus den gutartigen Neigungen (des Mitleids und der Gefälligkeit) als das Schöne am moralischen Charakter des Menschen . • • • •• b) das grundlegende Wesensmerkmal der ersteren: daß sie auf allgemeingültige Grundsätze gepfropft ist, denen alle Neigungen, auch die moralischen, untergeordnet werden müssen . • c) das Prinzip dieser allgemeingültigen Grundsätze der Tugendgesinnung: das Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur • • . • • • • • '. • • • • • • • • • • • • •• d) die Bedeutung und Funktion der gutartigen Neigungen sowie des Scham- und Ehrgefühls für die Verwirklichung der Tugend selber • • • • • • • • • • • • • . • • • • • • • • • •• e) die verschiedenen moralischen Qualitäten und Gemütsanlagen als bestimmende Züge eines moralischen Gesamtgemäldes der menschlichen Natur von prächtigem Anblick . • • • •• f) das Verhältnis des moralischen Gefühls von der Schönheit und

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8 4. Analyse des moralphilosophischen Abschnittes der Preisschrift: • . • • . • . • • • • . • . . . . . • • . • • . • . a) die neue Lehre von der Verbindlichkeit als dem ersten und fundamentalen Begriff der Ethik und von den zwei wesentlich verschiedenen Arten des Sollens oder Imperativs und ihre entwicklungsgeschichtliche Bedeutung. Mißdeutung bei Menzer und Küenburg . • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • b) das Prinzip der unbedingten sittlichen Imperative (im Unterschied zu den bloß hypothetischen, insb. pragmatischen):der an sich notwendige Zweck des Wollens: das Verhältnis der Unterordnung der speziellen sittlichen Imperative unter den umfassenden an sich notwendigen Zweck des Wollens c) die damit gegebene grundsätzliche Unerweislichkeit des obersten praktischen Prinzips, d. h. seine Unableitbarkeit aus einer der sittlichen Bestimmung (logisch) vorausgehenden theoretischen Erkenntnis. • . • • • • • • • • • • • • • • d) Stellungnahme zur Kritik Küenburgs und Schilpps an den Lehren Kants . • • • . . • • • • • • • • • . • • . • • • • • e) Kants Lösung der Frage nach den konstitutiven Prinzipien der obersten Regel der Verbindlichkeit nach Analogie der Crusiusschen Theorie von den Prinzipien der theoretischen Gewißheit: Sinn und Funktion der formalen und materialen obersten Prinzipien der praktischen Erkenntnis im Unterschied zu Wolff- . . • . • • • • • • • • • . . • • . • . • • • • f) die Frage des inneren Zusammenhangs der in diesem Abschnitt auftauchenden Grundbegriffe des Vollkommenen (= Guten) als der leeren und unbestimmten Vorstellung der im moralischen Gefühl gegebenen Inhalte des Guten und dem im Formalprinzip enthaltenen des an sich notwendigen Zweckes. • • g) das daraus resultierende Problem, ob das Formalprinzip (im Gedanken des an sich notwendigen Zweckes) der Vernunft entspringt oder letztlich (mit den Wertinhalten) dem moralischen Gefühl selber • • • • • • • • • • . . • . . • • • • . • • h) Stellungnahme zur Interpretation Sc h i I P ps. • • • • • • • 5. Das Problem des Ursprunges der neuen ethischen Konzeption in der Preis schrift . . • • • . • • • • • • • . • • • • a) der Einfluß der Crusiusschen Morallehre . • • • . • • • • "') Zusammenfassung der in das Kantische System mehr oder weniger unverändert eingehenden Grundlehren der Crusiusschen 'Anweisung'. • • • • . . . • • . • • • • • • ß) der quellenmäßige Nachweis der Abhängigkeit des ethischen Standpunktes Kants in der Preisschrift von der letzteren . b) die wesentliche Umgestaltung der Crusiusschen Grundthese durch Kant: die Ablösung der necessitas legalis vom Gesetz des göttlichen Willens und ihre immanente Begründung in dem objektiv und an sich notwendigen Zweck des Wollens . • • . • c) der Einfluß der Morallehre Hutchesons auf die Ethik Kants. • "') dieWerkeHutchesons als eine der wesentlichen Ursprungsquellen der letzteren (D. Henrich). • • • • • • • • • • • ß) Grundlehren Hutchesons, die ins System der 'kritischen' Ethik Kants eingehen • • • • • • •• .•. • • • • y) der wesentliche Einfluß Hutchesons in der moralphiloso-

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phischen Prinzipienlehre der Preis schrift im Verhältnis zu dem des Crusius. Bestimmung des Sinnes der von Kant noch offen gelassenen Frage nach dem letzten Grunde der Verbindlichkeit. • • • • • • • • • • • • • . . 6. Die Ergänzung der Lehre der Preisschrift durch die des Versuchs über die Negativen Größen. • • • • • • • a) das Verhältnis der Abhandlung zur Preisschrift im allgemeinen hinsichtlich des ethischen Standpunktes Kants. • • • •• b) die besonderen moralphilosophischen Lehren der Abhandlung, die sich aus der Anwendung des Gesetzes der Realopposition auf das praktische Gebiet ergeben, insbes. die Unmöglichkeit, aus dem Handeln unmittelbar auf den Grad der sittlichen Gesinnung zu schließen. • • • • • • • • • • • • • c) Widerlegung der Auffassung Schilpps und Menzers • • • •• III.

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KAPITEL:

Die 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' 1. Die Interpretation der vorkritischen Ethik am S c h eid ewe g in der Auffassung der Rolle und Bedeutung der Abhandlung über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. • • • • • • • • • • • •• a) die Auffassungen Foersters, Menzers und Schilpps • • • •• b) die Fragwürdigkeit des Weges der traditionellen Interpretation aus dem Vergleich mit der Lehre der Preis schrift . • • •• 2. Die Bestimmung der Rolle und Bedeutung der Abhandlung für die Interpretation der vorkritischen Ethik im allgemeinen. • • •• a) die Beobachtungen als Traktat von wesentlich ästhetischer Thematik, in dem auch der moralische Charakter des Menschen primär nach ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wird . • • . • • • • • • • • • • • • • . . • • • • • •• b) die Bedingung, unter der allein die dortigen die Moralphilosophie betreffenden Ausführungen zur Bestimmung der damaligen ethischen Prinzipi:enlehre Kants dienen können . • . •• 3. Analys.e der die Moralphilosophie betreffenden Abschnitte •• a) die Tugendgesinnung als das Erhabene am moralische'n Cha.o rakter des Menschen, das tugendähnliche Handeln aus den gutartigen Neigungen (des Mitleids und der Gefälligkeit) als das Schöne am moralischen Charakter des Menschen . • • • •• b) das grundlegende Wesensmerkmal der ersteren: daß sie auf allgemeingültige Grundsätze gepfropft ist, denen alle Neigungen, auch die moralischen, untergeordnet werden müssen . • c) das Prinzip dieser allgemeingültigen Grundsätze der Tugendgesinnung: das Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur • • . • • • • • '. • • • • • • • • • • • • •• d) die Bedeutung und Funktion der gutartigen Neigungen sowie des Scham- und Ehrgefühls für die Verwirklichung der Tugend selber • • • • • • • • • • • • • . • • • • • • • • • •• e) die verschiedenen moralischen Qualitäten und Gemütsanlagen als bestimmende Züge eines moralischen Gesamtgemäldes der menschlichen Natur von prächtigem Anblick . • • • •• f) das Verhältnis des moralischen Gefühls von der Schönheit und

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Würde der menschlichen Natur zu den Grundsätzen der Tugendgesinnung einerseits und zu den objektiven Regeln der Verbindlichkeit andererseits • • • • • •• •• • • •• Der wesentliche Fortschritt in der Auffassung des moralischen Gefühls gegenüber der Preis schrift • • • • • • • • • •• a) die Hervorhebung der Allgemeingültigkeit der Gegenstände desselben und ihrer Unabhängigkeit von den Neigungen und Dispositionen des Subjektes. • • • • • • • • • • • • • •• b) ihre Begründung in einem umfassenden, einheitlichen Grundwert: der Schönheit und Würde der menschlichen Natur als dem Prinzip der obersten Regeln der Pflicht, nämlich der allgemeinen Menschenliebe und Menschenachtung . . • • • . • M€Rschenliebe lHKI. Mensehenaebtung. • • • • • • • • • •• a) die damit gegebene Bestimmtheit (Deutlichkeit) des allgemeinen Begriffs des Guten (Vollkommenen) gegenüber seiner Unbestimmtheit (Verworrenheit) laut Preisschrift • . ß) der dadurch bedingte rein humanitäre Charakter der Ethik y) der Unterschied der Begründung der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe in den Beobachtungen und in der späteren kritischen Ethik. • • • • • • . • • • • • • • • •• Notwendige Begriffsbestimmungen und Unterscheidungen: die Schönheit der menschlichen Natur, die Schönheit der Tugend und die schöne Tugend • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• a) das ästhetische Mißverständnis der Interpretation der moralphilosophischen Abschnitte der Beobachtungen: der wesentliche Unterschied in der Auffassung der Sittlichkeit bei Shaftesbury und Kant. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• b) die Schönheit der menschlichen Natur als Gegenstand des moralischen Gefühls bedeutet die wesentliche Liebenswertheit derselben, die immer mit ihr verbunden ist, auch wenn sie kein Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens mehr sein kann. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• c) der wesentliche Unterschied zwischen den Begriffen schöne Tugend, Schönheit der Tugend und Schönheit der menschlichen Natur . • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• d) das Prinzip der Schönheit der menschlichen Natur: die Fähigkeit zum sittlich Guten, das den Wertaspekt des Edlen mit dem des (sittlich) Schönen vereint. . • • • •.• • • • • •• Stellungnahme zur Deutung der Rolle der sinnlichen Triebfedern und Neigungen für die Sittlichkeit bei Foerster und Schilpp: die wesentliche Übereinstimmung des Standpunktes der Beobachtungen mit dem der kritischen Ethik • • • • • • • • • • • • •• Die Frage nach den unmittelbaren Quellen, von denen Kants Lehre in den Beobachtungen beeinflußt wurde. • • • . • • • • a) der Hinweis der traditlOnellen Inte.rpretation und Schilpps auf Shaftesbury und Rousseau als Hauptquelle • • • • • • • •• b) Hutchesons Schriften als die eigentliche und primäre Quelle. 0:) Parallelität ihrer Lehre und der Kants in den Beobachtungen und die damit erwiesene Abhängigkeit der letzteren von jener . • • • • • • • • • • • . • • • • • • • • • •• ß) Weiterentwicklung der Lehren Hutchesons in den Beobachtungen. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • ••

y) Fragwürdigkeit

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der Annahme Foersters, Menzers und Schilpps; daß Rousseau als Quelle der Lehre Kants von der Würde der menschlichen Natur zu betrachten ist. • • •• . 8. Die entwicklungsgeschichtlich entscheidende Frage, ob die Lehre der Beobachtungen bereits das Ergebnis der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Rousseaus Hauptwerken, dem 'Emile' und 'Contrat Social', darstellt oder ob diese erst nach der Abfassung der Beobachtungen erfolgte • • • • • • • • • • • •• a) die Entscheidung für die erstere Alternative bei Dieterich, Menzer, Schilpp und Reich und ihre Konsequenzen für die Interpretation der Kantischen Entwicklung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre . • • • • • • • • • • • • • • • • •• b) Schilpps Gründe und andere, die für eine gewisse Vertrautheit Kants mit Rousseaus Emile sprechen . • • • • • • • • • , c) die Gründe, die beweisen, daß die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Emile erst unmittelbar nach der Abfassung der Beobachtungen einsetzte . . • • . • • • • • • • • ••

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Die Umformung der ethischen Prinzipienlehre Kants unter dem Einfluß Rousseaus I. Die Eigenart der Q u e 11 e n der auf die Beobachtungen folgenden Entwicklungsphase: • • • • • • • • • • . • • • • • • • •• a) ihre tiefe Prägung durch den Einfluß R 0 u s se aus . b) das Fehlen einer systematischen DarsteHung seines moralphilosophischen Standpunktes . • • • . • • . • • • • • •• c) die Bemerkungen zu den Beobachtungen als unmittelbare Auseinandersetzung mit den Hauptwerken Rousseaus und ihre Bedeutung für die Erforschung der ethischen Entwicklung Kants • ll. Die Analyse der Quellen dieses Abschnittes. • • • • • •• 1. Der 'Versuch über die Krankheiten des Kopfes'. • • • • • •• a) die kulturphilosophischen Ideen Rousseaus in dieser Abhandlung • • • • • • • . • • • • • • • • • • • • • • • • b) die Parallelen der Gedankengänge dieser Abhandlung in den 'Bemerkungen' zu den Beobachtungen • • • • • • • • • 2. Die Vorlesungsankündigung vom Jahre 1765. • • • • • • • a) Rousseausche Gedanken und Anklänge in der 'Nachricht', vor allem in der hier skizzierten neuen Methode der Tugendlehre , zuerst historisch und philosophisch das zu erwägen, was geschieht, ehe man anzeigt, was geschehen soll . • • • • •• b) die Interpretation dieser neuen Methode im Sinne einer empirischen bzw. anthropologischen Begründung der ethischen Prinzipienlehre bei Menzer und Küenburg - Nachweis der Unrichtigkeit dieser Auffassung bei Schilpp und Reich • • • •• c) die Unrichtigkeit der These Reichs, daß der junge Kant in der ethischen Prinzipienlehre mit Rousseau den Standpunkt S h a f te sburys teile • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• 3. Die 'Träume eines Geistersehers'. • • • • • • • • • • • •• a) der besondere Charakter dieser Abhandlung und ihre Stellung innerhalb der sonstigen literarischen Arbeiten und Entwürfe Kants

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Würde der menschlichen Natur zu den Grundsätzen der Tugendgesinnung einerseits und zu den objektiven Regeln der Verbindlichkeit andererseits • • • • • •• •• • • •• Der wesentliche Fortschritt in der Auffassung des moralischen Gefühls gegenüber der Preis schrift • • • • • • • • • •• a) die Hervorhebung der Allgemeingültigkeit der Gegenstände desselben und ihrer Unabhängigkeit von den Neigungen und Dispositionen des Subjektes. • • • • • • • • • • • • • •• b) ihre Begründung in einem umfassenden, einheitlichen Grundwert: der Schönheit und Würde der menschlichen Natur als dem Prinzip der obersten Regeln der Pflicht, nämlich der allgemeinen Menschenliebe und Menschenachtung . . • • • . • M€Rschenliebe lHKI. Mensehenaebtung. • • • • • • • • • •• a) die damit gegebene Bestimmtheit (Deutlichkeit) des allgemeinen Begriffs des Guten (Vollkommenen) gegenüber seiner Unbestimmtheit (Verworrenheit) laut Preisschrift • . ß) der dadurch bedingte rein humanitäre Charakter der Ethik y) der Unterschied der Begründung der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe in den Beobachtungen und in der späteren kritischen Ethik. • • • • • • . • • • • • • • • •• Notwendige Begriffsbestimmungen und Unterscheidungen: die Schönheit der menschlichen Natur, die Schönheit der Tugend und die schöne Tugend • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• a) das ästhetische Mißverständnis der Interpretation der moralphilosophischen Abschnitte der Beobachtungen: der wesentliche Unterschied in der Auffassung der Sittlichkeit bei Shaftesbury und Kant. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• b) die Schönheit der menschlichen Natur als Gegenstand des moralischen Gefühls bedeutet die wesentliche Liebenswertheit derselben, die immer mit ihr verbunden ist, auch wenn sie kein Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens mehr sein kann. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• c) der wesentliche Unterschied zwischen den Begriffen schöne Tugend, Schönheit der Tugend und Schönheit der menschlichen Natur . • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• d) das Prinzip der Schönheit der menschlichen Natur: die Fähigkeit zum sittlich Guten, das den Wertaspekt des Edlen mit dem des (sittlich) Schönen vereint. . • • • •.• • • • • •• Stellungnahme zur Deutung der Rolle der sinnlichen Triebfedern und Neigungen für die Sittlichkeit bei Foerster und Schilpp: die wesentliche Übereinstimmung des Standpunktes der Beobachtungen mit dem der kritischen Ethik • • • • • • • • • • • • •• Die Frage nach den unmittelbaren Quellen, von denen Kants Lehre in den Beobachtungen beeinflußt wurde. • • • . • • • • a) der Hinweis der traditlOnellen Inte.rpretation und Schilpps auf Shaftesbury und Rousseau als Hauptquelle • • • • • • • •• b) Hutchesons Schriften als die eigentliche und primäre Quelle. 0:) Parallelität ihrer Lehre und der Kants in den Beobachtungen und die damit erwiesene Abhängigkeit der letzteren von jener . • • • • • • • • • • • . • • • • • • • • • •• ß) Weiterentwicklung der Lehren Hutchesons in den Beobachtungen. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • ••

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der Annahme Foersters, Menzers und Schilpps; daß Rousseau als Quelle der Lehre Kants von der Würde der menschlichen Natur zu betrachten ist. • • •• . 8. Die entwicklungsgeschichtlich entscheidende Frage, ob die Lehre der Beobachtungen bereits das Ergebnis der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Rousseaus Hauptwerken, dem 'Emile' und 'Contrat Social', darstellt oder ob diese erst nach der Abfassung der Beobachtungen erfolgte • • • • • • • • • • • •• a) die Entscheidung für die erstere Alternative bei Dieterich, Menzer, Schilpp und Reich und ihre Konsequenzen für die Interpretation der Kantischen Entwicklung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre . • • • • • • • • • • • • • • • • •• b) Schilpps Gründe und andere, die für eine gewisse Vertrautheit Kants mit Rousseaus Emile sprechen . • • • • • • • • • , c) die Gründe, die beweisen, daß die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Emile erst unmittelbar nach der Abfassung der Beobachtungen einsetzte . . • • . • • • • • • • • ••

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Die Umformung der ethischen Prinzipienlehre Kants unter dem Einfluß Rousseaus I. Die Eigenart der Q u e 11 e n der auf die Beobachtungen folgenden Entwicklungsphase: • • • • • • • • • • . • • • • • • • •• a) ihre tiefe Prägung durch den Einfluß R 0 u s se aus . b) das Fehlen einer systematischen DarsteHung seines moralphilosophischen Standpunktes . • • • . • • . • • • • • •• c) die Bemerkungen zu den Beobachtungen als unmittelbare Auseinandersetzung mit den Hauptwerken Rousseaus und ihre Bedeutung für die Erforschung der ethischen Entwicklung Kants • ll. Die Analyse der Quellen dieses Abschnittes. • • • • • •• 1. Der 'Versuch über die Krankheiten des Kopfes'. • • • • • •• a) die kulturphilosophischen Ideen Rousseaus in dieser Abhandlung • • • • • • • . • • • • • • • • • • • • • • • • b) die Parallelen der Gedankengänge dieser Abhandlung in den 'Bemerkungen' zu den Beobachtungen • • • • • • • • • 2. Die Vorlesungsankündigung vom Jahre 1765. • • • • • • • a) Rousseausche Gedanken und Anklänge in der 'Nachricht', vor allem in der hier skizzierten neuen Methode der Tugendlehre , zuerst historisch und philosophisch das zu erwägen, was geschieht, ehe man anzeigt, was geschehen soll . • • • • •• b) die Interpretation dieser neuen Methode im Sinne einer empirischen bzw. anthropologischen Begründung der ethischen Prinzipienlehre bei Menzer und Küenburg - Nachweis der Unrichtigkeit dieser Auffassung bei Schilpp und Reich • • • •• c) die Unrichtigkeit der These Reichs, daß der junge Kant in der ethischen Prinzipienlehre mit Rousseau den Standpunkt S h a f te sburys teile • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• 3. Die 'Träume eines Geistersehers'. • • • • • • • • • • • •• a) der besondere Charakter dieser Abhandlung und ihre Stellung innerhalb der sonstigen literarischen Arbeiten und Entwürfe Kants

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12 b) die Rousseausche Prägung des Inhalts derselben im allgemeinen: der Unterschied zu Rousseau in der entscheidenden Frage der Motivierung des sittlichen HandeIns durch den Beweggrund der jenseitigen Glückseligkeit. • • • • • • • • • • • c) der für die ethische Prinzipienlehre bedeutsamste Abschnitt der Träume: der moralphilosophische Excurs des 2. Hauptstückes des 1. Teiles . • • • • • • • • • • • • • • • • • a ) die verschiedene Bewertung der hier entwickelten Lehre von der Regel des allgemeinen Willens in der bisherigen Deutung der vorkritischen Ethik • • • • . • • • • • • • ß) die nähere Analyse der Stelle im Kontext: die Unterscheidung dessen, was Kant selbst im folgenden Abschnitt als unverbindliche Spekulation bezeichnet und was er als wirkliche und allgemein zugestandene Beobachtung anerkennt; Kants Hinweis auf die günstigen philosophischen Konsequenzen, die sich aus der genannten Spekulation (eines realen Einflusses der geistigen Wesen aufeinander) ergeben würden. • • . • • • • • • • • • • • • • • • • • • y) die neue Bestimmung des Wesens des moralischen Gefühls als die empfundene Abhängigkeit unseres Willens von der Regel des allgemeinen Willens • • • • • • • • • • • • • ö) die Andeutung einer transzendental-logischen Interpretation des Prinzips des allgemeinen Willens. • • • • • • • E) die Frage, ob Kants neue Konzeption auf das Rousseausche Prinzip der zurückzuführen sei (Schilpp und Reich) • • • • • • • . • • • • • • • • • • • • • • d) die Parallelstellen der Rousseauschen Gedankengänge der Abhandlung in den 'Bemerkungen' • • • • • • • • • • • • 4. Die 'Bemerkungen' zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. • • • • • . • • • • • • • • • • • • a) das Verhältnis der Bemerkungen zu Kants 'Beobachtungen' einerseits und zu Rousseaus Emile andererseits: die Bemerkungen als der Niederschlag der ursprünglichen Auseinandersetzung Kants mit Rousseaus Emile • • • • • • • . • • • • b) Kants Kritik an Rousseau in den Bemerkungen: die Auffassung Schilpps • • • • • • • • • • • • • • • • • • . • • • • • c) die Bedeutung der Bemerkungen als primäre Quelle der Erforschung der Einwirkung Rousseaus auf Kant, vor allem auf dessen ethische Entwicklung, und das methodische Mittel, um eine willkürliche Auswahl und Interpretation der einzelnen Reflexionen bestmöglich zu vermeiden. • • • • • • • • • • d) die neu n wesentlichen Themengruppen der Bemerkungen und ihr Verhältnis zu Rousseau, insbesondere: a) die über das ästhetische Gefühl und den ästhetischen Geschmack: original Kantisches und Rousseausche Einflüsse. ß) die über den Charakter der beiden Geschlechter, insbes. des weiblichen, als der umfangreichsten und zugleich derjenigen, wo sich der Einfluß der Rousseauschen Ideen in seiner ganzen Mächtigkeit offenbart • • • • • • • • • • y) die über das moralische Gefühl und den moralischen Geschmack, wo die Allgemeinheit des moralischen Gefühls und seine wesentliche Unterscheidung vom physischen wei-

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terhin anerkannt wird (gegen Menzer und Schilpp), wo sich aber zugleich deutlich der Einfluß Rousseaus durchsetzt in der Erklärung des Mitleids und der Ein.3chätzung der allgemeinen Menschenliebe sowie in der Einbeziehung der moralischen Gefühlsanlag!-l in das Schema des Gegensatzes zwischen dem Zustand der Natur und der gesellschaftlichen Kultur, und wo schließlich in einer Anzahl von das Wesen des moralischen Gefühls in einer neuen sowohl von Rousseau wie von den Beobachtungen abweichenden Weise bestimmt wird: als Gefühl für die Vollkommenheit der mit ihr selbst übereinstimmenden Willkür • • • • • • 6) die über die wesentliche Natur und Bestimmung des Menschen, in der sich der Einfluß Rousseauscher Ideen wiederum in seiner ganzen Stärke durchsetzt • • • • • • • • E) die über die menschliche Natur im ursprünglichen Naturzustand und im Zustand der gesellschaftlichen Kultur, wo Kant dem Menschen im Zustand der (rohen) Einfalt und Ge.,. nügsamkeit der Natur (wegen der Erbsünde) nur eine rela ti v e Gutheit gegenüber dem der Gesittung zuschreibt, den letzteren aber mit Rousseau als den der Üppigkeit im Genuß und im Wissen und als den der Ungleichheit, Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung beschreibt, in dem die Tugend immer notwendiger, aber auch immer unmöglicher wird, und wo er zugleich die wahre Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen in der Rückkehr aus dem Zustand der geselligen Üppigkeit in den der (weisen) Einfalt und Genügsamkeit durch Selbstbescheidung und Tugend erblickt, wodurch er ein gesitteter Mensch der Natur wird . s) die über das Verhältnis zwischen Religion und Moralität, in der Kant mit Rousseau die religiösen Grundüberzeugungen vor allem auf den moralischen GHLUben gründet und andererseits die Sittlichkeit ihre Vollendung durch die Religion finden läßt, wo er aber sich doch auch in wesentlichen Punkten von Rousseau unterscheidet: so in der Ausschließung des Motivs der jenseitigen Glückseligkeit aUE der eigentlichen sittlichen Motivation, in der Bejahung einer übernatürlichen Beihilfe als Ergänzung der sittlichen Unvollkommenheit, in der positiven Bewertung der Rolle der übernatürlichen Offenbarungsreligion für die Erreichung der letzten Bestimmung des Menschen. • • • • • • " ) die über die Grundprinzipien der Moralität, wo er eine wesentlich andere Auffassung als Rousseau vertritt, indem er die grundlegenden 'Positionen der Preisschrift weiterentwickelt und das dort noch ungelöste Problem des Prinzips der sittlichen Imperative, vor allem in den lateinischen Reflexionen des 2. Teiles, durch das Gesetz des allgemeinen Willens löst; die Frage ob diese zum ursprünglichen corpus der 'Bemerkungen' gehören • • • • • • • . • • • e) Das Verhältnis dieser Lösung des ethischen Grundproblems zu R 0 u s s e au • • • • • • • • • • • • • . • • • • • • • a) der wesentliche Unterschied zwischen der Lösung Kants und der Konzeption Rousseaus im Contrat Social (Kl. Reich)

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12 b) die Rousseausche Prägung des Inhalts derselben im allgemeinen: der Unterschied zu Rousseau in der entscheidenden Frage der Motivierung des sittlichen HandeIns durch den Beweggrund der jenseitigen Glückseligkeit. • • • • • • • • • • • c) der für die ethische Prinzipienlehre bedeutsamste Abschnitt der Träume: der moralphilosophische Excurs des 2. Hauptstückes des 1. Teiles . • • • • • • • • • • • • • • • • • a ) die verschiedene Bewertung der hier entwickelten Lehre von der Regel des allgemeinen Willens in der bisherigen Deutung der vorkritischen Ethik • • • • . • • • • • • • ß) die nähere Analyse der Stelle im Kontext: die Unterscheidung dessen, was Kant selbst im folgenden Abschnitt als unverbindliche Spekulation bezeichnet und was er als wirkliche und allgemein zugestandene Beobachtung anerkennt; Kants Hinweis auf die günstigen philosophischen Konsequenzen, die sich aus der genannten Spekulation (eines realen Einflusses der geistigen Wesen aufeinander) ergeben würden. • • . • • • • • • • • • • • • • • • • • • y) die neue Bestimmung des Wesens des moralischen Gefühls als die empfundene Abhängigkeit unseres Willens von der Regel des allgemeinen Willens • • • • • • • • • • • • • ö) die Andeutung einer transzendental-logischen Interpretation des Prinzips des allgemeinen Willens. • • • • • • • E) die Frage, ob Kants neue Konzeption auf das Rousseausche Prinzip der zurückzuführen sei (Schilpp und Reich) • • • • • • • . • • • • • • • • • • • • • • d) die Parallelstellen der Rousseauschen Gedankengänge der Abhandlung in den 'Bemerkungen' • • • • • • • • • • • • 4. Die 'Bemerkungen' zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. • • • • • . • • • • • • • • • • • • a) das Verhältnis der Bemerkungen zu Kants 'Beobachtungen' einerseits und zu Rousseaus Emile andererseits: die Bemerkungen als der Niederschlag der ursprünglichen Auseinandersetzung Kants mit Rousseaus Emile • • • • • • • . • • • • b) Kants Kritik an Rousseau in den Bemerkungen: die Auffassung Schilpps • • • • • • • • • • • • • • • • • • . • • • • • c) die Bedeutung der Bemerkungen als primäre Quelle der Erforschung der Einwirkung Rousseaus auf Kant, vor allem auf dessen ethische Entwicklung, und das methodische Mittel, um eine willkürliche Auswahl und Interpretation der einzelnen Reflexionen bestmöglich zu vermeiden. • • • • • • • • • • d) die neu n wesentlichen Themengruppen der Bemerkungen und ihr Verhältnis zu Rousseau, insbesondere: a) die über das ästhetische Gefühl und den ästhetischen Geschmack: original Kantisches und Rousseausche Einflüsse. ß) die über den Charakter der beiden Geschlechter, insbes. des weiblichen, als der umfangreichsten und zugleich derjenigen, wo sich der Einfluß der Rousseauschen Ideen in seiner ganzen Mächtigkeit offenbart • • • • • • • • • • y) die über das moralische Gefühl und den moralischen Geschmack, wo die Allgemeinheit des moralischen Gefühls und seine wesentliche Unterscheidung vom physischen wei-

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terhin anerkannt wird (gegen Menzer und Schilpp), wo sich aber zugleich deutlich der Einfluß Rousseaus durchsetzt in der Erklärung des Mitleids und der Ein.3chätzung der allgemeinen Menschenliebe sowie in der Einbeziehung der moralischen Gefühlsanlag!-l in das Schema des Gegensatzes zwischen dem Zustand der Natur und der gesellschaftlichen Kultur, und wo schließlich in einer Anzahl von das Wesen des moralischen Gefühls in einer neuen sowohl von Rousseau wie von den Beobachtungen abweichenden Weise bestimmt wird: als Gefühl für die Vollkommenheit der mit ihr selbst übereinstimmenden Willkür • • • • • • 6) die über die wesentliche Natur und Bestimmung des Menschen, in der sich der Einfluß Rousseauscher Ideen wiederum in seiner ganzen Stärke durchsetzt • • • • • • • • E) die über die menschliche Natur im ursprünglichen Naturzustand und im Zustand der gesellschaftlichen Kultur, wo Kant dem Menschen im Zustand der (rohen) Einfalt und Ge.,. nügsamkeit der Natur (wegen der Erbsünde) nur eine rela ti v e Gutheit gegenüber dem der Gesittung zuschreibt, den letzteren aber mit Rousseau als den der Üppigkeit im Genuß und im Wissen und als den der Ungleichheit, Unfreiheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung beschreibt, in dem die Tugend immer notwendiger, aber auch immer unmöglicher wird, und wo er zugleich die wahre Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen in der Rückkehr aus dem Zustand der geselligen Üppigkeit in den der (weisen) Einfalt und Genügsamkeit durch Selbstbescheidung und Tugend erblickt, wodurch er ein gesitteter Mensch der Natur wird . s) die über das Verhältnis zwischen Religion und Moralität, in der Kant mit Rousseau die religiösen Grundüberzeugungen vor allem auf den moralischen GHLUben gründet und andererseits die Sittlichkeit ihre Vollendung durch die Religion finden läßt, wo er aber sich doch auch in wesentlichen Punkten von Rousseau unterscheidet: so in der Ausschließung des Motivs der jenseitigen Glückseligkeit aUE der eigentlichen sittlichen Motivation, in der Bejahung einer übernatürlichen Beihilfe als Ergänzung der sittlichen Unvollkommenheit, in der positiven Bewertung der Rolle der übernatürlichen Offenbarungsreligion für die Erreichung der letzten Bestimmung des Menschen. • • • • • • " ) die über die Grundprinzipien der Moralität, wo er eine wesentlich andere Auffassung als Rousseau vertritt, indem er die grundlegenden 'Positionen der Preisschrift weiterentwickelt und das dort noch ungelöste Problem des Prinzips der sittlichen Imperative, vor allem in den lateinischen Reflexionen des 2. Teiles, durch das Gesetz des allgemeinen Willens löst; die Frage ob diese zum ursprünglichen corpus der 'Bemerkungen' gehören • • • • • • • . • • • e) Das Verhältnis dieser Lösung des ethischen Grundproblems zu R 0 u s s e au • • • • • • • • • • • • • . • • • • • • • a) der wesentliche Unterschied zwischen der Lösung Kants und der Konzeption Rousseaus im Contrat Social (Kl. Reich)

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15 i3) die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der neuen Lö-

sung des Problems der Verbindlichkeit und die Auffassung Reichs, Kant habe damals ebenso wie Rousseau die Shaftesbury- und Hutchesonsche Lehre vom obersten Grund der Sittlichkeit geteilt. • • • . • • • • • • • • • • • • • • y) die Ansätze und Vorwegnahmen der Kantischen Lösung in der deutschen Aufklärungsphilosophie • • • • • • • • • • 5) Nachweis, daß trotzdem die entscheidende Anregung zur Umformung der Kantischen Prinzipienlehre in der Ethik von der Konzeption des Rousseauschen 'Contrat' ausging • III. Die Erg e b n iss e der Analyse der Quellen aus den Jahren 1764/65: die Kantische Ethik ist in ihren Grundzügen bereits um die Mitte der sechziger Jahre grundgelegt • • • • • • • • IV. Die Rolle und Bedeutung der Dissertation des Jahres 1770 in der moralphilosoJirlschen Entwicklung Kants. • • • • • • • • a) das Zeugnis der Briefe Kants von seinen bis in die Mitte der sechziger Jahre zurückreichenden Plänen und Bemühungen um eine metaphysische Begründung der Moral (Metaphysik der Sitten), die laut Brief an Herz vom 21.2.72 grundsätzlich nicht von der neuen Problematik der theoretischen Metaphysik betroffen wurde • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • b) der wesentliche Fortschritt der Dissertation von 1770 im Bereich des Theoretischen: dfe These vom subjektiven Charakter unserer Raum - und Zeitanschauung und überhaupt die grundsätzliche Neubestimmung des Unterschiedes zwischen Sinnlichkeit und Intellekt, wobei die erstere als Receptivität (Passivität) zum Prinzip der Erkenntnis der phänomenalen, der letztere als Spontaneität (Aktivität) zum Prinzip der Erkenntnis der noumenalen Ordnung wird; der logische und reale Gebrauch des Verstandes und die dogmatische und kritische Funktion der reinen Verstandesbegriffe • • • • • • • • • • c) die präzise Formulierung der metaphysischen Konzeption der ethischen Prinzipienlehre (pertinet ad pur am philosophiam), insofern die moralischen Grundbegriffe als reine Intellektualbegriffe , die nicht der Erfahrung entstammen, gekennzeichnet bzw. die prima diiudicationis principia der Ethik ausschließlich auf den reinen Intellekt zurückgeführt und grundsätzlich von der Sinnlichkeit (auch im Sinne des moral sense der Engländer) unterschieden werden • • • • • • • • • • • d) die Verlegenheit der traditionellen Interpretation, den Standpunkt der Dissertation entwicklungsgeschichtlich zu begreifen und ihren allgemeinen Formulierungen einen konkreten Inhalt zu bestimmen (Menzer, Küenburg). • • • • • • • • • • • • e) die Unverbindlichkeit und Ausweglosigkeit der Interpretation Schilpps . . • • • • • . • . . • . • • • • . . . • • • •

V. KAPITEL: Die Ausgestaltung der ethischen Lehre Kants in der Auseinandersetzung mit Baumgartens 'Initia philosophiae' practicae primae'

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1. Die moralphilosophische Lehre Kants in den sechziger Jahren

nach den Reflexionen dieses Zeitraums zu den Initia Baumgartens

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• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •

a) die Bedeutung der Reflexionen Kants zu seinen Kompendien für die Erforschung seiner philosophischen Entwicklung im allgemeinen und der zu den Initia Baumgartens für die Erforschung seiner ethischen Entwicklung im besonderen • • • • • • • • b) die frühesten Phasen der Reflexionen zu den Initia (Phase ( 5-'1 ) und die in ihnen enthaltene Auseinandersetzung mit der Lehre Baumgartens hinsichtlich: a) der Einteilung der praktischen Philosophie • • • • • i3) des Begriffes und der Ableitung der obligatio moralis. y) des Ursprungs und Aufhörens der Verpflichtungen • • • 15) des Verhältnisses zwischen göttlichem Willen und Verbindlichkeit • • • • . . . • • • • • • • • • • • • • • • • e) der Formulierungen des obersten Pflichtgesetzes des Prinzips der naturgesetzlichen und positiven Verpflichtung sowie der reinen (objektiven) und der subjektiv bedingten Moralität. • . • • . • • • • . • • • • • • • • • • '1) der coactio moralis und der Einteilung der Pflichten in innere und äußere,juridische und ethische,und das Verhältnis des moralischen Zwanges bzw. dieser verschiedenen Verbindlichkeiten zur Freiheit • • . • • • • • • • • e) der Belohnungen und Bestrafungen • • • • • • • • • • • t} der moralischen Zurechnung bzw. Zurechenbarkeit. • • . c) die Reflexionen der Phase '1 auf den Vorsatzblättern des Handexemplars der Initia, die sich mit den allgemeinen Grundfragen der ethischen Prinzipienlehre befassen und zusammen mit den frühen Reflexionen zu Achenwalls Jus Naturale eindrucksvoll den tiefen Einfluß Rousseaus auf Kant demonstrieren . 2. Die moralphilosophische Lehre Kants in den siebziger Jahren nach der 'Philosophia practica universalis' der Ethikvorlesung und den Reflexionen dieses Zeitraums zu den Initia (Bd.XIX), zur Anthropologie (Bd.XV) und Metaphysik (Bd.XVII u. XVIII) und ihr Verhältnis zu seiner ethischen Prinzipienlehre der sechziger Jahre. Bedeutung der Ethikvorlesung und die Frage der Authentizität ihres Textes • • . • • . • • a) das Prooemium • . . • • • • • • • . • . • . . • .• • • • a ) die drei wesentlichen Gedankengruppen i3) die entsprechendenLehrpunkte in den Reflexionen der siebziger und sechziger Jahre. • • • • • . . . • • • • • • b) das Kapitel über die 'moralischen Systemata der Alten' • • • a) der Begriff des Summum Bonum in praktischer Hinsicht mit seinf!n zwei Wesenselementen: der Sittlichkeit als Würdigkeit' glücklich zu sein, und der Glückseligkeit als Erfüllung dieser Würdigkeit . • • . • • • . • • • • • • • i3) die Mängel der Auffassungen der Alten: der Stoa, des Epi-

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15 i3) die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der neuen Lö-

sung des Problems der Verbindlichkeit und die Auffassung Reichs, Kant habe damals ebenso wie Rousseau die Shaftesbury- und Hutchesonsche Lehre vom obersten Grund der Sittlichkeit geteilt. • • • . • • • • • • • • • • • • • • y) die Ansätze und Vorwegnahmen der Kantischen Lösung in der deutschen Aufklärungsphilosophie • • • • • • • • • • 5) Nachweis, daß trotzdem die entscheidende Anregung zur Umformung der Kantischen Prinzipienlehre in der Ethik von der Konzeption des Rousseauschen 'Contrat' ausging • III. Die Erg e b n iss e der Analyse der Quellen aus den Jahren 1764/65: die Kantische Ethik ist in ihren Grundzügen bereits um die Mitte der sechziger Jahre grundgelegt • • • • • • • • IV. Die Rolle und Bedeutung der Dissertation des Jahres 1770 in der moralphilosoJirlschen Entwicklung Kants. • • • • • • • • a) das Zeugnis der Briefe Kants von seinen bis in die Mitte der sechziger Jahre zurückreichenden Plänen und Bemühungen um eine metaphysische Begründung der Moral (Metaphysik der Sitten), die laut Brief an Herz vom 21.2.72 grundsätzlich nicht von der neuen Problematik der theoretischen Metaphysik betroffen wurde • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • b) der wesentliche Fortschritt der Dissertation von 1770 im Bereich des Theoretischen: dfe These vom subjektiven Charakter unserer Raum - und Zeitanschauung und überhaupt die grundsätzliche Neubestimmung des Unterschiedes zwischen Sinnlichkeit und Intellekt, wobei die erstere als Receptivität (Passivität) zum Prinzip der Erkenntnis der phänomenalen, der letztere als Spontaneität (Aktivität) zum Prinzip der Erkenntnis der noumenalen Ordnung wird; der logische und reale Gebrauch des Verstandes und die dogmatische und kritische Funktion der reinen Verstandesbegriffe • • • • • • • • • • c) die präzise Formulierung der metaphysischen Konzeption der ethischen Prinzipienlehre (pertinet ad pur am philosophiam), insofern die moralischen Grundbegriffe als reine Intellektualbegriffe , die nicht der Erfahrung entstammen, gekennzeichnet bzw. die prima diiudicationis principia der Ethik ausschließlich auf den reinen Intellekt zurückgeführt und grundsätzlich von der Sinnlichkeit (auch im Sinne des moral sense der Engländer) unterschieden werden • • • • • • • • • • • d) die Verlegenheit der traditionellen Interpretation, den Standpunkt der Dissertation entwicklungsgeschichtlich zu begreifen und ihren allgemeinen Formulierungen einen konkreten Inhalt zu bestimmen (Menzer, Küenburg). • • • • • • • • • • • • e) die Unverbindlichkeit und Ausweglosigkeit der Interpretation Schilpps . . • • • • • . • . . • . • • • • . . . • • • •

V. KAPITEL: Die Ausgestaltung der ethischen Lehre Kants in der Auseinandersetzung mit Baumgartens 'Initia philosophiae' practicae primae'

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1. Die moralphilosophische Lehre Kants in den sechziger Jahren

nach den Reflexionen dieses Zeitraums zu den Initia Baumgartens

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a) die Bedeutung der Reflexionen Kants zu seinen Kompendien für die Erforschung seiner philosophischen Entwicklung im allgemeinen und der zu den Initia Baumgartens für die Erforschung seiner ethischen Entwicklung im besonderen • • • • • • • • b) die frühesten Phasen der Reflexionen zu den Initia (Phase ( 5-'1 ) und die in ihnen enthaltene Auseinandersetzung mit der Lehre Baumgartens hinsichtlich: a) der Einteilung der praktischen Philosophie • • • • • i3) des Begriffes und der Ableitung der obligatio moralis. y) des Ursprungs und Aufhörens der Verpflichtungen • • • 15) des Verhältnisses zwischen göttlichem Willen und Verbindlichkeit • • • • . . . • • • • • • • • • • • • • • • • e) der Formulierungen des obersten Pflichtgesetzes des Prinzips der naturgesetzlichen und positiven Verpflichtung sowie der reinen (objektiven) und der subjektiv bedingten Moralität. • . • • . • • • • . • • • • • • • • • • '1) der coactio moralis und der Einteilung der Pflichten in innere und äußere,juridische und ethische,und das Verhältnis des moralischen Zwanges bzw. dieser verschiedenen Verbindlichkeiten zur Freiheit • • . • • • • • • • • e) der Belohnungen und Bestrafungen • • • • • • • • • • • t} der moralischen Zurechnung bzw. Zurechenbarkeit. • • . c) die Reflexionen der Phase '1 auf den Vorsatzblättern des Handexemplars der Initia, die sich mit den allgemeinen Grundfragen der ethischen Prinzipienlehre befassen und zusammen mit den frühen Reflexionen zu Achenwalls Jus Naturale eindrucksvoll den tiefen Einfluß Rousseaus auf Kant demonstrieren . 2. Die moralphilosophische Lehre Kants in den siebziger Jahren nach der 'Philosophia practica universalis' der Ethikvorlesung und den Reflexionen dieses Zeitraums zu den Initia (Bd.XIX), zur Anthropologie (Bd.XV) und Metaphysik (Bd.XVII u. XVIII) und ihr Verhältnis zu seiner ethischen Prinzipienlehre der sechziger Jahre. Bedeutung der Ethikvorlesung und die Frage der Authentizität ihres Textes • • . • • . • • a) das Prooemium • . . • • • • • • • . • . • . . • .• • • • a ) die drei wesentlichen Gedankengruppen i3) die entsprechendenLehrpunkte in den Reflexionen der siebziger und sechziger Jahre. • • • • • . . . • • • • • • b) das Kapitel über die 'moralischen Systemata der Alten' • • • a) der Begriff des Summum Bonum in praktischer Hinsicht mit seinf!n zwei Wesenselementen: der Sittlichkeit als Würdigkeit' glücklich zu sein, und der Glückseligkeit als Erfüllung dieser Würdigkeit . • • . • • • . • • • • • • • i3) die Mängel der Auffassungen der Alten: der Stoa, des Epi-

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16 cur,der Kyniker und Platons, vom Summum Bonum und die Vollkommenheit des christlichen Ideals . • • • • • • •• y) die entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre, verglichen mit der der sechziger Jahr:e • . • c) die beiden Vorlesungen über das Prinzip der Moralität a ) Analyse der beiden Abschnitte: ihr Verhältnis zueinander im aUge"meinen und das ihrer drei parallelen Themengruppen im besonderen • • • • • • • • • • • • • • • • •• 13) die der kritischen Themagruppe entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre • • • • • • • •• y) die dem zweiten und zentralen Problemkreis: der positiven Bestimmung des Prinzips der Moralität, entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre 1') in den RR zu den Initia Baumgartens . 2') in den RR zur Anthropologie • • • • • • • • • • 3') in den RR zur Metaphysik. • • • • • • • • • • a) die dem dritten Problemkreis: der Frage nach der bewegenden Kraft der sittlichen Motive bzw. dem Prinzip der sittlichen Exekution, entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre • 1') in den RR zu Baumgartens Initia. • . . . • • • • •• 2') in den RR zur Anthropologie • • • • • • • • • • •• e) die Frage der Zugehörigkeit der beiden Vorlesungen über das Prinzip der Moralität zu dem gleichen Vorlesungszyklus: die Ansicht Küenburgs und ihre Widerlegung • • •• die den Problemgruppen der beiden Vorlesungen entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der sechziger Jahre d) das Kapitel über die obligatio activa et pa-ssiva, über das Entstehen und Aufhören der Verbindlichkeiten und den actus obligatorius, die obligatio naturalis et positiva, das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Moralität und schließlich die Baumgartensehen Formulierungen des obersten Prinzips der Moralität • • • • • • • • . • • • • • • • • • • • •• a) Analyse des Abschnittes und Vergleich der Auffassung Karrts in diesen Fragen zu der Baumgartens • • • • • •• 13 ) die diesbezügliche Lehre Kants in den Reflexionen der sechziger Jahre, vor allem im Hinblick auf die Baumgartensehe Formulierung des obersten Prinzips der Moralität e) die beiden Vorlesungen 'Vom moralischen Zwang' und 'Von der praktischen Necessitation' • • • • • • • • • • • • •• a) Analyse derselben: moralischer Zwang und praktische Necessitation und ihr Verhältnis zur Freiheit; obligatio activa und passiva bzw. interna und externa als Prinzip der Unterscheidung zwischen den bloß ethischen und den juridisehen Verbindlichkeiten; die äußere, juridische Verbindlichkeit als Grund der moralischen Befugnis, ihre Erfüllung auch pathologisch zu erzwingen; die Möglichkeit einer bloß juridischen Erfüllung aus dem Motiv des äußeren Zwanges nicht bloß der Rechts-, sondern auch der ethischen Verpflichtungen'j Kants Kritik an dem Baumgartensehen Prinzip der Einteilung der Verbindlichkeiten in bloß ethische und juridische • • • • . • • • • • • • • • ••

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f) die Abschnitte 'Von den Gesetzen', 'De litte ra legis' und 'Vom

Gesetzgeber' • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• a} Analyse dieser Abschnitte: der Begriff des Gesetzes im allgemeinen und des moralischen im besonderen sowie des Jus als moralischer Befugnis und" als System der Rechtsgesetze nach Baumgarten und Kant; die Unterscheidung zwischen strengem und Billigkeitsrecht, zwischen natürlichem .und positivem Recht und die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Ethik und Jus gegenüber Baumgarten; BaumgartenscheFormulierungen des obersten Rechtsgesetzes; die wichtige Unterscheidung zwischen auctor legis und legislator, die nach Baumgarten identisch sind: Gott ist im Hinblick auf das moralische Gesetz nicht auctor legis, sondern legislator. . • • • • • • . • • • • • •• ß} Kants entsprechende Lehren in den Reflexionen der siebziger Jahre • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• y) seine diesbezügliche Lehre in den Reflexionen der sechziger Jahre • • • • • • • • • • • • • • • • • • g) das Kapitel 'Von den Belohnungen und Bestrafungen' • a) Analyse: die Bedeutung der Belohnungen und Bestrafungen in der Moral bei Baumgarten; die wesentliche Unterscheidung zwischen den praemia auctorantia und den praemia remunerantia in ihrem Verhältnis zur Moralität. Warum keine praemia auctorantia in der Religion; die Belohnungen Gottes sind alle praemia gratuita; keine eingebildete Reinlichkeit der Moral, die alle Verdienste wegstreicht. Ablehnung der Baumgartensehen Formulierung des obersten Pflichtgesetzes nach Lohn und Strafe. Die Einteilung der in warnende und rächende (pragmatische und mora1ische); die indoles mercennaria und erecta aus der Motivation der Erfüllung der sittlichen Verpflichtungen; die Bedeutung von Lohn und Strafe als Ersatz der moralischen Motivation und Erziehungsmittel zu dieser. • • • • • •• 13) die entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der sechziger und siebziger Jahre • • • • • . • • • • • •• h} die Abschnitte über die Imputatio und die Instanz, die rechtskräftig (valide) zuzurechnen vermag: das forum. • • • • •• a) Analyse: Unterschied zwischen der Lehre Baumgartens und Kants in der Bestimmung des Verhältnisses von imputatio zur Freiheit im psychologischen (executionis) und moralischen Sinn: alle imputatio ist entweder in meritum oder in demeritum; Zurechnung der F 91 gen der Handlungen. Die Grade der die Zurechnung des propositum und conatus; der Einfluß der Gewohnheit, der menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit auf die Zurechenbarkeit der Handlungen. Das forum (competens) als rechtskräftig zurechnende Instanz. Solche gibt es nach Karrt nur zwei: das forum externum (humanum) und das forum internum (divinum) des Gewissens. • • • • • • • • • • • • • • • ••

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16 cur,der Kyniker und Platons, vom Summum Bonum und die Vollkommenheit des christlichen Ideals . • • • • • • •• y) die entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre, verglichen mit der der sechziger Jahr:e • . • c) die beiden Vorlesungen über das Prinzip der Moralität a ) Analyse der beiden Abschnitte: ihr Verhältnis zueinander im aUge"meinen und das ihrer drei parallelen Themengruppen im besonderen • • • • • • • • • • • • • • • • •• 13) die der kritischen Themagruppe entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre • • • • • • • •• y) die dem zweiten und zentralen Problemkreis: der positiven Bestimmung des Prinzips der Moralität, entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre 1') in den RR zu den Initia Baumgartens . 2') in den RR zur Anthropologie • • • • • • • • • • 3') in den RR zur Metaphysik. • • • • • • • • • • a) die dem dritten Problemkreis: der Frage nach der bewegenden Kraft der sittlichen Motive bzw. dem Prinzip der sittlichen Exekution, entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der siebziger Jahre • 1') in den RR zu Baumgartens Initia. • . . . • • • • •• 2') in den RR zur Anthropologie • • • • • • • • • • •• e) die Frage der Zugehörigkeit der beiden Vorlesungen über das Prinzip der Moralität zu dem gleichen Vorlesungszyklus: die Ansicht Küenburgs und ihre Widerlegung • • •• die den Problemgruppen der beiden Vorlesungen entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der sechziger Jahre d) das Kapitel über die obligatio activa et pa-ssiva, über das Entstehen und Aufhören der Verbindlichkeiten und den actus obligatorius, die obligatio naturalis et positiva, das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Moralität und schließlich die Baumgartensehen Formulierungen des obersten Prinzips der Moralität • • • • • • • • . • • • • • • • • • • • •• a) Analyse des Abschnittes und Vergleich der Auffassung Karrts in diesen Fragen zu der Baumgartens • • • • • •• 13 ) die diesbezügliche Lehre Kants in den Reflexionen der sechziger Jahre, vor allem im Hinblick auf die Baumgartensehe Formulierung des obersten Prinzips der Moralität e) die beiden Vorlesungen 'Vom moralischen Zwang' und 'Von der praktischen Necessitation' • • • • • • • • • • • • •• a) Analyse derselben: moralischer Zwang und praktische Necessitation und ihr Verhältnis zur Freiheit; obligatio activa und passiva bzw. interna und externa als Prinzip der Unterscheidung zwischen den bloß ethischen und den juridisehen Verbindlichkeiten; die äußere, juridische Verbindlichkeit als Grund der moralischen Befugnis, ihre Erfüllung auch pathologisch zu erzwingen; die Möglichkeit einer bloß juridischen Erfüllung aus dem Motiv des äußeren Zwanges nicht bloß der Rechts-, sondern auch der ethischen Verpflichtungen'j Kants Kritik an dem Baumgartensehen Prinzip der Einteilung der Verbindlichkeiten in bloß ethische und juridische • • • • . • • • • • • • • • ••

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f) die Abschnitte 'Von den Gesetzen', 'De litte ra legis' und 'Vom

Gesetzgeber' • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• a} Analyse dieser Abschnitte: der Begriff des Gesetzes im allgemeinen und des moralischen im besonderen sowie des Jus als moralischer Befugnis und" als System der Rechtsgesetze nach Baumgarten und Kant; die Unterscheidung zwischen strengem und Billigkeitsrecht, zwischen natürlichem .und positivem Recht und die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Ethik und Jus gegenüber Baumgarten; BaumgartenscheFormulierungen des obersten Rechtsgesetzes; die wichtige Unterscheidung zwischen auctor legis und legislator, die nach Baumgarten identisch sind: Gott ist im Hinblick auf das moralische Gesetz nicht auctor legis, sondern legislator. . • • • • • • . • • • • • •• ß} Kants entsprechende Lehren in den Reflexionen der siebziger Jahre • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• y) seine diesbezügliche Lehre in den Reflexionen der sechziger Jahre • • • • • • • • • • • • • • • • • • g) das Kapitel 'Von den Belohnungen und Bestrafungen' • a) Analyse: die Bedeutung der Belohnungen und Bestrafungen in der Moral bei Baumgarten; die wesentliche Unterscheidung zwischen den praemia auctorantia und den praemia remunerantia in ihrem Verhältnis zur Moralität. Warum keine praemia auctorantia in der Religion; die Belohnungen Gottes sind alle praemia gratuita; keine eingebildete Reinlichkeit der Moral, die alle Verdienste wegstreicht. Ablehnung der Baumgartensehen Formulierung des obersten Pflichtgesetzes nach Lohn und Strafe. Die Einteilung der in warnende und rächende (pragmatische und mora1ische); die indoles mercennaria und erecta aus der Motivation der Erfüllung der sittlichen Verpflichtungen; die Bedeutung von Lohn und Strafe als Ersatz der moralischen Motivation und Erziehungsmittel zu dieser. • • • • • •• 13) die entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der sechziger und siebziger Jahre • • • • • . • • • • • •• h} die Abschnitte über die Imputatio und die Instanz, die rechtskräftig (valide) zuzurechnen vermag: das forum. • • • • •• a) Analyse: Unterschied zwischen der Lehre Baumgartens und Kants in der Bestimmung des Verhältnisses von imputatio zur Freiheit im psychologischen (executionis) und moralischen Sinn: alle imputatio ist entweder in meritum oder in demeritum; Zurechnung der F 91 gen der Handlungen. Die Grade der die Zurechnung des propositum und conatus; der Einfluß der Gewohnheit, der menschlichen Schwäche und Gebrechlichkeit auf die Zurechenbarkeit der Handlungen. Das forum (competens) als rechtskräftig zurechnende Instanz. Solche gibt es nach Karrt nur zwei: das forum externum (humanum) und das forum internum (divinum) des Gewissens. • • • • • • • • • • • • • • • ••

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19 ß) die entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der sieb-

ziger und sechziger Jahre • • • • • • • • • • • • • • • " 3. Ergebnisse und Folgerungen: Das Problem einer 'kritischen' Ethik bei Kant. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• a) die unmittelbaren Ergebnisse der vorausgehenden Analysen: die wesentliche Authentizität des von Menzer edierten Textes der Ethikvorlesung und der Schluß vom letzteren auf die Gestalt des Ethikkollegs Kants in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre: die damit gegebene relativ untergeordnete Bedeutung der genauenDatierung der Niederschrift des Vorlesungstextes für die Erforschung der moralphil. Entwicklung Kants. b) die Auffassung der traditionellen Interpretation, daß Kant die endgültige Begründung der Sittlichkeit erst im Zusammenhang und unter dem Einfluß seiner neuen Konzeption der Subjektivität und des Wissens gelungen sei (Menzer, Henrich) und die Gründe, auf die sich jene stützt. • • • • • • • • • • • •• c) die tatsächlich feststellbaren Momente des Einflusses der subjektiv-kritischen Metaphysik Kants auf die endgültige Gestalt und Systematik seiner Ethik • • • • • • • • • • • •• a) nachweisbare Einflüsse in den Reflexionen unmittelbar vor und nach 1780 • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• ß) der Einfluß der Systematik der K. d. r. V. auf die ethischen Grundlegungsschriften: der Ansatz einer Kritik der re inen praktischen Vernunft in Entsprechung zu der der theoretischen im III. Abschn. der Grundlegung; die große Bedeutung, die infolge der neuen Theorie des Wissens dem Problem der Vereinbarkeit zwischen Naturkausalität und Freiheit in den ethischen Grundlegungsschriften zuerkannt wird; die Nachbildung der Systematik der K. d. pr. V. nach dem Modell derjenigen der K.d.r. V. • • • • • • • • •• y) die Abhängigkeit der Systematik der Kantischen Ethik von dem Problem der Bestimmung des Wesensverhältnisses zwischen reiner theoretischer und reiner praktischer Vernunft

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d) die Frage, ob diese Einflüsse die Kantische Ethik zu einer der Substanz nach kritischen machen • • • • • • • • • •• a) im Falle der Durchführung einer Kritik der reinen praktischen Vernunft im Sinne des ill. Abschn. der Grundlegung: die Folgen, die sich ergeben würden • • • • • • . • •• ß) die Gründe, die Kant vermutlich bewogen haben, den Plan einer Kritik der reinen praktischen Vernunft aufzugeben, um in der Kr.d.pr. V. umgekehrt die Freiheit aus dem unmittelbar im sittlichen Bewußtsein gegebenen Faktum des Sittengesetzes abzuleiten • • • • • • • • • • • • • •• y) die Bestimmung des Sinnes, in welchem die Ethik Kants 'kritisch' genannt werden kann: die substantielle Unabhängigkeit seiner entscheidenden ethischen Lehren von seinem subjektiv-kritischen Standpunkt in der Metaphysik. • •• e) die Frage, ob die E nt w i c k lu n g der ethischen Prinzipienlehre Kants entscheidend durch seinen subjektiv-kritischen Standpunkt in der Metaphysik beeinflußt wurde, wie Henrich voraussetzt. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • ••

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a) die beiden äußeren Gründe für diese Annahme, namentlich das Ausbleiben der von Kant im Zeitraum von 1765 - 1785 wiederholt angekündigten Publikationen zur Ethik, das auf Schwierigkeiten in der Begründung des kategorischen Imperativs verweisen soll, und ihre mangelnde Beweiskraft. ß) die großen Peripetien der Entwicklung Kants auf dem theoretischen und praktischen Gebiet in ihrem Verhältnis zueinander und die Tatsache, daß seine ethische Prinzipienlehre von der letzten und entscheidenden Problematik der Metaphysik, die ihn unmittelbar zu seiner neuen Theorie des Wissens und der Subjektivität führt, nicht betroffen wird ...................... .. y) die konsequente Durchführung dieses Standpunktes in den Reflexionen der siebziger und achtziger Jahre und in der Kr .. d. pr .. V.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. • .. .. .. .. .. .. .. S) die damit erwiesene wesentliche Unabhängigkeit auch der E nt w i c k I u n g der ethischen Prinzipienlehre Kants von seinem subjektiv-kritischen Standpunkt in der Metaphysik f) Zusammenfassung und Rückblick • • Literatur . • • • • • . . • • • . . •.•.•.•....

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19 ß) die entsprechende Lehre Kants in den Reflexionen der sieb-

ziger und sechziger Jahre • • • • • • • • • • • • • • • " 3. Ergebnisse und Folgerungen: Das Problem einer 'kritischen' Ethik bei Kant. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• a) die unmittelbaren Ergebnisse der vorausgehenden Analysen: die wesentliche Authentizität des von Menzer edierten Textes der Ethikvorlesung und der Schluß vom letzteren auf die Gestalt des Ethikkollegs Kants in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre: die damit gegebene relativ untergeordnete Bedeutung der genauenDatierung der Niederschrift des Vorlesungstextes für die Erforschung der moralphil. Entwicklung Kants. b) die Auffassung der traditionellen Interpretation, daß Kant die endgültige Begründung der Sittlichkeit erst im Zusammenhang und unter dem Einfluß seiner neuen Konzeption der Subjektivität und des Wissens gelungen sei (Menzer, Henrich) und die Gründe, auf die sich jene stützt. • • • • • • • • • • • •• c) die tatsächlich feststellbaren Momente des Einflusses der subjektiv-kritischen Metaphysik Kants auf die endgültige Gestalt und Systematik seiner Ethik • • • • • • • • • • • •• a) nachweisbare Einflüsse in den Reflexionen unmittelbar vor und nach 1780 • • • • • • • • • • • • • • • • • • •• ß) der Einfluß der Systematik der K. d. r. V. auf die ethischen Grundlegungsschriften: der Ansatz einer Kritik der re inen praktischen Vernunft in Entsprechung zu der der theoretischen im III. Abschn. der Grundlegung; die große Bedeutung, die infolge der neuen Theorie des Wissens dem Problem der Vereinbarkeit zwischen Naturkausalität und Freiheit in den ethischen Grundlegungsschriften zuerkannt wird; die Nachbildung der Systematik der K. d. pr. V. nach dem Modell derjenigen der K.d.r. V. • • • • • • • • •• y) die Abhängigkeit der Systematik der Kantischen Ethik von dem Problem der Bestimmung des Wesensverhältnisses zwischen reiner theoretischer und reiner praktischer Vernunft

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d) die Frage, ob diese Einflüsse die Kantische Ethik zu einer der Substanz nach kritischen machen • • • • • • • • • •• a) im Falle der Durchführung einer Kritik der reinen praktischen Vernunft im Sinne des ill. Abschn. der Grundlegung: die Folgen, die sich ergeben würden • • • • • • . • •• ß) die Gründe, die Kant vermutlich bewogen haben, den Plan einer Kritik der reinen praktischen Vernunft aufzugeben, um in der Kr.d.pr. V. umgekehrt die Freiheit aus dem unmittelbar im sittlichen Bewußtsein gegebenen Faktum des Sittengesetzes abzuleiten • • • • • • • • • • • • • •• y) die Bestimmung des Sinnes, in welchem die Ethik Kants 'kritisch' genannt werden kann: die substantielle Unabhängigkeit seiner entscheidenden ethischen Lehren von seinem subjektiv-kritischen Standpunkt in der Metaphysik. • •• e) die Frage, ob die E nt w i c k lu n g der ethischen Prinzipienlehre Kants entscheidend durch seinen subjektiv-kritischen Standpunkt in der Metaphysik beeinflußt wurde, wie Henrich voraussetzt. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • ••

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a) die beiden äußeren Gründe für diese Annahme, namentlich das Ausbleiben der von Kant im Zeitraum von 1765 - 1785 wiederholt angekündigten Publikationen zur Ethik, das auf Schwierigkeiten in der Begründung des kategorischen Imperativs verweisen soll, und ihre mangelnde Beweiskraft. ß) die großen Peripetien der Entwicklung Kants auf dem theoretischen und praktischen Gebiet in ihrem Verhältnis zueinander und die Tatsache, daß seine ethische Prinzipienlehre von der letzten und entscheidenden Problematik der Metaphysik, die ihn unmittelbar zu seiner neuen Theorie des Wissens und der Subjektivität führt, nicht betroffen wird ...................... .. y) die konsequente Durchführung dieses Standpunktes in den Reflexionen der siebziger und achtziger Jahre und in der Kr .. d. pr .. V.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. • .. .. .. .. .. .. .. S) die damit erwiesene wesentliche Unabhängigkeit auch der E nt w i c k I u n g der ethischen Prinzipienlehre Kants von seinem subjektiv-kritischen Standpunkt in der Metaphysik f) Zusammenfassung und Rückblick • • Literatur . • • • • • . . • • • . . •.•.•.•....

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Zur Einführung

Ein" neue Abhandlung über Kants vorkritische Ethik scheint von vornherein dazu verurteilt, bereits getane Arbeit noch einmal tun zu müssen; denn über die wenigen Seiten seiner vorkritischen Schriften, die e t his ehe Probleme behandeln oder berühren, ist seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine ganze Anzahl von Abhandlungen veröffentlicht worden, Allerdings handelt es sich hierbei meist um ältere Inauguraldissertationen, von denen nicht weniger als vier aus dem Zeitraum von 1893-1900 gedruckt vorliegen 1. Dazu korrunt u. a. eine jüngere Dissertation aus den zwanziger Jahren 2 und insbesondere eine kurz vor dem zweiten Weltkrieg erschienene größere anlerikanische Arbeit: P. A. Schilpp, 'Kants Pre-Critical Ethics', die auch in der deutschen Kritik Beachtung und Anerkennung gefunden hat 3 • Das Urteil A. Diemers, daß die vorkritischE Epoche der Kantischen Philosophie sowohl in allgemeiner Hinsicht wie iq Hinsicht auf die Entwicklung einzelner Probleme - vor allem ethischer Probleme - schon ziemlich eingehend bearbeitet sei 4, scheint also, wenigstens soweit es die Ethik betrifft, zu Recht zu bestehen. Trotzdem erschien dem Verfasser eine Neubearbeitung dieses Gegenstandes geboten, vornehmlich aus drei Gründen: Fürs er s te war er auf Grund eingehenderer Textanalysen bereits in seiner (unveröffentlichten) Münchener Dissertations zur Überzeugung gelangt, daß in den bisherigen Arbeiten manche der vorkritischen Schriften Kants - vor allem die Abhandlung über das Gefühl des Schönen und Erhabenen - nicht richtig in ihrem Verhältnis zu seiner moralphilosophischen Entwicklung gesehen wurden, was aber fast notwendig zu einer einseitigen und verzerrten Vorstellung von dieser letzteren führen mußte. Dazu kam in der Folge auf Grund neuer Studien die weitere, daß den beiden groß'en Vertretern der deutschen Aufklärungsphilosophie , Wo I f f und C r u s i u s , eine wesentlich grpßere Bedeutung für die Entwicklung der Kantischen Ethik zukommt, als 1) Fr. W. Foerster, Der EntWicklungsgang der Kantischen Ethik bis zur Kritik der Reinen Vernunft, Berlin 1893; Osias T h 0 n, Die Grundprinzipien der Kantischen Moralphilosophie in ihrer Entwicklung, Berlin 1895; Paul M en zer, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik bis zum Erscheinen der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Berlin 1897; fortgesetzt in Kant-Studien II (1898) S. 290-322; III (1899) S. 41 104; Karl Sc h m i d t, Beiträge zur Entwicklung der Kantischen Ethik, Marburg 1900. 2) Max Küenburg S.J., Der Begriff der Pflicht in Kants vorkritischen Schriften, Innsbruck 1927. 3) P.A. Schilpp, Kant's Pre-Critical Ethics, Evanston and Chicago 1938.- Vgl. Philos.Rundschau. I. Jahrg. 1953/54 S.127. 4) Kant-Studien Bd. XLV. (1953/54) S.22. 5) Josef Schmucker, Die Entwicklung der Lehre Kants von den Prinzipien der Moralität bis zur Kritik der Reinen Vernunft, Diss. München 1948.

Zur Einführung

Ein" neue Abhandlung über Kants vorkritische Ethik scheint von vornherein dazu verurteilt, bereits getane Arbeit noch einmal tun zu müssen; denn über die wenigen Seiten seiner vorkritischen Schriften, die e t his ehe Probleme behandeln oder berühren, ist seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine ganze Anzahl von Abhandlungen veröffentlicht worden, Allerdings handelt es sich hierbei meist um ältere Inauguraldissertationen, von denen nicht weniger als vier aus dem Zeitraum von 1893-1900 gedruckt vorliegen 1. Dazu korrunt u. a. eine jüngere Dissertation aus den zwanziger Jahren 2 und insbesondere eine kurz vor dem zweiten Weltkrieg erschienene größere anlerikanische Arbeit: P. A. Schilpp, 'Kants Pre-Critical Ethics', die auch in der deutschen Kritik Beachtung und Anerkennung gefunden hat 3 • Das Urteil A. Diemers, daß die vorkritischE Epoche der Kantischen Philosophie sowohl in allgemeiner Hinsicht wie iq Hinsicht auf die Entwicklung einzelner Probleme - vor allem ethischer Probleme - schon ziemlich eingehend bearbeitet sei 4, scheint also, wenigstens soweit es die Ethik betrifft, zu Recht zu bestehen. Trotzdem erschien dem Verfasser eine Neubearbeitung dieses Gegenstandes geboten, vornehmlich aus drei Gründen: Fürs er s te war er auf Grund eingehenderer Textanalysen bereits in seiner (unveröffentlichten) Münchener Dissertations zur Überzeugung gelangt, daß in den bisherigen Arbeiten manche der vorkritischen Schriften Kants - vor allem die Abhandlung über das Gefühl des Schönen und Erhabenen - nicht richtig in ihrem Verhältnis zu seiner moralphilosophischen Entwicklung gesehen wurden, was aber fast notwendig zu einer einseitigen und verzerrten Vorstellung von dieser letzteren führen mußte. Dazu kam in der Folge auf Grund neuer Studien die weitere, daß den beiden groß'en Vertretern der deutschen Aufklärungsphilosophie , Wo I f f und C r u s i u s , eine wesentlich grpßere Bedeutung für die Entwicklung der Kantischen Ethik zukommt, als 1) Fr. W. Foerster, Der EntWicklungsgang der Kantischen Ethik bis zur Kritik der Reinen Vernunft, Berlin 1893; Osias T h 0 n, Die Grundprinzipien der Kantischen Moralphilosophie in ihrer Entwicklung, Berlin 1895; Paul M en zer, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik bis zum Erscheinen der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Berlin 1897; fortgesetzt in Kant-Studien II (1898) S. 290-322; III (1899) S. 41 104; Karl Sc h m i d t, Beiträge zur Entwicklung der Kantischen Ethik, Marburg 1900. 2) Max Küenburg S.J., Der Begriff der Pflicht in Kants vorkritischen Schriften, Innsbruck 1927. 3) P.A. Schilpp, Kant's Pre-Critical Ethics, Evanston and Chicago 1938.- Vgl. Philos.Rundschau. I. Jahrg. 1953/54 S.127. 4) Kant-Studien Bd. XLV. (1953/54) S.22. 5) Josef Schmucker, Die Entwicklung der Lehre Kants von den Prinzipien der Moralität bis zur Kritik der Reinen Vernunft, Diss. München 1948.

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22 ihnen gemeinhin zugeschrieben wird und daß umgekehrt der Einfluß der englischen Moralphilosophen und in gewissem Sinn auch der Rousseaus von den meisten Interpreten dementsprechend überschätzt wird. Der zweite entscheidende Grund, der eine neue Bearbeitung dieser Materie rechtfertigt, liegt in der Tatsache, daß mit dem Erscheinen des XIX. und XX. Bandes der Akademieausgabe nun das wesentliche Material des KantischenNachlasses zu dieser Frage veröffentlicht ist. Die ganze Bedeutung des letzteren läßt sich den Worten entnehmen, mit denen seinerzeit A. Messer das zweite, die vorkritische Entwicklung betreffende Kapitel seines Buches über die Ethik Kants eingeleitet hat: "Eine eingehende Entwicklungsgeschichte der ethischen Anschauungen Kants wird sicherst dann mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen lassen, wenn das gesamte noch z. Zt. erreichbare Material in der Berliner Akademie-Ausgabe der Werke Kants geordnet vorliegen wird"6. Während nun Band XIX mit Kants Reflexionen zu den Kompendien A. G.Bawngartens und G. Achenwalls 7 Schilpp bereits vorlag, aber u. E. von ihm nicht in seiner fundamentalen Bedeutung gewürdigt und entsprechend ausgewertet wurde, erschien der Band XX mit den Bemerkungen zu den 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' und anderen wichtigen Nachlaßstücken erst einige Jahre nach der Arbeit Schilpps (nämlich im Jahre 1942). Nun aber ist gerade die Veröffentlichung dieses Bandes nach unserer Überzeugung von einschneidender Bedeutung für die Erforschung ,der moralphilosophischen Entwicklung Kants in der vor kritischen Phase; denn er bringt erstmals den Gesamttext der genannten umfangreichen Reflexionen in der ursprünglichen Reihenfolge und Anordnung, zugleich mit dem Text des Handexemplars der 'Beobachtungen' und den notwendigen textkritischen Anmerkungen, und gibt außerdem eine hinreichende Sicherheit in der Frage der Datierung. Der Herausgeber, G. Lehmann, berichtet in seiner Einleitung (am Schluß des Bandes), daß man die 'Bemerkungen' schon auf Grund der früheren Datierungsbestimmungen allgemein der Phase" (1764-1768) einordnete, daß aber spätere. genauere Untersuchungen allein die Jahre 1764 und 65 für ihre Entstehung ergaben, und er betont. daß weder sachlich noch handschriftlich ein Grund vorliege, über das Jahr 1765 hinauszugehen 8. Diese nun zugänglich gewordene originale Textgestalt der 'Bemerkungen' gewährt uns nicht nur wichtige Aufschlüsse über die moralphilosophischen Anschauungen Kants um die Mitte des Jahrzehnts, o'

6) A Messer. Kants Ethik. S.l1 (Leipzig 1904). 7) A.G. Baumgarten. lDitia philosophiae practicae primae. Halae Magdeb. 1760: G. Achen-

w a 11. Juris Naturalis pars posterior. GottiDgae 1763. 8) KGS XIV. S.XXXVll (Adickes): XX. S.472 (G.Lehmann).

sondern sie läßt uns auch wesentlich klarer die Art des Einflusses erkennen, den Rousseau damals auf ihn ausübte und wirft sonicht zuletzt auch ein bedeutsames Licht auf seine beiden Abhandlungen, die zu Beginn bzw. am Ende dieses zweijährigen Zeitraums entstanden sind, nämlich die bereits erwähnten 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' (Spätjahr 1763) und die 'Träume eines Geistersehers' (Ende 1765), deren Mißverstehen sich mehr als einmal verhängnisvoll für die Interpretation der ganzen vorkritischen Ethik ausgewirkt hat. Die Bedeutung der Veröffentlichung des Bandes XX für die Erforschung der letzteren kann also kaum überschätzt werden, zumal wenn man sich die mangelhafte Textgestalt der 'Bemerkungen' vergegenwärtigt, auf die man bisher angewiesen und die auch Schilpp noch zu benützen gezwungen war: jene nämlich, in der sie Schubert um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erstmals ediert hat und die dann auch von anderen Herausgebern übernommen wurde: sie enthält, wie wiederum Lehmann in seiner bemerkt, noch nicht den vierten Teil des Gesamtmaterials und auch diesen nur in einer willkürlichen Auswahl und Anordnung mit z. T; entstelltem und nach Konjekturen ergänztem Text 9 • So ist es nicht zu verwundern, daß die 'Bemerkungen' in dieser fragmentarischen Gestalt eine recht fragwürdige Quelle für die Forschung darstellten und nicht selten zu ganz falschen Schlußfolgerungen verleitet haben. Und schließlich sind es die radikalen Folgerungen, zu denen Sc h i1 pp in seiner oben erwähnten Abhandlung gelangte, die zu einer Neuuntersuchung der Texte förmlich drängen. Dieser Autor lehnt die bisher als gültig betrachtete 'Standardinterpretation " wie er sie vor allem in Menzers preisgekrönter Arbeit verkörpert sieht, weitgehend ab und stellt in überzeugender Weise manche festgefahrenen und unkritisch weitertradierten Thesen der Vergangenheit in Frage lO • Seine pos i ti v e Deutung der vorkritischen Entwicklung Kants jedoch - diese besteht nach ihm in der Andeutung und immer klareren Herausbildung eines rein methodischen Formalismus als eigentlicher Lösung des ethischen Grundproblems l l - steht u. E. in einem fühlbaren Gegensatz zu den wirklichen Anschauungen Kants während dieser Epoche. Schilpp glaubt, mit dieser seiner Interpretation der vorkritischen Ethik zugleich den Zugang zu einer ganz neuen Auffassung der k r i t i s ehe n gewonnen zu haben und stellt eine größere 9) KGS XX. S.471. 473. 10) Vgl. Kant's Pre-Critical Ethics. S. xm ff. : sowie Kap. XI S.169 f. ll} Dieser methodische Formalismus wird von Schilpp näherhin als der eines zeitlich-prozeßhaften KODStruieren.< der jeweils sich aus den konkreten Umständen und Verhältnissen ergebenden Objekte der 'reinen praktischen Vernunft' gedacht. so daß er jedes vorgegebene. bereits feststehende inhaltlich bestimmte Prinzip in der Ethik ausschließt und gerade dadurch als Prinzip eines unbegrenzt möglichen sittlichen Fortschrittes fungieren kann.

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22 ihnen gemeinhin zugeschrieben wird und daß umgekehrt der Einfluß der englischen Moralphilosophen und in gewissem Sinn auch der Rousseaus von den meisten Interpreten dementsprechend überschätzt wird. Der zweite entscheidende Grund, der eine neue Bearbeitung dieser Materie rechtfertigt, liegt in der Tatsache, daß mit dem Erscheinen des XIX. und XX. Bandes der Akademieausgabe nun das wesentliche Material des KantischenNachlasses zu dieser Frage veröffentlicht ist. Die ganze Bedeutung des letzteren läßt sich den Worten entnehmen, mit denen seinerzeit A. Messer das zweite, die vorkritische Entwicklung betreffende Kapitel seines Buches über die Ethik Kants eingeleitet hat: "Eine eingehende Entwicklungsgeschichte der ethischen Anschauungen Kants wird sicherst dann mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen lassen, wenn das gesamte noch z. Zt. erreichbare Material in der Berliner Akademie-Ausgabe der Werke Kants geordnet vorliegen wird"6. Während nun Band XIX mit Kants Reflexionen zu den Kompendien A. G.Bawngartens und G. Achenwalls 7 Schilpp bereits vorlag, aber u. E. von ihm nicht in seiner fundamentalen Bedeutung gewürdigt und entsprechend ausgewertet wurde, erschien der Band XX mit den Bemerkungen zu den 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' und anderen wichtigen Nachlaßstücken erst einige Jahre nach der Arbeit Schilpps (nämlich im Jahre 1942). Nun aber ist gerade die Veröffentlichung dieses Bandes nach unserer Überzeugung von einschneidender Bedeutung für die Erforschung ,der moralphilosophischen Entwicklung Kants in der vor kritischen Phase; denn er bringt erstmals den Gesamttext der genannten umfangreichen Reflexionen in der ursprünglichen Reihenfolge und Anordnung, zugleich mit dem Text des Handexemplars der 'Beobachtungen' und den notwendigen textkritischen Anmerkungen, und gibt außerdem eine hinreichende Sicherheit in der Frage der Datierung. Der Herausgeber, G. Lehmann, berichtet in seiner Einleitung (am Schluß des Bandes), daß man die 'Bemerkungen' schon auf Grund der früheren Datierungsbestimmungen allgemein der Phase" (1764-1768) einordnete, daß aber spätere. genauere Untersuchungen allein die Jahre 1764 und 65 für ihre Entstehung ergaben, und er betont. daß weder sachlich noch handschriftlich ein Grund vorliege, über das Jahr 1765 hinauszugehen 8. Diese nun zugänglich gewordene originale Textgestalt der 'Bemerkungen' gewährt uns nicht nur wichtige Aufschlüsse über die moralphilosophischen Anschauungen Kants um die Mitte des Jahrzehnts, o'

6) A Messer. Kants Ethik. S.l1 (Leipzig 1904). 7) A.G. Baumgarten. lDitia philosophiae practicae primae. Halae Magdeb. 1760: G. Achen-

w a 11. Juris Naturalis pars posterior. GottiDgae 1763. 8) KGS XIV. S.XXXVll (Adickes): XX. S.472 (G.Lehmann).

sondern sie läßt uns auch wesentlich klarer die Art des Einflusses erkennen, den Rousseau damals auf ihn ausübte und wirft sonicht zuletzt auch ein bedeutsames Licht auf seine beiden Abhandlungen, die zu Beginn bzw. am Ende dieses zweijährigen Zeitraums entstanden sind, nämlich die bereits erwähnten 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' (Spätjahr 1763) und die 'Träume eines Geistersehers' (Ende 1765), deren Mißverstehen sich mehr als einmal verhängnisvoll für die Interpretation der ganzen vorkritischen Ethik ausgewirkt hat. Die Bedeutung der Veröffentlichung des Bandes XX für die Erforschung der letzteren kann also kaum überschätzt werden, zumal wenn man sich die mangelhafte Textgestalt der 'Bemerkungen' vergegenwärtigt, auf die man bisher angewiesen und die auch Schilpp noch zu benützen gezwungen war: jene nämlich, in der sie Schubert um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erstmals ediert hat und die dann auch von anderen Herausgebern übernommen wurde: sie enthält, wie wiederum Lehmann in seiner bemerkt, noch nicht den vierten Teil des Gesamtmaterials und auch diesen nur in einer willkürlichen Auswahl und Anordnung mit z. T; entstelltem und nach Konjekturen ergänztem Text 9 • So ist es nicht zu verwundern, daß die 'Bemerkungen' in dieser fragmentarischen Gestalt eine recht fragwürdige Quelle für die Forschung darstellten und nicht selten zu ganz falschen Schlußfolgerungen verleitet haben. Und schließlich sind es die radikalen Folgerungen, zu denen Sc h i1 pp in seiner oben erwähnten Abhandlung gelangte, die zu einer Neuuntersuchung der Texte förmlich drängen. Dieser Autor lehnt die bisher als gültig betrachtete 'Standardinterpretation " wie er sie vor allem in Menzers preisgekrönter Arbeit verkörpert sieht, weitgehend ab und stellt in überzeugender Weise manche festgefahrenen und unkritisch weitertradierten Thesen der Vergangenheit in Frage lO • Seine pos i ti v e Deutung der vorkritischen Entwicklung Kants jedoch - diese besteht nach ihm in der Andeutung und immer klareren Herausbildung eines rein methodischen Formalismus als eigentlicher Lösung des ethischen Grundproblems l l - steht u. E. in einem fühlbaren Gegensatz zu den wirklichen Anschauungen Kants während dieser Epoche. Schilpp glaubt, mit dieser seiner Interpretation der vorkritischen Ethik zugleich den Zugang zu einer ganz neuen Auffassung der k r i t i s ehe n gewonnen zu haben und stellt eine größere 9) KGS XX. S.471. 473. 10) Vgl. Kant's Pre-Critical Ethics. S. xm ff. : sowie Kap. XI S.169 f. ll} Dieser methodische Formalismus wird von Schilpp näherhin als der eines zeitlich-prozeßhaften KODStruieren.< der jeweils sich aus den konkreten Umständen und Verhältnissen ergebenden Objekte der 'reinen praktischen Vernunft' gedacht. so daß er jedes vorgegebene. bereits feststehende inhaltlich bestimmte Prinzip in der Ethik ausschließt und gerade dadurch als Prinzip eines unbegrenzt möglichen sittlichen Fortschrittes fungieren kann.

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diesbezügliche Arbeit in Aussicht 12. Aber wir sind überzeugt, daß diese nie erscheinen wird, weil der Versuch, die letztere im Sinne eines so verstandenen Formalismus zu deuten, auf noch größere Schwierigkeiten in den vorliegenden Texten stoßen würde als es schon bei denen der vorkritischen Phase der Fall war. Denn wie schwer fügen sich hier nicht selten die Ausführungen Kants, sofern man sie im Zusammenhang betrachtet, dieser Auffassung, wie oft ist Schilpp gezwungen, die Akzente anders zu verteilen, als die Texte es nahelegen, oder den Worten Kants einen nach dem Kontext ganz unwahrscheinlichen Sinn zu unterstellen, und wie wenig spricht es für seine Interpretation. wenn er schließlich die klaren und emphatischen moralphilosophischen Aufstellungen der Dissertation des Jahres 1770, die sich dieser Konzeption nicht einordnen, nur als Rückfall in althergebrachte Denk- und Sprechgewohnheiten zu erklären vermag, die unmöglich Kants eigentliche Meinung ausdrücken könnten 13. Wir glauben, daß diese Gründe eine Neubearbeitung der vorkritischen Ethik des Philosophen nicht nur zu einem echten wissenschaftlichen Anliegen, sondern auch zu einer lohnenden und reizvollen Aufgabe machen. Die vorliegende Untersuchung stützt sich zwar zu einem wesentlichen Teil auf die Analysen der Münchener Dissertation des Verfassers, sie stellt aber dieser gegenüber in mehrfacher Hinsicht. namentlich durch die weitgehende Heranziehung des ihm damals unzugänglichen Materials des Nachlasses sowie durch den thematisch durchgeführten Vergleich mit der kritischen Ethik, eine neue Bearbeitung des Gegenstandes dar: Es zeigte sich immer mehr als wahrhaft überraschendes Ergebnis, daß die fundamentalen Prinzipien der späteren sog. kritischen Ethik bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre grundgelegt werden, so daß wenigstens für die moralphilosophische Entwicklung die große Zäsur um 1770 bzw. 1781, durch die man gemeinhin die kritische von der vorkritischen Phase trennt/und damit die Unterscheidung von kritischer und vorkritischer Ethik überhaupt problematisch wird; ebenso aber auch die traditionelle These, daß die Ausbildung der kritischen Ethik, deren literarische Fixierung ja erst Jahre nach dem Erscheinen der Kr.d.r. V. erfolgte, sich in wesentlicher innerer Abhängigkeit vori dieser letzteren vollzogen habe. Diese neue Sicht der 'vorkritischen' Ethik soll durch den gegenüber der Dissertation veränderten Titel zum Ausdruck kommen. Was nun die Methode der Untersuchung betrifft, so geht unser Bestreben nur dahin, den vorliegenden Texten Analyse sowie durch Betrachtung ihres näheren und weiteren Kontextes möglichst gerecht zu werden und von ihnen aus zu der hinter ihnen 12) Kam:'s Pre-Critica1 Ethics. S. XIV f. 13) Ibid. S.89 f.; S.101.

stehenden Gesamtkonzeption des Philosophen durchzudringen: das Ziel ist eine objektive, von jeder vorgefaßten oder autorisierten Meinung unabhängige Interpretation des Quellenmaterials. Dabei betrachten wir es als das entscheidende Kriterium jeder echten wissenschaftlichen Deutung, daß sie gleicherweise all e vorliegenden Texte in sich aufzunehmen und ihnen gerecht zu werden vermag, ohne daß irgendwelche unterdrückt oder irgendwo Retouchen angebracht oder gezwungene und willkürliche Deutungen vorgenommen werden müssen. In dieser Hinsicht halten wir es auch für methodisch verfehlt, vorzeitig mit der Kri tik an den jeweiligen kantischen Positionen einzusetzen, wie dies nicht selten geschieht 14; denn eine solche verfrühte kritische Stellungnahme, die ja notwendig von dem jeweiligen eigenen Standpunkt aus erfolgt, birgt naturgemäß die Gefahr in sich, das zu deutende System in eine ihm ungemäße Schablone zu zwängen, d. h. nach ihm fremden und äußerlichen Gesichtspurikten zu beurteilen und es dadurch in seinem eigentlichen Kern zu verfehlen. Erst wenn es in seiner vollen Gestalt sichtbar gemacht ist ,kann vernünftigerweise eine kritische Stellungnahme von den Grundlagen eiIles anderen Systems her erfolgen und so eine für die Ethik als solche fruchtbare Auseinandersetzung angebahnt werden.

14) So z. B. bei Küenburg. o. c. S. 20 ff. ; aber auch bei SchUpp. o. c. S. 24 et passim.

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diesbezügliche Arbeit in Aussicht 12. Aber wir sind überzeugt, daß diese nie erscheinen wird, weil der Versuch, die letztere im Sinne eines so verstandenen Formalismus zu deuten, auf noch größere Schwierigkeiten in den vorliegenden Texten stoßen würde als es schon bei denen der vorkritischen Phase der Fall war. Denn wie schwer fügen sich hier nicht selten die Ausführungen Kants, sofern man sie im Zusammenhang betrachtet, dieser Auffassung, wie oft ist Schilpp gezwungen, die Akzente anders zu verteilen, als die Texte es nahelegen, oder den Worten Kants einen nach dem Kontext ganz unwahrscheinlichen Sinn zu unterstellen, und wie wenig spricht es für seine Interpretation. wenn er schließlich die klaren und emphatischen moralphilosophischen Aufstellungen der Dissertation des Jahres 1770, die sich dieser Konzeption nicht einordnen, nur als Rückfall in althergebrachte Denk- und Sprechgewohnheiten zu erklären vermag, die unmöglich Kants eigentliche Meinung ausdrücken könnten 13. Wir glauben, daß diese Gründe eine Neubearbeitung der vorkritischen Ethik des Philosophen nicht nur zu einem echten wissenschaftlichen Anliegen, sondern auch zu einer lohnenden und reizvollen Aufgabe machen. Die vorliegende Untersuchung stützt sich zwar zu einem wesentlichen Teil auf die Analysen der Münchener Dissertation des Verfassers, sie stellt aber dieser gegenüber in mehrfacher Hinsicht. namentlich durch die weitgehende Heranziehung des ihm damals unzugänglichen Materials des Nachlasses sowie durch den thematisch durchgeführten Vergleich mit der kritischen Ethik, eine neue Bearbeitung des Gegenstandes dar: Es zeigte sich immer mehr als wahrhaft überraschendes Ergebnis, daß die fundamentalen Prinzipien der späteren sog. kritischen Ethik bereits in der ersten Hälfte der sechziger Jahre grundgelegt werden, so daß wenigstens für die moralphilosophische Entwicklung die große Zäsur um 1770 bzw. 1781, durch die man gemeinhin die kritische von der vorkritischen Phase trennt/und damit die Unterscheidung von kritischer und vorkritischer Ethik überhaupt problematisch wird; ebenso aber auch die traditionelle These, daß die Ausbildung der kritischen Ethik, deren literarische Fixierung ja erst Jahre nach dem Erscheinen der Kr.d.r. V. erfolgte, sich in wesentlicher innerer Abhängigkeit vori dieser letzteren vollzogen habe. Diese neue Sicht der 'vorkritischen' Ethik soll durch den gegenüber der Dissertation veränderten Titel zum Ausdruck kommen. Was nun die Methode der Untersuchung betrifft, so geht unser Bestreben nur dahin, den vorliegenden Texten Analyse sowie durch Betrachtung ihres näheren und weiteren Kontextes möglichst gerecht zu werden und von ihnen aus zu der hinter ihnen 12) Kam:'s Pre-Critica1 Ethics. S. XIV f. 13) Ibid. S.89 f.; S.101.

stehenden Gesamtkonzeption des Philosophen durchzudringen: das Ziel ist eine objektive, von jeder vorgefaßten oder autorisierten Meinung unabhängige Interpretation des Quellenmaterials. Dabei betrachten wir es als das entscheidende Kriterium jeder echten wissenschaftlichen Deutung, daß sie gleicherweise all e vorliegenden Texte in sich aufzunehmen und ihnen gerecht zu werden vermag, ohne daß irgendwelche unterdrückt oder irgendwo Retouchen angebracht oder gezwungene und willkürliche Deutungen vorgenommen werden müssen. In dieser Hinsicht halten wir es auch für methodisch verfehlt, vorzeitig mit der Kri tik an den jeweiligen kantischen Positionen einzusetzen, wie dies nicht selten geschieht 14; denn eine solche verfrühte kritische Stellungnahme, die ja notwendig von dem jeweiligen eigenen Standpunkt aus erfolgt, birgt naturgemäß die Gefahr in sich, das zu deutende System in eine ihm ungemäße Schablone zu zwängen, d. h. nach ihm fremden und äußerlichen Gesichtspurikten zu beurteilen und es dadurch in seinem eigentlichen Kern zu verfehlen. Erst wenn es in seiner vollen Gestalt sichtbar gemacht ist ,kann vernünftigerweise eine kritische Stellungnahme von den Grundlagen eiIles anderen Systems her erfolgen und so eine für die Ethik als solche fruchtbare Auseinandersetzung angebahnt werden.

14) So z. B. bei Küenburg. o. c. S. 20 ff. ; aber auch bei SchUpp. o. c. S. 24 et passim.

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Erstes Kapitel DER AUSGANGSPUNKT DER MORALPHILOSOPHISCHEN ENTWICKLUNG KANTS: DIE MORALLEHRE DER WOLFFSCHULE

Es ist ein übereinstimmendes Merkmal aller Darstellungen der ethischen Entwicklung Kants, daß sie ihrem Aus ga n g s p unk t , als den man ziemlich allgemein die Morallehre der Wolffschule betrachtet, nur geringe Beachtung schenken: offenbar aus der Überzeugung, daß der Philosoph diesem System, das ihm als Studenten vorgetragen worden war und dem er - wenigstens sehr wahrs ehe in lieh - in den fünfziger Jahren noch anhing, schon sehr bald völlig den Rücken gekehrt, so daß es keinen größeren Einfluß mehr auf seine weitere Entwicklung haben konnte. Man scheint also mehr oder weniger von der Voraussetzung auszugehen, daß er sein eigenes etl:!isches System gleichsam ab ovo neu erdacht habe, und wenn er auch im Laufe seiner Entwicklung entscheidende Anregungen von außen erhielt, so seien sie ihm doch von anderswo als aus der Philosophie W olffs und seiner Schule gekommen: nämlich von der Seite der englischen Moralisten Hutcheson, Shaftesbury und Hume, die ihre ethischen Lehren aus der psychologischen Analyse des moralischen Bewußtseins oder Gefühls gewannen, und dann vor allem von Rousseau, der in Kant erst die große Wende zum Ethischen, ja seine Wandlung zu einem der größten Ethiker überhaupt herbeigeführt habe. Von der ethischen Prinzipienlehre Wolffs jedoch, wie sie in dessen 'Philosophia practica universalis' vorliegt, erwartet man kaum eine entscheidende Erhellung der Kantischen Entwicklung,: sie ist es ja gerade, deren oberflächlichen Utilitarismus, Eudämonismus und Physizismus Kant überwunden und für immer hinter sich gelassen hat; wie sollte also das Verständnis seiner Entwicklung und seines Systems von hier aus wesentlich gewinnen können? So begnügt sich Me n zer in seiner bereits erwähnten Arbeit, was den Ausgangspunkt der Entwicklung Kants betrifft, mit der Feststellung .. daß dieser in den fünfziger Jahren noch völlig abhängig ist von der Moralphilosophie der Aufklärung und zu dieser noch nicht selbständig Stellung genommen habe; weiters, daß die ethische Problematik für ihn damals überhaupt noch keine größere Rolle gespielt. vielmehr sein Interesse für sie eigentlich erst zu Beginn der sechziger Jahre richtig erwacht sei. Den Wert der Schriften und Fragmente dieses Zeitraums, soweit sie das ethische Gebiet berühren, sieht er deshalb im wesentlichen nur darin, daß sich mit ihrer Hilfe ein Bild von der geistigen Konstitution Kants entwerfen und damit der letzte Grund für die charakteristischen Eigentümlichkeiten seiner Ethik aufzeigen lasse. Erst im Rahmen seiner Analyse der

Preisschrüt·des Jahres 1762 fügt Menzer, nachdem er zuvor ausführlich auf die Morallehren der Engländer eingegangen war, auch eine kurze Skizze der Wolffschen Prinzipienlehre ein, aber mehr deutlich zu machen, wie das ethische GrundproblemKants 'durch Ubernahme eines auf einem ganz anderen Boden entstandenen Sittengesetzes eine für die ganze spätere Entwicklung bedeutsame Zuspitzung erfuhr'l. Küenburg übernimmt zunächst ohne Prüfung die These Menzers, daß Kants moralphilosophisches Interesse erst eigentlich zu Beginn der sechziger Jahre erwacht sei. Was das Wolffsche System als Ausgangspunkt der Entwicklung angeht, so ist sein Urteil nicht so bestimmt: er weist zwar auf die Tatsache hin, daß Kant während seiner ganzen Lehrtätigkeit Kompendien der Wolffschule als Leitfaden seiner Vorlesungen benutzte und zitiert Adickes, der gegenüber Arnold betont, daß er trotz aller Selbständigkeit doch stark von seinen Lehrbüchern beeinflußt wurde. vor allem im ganzen Denkhabitus. Daraus läßt sich nach Küenburg für diese erste Zeit wohl irwenn auch nur mit Vorsicht und mehr im allgemeinen, schlleßen, daß seine eigene Ansicht über die Verbindlichkeit von jenen Lehren der'Wolffschule, die er als Student gehört und im Textbuch vorliegen hatte, nicht allzu sehr abwich, jedoch nur für den Freiheitsbegriff sei dessen weitgehende Gefolgschaft gegenüber Wolff durch die Nova Dilucidatio einwandfrei erwiesen. Wenn der Verfasser dann doch mit einer im Rahmen seiner Arbeit nicht recht verständlichen Ausführlichkeit auf die moralphilosophische Prinzipienlehre Wolffs eingeht, so geschieht das nicht so sehr um dieses unsicheren Rückschlusses willen, sondern vor allem, wie er ausdrücklich bemerkt. weil sie ihm als willkommene Folie für die Darstellung der Ansicht Kants in den Schrüten des Jahres 1762 dienen so1l2. S chi I p p geht noch einen Schritt weiter. Er gibt zwar zu, daß Kant in der Erkenntnislehre und Metaphysik während der fünfziger Jahre weitgehend von Leibniz und Wolff abhängig war, aber er hält es für zweifelhaft, ob er jemals ein wirklicher Anhänger der Leibniz-Wolffschen Tradition auf dem Gebiet der Ethik gewesen ist, und zwar deswegen, weil seine ethische Auffassung von vornherein grundlegend geprägt sei durch die des Pie t i s mus, diese aber zur Wolffschen Lehre in einem diametralen Gegensatz stand: es war eine Moralität der freien Reaktion auf die alltäglichen Umstände und Verhältnisse, für die die freie Entscheidung und die innere Haltung oder der Geist. aus dem sie erfolgte, das Ausschlaggebende war, während die Wolffs eine 'static absolutistic teleology' mit einem statischen Ideal der Vollkorrunenheit und 'innerlich guten Handlungen' 1) Menzer. Diss. S.5: 28: K-St(Kantstudien) II. S.290 ff.: 302 ff. 2) Küenburg. Diss. S.8 ff.

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Erstes Kapitel DER AUSGANGSPUNKT DER MORALPHILOSOPHISCHEN ENTWICKLUNG KANTS: DIE MORALLEHRE DER WOLFFSCHULE

Es ist ein übereinstimmendes Merkmal aller Darstellungen der ethischen Entwicklung Kants, daß sie ihrem Aus ga n g s p unk t , als den man ziemlich allgemein die Morallehre der Wolffschule betrachtet, nur geringe Beachtung schenken: offenbar aus der Überzeugung, daß der Philosoph diesem System, das ihm als Studenten vorgetragen worden war und dem er - wenigstens sehr wahrs ehe in lieh - in den fünfziger Jahren noch anhing, schon sehr bald völlig den Rücken gekehrt, so daß es keinen größeren Einfluß mehr auf seine weitere Entwicklung haben konnte. Man scheint also mehr oder weniger von der Voraussetzung auszugehen, daß er sein eigenes etl:!isches System gleichsam ab ovo neu erdacht habe, und wenn er auch im Laufe seiner Entwicklung entscheidende Anregungen von außen erhielt, so seien sie ihm doch von anderswo als aus der Philosophie W olffs und seiner Schule gekommen: nämlich von der Seite der englischen Moralisten Hutcheson, Shaftesbury und Hume, die ihre ethischen Lehren aus der psychologischen Analyse des moralischen Bewußtseins oder Gefühls gewannen, und dann vor allem von Rousseau, der in Kant erst die große Wende zum Ethischen, ja seine Wandlung zu einem der größten Ethiker überhaupt herbeigeführt habe. Von der ethischen Prinzipienlehre Wolffs jedoch, wie sie in dessen 'Philosophia practica universalis' vorliegt, erwartet man kaum eine entscheidende Erhellung der Kantischen Entwicklung,: sie ist es ja gerade, deren oberflächlichen Utilitarismus, Eudämonismus und Physizismus Kant überwunden und für immer hinter sich gelassen hat; wie sollte also das Verständnis seiner Entwicklung und seines Systems von hier aus wesentlich gewinnen können? So begnügt sich Me n zer in seiner bereits erwähnten Arbeit, was den Ausgangspunkt der Entwicklung Kants betrifft, mit der Feststellung .. daß dieser in den fünfziger Jahren noch völlig abhängig ist von der Moralphilosophie der Aufklärung und zu dieser noch nicht selbständig Stellung genommen habe; weiters, daß die ethische Problematik für ihn damals überhaupt noch keine größere Rolle gespielt. vielmehr sein Interesse für sie eigentlich erst zu Beginn der sechziger Jahre richtig erwacht sei. Den Wert der Schriften und Fragmente dieses Zeitraums, soweit sie das ethische Gebiet berühren, sieht er deshalb im wesentlichen nur darin, daß sich mit ihrer Hilfe ein Bild von der geistigen Konstitution Kants entwerfen und damit der letzte Grund für die charakteristischen Eigentümlichkeiten seiner Ethik aufzeigen lasse. Erst im Rahmen seiner Analyse der

Preisschrüt·des Jahres 1762 fügt Menzer, nachdem er zuvor ausführlich auf die Morallehren der Engländer eingegangen war, auch eine kurze Skizze der Wolffschen Prinzipienlehre ein, aber mehr deutlich zu machen, wie das ethische GrundproblemKants 'durch Ubernahme eines auf einem ganz anderen Boden entstandenen Sittengesetzes eine für die ganze spätere Entwicklung bedeutsame Zuspitzung erfuhr'l. Küenburg übernimmt zunächst ohne Prüfung die These Menzers, daß Kants moralphilosophisches Interesse erst eigentlich zu Beginn der sechziger Jahre erwacht sei. Was das Wolffsche System als Ausgangspunkt der Entwicklung angeht, so ist sein Urteil nicht so bestimmt: er weist zwar auf die Tatsache hin, daß Kant während seiner ganzen Lehrtätigkeit Kompendien der Wolffschule als Leitfaden seiner Vorlesungen benutzte und zitiert Adickes, der gegenüber Arnold betont, daß er trotz aller Selbständigkeit doch stark von seinen Lehrbüchern beeinflußt wurde. vor allem im ganzen Denkhabitus. Daraus läßt sich nach Küenburg für diese erste Zeit wohl irwenn auch nur mit Vorsicht und mehr im allgemeinen, schlleßen, daß seine eigene Ansicht über die Verbindlichkeit von jenen Lehren der'Wolffschule, die er als Student gehört und im Textbuch vorliegen hatte, nicht allzu sehr abwich, jedoch nur für den Freiheitsbegriff sei dessen weitgehende Gefolgschaft gegenüber Wolff durch die Nova Dilucidatio einwandfrei erwiesen. Wenn der Verfasser dann doch mit einer im Rahmen seiner Arbeit nicht recht verständlichen Ausführlichkeit auf die moralphilosophische Prinzipienlehre Wolffs eingeht, so geschieht das nicht so sehr um dieses unsicheren Rückschlusses willen, sondern vor allem, wie er ausdrücklich bemerkt. weil sie ihm als willkommene Folie für die Darstellung der Ansicht Kants in den Schrüten des Jahres 1762 dienen so1l2. S chi I p p geht noch einen Schritt weiter. Er gibt zwar zu, daß Kant in der Erkenntnislehre und Metaphysik während der fünfziger Jahre weitgehend von Leibniz und Wolff abhängig war, aber er hält es für zweifelhaft, ob er jemals ein wirklicher Anhänger der Leibniz-Wolffschen Tradition auf dem Gebiet der Ethik gewesen ist, und zwar deswegen, weil seine ethische Auffassung von vornherein grundlegend geprägt sei durch die des Pie t i s mus, diese aber zur Wolffschen Lehre in einem diametralen Gegensatz stand: es war eine Moralität der freien Reaktion auf die alltäglichen Umstände und Verhältnisse, für die die freie Entscheidung und die innere Haltung oder der Geist. aus dem sie erfolgte, das Ausschlaggebende war, während die Wolffs eine 'static absolutistic teleology' mit einem statischen Ideal der Vollkorrunenheit und 'innerlich guten Handlungen' 1) Menzer. Diss. S.5: 28: K-St(Kantstudien) II. S.290 ff.: 302 ff. 2) Küenburg. Diss. S.8 ff.

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darstelle. Nach Schilpp hat der Philosoph auch vermutlich niemals der deduktiven, kategorischen und absoluten Vernunft jene V:rehrung entgegengebracht, die für die Leibniz-Wolffsche _ bezeichnend ist und die im Zuge der damaligen Zeit lag, es scheme vielmehr daß er praktisch von Anfang an die Vernunft als bloßes Werkzeu; betrachtete, das gebraucht werden muß 'according to requirements and exigencies of changing situations in a never world'3. So kündigt sich schon hier bei Schilpp jener methodIsche Formalismus an, der offenbar seiner ganzen Interpretation der vorkritischen Ethik als Leitmotiv vorschwebt. Aber diese Unterbewertung und dieses rasche Hinweggehen über den Ausgang der Kantischen Entwicklung vom Wo.lffs - die Auffassung Schlipps werden wir im folgenden ausführll.ch wIderle?en - muß sich u. E. sehr nachteilig für die Erforschung dIeser EntwlCklung auswirken. Fürs erste' läßt sie nur allzu leicht übersehen, stark die ethische Prinzipienlehre des Philosophen trotz aller Orlginalität und Selbständigkeit in entscheidenden Punkten ,:on der Morallehre Wolffs und vermittels ihrer vom alten scholashschen Erbe abhängig bleibt. Gewiß sah Kant selbst seine Ethik vor als Gegensatz zu Wolff und betrachtete sie als die entscheidende windung von dessen moralphilosophischem Utilitarismus, Eudrumonismus und Physizismus, und hatte damit ohne Zweifel recht. Aber die historische Forschung, die in ihrer größeren Distanz. und ,,:on ihrer höheren Warte aus die weiteren Zusammenhänge und Bedmgungen überblicken kann, in die das Ringen die eines Denkers hineingestellt ist, muß auch dIe andere Selte sehen: nicht nur, daß Kant, wie Adickes betont, im ganzen Denkhabitus stark von seinen Kompendien beeinflußt wurde und auch manche Probleme aus ihnen übernommen hat 4 , sondern vor allem, daß er seine ethische Lehre sozusagen vom Mutterboden des Wolffschen Systems aus und in ständiger Auseinandersetzung mit ihm geprägt und auch entscheidende Grundgedanken und Grundlehren desselben in sein eigenes mit übernommen hat. .. Eine weitere nachteilige Folge solchen Ubergehens des Ausgangspunktes liegt darin, daß damit die erste und d i n g s g run dIe gen d e Phase der Kantischen Jene zwischen der Nova Dilucidatio von 1755 und der PreIsschrIft von 1762 5 nicht mehr in ihrem eigentlichen Sinn verständlich und in ihren faßbar wird. So kommt es, daß die meisten Interpreten mit der überraschenden Tatsache, daß in einer so frühen Abhandlung wie der Pr eis s c h r i ft bereits' die grundlegende Lehre 3) Schilpp. o.c. S.2. 4) KGS XIV. S. L. 5) 'Untexsuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" (Lösung der für das Jahr 1763 von der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin gestellten Preisaufgabe: verfaßt Ende 1762. von der Akademie veröffentlicht 1764) KGS II. S.274-301.

29 von den Arten und dem Unterschied der praktischen Imperative oder des Sollens auftaucht, nichts rechtes anzufangen wissen; sie befinden sich in der Verlegenheit feststellen zu müssen, daß Kant diese für sein ganzes System fundamentale These bereits hier, zu Beginn der sechziger Jahre, entwickelt, während er nach ihrer Konzeption diesen Standpunkt erst erreichen könnte, nachdem er durch die Morallehre der Engländer und Rousseaus hiridurchgegangen ist. In Wirklichkeit aber hat sich die wichtigste Phase der Entwicklung bereits vollzogen und zwar so, daß dazu neben den Einflüssen der britischen Moralisten, wie wir sehen werden, gerade auch von der deutschen Aufklärungsphilosophie entscheidende Impulse ausgingen, während Rousseau damals überhaupt noch nicht bestimmend ins Spiel tritt. Damit ist aber bereits die dritte nachteilige Folge der Vernachiässigung des Wolffschen Ausgangspunktes angedeutet: indem man auf diese Weise einen der wichtigsten Faktoren der ganzen Entwicklung übersieht, müssen naturgemäß die anderen überbewertet bzw. überfordert werden. Bei den meisten Interpreten sind es die Engländer und Rousseau: ihr Einfluß wird so überbetont, daß die frühen Phasen der Kantischen Ethik fast nur als Ergebnis desselben erscheinen: so bei Foerster, aber auch, wenngleich mit Einschränkungen, bei Menzer und den Autoren, die seine Ergebnisse als gesichert übernehmen. Bei Schilpp, der gegen Menzer und die an ihm orientierte Interpretation mit Nachdruck die SeI b s t ä n d i g k e i t Kants gegenüber den Engländern und Rousseau betont, ist es dann dessen durch den Pietismus geprägter sittlicher Charakter selbst, der im Grunde allein für die ganze Entwicklung aufkommen muß. Gewiß bleibt Kants sittlicher Charakter und sein philosophisches Ingenium die eigentliche Wurzel und insofern auch die einzige primäre Quelle der Entwicklung seiner moralphilosophischen Anschauungen, aber auch der selbständigste und genialste Geist kann seine Gedanken nicht zu einem großen System von säkularer Bedeutung entfalten, wenn er nicht angeregt und befruchtet wird durch die ständige Auseinandersetzung mit den gedanklichen Leistungen der Vergangenheit und der lebendigen Gegenwart. und seine Entwicklung läßt sich nur begreifen, wenn gezeigt werden kann. was jeweils aus diesem Zusammenspiel von eigenem schöpferischen Denken und der Anregung durch fremde Ideen im Geiste des Denkers entspringt. Sonst bleibt es bei der bloßen Explizierung eines einzigen, im Grunde schon am Anfang der Entwicklung vorhandenen Gedankens, wie in der Tat auch Schilpp die 'Entwicklung' Kants aufzufassen scheint. Für das Verständnis seiner wirklichen Entwicklung ist es also durchaus entscheidend, daß diese 'äußeren' Faktoren und zwar nach Maßgabe ihrer geschichtlichen Wirksamkeit voll zu Worte kommen, wenn man sich nicht von vornherein den Zugang zu ihr versperren will. In unserem Falle sind das aber nicht nur die Engländer und Rousseau, sondern ursprünglicher noch und nicht weniger bedeut-

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darstelle. Nach Schilpp hat der Philosoph auch vermutlich niemals der deduktiven, kategorischen und absoluten Vernunft jene V:rehrung entgegengebracht, die für die Leibniz-Wolffsche _ bezeichnend ist und die im Zuge der damaligen Zeit lag, es scheme vielmehr daß er praktisch von Anfang an die Vernunft als bloßes Werkzeu; betrachtete, das gebraucht werden muß 'according to requirements and exigencies of changing situations in a never world'3. So kündigt sich schon hier bei Schilpp jener methodIsche Formalismus an, der offenbar seiner ganzen Interpretation der vorkritischen Ethik als Leitmotiv vorschwebt. Aber diese Unterbewertung und dieses rasche Hinweggehen über den Ausgang der Kantischen Entwicklung vom Wo.lffs - die Auffassung Schlipps werden wir im folgenden ausführll.ch wIderle?en - muß sich u. E. sehr nachteilig für die Erforschung dIeser EntwlCklung auswirken. Fürs erste' läßt sie nur allzu leicht übersehen, stark die ethische Prinzipienlehre des Philosophen trotz aller Orlginalität und Selbständigkeit in entscheidenden Punkten ,:on der Morallehre Wolffs und vermittels ihrer vom alten scholashschen Erbe abhängig bleibt. Gewiß sah Kant selbst seine Ethik vor als Gegensatz zu Wolff und betrachtete sie als die entscheidende windung von dessen moralphilosophischem Utilitarismus, Eudrumonismus und Physizismus, und hatte damit ohne Zweifel recht. Aber die historische Forschung, die in ihrer größeren Distanz. und ,,:on ihrer höheren Warte aus die weiteren Zusammenhänge und Bedmgungen überblicken kann, in die das Ringen die eines Denkers hineingestellt ist, muß auch dIe andere Selte sehen: nicht nur, daß Kant, wie Adickes betont, im ganzen Denkhabitus stark von seinen Kompendien beeinflußt wurde und auch manche Probleme aus ihnen übernommen hat 4 , sondern vor allem, daß er seine ethische Lehre sozusagen vom Mutterboden des Wolffschen Systems aus und in ständiger Auseinandersetzung mit ihm geprägt und auch entscheidende Grundgedanken und Grundlehren desselben in sein eigenes mit übernommen hat. .. Eine weitere nachteilige Folge solchen Ubergehens des Ausgangspunktes liegt darin, daß damit die erste und d i n g s g run dIe gen d e Phase der Kantischen Jene zwischen der Nova Dilucidatio von 1755 und der PreIsschrIft von 1762 5 nicht mehr in ihrem eigentlichen Sinn verständlich und in ihren faßbar wird. So kommt es, daß die meisten Interpreten mit der überraschenden Tatsache, daß in einer so frühen Abhandlung wie der Pr eis s c h r i ft bereits' die grundlegende Lehre 3) Schilpp. o.c. S.2. 4) KGS XIV. S. L. 5) 'Untexsuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral" (Lösung der für das Jahr 1763 von der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin gestellten Preisaufgabe: verfaßt Ende 1762. von der Akademie veröffentlicht 1764) KGS II. S.274-301.

29 von den Arten und dem Unterschied der praktischen Imperative oder des Sollens auftaucht, nichts rechtes anzufangen wissen; sie befinden sich in der Verlegenheit feststellen zu müssen, daß Kant diese für sein ganzes System fundamentale These bereits hier, zu Beginn der sechziger Jahre, entwickelt, während er nach ihrer Konzeption diesen Standpunkt erst erreichen könnte, nachdem er durch die Morallehre der Engländer und Rousseaus hiridurchgegangen ist. In Wirklichkeit aber hat sich die wichtigste Phase der Entwicklung bereits vollzogen und zwar so, daß dazu neben den Einflüssen der britischen Moralisten, wie wir sehen werden, gerade auch von der deutschen Aufklärungsphilosophie entscheidende Impulse ausgingen, während Rousseau damals überhaupt noch nicht bestimmend ins Spiel tritt. Damit ist aber bereits die dritte nachteilige Folge der Vernachiässigung des Wolffschen Ausgangspunktes angedeutet: indem man auf diese Weise einen der wichtigsten Faktoren der ganzen Entwicklung übersieht, müssen naturgemäß die anderen überbewertet bzw. überfordert werden. Bei den meisten Interpreten sind es die Engländer und Rousseau: ihr Einfluß wird so überbetont, daß die frühen Phasen der Kantischen Ethik fast nur als Ergebnis desselben erscheinen: so bei Foerster, aber auch, wenngleich mit Einschränkungen, bei Menzer und den Autoren, die seine Ergebnisse als gesichert übernehmen. Bei Schilpp, der gegen Menzer und die an ihm orientierte Interpretation mit Nachdruck die SeI b s t ä n d i g k e i t Kants gegenüber den Engländern und Rousseau betont, ist es dann dessen durch den Pietismus geprägter sittlicher Charakter selbst, der im Grunde allein für die ganze Entwicklung aufkommen muß. Gewiß bleibt Kants sittlicher Charakter und sein philosophisches Ingenium die eigentliche Wurzel und insofern auch die einzige primäre Quelle der Entwicklung seiner moralphilosophischen Anschauungen, aber auch der selbständigste und genialste Geist kann seine Gedanken nicht zu einem großen System von säkularer Bedeutung entfalten, wenn er nicht angeregt und befruchtet wird durch die ständige Auseinandersetzung mit den gedanklichen Leistungen der Vergangenheit und der lebendigen Gegenwart. und seine Entwicklung läßt sich nur begreifen, wenn gezeigt werden kann. was jeweils aus diesem Zusammenspiel von eigenem schöpferischen Denken und der Anregung durch fremde Ideen im Geiste des Denkers entspringt. Sonst bleibt es bei der bloßen Explizierung eines einzigen, im Grunde schon am Anfang der Entwicklung vorhandenen Gedankens, wie in der Tat auch Schilpp die 'Entwicklung' Kants aufzufassen scheint. Für das Verständnis seiner wirklichen Entwicklung ist es also durchaus entscheidend, daß diese 'äußeren' Faktoren und zwar nach Maßgabe ihrer geschichtlichen Wirksamkeit voll zu Worte kommen, wenn man sich nicht von vornherein den Zugang zu ihr versperren will. In unserem Falle sind das aber nicht nur die Engländer und Rousseau, sondern ursprünglicher noch und nicht weniger bedeut-

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sam W olff und Crusius, also jene Philosophen, durch deren Lehre sein erstes philosophisches Denken geprägt war, wie aus der Habilitationsschrift des Jahres 1755 hervorgeht. Die Betrachtung des Ausgangspunktes, als den wir, wie sich gleich zeigen wird, die Prinzipienlehre W olffs anzusehen haben, ist also von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der moralphilosophischenEntwicklung Kants und zugleich auch des Systems selbst, zu dem sie hinführt. Die Frage aber ist zunächst: hat Kant wirklich zu Beginn seiner Entwicklung die Morallehre der Wolffschule sich zu eigen gemacht und als gültig vertreten? Dafür läßt sich u. E. aus der No v a D i lucidatio ein durchaus schlüssiger Beweis erbringen. Zunächst ist offenbar, daß der Philosoph hier im Rahmen seiner Ausführungen über das Prinzip vom zureichenden Grund und dessen universaler Gültigkeit speziell auch für die Willenshandlungen die Fr e i he i t sIe h re der Wolffschule (und des Leibniz) vertritt, d. h. die Determinierung des Wollens durch die intellektuelle oder deutliche Vorstellung des (objektiv) Besseren; denn er verteidigt diese Lehre hier mit dem Aufgebot aller Gründe gegen den Einwand des großen Gegners derselben, des sehr bedeutenden und auch von ihm selbst sehr hoch geschätzten Theologen und Philosophen C ru si u s : daß nämlich unter ihrer Voraussetzung die blinde, unabwendbare Notwendigkeit alles Geschehens eingeführt werde und damit letztlich alle Schuld und Verantwortlichkeit für die Sünde zurückfalle auf Gott, den Urheber des ursprünglichen Zustandes, von dem aus dann alles weitere Geschehen kraft der vorherbestimmenden Gründe notwendig ablaufe; vielleicht ist die Leibnizsche Freiheitslehre nirgends sonst mit solchem Scharfsinn und solcher Folgerichtigkeit verteidigt worden. als es hier auf diesen wenigen Seiten der Habilitationsschrift Kants geschieht 6 • Das Entscheidende aber ist in diesem Zusammenhang, daß Kant hierbei fast alle wesentlichen Prinzipien der Wolffschen Willenslehre , ja überhaupt seiner rationalen Psychologie in Anspruch nimmt und vertritt. Zwar gibt er seinem Gegner zu, daß zur Lösung der Schwierigkeit jene geläufige Unterscheidung zwischen bedingter (physischer) und unbedingter (logischer) Notwendigkeit nichts vermöge, da auch im Falle der ersteren der Zwang oder Grad der Notwendigkeit keinesfalls aufgehoben oder vermindert sei und folglich auch kein Spielraum der Unbestimmtheit bleibe (ein Lehrpunkt. in dem manche Wolffianer nicht klar sahen); im übrigen aber finden wir fast sämtliche Grundthesen der Wolffschen Psychologie in den Ausführungen Kants wenigstens andeutungsweise wieder. So die grundsätz liche Gleichstellung der moralischen Notwendigkeit (der Verpflichtung) mit der hypothetischen des Naturgeschehens, beide im Gegen6) Nov. D11., Prop. IX, t(uS I, S. 398 ·406. Vgl. Crusius, Notwendige Vernunftwahrheiten, § 82-86; 124-129.

31 satz zur absoluten (logischen), eine Zuordnung durch die jene nicht prinzipiell zu einer hypothetischen, sondern auch einer p h y S 1 S c h e n. wenn auch höherer, nämlich psychologisch -geistiger Ordnung gemacht wird, wie Kant später selber sehr klar gesehen haF. Das eigentliche Wesen der Freiheit liegt wie bei Wolff und Leibniz in der Spontaneität der Willkür, insofern diese durch die Motive des Intellektes d. h. durch objektive Vorstellungen des Besten eindeutig determiniert wird 8• Sie setzt ein Doppeltes voraus: 1) daß das Vermögen zu handeln, an sich betrachtet, sich indifferent verhält zu den beiden Alternativen einer Wahl;. 2) daß es nur determiniert werde durch die Neigung des Beliebens gemäß der in den deutlichen Vorstellungen des Guten enthaltenen Anreize 9 • Dem Einwand. daß damit die Willensentscheidung notwendig werde. begegnen beide mit der Unterscheidung. sie werde zwar durch diese vorherbestimmenden Gründe gewiß oder unfehlbar (infallibilis). aber nicht unvermeidbar (inevitabilis). Ferner treffen wir in den Ausführungen Kants die Wolffsche These, daß eine libertas indifferentiae. d. h. ein sich indeterministisch be stimmender Wille die absolute Zu fäll i g k e i t der Willensentscheidungen bedeuten würde im Sinne eines völlig unberechenbaren und unerklärbaren Eintretens derselben, indem alle Bedingtheit und Abhängigkeit des Wollens von Motiven aufgegeben werden müsse 10. Endlich erklärt Kant ganz im Sinne Wolffs. wie in uns das scheinbare Bewußtsein indeterministischer Wahlentscheidungen entstehen könne: es entspringe aus einem zweifachen Grund: einmal aus der Spontaneität der SeI b s t b e s tim m u n g gemäß den Motiven; W olff hatte teils von einer aktiven Selbstbestimmung der Willkür gemäß den Motiven teils von einem Bestimmtwerden des Beliebens durch die Motive sprochen und beide Ausdrücke für· gleichbedeutend erklärt. Kant führt diesen Gedanken noch weiter aus und legt näherhin dar, worauf diese Spontaneität der Selbstbestimmung beruht; sie beruhe darauf, daß wir selbst die Urheber unserer Vergegenwärtigungen des Guten sind, indem wir sie nach Belieben hervorrufen und die Aufmerksamkeit auf sie hin- oder von ihnen weglenken, so daß wir die objektiven Bewegungsgründe selbst nach Belieben verändern können. Für beide ist aber selbstverständlich, daß wir auch zu dieser inneren Tätigkeit durch Motive, d.h. durch Vorstellungen des Guten determiniert werden, und daß folglich in den Fällen, in denen uns solche nicht bewußt sind, also keine objektiven oder deutlichen Vorstellungen in uns vorhanden sind, die Bestimmung durch dunkle und damit unbewußte erfolgt, die wie Kant ausdrücklich bemerkt, dem unteren Ver7) KGS XVII, S. 313: R 3855. 8) Ihid.l, S.400, 21 ff.; 400, 34 ff.; 402, 10-15; CLChr. Wolff, Psych.emp., Pars H, sect.2; Psych. rat. Sectio H, Cap.2. 9) KGS I, S.400,39-401,4; Cf. Chr. Wolff, l.c. 10) KGS I, S.402, 15-20; 400,30-34; 402,23-40: C:f. Chr. Wolff, l.e.

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sam W olff und Crusius, also jene Philosophen, durch deren Lehre sein erstes philosophisches Denken geprägt war, wie aus der Habilitationsschrift des Jahres 1755 hervorgeht. Die Betrachtung des Ausgangspunktes, als den wir, wie sich gleich zeigen wird, die Prinzipienlehre W olffs anzusehen haben, ist also von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der moralphilosophischenEntwicklung Kants und zugleich auch des Systems selbst, zu dem sie hinführt. Die Frage aber ist zunächst: hat Kant wirklich zu Beginn seiner Entwicklung die Morallehre der Wolffschule sich zu eigen gemacht und als gültig vertreten? Dafür läßt sich u. E. aus der No v a D i lucidatio ein durchaus schlüssiger Beweis erbringen. Zunächst ist offenbar, daß der Philosoph hier im Rahmen seiner Ausführungen über das Prinzip vom zureichenden Grund und dessen universaler Gültigkeit speziell auch für die Willenshandlungen die Fr e i he i t sIe h re der Wolffschule (und des Leibniz) vertritt, d. h. die Determinierung des Wollens durch die intellektuelle oder deutliche Vorstellung des (objektiv) Besseren; denn er verteidigt diese Lehre hier mit dem Aufgebot aller Gründe gegen den Einwand des großen Gegners derselben, des sehr bedeutenden und auch von ihm selbst sehr hoch geschätzten Theologen und Philosophen C ru si u s : daß nämlich unter ihrer Voraussetzung die blinde, unabwendbare Notwendigkeit alles Geschehens eingeführt werde und damit letztlich alle Schuld und Verantwortlichkeit für die Sünde zurückfalle auf Gott, den Urheber des ursprünglichen Zustandes, von dem aus dann alles weitere Geschehen kraft der vorherbestimmenden Gründe notwendig ablaufe; vielleicht ist die Leibnizsche Freiheitslehre nirgends sonst mit solchem Scharfsinn und solcher Folgerichtigkeit verteidigt worden. als es hier auf diesen wenigen Seiten der Habilitationsschrift Kants geschieht 6 • Das Entscheidende aber ist in diesem Zusammenhang, daß Kant hierbei fast alle wesentlichen Prinzipien der Wolffschen Willenslehre , ja überhaupt seiner rationalen Psychologie in Anspruch nimmt und vertritt. Zwar gibt er seinem Gegner zu, daß zur Lösung der Schwierigkeit jene geläufige Unterscheidung zwischen bedingter (physischer) und unbedingter (logischer) Notwendigkeit nichts vermöge, da auch im Falle der ersteren der Zwang oder Grad der Notwendigkeit keinesfalls aufgehoben oder vermindert sei und folglich auch kein Spielraum der Unbestimmtheit bleibe (ein Lehrpunkt. in dem manche Wolffianer nicht klar sahen); im übrigen aber finden wir fast sämtliche Grundthesen der Wolffschen Psychologie in den Ausführungen Kants wenigstens andeutungsweise wieder. So die grundsätz liche Gleichstellung der moralischen Notwendigkeit (der Verpflichtung) mit der hypothetischen des Naturgeschehens, beide im Gegen6) Nov. D11., Prop. IX, t(uS I, S. 398 ·406. Vgl. Crusius, Notwendige Vernunftwahrheiten, § 82-86; 124-129.

31 satz zur absoluten (logischen), eine Zuordnung durch die jene nicht prinzipiell zu einer hypothetischen, sondern auch einer p h y S 1 S c h e n. wenn auch höherer, nämlich psychologisch -geistiger Ordnung gemacht wird, wie Kant später selber sehr klar gesehen haF. Das eigentliche Wesen der Freiheit liegt wie bei Wolff und Leibniz in der Spontaneität der Willkür, insofern diese durch die Motive des Intellektes d. h. durch objektive Vorstellungen des Besten eindeutig determiniert wird 8• Sie setzt ein Doppeltes voraus: 1) daß das Vermögen zu handeln, an sich betrachtet, sich indifferent verhält zu den beiden Alternativen einer Wahl;. 2) daß es nur determiniert werde durch die Neigung des Beliebens gemäß der in den deutlichen Vorstellungen des Guten enthaltenen Anreize 9 • Dem Einwand. daß damit die Willensentscheidung notwendig werde. begegnen beide mit der Unterscheidung. sie werde zwar durch diese vorherbestimmenden Gründe gewiß oder unfehlbar (infallibilis). aber nicht unvermeidbar (inevitabilis). Ferner treffen wir in den Ausführungen Kants die Wolffsche These, daß eine libertas indifferentiae. d. h. ein sich indeterministisch be stimmender Wille die absolute Zu fäll i g k e i t der Willensentscheidungen bedeuten würde im Sinne eines völlig unberechenbaren und unerklärbaren Eintretens derselben, indem alle Bedingtheit und Abhängigkeit des Wollens von Motiven aufgegeben werden müsse 10. Endlich erklärt Kant ganz im Sinne Wolffs. wie in uns das scheinbare Bewußtsein indeterministischer Wahlentscheidungen entstehen könne: es entspringe aus einem zweifachen Grund: einmal aus der Spontaneität der SeI b s t b e s tim m u n g gemäß den Motiven; W olff hatte teils von einer aktiven Selbstbestimmung der Willkür gemäß den Motiven teils von einem Bestimmtwerden des Beliebens durch die Motive sprochen und beide Ausdrücke für· gleichbedeutend erklärt. Kant führt diesen Gedanken noch weiter aus und legt näherhin dar, worauf diese Spontaneität der Selbstbestimmung beruht; sie beruhe darauf, daß wir selbst die Urheber unserer Vergegenwärtigungen des Guten sind, indem wir sie nach Belieben hervorrufen und die Aufmerksamkeit auf sie hin- oder von ihnen weglenken, so daß wir die objektiven Bewegungsgründe selbst nach Belieben verändern können. Für beide ist aber selbstverständlich, daß wir auch zu dieser inneren Tätigkeit durch Motive, d.h. durch Vorstellungen des Guten determiniert werden, und daß folglich in den Fällen, in denen uns solche nicht bewußt sind, also keine objektiven oder deutlichen Vorstellungen in uns vorhanden sind, die Bestimmung durch dunkle und damit unbewußte erfolgt, die wie Kant ausdrücklich bemerkt, dem unteren Ver7) KGS XVII, S. 313: R 3855. 8) Ihid.l, S.400, 21 ff.; 400, 34 ff.; 402, 10-15; CLChr. Wolff, Psych.emp., Pars H, sect.2; Psych. rat. Sectio H, Cap.2. 9) KGS I, S.400,39-401,4; Cf. Chr. Wolff, l.c. 10) KGS I, S.402, 15-20; 400,30-34; 402,23-40: C:f. Chr. Wolff, l.e.

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mögen, der facultas inferior zugehören. Diese unbewußten oder dunklen Vorstellungen sind für beide der zweite Grund, aus dem das scheinbare Bewußtsein indeterministischer Willkürwahlen entspringt 11. In dieser Erklärung Kants wird deutlich, daß auch für ihn die grundlegende Einteilung der Wolffschen Psychologie in das obere und untere Vermögen nach der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen gilt: dem oberen Vermögen sind die klar bewußten zugeordnet, die auch als motiva intellectus oder als rationes objectivae bezeichnet werden, dem unteren, sinnlichen Vermögen dagegen die dunklen, nicht mehr klar bewußten 12. Diese beiKant nur angedeutete· Einteilung wird eigentlich erst voll verständlich durch die Lehre der Wolffschen Psychologie, daß die Vorstellungen nur insoweit bewußt werden als sie verdeutlicht werden. Daß die Verdeutlichung aber durch die Anwendung der Aufmerksamkeit erfolgt, diese These Wolffs vertritt Kant in der Nova Dilucidatio wieder ausdrücklich 13. Wenn er auf den Unterschied zwischen deutlichen und bloß klaren Vorstellungen, der ja nach Wolff nur ein relativer ist, nicht näher eingeht. so ist das in diesem Zusammenhang, in dem es ihm nicht primär um Fragen der Psychologie zu tun ist, nicht zu verwundern. Aber ein anderes deutet er in der zweiten Hälfte der Ausführungen der Prop. X. noch an: daß er auch die Grundauffassung Wolffs von der Natur der Seele bzw. der geistigen Substanz teilt, daß diese nämlich in der vis repraesentativa universi bestehe; denn er spricht hier von der 'infinita, quae semper animae interne praesto est, quamquam obcura admodum totius universi perceptio' als der Potenz, aus der die ganze geistige Aktivität entspringt 14 • Wir finden also praktisch eine völlige Übereinstimmung zwischen der Freiheitslehre, ja der ganzen rationalen Psychologie Wolffs und den Thesen der Nova Dilucidatio, wobei diese dort. wo sie über die eigentliche Willenslehre hinausgeht. naturgemäß nur andeutend sein kann. Nun ist aber unter der Voraussetzung dieser Lehre von der Freiheit bzw. dieser Auffassung vom Wesen der Seele und ihren Vermögen eine andere Grundlegung der Ethik nicht möglich als jene, die ihr W olff gab: denn sie folgt wie ein Corollarium mit notwendiger Konsequenz aus ihr. Folglich ist der Rückschluß unbedingt zwingend, daß Kant in jener frühen Zeit mit der Wolffschen Psychologie auch seine Morallehre vertreten habe. Und übrigens deutet er dies auch direkt in der Habilitationsschrift an, wenn er zu Beginn seiner Widerlegung der Crusius'schen Schwierigkeit sagt: Quando necessitatem h y pot h e ti ca m, in specie moralem, distin 11) 12) 13) 14)

KGS KGS KGS KGS

I. I. I, I,

S.401. 13-18; 403. 10-25; 406. 13-25; Cf. Chr. Wolff. l.c. S.401. 13-18; 406, 13-25; Cf. Wolff, Psych. emp. Pars I, Sectio 2, Cap.1. 408, 5-22; Cf. Chr. wolff, Psych. emp. Pars I, Sectio 2, Cap.1 et 2. S.408, 5-22; Cf. Chr. Wolff, psych.rat. § 66 ff.; Vernünftige Im übrigen betone er im Einklang mit den Engländern und Rousseau hier vor allem die Bedeutung des Gefühlsmoments für das moralische Handeln: so wenn er die Grundsätze, auf die die wahre Tugend gepfropft sei, auf ein Gefühl zurückführe, aber auch die moralische Bedeutung, ja schließlich sogar den moralischen Charakter der hilfeleistenden Triebe des Mitleids und der Gefälligkeit anerkenne und auch die Rolle der Ehrsucht (ambition) moralisch durchaus positiv bewerte; oder wenn er darauf hinweise, daß auch die transzendierende Sicht, die fähig ist, über sich selbst hinauszuge hen und das Verhalten der anderen zu verstehen und zu bewerten, nur durch Vermittlung des Gefühls, niemals aber durch den Verstand allein möglich sei etc. Aber trotz aller Anerkennung der berechtigten und notwendigen Rolle des Affektiven für das menschliche Leben nehme der Philosoph andererseits nichts von der emphatischen Betonung dessen zurück, was er die reine Moral oder die ge-

103 nuine Tugend nennt, die nach ihm auf allgemeine Grundsätze gepfropft sein muß, aber nicht auf emotionsfreie, unmateriale, bloß formale Prinzipien. Seine Feststellung, daß die moralischen Prinzipien keine spekulativen Regeln sind, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jeder Menschenbrust lebe, helfe uns, seinen ethischen Standpunkt in diesem Stadium seiner intellektuellen Entwicklung zu bestimmen. Obwohl: 1125. 1129. 1130. 1173 (Sittlichkeit aus Grundsätzen und aus Geschmack). 1175. 1178. 1179 (Das Wesentliche bei einem sittlich guten Charakter ist der Wert. den man in sich selbst (in die Menschheit) setzt sowohl in Ansehung der auf sich selbst bezogenen Handlungen als im Verhältnis auf andere). 1126. 1145. 1127. 1131. 1133. 10) Ibid. ll, S.226 f.

111 terialen sittlichen Imperative herausgearbeitet hat? Haben diese Grundsätze überhaupt eine innere Beziehung zu den dort entwickelten Prinzipien der Moralität oder bedeuten sie einen grundsätzlich neuen Ansatz zur Lösung des ethischen Grundproblems? In einer Abhandlung, die unter anderem auch und vor allem untersucht, was am sittlichen Charakter des Menschen schön und erhaben wirkt, sind die Tugend, das Handeln aus Grundsätzen als das Erhabene und das tugend ähnliche Handeln aus den gutartigen Trieben als eigentliche Gegenstand der Betrachtung, nicht aber dIe Prmzlplen der Moralität, d. h. der sittlichen Gutheit und Schlechtheit der Akte, so daß diese naturgemäß nur so weit behandelt werden als es für das bezeichnete Thema notwendig erschien. Nun aber erforderte die Gegenüberstellung und Unterscheidung des tugendhaften Handeins aus Grundsätzen und des tugendähnlichen Verhaltens aus den gutartigen Neigungen allerdings ein näheres Eingeauf das Wesen des mo r ali s che n Ge fü hl s und sein Verhältzu den moralischen Sympathien, nicht aber in dem gleichen Maße dIe des Formalprinzips oder auch der materialen Regeln der für die es ja auf seiten der moralischen Neigungen keme Entsprechung gab. Ja Kant hielt es nicht einmal für notwendig, auf das Verhältnis der tugendhaften Grundsätze zum moralischen Gefühl hier näher einzugehen, ebenso wenig wie er dies im über die negativen Größen getan hatte, wo die Gesetze des GewIssens, die Grundsätze nach diesen zu handeln, und das morali sche Gefühl nebeneinander als Ursache des tugendhaften Handeins aufgestellt werden. Allerdings wird in den Beobachtungen die Beziehung des morali zu den Grundsätzen des Handeins, ja zu den objektiven der Verbindlichkeit wenigstens an g e d e u te t, aber sie bleIbt 1m .Rahmen der gegenwärtigen Thematik mehr im Hintergrund: emen wird aus den Darlegungen Kants, wie wir sahen, hmrelChend deuthch, daß nach ihm die wirksamen Grundsätze der Tugendgesinnung über das Bewußtsein des moralischen Gefühls hinaus noch die.persönliche Tat, den inneren Aufschwung des Einzelnen erfordern, msbesondere um ihnen alle Neigungen, einschließlich der moralischen, unterzuordnen, was mit einem ununterbrochenen K.ampf. gegen das triebhafte Streben verbunden ist: hier liegt offenbar em SpIelraum der Freiheit und der eigenen Initiative. Andererseits wiederum gilt nach.ihm, daß das Gefühl für die Würde und Schönheit der menschlichen Natur der Grund ist, sich die Grundsätze der Tugendgesinnung (der allgemeinen Menschenliebe und -achtung) zu bilden, und daß, wenn dieses Gefühl eine größere Macht über die Seelen der Menschen hätte als die niederen Leidenschaften des Eigenund der gemeinen Wollust und selbst der gutherzigen Triebe. SIch dIe Menschen natürlicherweise und von selbst diese Grundsätze bilden würden. Demgemäß sieht er auch darin eine Funktion der

110 bei Kant zu folgendem Resultat kommt: Derjenigen, welche nach Grundsätzen verfahren, sind nur sehr wenige und das sei auch überaus gut, weil man, wie schon bemerkt, in seinen Grundsätzen leicht irren könne. Weitaus größer sei die Zahl jener, die aus gutherzigen Trieben handeln, und das sei ebenfalls, wenngleich ein solches Handeln nicht als ein sonderliches Verdienst betrachtet werden könne, vorzüglich; denn obwohl diese Triebe auch manchmal fehlgingen, würden sie doch im Durchschnitt, ähnlich wie die Instinkte in den Tieren, die große Absicht der Natur vollbringen. Die meisten aber seien jene, bei denen sich alles um den Eigennutz als die große Achse des Handeins drehe, aber gerade das wäre, auf das Ganze gesehen, am vorteilhaftesten, weil diese die emsigsten, ordentlichsten und behutsamsten seien. Sie gäben dem Ganzen Halt und Festigkeit, indem sie auch ohne Absicht gemeinnützig wirkten und jene Bedürfnisse besorgten, die für die Betätigung der feineren Seelen die unentbehrlichen Voraussetzungen bilden. Schließlich hebt er noch die besondere Bedeutung der Ehr I i e be innerhalb dieses ganzen moralischen Gemäldes hervor: sie gebe dem Ganzen eine bis zur Bewunderung reizende Schönheit; denn ovwohl die Ehrbegierde an sich ein törichter Wahn sei, wenn sie zur Regel werde, der man alle Neigungen unterordnet, so sei sie doch als begleitender Trieb vortreff lich; denn durch sie werde ein jeder, der auf der großen Schaubühne der Menschheit seinen herrschenden Neigungen gemäß handelt ,durch einen geheimen Antrieb bewogen, in Gedanken einen Standpunkt außer sich selbst einzunehmen und von dort aus sein Betragen zu beurteilen. So vereinigten sich die verschiedenen Gruppen zu einem Gemälde von prä c h t i gern Anblick, wo inmitten der großen Mannigfaltigkeit die Einheit hervorleuchte und. die Schönheit und Würde des Ganzen der moraiischen Natur sichtbar werde 10 • Damit haben wir im wesentlichen die Gedanken zusammengefaßt. die Kant in dieser Schrift über das Wesen der Tugend entwickelt,und nun gilt es, jene Momente herauszulösen, die für die Erkenntnis seiner damaligen Ansichten über die Pr i n z i pie n der Mo r al i t ä t von Bedeutung sind. Die erste und wichtigste Frage lautet hier: Wie verhalten sich diese Grundsätze der Tugendgesinnung zum mo ralischen Gefühl einerseits und zu den Regeln bzw. dem formalen Prinzip der Verbindlichkeit andererseits, die Kant in der Preisschrift als die konstitutiven Elemente der marakterisierung des Gutherzigen). 1166. 1167. 1168. 1169 (Falsches Mitleiden eine Art Opium, das zuletzt das Herz welk macht. Nichts ist allem Charakter mehr entgegen •• Es gibt keine Tugend als im wackeren Herzen und kein wacker Herz ohne die Macht der GrundSätze); Phase p-q>: 1125. 1129. 1130. 1173 (Sittlichkeit aus Grundsätzen und aus Geschmack). 1175. 1178. 1179 (Das Wesentliche bei einem sittlich guten Charakter ist der Wert. den man in sich selbst (in die Menschheit) setzt sowohl in Ansehung der auf sich selbst bezogenen Handlungen als im Verhältnis auf andere). 1126. 1145. 1127. 1131. 1133. 10) Ibid. ll, S.226 f.

111 terialen sittlichen Imperative herausgearbeitet hat? Haben diese Grundsätze überhaupt eine innere Beziehung zu den dort entwickelten Prinzipien der Moralität oder bedeuten sie einen grundsätzlich neuen Ansatz zur Lösung des ethischen Grundproblems? In einer Abhandlung, die unter anderem auch und vor allem untersucht, was am sittlichen Charakter des Menschen schön und erhaben wirkt, sind die Tugend, das Handeln aus Grundsätzen als das Erhabene und das tugend ähnliche Handeln aus den gutartigen Trieben als eigentliche Gegenstand der Betrachtung, nicht aber dIe Prmzlplen der Moralität, d. h. der sittlichen Gutheit und Schlechtheit der Akte, so daß diese naturgemäß nur so weit behandelt werden als es für das bezeichnete Thema notwendig erschien. Nun aber erforderte die Gegenüberstellung und Unterscheidung des tugendhaften Handeins aus Grundsätzen und des tugendähnlichen Verhaltens aus den gutartigen Neigungen allerdings ein näheres Eingeauf das Wesen des mo r ali s che n Ge fü hl s und sein Verhältzu den moralischen Sympathien, nicht aber in dem gleichen Maße dIe des Formalprinzips oder auch der materialen Regeln der für die es ja auf seiten der moralischen Neigungen keme Entsprechung gab. Ja Kant hielt es nicht einmal für notwendig, auf das Verhältnis der tugendhaften Grundsätze zum moralischen Gefühl hier näher einzugehen, ebenso wenig wie er dies im über die negativen Größen getan hatte, wo die Gesetze des GewIssens, die Grundsätze nach diesen zu handeln, und das morali sche Gefühl nebeneinander als Ursache des tugendhaften Handeins aufgestellt werden. Allerdings wird in den Beobachtungen die Beziehung des morali zu den Grundsätzen des Handeins, ja zu den objektiven der Verbindlichkeit wenigstens an g e d e u te t, aber sie bleIbt 1m .Rahmen der gegenwärtigen Thematik mehr im Hintergrund: emen wird aus den Darlegungen Kants, wie wir sahen, hmrelChend deuthch, daß nach ihm die wirksamen Grundsätze der Tugendgesinnung über das Bewußtsein des moralischen Gefühls hinaus noch die.persönliche Tat, den inneren Aufschwung des Einzelnen erfordern, msbesondere um ihnen alle Neigungen, einschließlich der moralischen, unterzuordnen, was mit einem ununterbrochenen K.ampf. gegen das triebhafte Streben verbunden ist: hier liegt offenbar em SpIelraum der Freiheit und der eigenen Initiative. Andererseits wiederum gilt nach.ihm, daß das Gefühl für die Würde und Schönheit der menschlichen Natur der Grund ist, sich die Grundsätze der Tugendgesinnung (der allgemeinen Menschenliebe und -achtung) zu bilden, und daß, wenn dieses Gefühl eine größere Macht über die Seelen der Menschen hätte als die niederen Leidenschaften des Eigenund der gemeinen Wollust und selbst der gutherzigen Triebe. SIch dIe Menschen natürlicherweise und von selbst diese Grundsätze bilden würden. Demgemäß sieht er auch darin eine Funktion der

112 Freiheit gegenüber dem moralischen Gefühl, daß dieses zwar in jedem menschlichen Busen lebendig ist, aber me h r als An lag e , die entwickelt werden kann und entwickelt werden soll, worauf sich seine Ansicht vom Wesen und der Aufgabe der Erziehung aufbaut, die er hier im Grunde bereits so auffaßt wie in der Methodenlehre der 'kritischen' Schriften l l • Naturgemäß mußte in seinen Darlegungen, die thematisch nur den Unterschied zwischen dem tugendhaften Charakter und dem guten Herzen durch einen Vergleich der beiden zugrunde liegenden Gefühle deutlich machen sollten, das Verhältnis zwischen den Grundsätzen der Tugend und den Re gel n der Verbindlichkeit oder gar dem Formalprinzip der letzteren noch mehr im Hintergrund bleiben, obwohl nach den Ausführungen der Preisschrift sowohl wie denen des Versuches über die negativen Größen in diesem Punkt kein Zweifel bestehen kann. Aber es könnte sich doch auf Grund des argumentum ex silentio die Vermutung aufdrängen, daß Kant vielleicht das Prinzip der Verbindlichkeit und überhaupt der Regeln der Pflicht und des Sollens damals nicht mehr als notwendig für das moralische Leben und damit auch nicht mehr als konstitutive Prinzipien der Moralität des Aktes betrachtet habe, daß er sich in den Beobachtungen ähnlich wie Hutcheson und Shaftesbury zu einer reinen Ethik des moralischen Gefühls bekenne. Hier müssen wir vor allem klar unterscheiden zwischen den Grundsätzen der Tugendgesinnungund den objektiven Regel n der P fl ich t oder den Pflichtgesetzen. Die ersteren, bei denen es darauf ankommt, daß ihnen Stärke und Festigkeit zukommt, sind das, was Kant später Maximen nennt, Grundsätze bzw. Vorsätze, aus denen ich handle. Sie sollen zwar mit den objektiven Regeln der Pflicht übereinstimmen; aber andererseits ist der Handelnde in der Fassung seiner Grundsätze auch der Möglichkeit des Irrtums unterworfen, daß er nämlich glaubt, sein Grundsatz stimme mit dem objektiven Pflichtgesetz überein , während er diesem in Vlirklichkeit vielleicht widerstreitet. Dieser Unterschied zwischen den subjektiven Grundsätzen des Handeins und den objektiven Regeln des Sollens, der ja bekanntlich für das spätere System von grundlegender Bedeutung ist, ist eigentlich schon hinreichend klar in den Ausführungen des Versuches über die negativen Größen enthalten. Dort spricht Kant nämlich auf der einen Seite von dem Bewußtsein des Gesetzes im Gewissen, von dem positiven Gesetz der Nächstenliebe, von der Verbindlichkeit zu lieben als Bewegungsgrund zum Tun des Guten, von den Regeln der Pflicht; auf der anderen Seite aber von dem Grad des Vermögens, nach Grundsätzen der Verbindlichkeit zu handeln 12. D. h. wir haben im Grunde dasselbe Verhältnis zwischen den Antrieben zum Tun des Guten (die ja auch hier einmal mit dem moralischen Gefühl identifiziert werden) und der eigenen

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11) lbid. S.256, 18-23; Cf. V, 8,152 f. Metaph.d.Sitten, Einl.i.d. Tgdl. XIla, 2.Absatz.

Tätigkeit, sich nach diesen Antrieben Grundsätze und zwar starke Grundsätze des Handeins zu bilden, die ein positives Vermögen darstellen, nach den Regeln der Verbindlichkeit zu handeln. ,Wir, finden aber auch in den Beobachtungen das 0 b je k ti v e Prlnzlp der Pflicht selber angedeutet, das außer dem moraGefühl diesen Grundsätzen der Tugendgesinnung zugrunde hegt; denn der Philosoph bezieht auch hier gelegentlich das letztere bzw. die auf ihm beruhenden Gr'\lIldsätze auf das Gesetz oder die Re gel der P f li c h t: so wenn er spricht· von den Regeln, die auf das Wo h I ver haI t e n übe rh a u p t gehen, oder davon, daß ein tugendim Gegensatz zu denen der moralischen Sympathien l:-n rlchhgen :VerhältniS zur Ge samtpflicht stehen muß und folgdurch emen solchen nicht wie bei den letzteren die strengen Pfhchten der Gerechtigkeit hintangesetzt werden können. Dem moralischen Gefühl für die Würde und Schönheit der menschlichen Natur steht also offenbar als ergänzendes Prinzip die Gesamtpflicht gegenüber, die die objektiven Regeln des Wohlverhaltens überhaupt umfaßt ... Bes,onders kommt dieses objektive Prinzip der Grundsatze m dem Verglelch zwischen der Tugend des männlichen und zum Durchbruch: "Die Tugend des Frauenzlmmers 1st eine schöne Tugend (wobei er anmerkt daß damit jene gemeint sei, die er im vorausgehenden nach einem' strengen Urteil bloß adoptierte Tugend genannt hatte), die des männlichen Geschlechtes soll eine edle Tugend sein. Sie (die Frauen) werden das Böse meiden, nicht weil es unrecht, sondern weil es häßlich ist, und tugendhafte Handlungen bedeuten bei ihnen solche, die sittlich schön sind. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit. Das Frauenzimmer ist aller Befehle und alles mürrischen Zwanges unleidlich. Sie tun etwas nur darum, weil es ihnen so beli.ebt, die Kunst darin zu machen, daß ihnen nur dasjemge behebe was gut 1st. Ich glaube schwerlich, daß das schöne Geschlecht der Grundsätze fähig sei, und ich hoffe dadurch nicht zu beleidigen, denn sie sind auch äußerst selten beim männlichen" 12a Hie:- wird deutlich erkennbar, daß die e dIe Tugend, die auf Grundsatze gepfropft ist, im Geiste Kants wesentlich bezogen ist das Sollen, das Müssen, die Schuldigkeit, die Befehle sind und em Zwang, also Imperative, und nicht bloß auf das moralische Gefühl. Wir haben also hier im Grunde die gleichen Prinzipien und das nämliche Verhältnis zwischen ihnen wie in dem 'Versuch': die objektiven Regeln der Pflicht, die subjektiven Grundsätze, nach diesen zu handeln und das moralische Gefühl. Da nun der 'Versuch' der Pr.eisschrift zeitlich so nahe steht, daß, wenn nicht die Abfassung belder so doch ihre Vorbereitung wenigstens zum Teil parallel laufen mußte und andererseits die in der letzteren entwickelte Lösung dort als die Frucht langen Nachdenkens bezeichnet wird und in we-

12) KGS Il, S.182 f. coll. S.200, 7-13.

12 a) Ibid. Il, S.231 f.

112 Freiheit gegenüber dem moralischen Gefühl, daß dieses zwar in jedem menschlichen Busen lebendig ist, aber me h r als An lag e , die entwickelt werden kann und entwickelt werden soll, worauf sich seine Ansicht vom Wesen und der Aufgabe der Erziehung aufbaut, die er hier im Grunde bereits so auffaßt wie in der Methodenlehre der 'kritischen' Schriften l l • Naturgemäß mußte in seinen Darlegungen, die thematisch nur den Unterschied zwischen dem tugendhaften Charakter und dem guten Herzen durch einen Vergleich der beiden zugrunde liegenden Gefühle deutlich machen sollten, das Verhältnis zwischen den Grundsätzen der Tugend und den Re gel n der Verbindlichkeit oder gar dem Formalprinzip der letzteren noch mehr im Hintergrund bleiben, obwohl nach den Ausführungen der Preisschrift sowohl wie denen des Versuches über die negativen Größen in diesem Punkt kein Zweifel bestehen kann. Aber es könnte sich doch auf Grund des argumentum ex silentio die Vermutung aufdrängen, daß Kant vielleicht das Prinzip der Verbindlichkeit und überhaupt der Regeln der Pflicht und des Sollens damals nicht mehr als notwendig für das moralische Leben und damit auch nicht mehr als konstitutive Prinzipien der Moralität des Aktes betrachtet habe, daß er sich in den Beobachtungen ähnlich wie Hutcheson und Shaftesbury zu einer reinen Ethik des moralischen Gefühls bekenne. Hier müssen wir vor allem klar unterscheiden zwischen den Grundsätzen der Tugendgesinnungund den objektiven Regel n der P fl ich t oder den Pflichtgesetzen. Die ersteren, bei denen es darauf ankommt, daß ihnen Stärke und Festigkeit zukommt, sind das, was Kant später Maximen nennt, Grundsätze bzw. Vorsätze, aus denen ich handle. Sie sollen zwar mit den objektiven Regeln der Pflicht übereinstimmen; aber andererseits ist der Handelnde in der Fassung seiner Grundsätze auch der Möglichkeit des Irrtums unterworfen, daß er nämlich glaubt, sein Grundsatz stimme mit dem objektiven Pflichtgesetz überein , während er diesem in Vlirklichkeit vielleicht widerstreitet. Dieser Unterschied zwischen den subjektiven Grundsätzen des Handeins und den objektiven Regeln des Sollens, der ja bekanntlich für das spätere System von grundlegender Bedeutung ist, ist eigentlich schon hinreichend klar in den Ausführungen des Versuches über die negativen Größen enthalten. Dort spricht Kant nämlich auf der einen Seite von dem Bewußtsein des Gesetzes im Gewissen, von dem positiven Gesetz der Nächstenliebe, von der Verbindlichkeit zu lieben als Bewegungsgrund zum Tun des Guten, von den Regeln der Pflicht; auf der anderen Seite aber von dem Grad des Vermögens, nach Grundsätzen der Verbindlichkeit zu handeln 12. D. h. wir haben im Grunde dasselbe Verhältnis zwischen den Antrieben zum Tun des Guten (die ja auch hier einmal mit dem moralischen Gefühl identifiziert werden) und der eigenen

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11) lbid. S.256, 18-23; Cf. V, 8,152 f. Metaph.d.Sitten, Einl.i.d. Tgdl. XIla, 2.Absatz.

Tätigkeit, sich nach diesen Antrieben Grundsätze und zwar starke Grundsätze des Handeins zu bilden, die ein positives Vermögen darstellen, nach den Regeln der Verbindlichkeit zu handeln. ,Wir, finden aber auch in den Beobachtungen das 0 b je k ti v e Prlnzlp der Pflicht selber angedeutet, das außer dem moraGefühl diesen Grundsätzen der Tugendgesinnung zugrunde hegt; denn der Philosoph bezieht auch hier gelegentlich das letztere bzw. die auf ihm beruhenden Gr'\lIldsätze auf das Gesetz oder die Re gel der P f li c h t: so wenn er spricht· von den Regeln, die auf das Wo h I ver haI t e n übe rh a u p t gehen, oder davon, daß ein tugendim Gegensatz zu denen der moralischen Sympathien l:-n rlchhgen :VerhältniS zur Ge samtpflicht stehen muß und folgdurch emen solchen nicht wie bei den letzteren die strengen Pfhchten der Gerechtigkeit hintangesetzt werden können. Dem moralischen Gefühl für die Würde und Schönheit der menschlichen Natur steht also offenbar als ergänzendes Prinzip die Gesamtpflicht gegenüber, die die objektiven Regeln des Wohlverhaltens überhaupt umfaßt ... Bes,onders kommt dieses objektive Prinzip der Grundsatze m dem Verglelch zwischen der Tugend des männlichen und zum Durchbruch: "Die Tugend des Frauenzlmmers 1st eine schöne Tugend (wobei er anmerkt daß damit jene gemeint sei, die er im vorausgehenden nach einem' strengen Urteil bloß adoptierte Tugend genannt hatte), die des männlichen Geschlechtes soll eine edle Tugend sein. Sie (die Frauen) werden das Böse meiden, nicht weil es unrecht, sondern weil es häßlich ist, und tugendhafte Handlungen bedeuten bei ihnen solche, die sittlich schön sind. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit. Das Frauenzimmer ist aller Befehle und alles mürrischen Zwanges unleidlich. Sie tun etwas nur darum, weil es ihnen so beli.ebt, die Kunst darin zu machen, daß ihnen nur dasjemge behebe was gut 1st. Ich glaube schwerlich, daß das schöne Geschlecht der Grundsätze fähig sei, und ich hoffe dadurch nicht zu beleidigen, denn sie sind auch äußerst selten beim männlichen" 12a Hie:- wird deutlich erkennbar, daß die e dIe Tugend, die auf Grundsatze gepfropft ist, im Geiste Kants wesentlich bezogen ist das Sollen, das Müssen, die Schuldigkeit, die Befehle sind und em Zwang, also Imperative, und nicht bloß auf das moralische Gefühl. Wir haben also hier im Grunde die gleichen Prinzipien und das nämliche Verhältnis zwischen ihnen wie in dem 'Versuch': die objektiven Regeln der Pflicht, die subjektiven Grundsätze, nach diesen zu handeln und das moralische Gefühl. Da nun der 'Versuch' der Pr.eisschrift zeitlich so nahe steht, daß, wenn nicht die Abfassung belder so doch ihre Vorbereitung wenigstens zum Teil parallel laufen mußte und andererseits die in der letzteren entwickelte Lösung dort als die Frucht langen Nachdenkens bezeichnet wird und in we-

12) KGS Il, S.182 f. coll. S.200, 7-13.

12 a) Ibid. Il, S.231 f.

114 sentlichen Punkten den endgültigen ethischen Standpunkt Kants festlegt, so ergibt sich aus der Übereinstimmung der Beobachtungen mit dem Versuch, daß er zur Zeit ihrer Abfassung noch durchaus an den Prinzipien jener Lösung festhielt. Wir können also SchlIpp hier weitgehend zustimmen, wenn er zum Schluß seines 4. Kapitels bemerkt, daß eine abschließende Würdigung zu dem Schluß führe, daß die Beobachtungen wenn überhaupt einen, so nur einen wenig bedeutsamen Fortschritt über die ethischen Lehren des Versuches hinaus enthalten. Allerdings darf dabei die grundsätzliche Identität des moralphilosophischen Standpunktes des Versuches und damit auch der Beobachtungen mit dem der Preis schrift nicht übersehen werden, wie es bei Schilpp und anderen Autoren geschieht. Trotz des Gesagten aber ist nicht zu verkennen, daß die Beobachtungen in einem Punkt einen wes e nt 1 ich e n F 0 r t s c h r i t t gegenüber der Preisschrift enthalten, nämlich in dem Begriff des moralischen Gefühls. Dort hatte Kant als Merkmal der Inhalte des letzteren ausdrücklich nur ihre Einfachheit und Unauflöslichkeit angegeben, d. h. die Unmittelbarkeit de s Wohlgefallens oder Mißfallens: daß sie an sich selbst und um ihrer selbst willen als gut und liebenswert bzw. als häßlich und verabscheuungswert empfunden werden. Aber bereits an den zur Illustration gewählten Beispielen (der Gegenliebe für erwiesene Güte und des Ungehorsams gegen den göttlichen Willen) wird deutlich, daß es sich hier um a11 g e m ein und 0 b je k ti v gültige Gegenstände des Wohlgefallens handelt, die unabhängig von den besonderen Neigungen und Zuständlichkeiten des fühlenden Subjektes als gut bzw. als schlecht empfunden werden. Freilich war diese objektive Gültigkeit des Gegenstandes im Grunde schon in der Forderung der Einfachheit und Unauflöslichkeit des Gefühls enthalten; denn diese besagt gerade, daß eine Handlungsweise in sich und um ihrer selbst willen ein Gegenstand des Wohlgefallens sein muß und nicht etwa um eines zufälligen Verhältnisses zum fühlenden Subjekt willen, auf Grund de ssen es einen GI ü c k s wer t der subjektiven Befriedigung enthält. Aber diese Seite der objektiven Gültigkeit und damit der Unabhängigkeit von den zufälligen Dispositionen oder auch Anlagen des Subjektes war dort nicht ausdrücklich hervorgehoben worden, vielleicht nur infolge der Kürze und Skizzenhaftigkeit des ganzen betreffenden Abschnittes. Hier in den Beobachtungen aber mußte äiese Seite ins helle Licht gerückt werden, weil sie gerade den spezifischen Unterschied zwischen dem moralischen Gefühl und den moralischen Sympathien oder gutartigen Trieben ausmacht. Diese letzteren haben mit dem echten moralischen Gefühl gemeinsam, daß sie eine unmittelbare Lust, ein unmittelbares Wohlgefallen an ihrem Gegenstand, den guten Handlungen, enthalten und nicht etwa nur ein mittelbares infolge seiner Beziehung auf einen anderen Gegenstand. Aber dieses Wohlgefallen ist durch

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die besonderen Anlagen des Subjektes bedingt und deshalb ist das Objekt nicht rein an sich selbst Gegenstand de s Wohlgefallens, sondern lediglich in seiner Beziehung auf das bestimmte fühlende Subjekt und damit auf die Befriedigung, die für dieses in der betreffenden Handlung liegt. Wir haben also keine im strengen Sinn einfa c he n Empfindungen des Guten vor uns. Der Gegenstand des moralischen Gefühls mußte also zunächst klar von dem der moralischen Sympathien unterschieden werden und das konnte eindeutiger als durch das Merkmal der Einfachheit durch das der All g e me in g 1 ü ti g k e i t geschehen: Während die Beweggründe bei den tugendähnlichen Gesinnungen partikulär und subjektiv (durch die Neigungen und Bedürfnisse des Subjektes) bedingt sind, wie das besonders in Kants Schilderung des moralischen Charakters des Sanguinikers zum Ausdruck kommt 13, ist der Gegenstand oder Beweggrund beim eigentlichen moralischen Gefühl allgemein, weil objektiv d. h. unabhängig von den Bedingungen des empfindenden Subjektes gültig, d. h. er spricht das Gefühl an wegen seiner wesenhaften inneren Gutheit und ist damit notwendig ein Gegenstand des Wohlgefallens aller Menschen. Gerade weil die edlen Gründe allgemein und objektiv gültig sind, sind es auch die Grundsätze des Handeins, die sich aus ihnen herleiten, was bei Kant darin zum Ausdruck kommt, daß ihnen einerseits alle besonderen Neigungen einschließlich der gutartigen untergeordnet werden müssen und sie andererseits selbst in einem notwendigen und wesentlichen Verhältnis zur Gesamtpflicht und zu den Regeln des Wohlverhaltens überhaupt stehen. Der Umstand aber, daß diese Grundsätze durch ihre Beziehung auf die Gesamtpflicht zueinander in einem notwendigen Verhältnis der Harmonie und Einheit stehen, läßt bereits darauf schließen, daß alle insgesamt auf einem letzten, umfassenden, einheitlichen Grundwert beruhen, von dem sie nur besondere Weisen und Aspekte darstellen: es ist die Schönheit und Würde der menschlichen Natur selber, die nunmehr als der s p e z i fis c h e Ge gen s t an d und damit als das F 0 r mal 0 b je k t des moralischen Gefühls erscheint und von dem sich deshalb die zwei allgemeinsten Grundsätze der Tugendgesinnung wie auch der Pflicht ableiten: der der allgemeinen Wohlgewogenheit und der der allgemeinen Achtung. Damit aber ist gesagt: daß die Gründe des moralischen Gefühls nicht nur allgemein und objektiv gültige Gegenstände des Wohlgefallens, sondern zugleich wesentlich per so n ale Wer t e sind, indem sie alle insgesamt die Liebenswürdigkeit und Achtungswürdigkeit der menschlichen Natur zum Gegenstand haben. In dieser neuen Bestimmung des Gegenstandes des moralischen Gefühls läßt sich ein e c h te r F 0 r t s c h r i t t gegenüber der Preisschrift erkennen. Dort war er von der Voraussetzung ausgegangen, 13) Ibid. H, S.222.

114 sentlichen Punkten den endgültigen ethischen Standpunkt Kants festlegt, so ergibt sich aus der Übereinstimmung der Beobachtungen mit dem Versuch, daß er zur Zeit ihrer Abfassung noch durchaus an den Prinzipien jener Lösung festhielt. Wir können also SchlIpp hier weitgehend zustimmen, wenn er zum Schluß seines 4. Kapitels bemerkt, daß eine abschließende Würdigung zu dem Schluß führe, daß die Beobachtungen wenn überhaupt einen, so nur einen wenig bedeutsamen Fortschritt über die ethischen Lehren des Versuches hinaus enthalten. Allerdings darf dabei die grundsätzliche Identität des moralphilosophischen Standpunktes des Versuches und damit auch der Beobachtungen mit dem der Preis schrift nicht übersehen werden, wie es bei Schilpp und anderen Autoren geschieht. Trotz des Gesagten aber ist nicht zu verkennen, daß die Beobachtungen in einem Punkt einen wes e nt 1 ich e n F 0 r t s c h r i t t gegenüber der Preisschrift enthalten, nämlich in dem Begriff des moralischen Gefühls. Dort hatte Kant als Merkmal der Inhalte des letzteren ausdrücklich nur ihre Einfachheit und Unauflöslichkeit angegeben, d. h. die Unmittelbarkeit de s Wohlgefallens oder Mißfallens: daß sie an sich selbst und um ihrer selbst willen als gut und liebenswert bzw. als häßlich und verabscheuungswert empfunden werden. Aber bereits an den zur Illustration gewählten Beispielen (der Gegenliebe für erwiesene Güte und des Ungehorsams gegen den göttlichen Willen) wird deutlich, daß es sich hier um a11 g e m ein und 0 b je k ti v gültige Gegenstände des Wohlgefallens handelt, die unabhängig von den besonderen Neigungen und Zuständlichkeiten des fühlenden Subjektes als gut bzw. als schlecht empfunden werden. Freilich war diese objektive Gültigkeit des Gegenstandes im Grunde schon in der Forderung der Einfachheit und Unauflöslichkeit des Gefühls enthalten; denn diese besagt gerade, daß eine Handlungsweise in sich und um ihrer selbst willen ein Gegenstand des Wohlgefallens sein muß und nicht etwa um eines zufälligen Verhältnisses zum fühlenden Subjekt willen, auf Grund de ssen es einen GI ü c k s wer t der subjektiven Befriedigung enthält. Aber diese Seite der objektiven Gültigkeit und damit der Unabhängigkeit von den zufälligen Dispositionen oder auch Anlagen des Subjektes war dort nicht ausdrücklich hervorgehoben worden, vielleicht nur infolge der Kürze und Skizzenhaftigkeit des ganzen betreffenden Abschnittes. Hier in den Beobachtungen aber mußte äiese Seite ins helle Licht gerückt werden, weil sie gerade den spezifischen Unterschied zwischen dem moralischen Gefühl und den moralischen Sympathien oder gutartigen Trieben ausmacht. Diese letzteren haben mit dem echten moralischen Gefühl gemeinsam, daß sie eine unmittelbare Lust, ein unmittelbares Wohlgefallen an ihrem Gegenstand, den guten Handlungen, enthalten und nicht etwa nur ein mittelbares infolge seiner Beziehung auf einen anderen Gegenstand. Aber dieses Wohlgefallen ist durch

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die besonderen Anlagen des Subjektes bedingt und deshalb ist das Objekt nicht rein an sich selbst Gegenstand de s Wohlgefallens, sondern lediglich in seiner Beziehung auf das bestimmte fühlende Subjekt und damit auf die Befriedigung, die für dieses in der betreffenden Handlung liegt. Wir haben also keine im strengen Sinn einfa c he n Empfindungen des Guten vor uns. Der Gegenstand des moralischen Gefühls mußte also zunächst klar von dem der moralischen Sympathien unterschieden werden und das konnte eindeutiger als durch das Merkmal der Einfachheit durch das der All g e me in g 1 ü ti g k e i t geschehen: Während die Beweggründe bei den tugendähnlichen Gesinnungen partikulär und subjektiv (durch die Neigungen und Bedürfnisse des Subjektes) bedingt sind, wie das besonders in Kants Schilderung des moralischen Charakters des Sanguinikers zum Ausdruck kommt 13, ist der Gegenstand oder Beweggrund beim eigentlichen moralischen Gefühl allgemein, weil objektiv d. h. unabhängig von den Bedingungen des empfindenden Subjektes gültig, d. h. er spricht das Gefühl an wegen seiner wesenhaften inneren Gutheit und ist damit notwendig ein Gegenstand des Wohlgefallens aller Menschen. Gerade weil die edlen Gründe allgemein und objektiv gültig sind, sind es auch die Grundsätze des Handeins, die sich aus ihnen herleiten, was bei Kant darin zum Ausdruck kommt, daß ihnen einerseits alle besonderen Neigungen einschließlich der gutartigen untergeordnet werden müssen und sie andererseits selbst in einem notwendigen und wesentlichen Verhältnis zur Gesamtpflicht und zu den Regeln des Wohlverhaltens überhaupt stehen. Der Umstand aber, daß diese Grundsätze durch ihre Beziehung auf die Gesamtpflicht zueinander in einem notwendigen Verhältnis der Harmonie und Einheit stehen, läßt bereits darauf schließen, daß alle insgesamt auf einem letzten, umfassenden, einheitlichen Grundwert beruhen, von dem sie nur besondere Weisen und Aspekte darstellen: es ist die Schönheit und Würde der menschlichen Natur selber, die nunmehr als der s p e z i fis c h e Ge gen s t an d und damit als das F 0 r mal 0 b je k t des moralischen Gefühls erscheint und von dem sich deshalb die zwei allgemeinsten Grundsätze der Tugendgesinnung wie auch der Pflicht ableiten: der der allgemeinen Wohlgewogenheit und der der allgemeinen Achtung. Damit aber ist gesagt: daß die Gründe des moralischen Gefühls nicht nur allgemein und objektiv gültige Gegenstände des Wohlgefallens, sondern zugleich wesentlich per so n ale Wer t e sind, indem sie alle insgesamt die Liebenswürdigkeit und Achtungswürdigkeit der menschlichen Natur zum Gegenstand haben. In dieser neuen Bestimmung des Gegenstandes des moralischen Gefühls läßt sich ein e c h te r F 0 r t s c h r i t t gegenüber der Preisschrift erkennen. Dort war er von der Voraussetzung ausgegangen, 13) Ibid. H, S.222.

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daß uns im moralischen Gefühl eine Vielzahl einfacher, unauflöslicher Wertempfindungen gegeben ist, deren Gegenstä,nde als in sich und um ihrer selbst willen gut empfunden werden, d. h. es war im Grund ein ähnlicher Standpunkt wie ihn auch die moderne Wertethik vertritt: vom Wertgefühl wird eine Vielheit von Wertgehalten erfaßt, die zwar innerlich und organisch zusammenhängen, deren Einheit und deren spezüischer Wert charakter aber nicht einsichtig gemacht wird, sondern als Gegebenheit einfach hinzunehmen ist. In der Bestimmung des moralischen Gefühls aber, wie die Beobachtungen sie enthalten, wird dieser quasi-empirische Standpunkt, der die Vielheit der Gegenstände des Wertgefühls als letzte Gegebenheit hinstellt, überwunden und die Vielheit der Werte auf ein letztes Prinzip zurückgeführt, auf den personalen Grundwert der menschlichen Natur selber, der sich in einer ursprünglichen Doppelseitigkeit offenbart als Schönheit und als Würde, die nun als die beiden obersten materialen Gehalte des moralischen Gefühls unmittelbar unter das oberste Formalprinzip der Verpflichtung subsumiert werden und so die beiden obersten Prinzipien der Pflicht, das der allgemeinen Menschenliebe und das der allgemeinen Menschenachtung entspringen lassen; denn Kant faßt hier offenbar die Schönheit der menschlichen Natur nicht als Gegenstand des ästhetischen Genusses, sondern des s i t tl ich e n Wer t e m p f in den s , insofern sie die unbedingte Liebenswertheit der menschlichen Natur als solcher besagt und in dieser Eigenschaft zum Prinzip der Forderung der allgemeinen Menschenliebe wird. Diese ist aber unbestreitbar ein echtes Pflicht- oder Sollensgesetz, das einen echten Grundsatz der Tugendgesinnung begründet und folgerichtig wegen seiner umfassenden Allgemeinheit auch im höchsten Grad erhaben ist, wie denn auch die Schönheit oder Liebenswertheit der menschlichen Natur ein im gleichen Maße e dIe r G run d ist, von dem ähnlich wie von der Würde der Menschheit gilt , daß jener, in dem die ses Gefühl die größte Vollkommenheit erreicht hätte, sich zwar auch selbst lieben würde, aber nur insofern er einer von allen ist, auf die sich sein ausgebreitetes und edles Gefühl ausdehnt. I?amit ist als weiteres gegeben, daß nun auch der Begriff des Guten und Vollkommenen, der aus den Inhalten des moralischen Gefühls abstrahiert wird, zwar noch als allgemeiner, aber nicht mehr als ein dunkler und verworrener bezeichnet werden kann, der erst· durch die Analyse in die letzten und unauflöslichen Empfindungen des Guten näher bestimmt und verdeutlicht werden müßte; denn er hat nun bereits als allgemeiner einen durchaus klaren und bestimmten Sinn: ähnlich wie der Wolffsche Begriff der Vollkommenheit schon als allgemeiner eindeutig bestimmt war. Das Gute und Vollkommene bedeutet jetzt jene Gesinnungen und Handlungen, die der Schönheit oder Liebenswertheit bzw. der Würde der menschlichen Natur entsprechen. Ja dieser allgemeine Begrüf des Guten wird nun auch bei

117

Kant zum Prinzip, aus dem sich die besonderen Arten der guten Handlungen und 'also die besonderen Inhalte des moralischen Gefühls ableiten lassen, denn alle erweisen sich als Besonderungell der allgemeinen Menschenliebe und Menschenachtung. Noch in einer anderen Hinsicht ist diese Wandlung in der Auffassung des moralischen Gefühls bedeutsam: insofern durch die neue Bestimmung seines spezifischen Objektes der Schritt zu einer rein h umani tär e n Ethik vollzogen wird: wenn die umfassenden' allgemeinsten Gegenstände des moralischen Gefühls die Schönheit und Würde der menschlichen Natur sind, dann werden nach dem Schema der Preisschrüt die Gesetze der allgemeinen Menschenliebe und Menschenachtung zu den obersten materialen Prinzipien der Verbindlichkeit. Wir erinnern uns, daß Kant dort den Ungehorsam gegen den Willen Gottes als einen unmittelbar im moralischen Gefühl gegebenen Unwert bezeichnet hatte. Für diese Art von Unwerten bzw. Werten ist in der neuen Fassung dieses Gefühls kein Raum mehr, sofern man sie konsequent zu Ende denkt. Damit wird bereits im Prinzip der Standpunkt der 'Grundlegung' vorweggenommen, die als zweite Grundformel des obersten formalen kategorischen Imperativs aufstellt: Handl'e so, daß du die Menschheit in deiner Person und in der Person jedes anderen niemals bloß als Mittel, sondern stets zugleich als Zweck gebrauchst. Der Begriff der Würde der Person wird später näherhin als Selbstwert- und Selbstzweckcharakter erklärt. Ihm zuwider handeln, ihn in der Gesinnung und Zielsetzung negieren ist das eigentlich moralisch Böse, ihn wahren und ihm gemäß handeln, das eigentlich moralisch Gute. Ohne Zweüel haben wir hier in den Beobachtungen die erste Formulierung dieses für die ganze spätere Ethik Kants so grundlegenden Prinzips. Allerdings besteht in einem wesentlichen Punkt ein Un te r s chie d: der spezifische Wert der personalen menschlichen Natur erscheint hier nicht nur als Würde, sondern zugleich als Schönheit im Sinn von Liebenswertheit und fundiert damit das Gesetz der allgemeinen Menschenliebe. Es gibt demgemäß einen Imperativ, der die Liebe zu allen Menschen um der unmittelbaren Liebenswertheit ihrer Natur willen zur Pflicht macht, während Kant später diesen Wert und das ihm entsprechende Gebot gestrichen hat, so daß als personaler Grundwert nur die auf ihrem Selbstzweckcharakter beruhende Würde der menschlichen Natur und das ihm entsprechende Gebot der allgemeinen Menschen ach tun g übrigblieb. Gewiß bekennt er sich auch dann noch zum Gebot der N ä c h s t e nl i e b e , aber sowohl ihr Sinn wie ihre Begründung ist eine andere geworden. Es ist nur mehr die moralische Notwendigkeit des Wohlwollens und Wohltuns, insoweit sie aus der Be d ü r f ti g k e i t der menschlichen Natur entspringt, nicht mehr aus ihrer unmittelbaren Liebenswertheit selbst, und folglich ist auch ihr Ziel bloß mehr die Wohlfahrt des anderen, also die Vervollkommnung seines Zu s ta n des: eine unmittelbare Beziehung

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daß uns im moralischen Gefühl eine Vielzahl einfacher, unauflöslicher Wertempfindungen gegeben ist, deren Gegenstä,nde als in sich und um ihrer selbst willen gut empfunden werden, d. h. es war im Grund ein ähnlicher Standpunkt wie ihn auch die moderne Wertethik vertritt: vom Wertgefühl wird eine Vielheit von Wertgehalten erfaßt, die zwar innerlich und organisch zusammenhängen, deren Einheit und deren spezüischer Wert charakter aber nicht einsichtig gemacht wird, sondern als Gegebenheit einfach hinzunehmen ist. In der Bestimmung des moralischen Gefühls aber, wie die Beobachtungen sie enthalten, wird dieser quasi-empirische Standpunkt, der die Vielheit der Gegenstände des Wertgefühls als letzte Gegebenheit hinstellt, überwunden und die Vielheit der Werte auf ein letztes Prinzip zurückgeführt, auf den personalen Grundwert der menschlichen Natur selber, der sich in einer ursprünglichen Doppelseitigkeit offenbart als Schönheit und als Würde, die nun als die beiden obersten materialen Gehalte des moralischen Gefühls unmittelbar unter das oberste Formalprinzip der Verpflichtung subsumiert werden und so die beiden obersten Prinzipien der Pflicht, das der allgemeinen Menschenliebe und das der allgemeinen Menschenachtung entspringen lassen; denn Kant faßt hier offenbar die Schönheit der menschlichen Natur nicht als Gegenstand des ästhetischen Genusses, sondern des s i t tl ich e n Wer t e m p f in den s , insofern sie die unbedingte Liebenswertheit der menschlichen Natur als solcher besagt und in dieser Eigenschaft zum Prinzip der Forderung der allgemeinen Menschenliebe wird. Diese ist aber unbestreitbar ein echtes Pflicht- oder Sollensgesetz, das einen echten Grundsatz der Tugendgesinnung begründet und folgerichtig wegen seiner umfassenden Allgemeinheit auch im höchsten Grad erhaben ist, wie denn auch die Schönheit oder Liebenswertheit der menschlichen Natur ein im gleichen Maße e dIe r G run d ist, von dem ähnlich wie von der Würde der Menschheit gilt , daß jener, in dem die ses Gefühl die größte Vollkommenheit erreicht hätte, sich zwar auch selbst lieben würde, aber nur insofern er einer von allen ist, auf die sich sein ausgebreitetes und edles Gefühl ausdehnt. I?amit ist als weiteres gegeben, daß nun auch der Begriff des Guten und Vollkommenen, der aus den Inhalten des moralischen Gefühls abstrahiert wird, zwar noch als allgemeiner, aber nicht mehr als ein dunkler und verworrener bezeichnet werden kann, der erst· durch die Analyse in die letzten und unauflöslichen Empfindungen des Guten näher bestimmt und verdeutlicht werden müßte; denn er hat nun bereits als allgemeiner einen durchaus klaren und bestimmten Sinn: ähnlich wie der Wolffsche Begriff der Vollkommenheit schon als allgemeiner eindeutig bestimmt war. Das Gute und Vollkommene bedeutet jetzt jene Gesinnungen und Handlungen, die der Schönheit oder Liebenswertheit bzw. der Würde der menschlichen Natur entsprechen. Ja dieser allgemeine Begrüf des Guten wird nun auch bei

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Kant zum Prinzip, aus dem sich die besonderen Arten der guten Handlungen und 'also die besonderen Inhalte des moralischen Gefühls ableiten lassen, denn alle erweisen sich als Besonderungell der allgemeinen Menschenliebe und Menschenachtung. Noch in einer anderen Hinsicht ist diese Wandlung in der Auffassung des moralischen Gefühls bedeutsam: insofern durch die neue Bestimmung seines spezifischen Objektes der Schritt zu einer rein h umani tär e n Ethik vollzogen wird: wenn die umfassenden' allgemeinsten Gegenstände des moralischen Gefühls die Schönheit und Würde der menschlichen Natur sind, dann werden nach dem Schema der Preisschrüt die Gesetze der allgemeinen Menschenliebe und Menschenachtung zu den obersten materialen Prinzipien der Verbindlichkeit. Wir erinnern uns, daß Kant dort den Ungehorsam gegen den Willen Gottes als einen unmittelbar im moralischen Gefühl gegebenen Unwert bezeichnet hatte. Für diese Art von Unwerten bzw. Werten ist in der neuen Fassung dieses Gefühls kein Raum mehr, sofern man sie konsequent zu Ende denkt. Damit wird bereits im Prinzip der Standpunkt der 'Grundlegung' vorweggenommen, die als zweite Grundformel des obersten formalen kategorischen Imperativs aufstellt: Handl'e so, daß du die Menschheit in deiner Person und in der Person jedes anderen niemals bloß als Mittel, sondern stets zugleich als Zweck gebrauchst. Der Begriff der Würde der Person wird später näherhin als Selbstwert- und Selbstzweckcharakter erklärt. Ihm zuwider handeln, ihn in der Gesinnung und Zielsetzung negieren ist das eigentlich moralisch Böse, ihn wahren und ihm gemäß handeln, das eigentlich moralisch Gute. Ohne Zweüel haben wir hier in den Beobachtungen die erste Formulierung dieses für die ganze spätere Ethik Kants so grundlegenden Prinzips. Allerdings besteht in einem wesentlichen Punkt ein Un te r s chie d: der spezifische Wert der personalen menschlichen Natur erscheint hier nicht nur als Würde, sondern zugleich als Schönheit im Sinn von Liebenswertheit und fundiert damit das Gesetz der allgemeinen Menschenliebe. Es gibt demgemäß einen Imperativ, der die Liebe zu allen Menschen um der unmittelbaren Liebenswertheit ihrer Natur willen zur Pflicht macht, während Kant später diesen Wert und das ihm entsprechende Gebot gestrichen hat, so daß als personaler Grundwert nur die auf ihrem Selbstzweckcharakter beruhende Würde der menschlichen Natur und das ihm entsprechende Gebot der allgemeinen Menschen ach tun g übrigblieb. Gewiß bekennt er sich auch dann noch zum Gebot der N ä c h s t e nl i e b e , aber sowohl ihr Sinn wie ihre Begründung ist eine andere geworden. Es ist nur mehr die moralische Notwendigkeit des Wohlwollens und Wohltuns, insoweit sie aus der Be d ü r f ti g k e i t der menschlichen Natur entspringt, nicht mehr aus ihrer unmittelbaren Liebenswertheit selbst, und folglich ist auch ihr Ziel bloß mehr die Wohlfahrt des anderen, also die Vervollkommnung seines Zu s ta n des: eine unmittelbare Beziehung

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der Liebe auf den Per so n wer t de s anderen selbst, wie sie hier in unserer Abhandlung angedeutet wird, anerkennt Kant in seinem späteren System nicht mehr, was ohne Zweifel eine Ver arm u n g und u. E. den wesentlichsten Mangel desselben darstellt 14. Es ist ein folgenschwerer Fehler der Interpretation der Beobachtungen, den ästhetischen Gesichtspunkt ohne weiteres mit dem moralphilosophischen zu identifizieren und das, was Kant von der ästhetischen Wirkung der Tugend bzw. des tugendhaften Charakters sagt, als Wes e n san al y s e der Tugend selbst zu verstehen. Infolge des Mangels einer reinlichen Scheidung dieser verschiedenen Gesichtspunkte kommen die meisten Autoren zu der Auffassung, daß der Philosoph sich hier, was die Begründung der Moralphilosophie betrifft, dem Standpunkt Shaftesburys am meisten nähere; dieser Eindruck einer unmittelbaren Ähnlichkeit mit dessen enthusiastischer Gefühlsmoral wird aber lediglich dadurch hervorgerufen, daß die Beobachtungen die Tugend bzw. den moralischen Charkater des Menschen thematisch unter ästhetischem Gesichtspunkt betrachten. So ist es bezeichnend, daß sich Kants Darlegungen am meisten an jener Stelle Shaftesbury zu nähern scheinen, wo er die schöne Tu gen d bzw. das gute Herz beschreibt, die aber für ihn noch nicht die eigentliche Stufe des Sittlichen darstellen. Für jenen dagegen liegt das Wesen der Sittlichkeit bereits formal in der Harmonie der natürlichen sozialen und der natürlichen selbstischen Triebe einerseits und der Ausschaltung aller unnatürlichen selbstischen andererseits. Das ästhetische Moment dieser Harmonie und das teleologische ihrer Nützlichkeit für die Gemeinschaft sowie das eudämonistische, daß sie allein den Menschen zum wahren Glück führen kann, während ihm ihre Störung notwendig zum Unglück ausschlagen muß, sind die wesentlichen Gründe sowohl des moralisch Guten wie auch der sittlichen Verpflichtung, und so kann nach ihm auch das Ziel der Erziehung und Charakterbildung nichts anderes sein als die Neigungen auf ihr natürliches Maß zu beschränken bzw. zu steigern, wodurch eben jene Harmonie des Gemütes und Ausgewogenheit des Strebens entspringt, die das Wesen der schönen Seele ausmacht. Die KOAoKoyoa {o des Menschen ist das ethische Ideal Shaftesburys in einem ähnlichen Sinn wie Kant hier den (idealen) sittlichen Charakter des weiblichen Geschlechtes beschreibt: "Ein Herz das viel moralische Sympathie des Wohlwollens und der Gefälligkeit und ein feines Gefühl für Anständigkeit hat, das das Böse meidet. weil es häßlich, und das Gute tut, weil es schön ist". Wenn man den Menschen dahin gebracht hat, daß ihm nur dasjenige beliebt, was gut ist, - nach Kant das vornehmliche Ziel der weiblichen Erziehung -. so ist für den englischen Philosophen sicherlich nicht nur die Endabsicht aller Erziehung. sondern auch die vollen14) Cf. des Verf. "Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants" in "Kant und die Scholastik heute". S. 199 Anm.96 (lies dort statt 'Göttlichkeit' Gültigkeit).

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dete Sittlichkeit erreicht; für Kant dagegen macht all das nur den gutartigen Charakter aus, der dem moralischen zwar ähnlich aber doch von ihm noch wesensverschieden ist, da er nicht auf Grundberuht, die. auf die Regeln des Wohlverhaltens überhaupt und auf dIe GesamtpflIcht bezogen sind. und daher auch nicht an ihrer Wür?e Erhabenheit teilhat. Die eigentliche Tugend und der wahre sIttlIche Charakter liegen also für ihn in einem wesentlich anderen. Die Harmonisierung der natürlichen Triebe konnte für ihn ebenso wenig ein Prinzip der echten Sittlichkeit abgeben wie das Ideal der Wolffschule. das hierin dem des Engländers ähnlIch 1st und SIch von ihm wesentlich nur dadurch unterscheidet, daß es auf der theoretischen Erkenntnis der menschlichen Natur beruht und nicht wie bei letzterem auf der Intuition des Gefühls. Der eigentliche im per at iv e C h ara k t erd e r r ein e n SolI n s t i k und der damit gegebene der reinen Ge s innung s ethik , WIe WIr ihn schon in der Grundkonzeption des Crusius vor uns haben, ist das, was den Standpunkt Kants grundsätzlich von dem Wolffs und Shaftesburys unterscheidet. Allerdings steht er in dem einen entscheidenden Punkt dem letzteren näher als der Wolffschule daß er die materialen Gehalte des Guten seinerseits aus der Intuition des Gefühls gewinnt und nicht aus einer theoretischen Reflexion über die physische Natur des Menschen. In einem weiteren Punkt scheint Kant sich der Grundkonzeption des Engländers zu nähern, insofern bei ihm der moralische Grundwert außer als Würde auch als Sc h ö n he i t der menschlichen Natur erscheint, ein Umstand, der hauptsächlich zu jener Identifizierung ästhetischen Gesichtspunktes mit dem moralphilosophischen geführt hat, von der oben die Rede war. Aber wir müssen bedenken daß hier die ästhetische Kategorie der Schönheit in einem weiteren' Sinn gefaßt wird. in demselben wie er bereits in der Preisschrift die materialen sittlichen Werte als Gegenstand des unmittelbaren Gefühles der Lust oder des Wohlgefallens und das Böse als etwas unmittelbar H ä ß I ich es oder Verabscheuungswertes bezeichnet Die. Kategorien drängen sich eben in dem Augenb:ICk m welchem das Gefühl als das eigentliche Organ auch für dIe sIttlIchen Werte aufgefaßt wird. Aber es handelt sich für Kant bei. der Schönheit der menschlichen Natur als Gegenstand des moralIschen Gefühls ebenso um einen si t tl ich enGrundwert wie bei der Würde derselben, und nicht um einen bloß ästhetischen. Das ergibt sich klar aus einem Doppelten: einmal ist für ihn die Schönheit der menschlichen Natur das Prinzip des Grundsatzes der allgemeinen Menschenliebe, gemäß dem der Handelnde alle ohne Unterschied liebt und sich selbst nur so weit als er einer unter allen ist also eines Grundsatzes, der im höchsten Maße edel und erhaben' aber nicht schön ist wie die moralischen Sympathien. Ferner komm; was damit bereits gesagt ist, dieser Wert jedem Menschen allein

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der Liebe auf den Per so n wer t de s anderen selbst, wie sie hier in unserer Abhandlung angedeutet wird, anerkennt Kant in seinem späteren System nicht mehr, was ohne Zweifel eine Ver arm u n g und u. E. den wesentlichsten Mangel desselben darstellt 14. Es ist ein folgenschwerer Fehler der Interpretation der Beobachtungen, den ästhetischen Gesichtspunkt ohne weiteres mit dem moralphilosophischen zu identifizieren und das, was Kant von der ästhetischen Wirkung der Tugend bzw. des tugendhaften Charakters sagt, als Wes e n san al y s e der Tugend selbst zu verstehen. Infolge des Mangels einer reinlichen Scheidung dieser verschiedenen Gesichtspunkte kommen die meisten Autoren zu der Auffassung, daß der Philosoph sich hier, was die Begründung der Moralphilosophie betrifft, dem Standpunkt Shaftesburys am meisten nähere; dieser Eindruck einer unmittelbaren Ähnlichkeit mit dessen enthusiastischer Gefühlsmoral wird aber lediglich dadurch hervorgerufen, daß die Beobachtungen die Tugend bzw. den moralischen Charkater des Menschen thematisch unter ästhetischem Gesichtspunkt betrachten. So ist es bezeichnend, daß sich Kants Darlegungen am meisten an jener Stelle Shaftesbury zu nähern scheinen, wo er die schöne Tu gen d bzw. das gute Herz beschreibt, die aber für ihn noch nicht die eigentliche Stufe des Sittlichen darstellen. Für jenen dagegen liegt das Wesen der Sittlichkeit bereits formal in der Harmonie der natürlichen sozialen und der natürlichen selbstischen Triebe einerseits und der Ausschaltung aller unnatürlichen selbstischen andererseits. Das ästhetische Moment dieser Harmonie und das teleologische ihrer Nützlichkeit für die Gemeinschaft sowie das eudämonistische, daß sie allein den Menschen zum wahren Glück führen kann, während ihm ihre Störung notwendig zum Unglück ausschlagen muß, sind die wesentlichen Gründe sowohl des moralisch Guten wie auch der sittlichen Verpflichtung, und so kann nach ihm auch das Ziel der Erziehung und Charakterbildung nichts anderes sein als die Neigungen auf ihr natürliches Maß zu beschränken bzw. zu steigern, wodurch eben jene Harmonie des Gemütes und Ausgewogenheit des Strebens entspringt, die das Wesen der schönen Seele ausmacht. Die KOAoKoyoa {o des Menschen ist das ethische Ideal Shaftesburys in einem ähnlichen Sinn wie Kant hier den (idealen) sittlichen Charakter des weiblichen Geschlechtes beschreibt: "Ein Herz das viel moralische Sympathie des Wohlwollens und der Gefälligkeit und ein feines Gefühl für Anständigkeit hat, das das Böse meidet. weil es häßlich, und das Gute tut, weil es schön ist". Wenn man den Menschen dahin gebracht hat, daß ihm nur dasjenige beliebt, was gut ist, - nach Kant das vornehmliche Ziel der weiblichen Erziehung -. so ist für den englischen Philosophen sicherlich nicht nur die Endabsicht aller Erziehung. sondern auch die vollen14) Cf. des Verf. "Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants" in "Kant und die Scholastik heute". S. 199 Anm.96 (lies dort statt 'Göttlichkeit' Gültigkeit).

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dete Sittlichkeit erreicht; für Kant dagegen macht all das nur den gutartigen Charakter aus, der dem moralischen zwar ähnlich aber doch von ihm noch wesensverschieden ist, da er nicht auf Grundberuht, die. auf die Regeln des Wohlverhaltens überhaupt und auf dIe GesamtpflIcht bezogen sind. und daher auch nicht an ihrer Wür?e Erhabenheit teilhat. Die eigentliche Tugend und der wahre sIttlIche Charakter liegen also für ihn in einem wesentlich anderen. Die Harmonisierung der natürlichen Triebe konnte für ihn ebenso wenig ein Prinzip der echten Sittlichkeit abgeben wie das Ideal der Wolffschule. das hierin dem des Engländers ähnlIch 1st und SIch von ihm wesentlich nur dadurch unterscheidet, daß es auf der theoretischen Erkenntnis der menschlichen Natur beruht und nicht wie bei letzterem auf der Intuition des Gefühls. Der eigentliche im per at iv e C h ara k t erd e r r ein e n SolI n s t i k und der damit gegebene der reinen Ge s innung s ethik , WIe WIr ihn schon in der Grundkonzeption des Crusius vor uns haben, ist das, was den Standpunkt Kants grundsätzlich von dem Wolffs und Shaftesburys unterscheidet. Allerdings steht er in dem einen entscheidenden Punkt dem letzteren näher als der Wolffschule daß er die materialen Gehalte des Guten seinerseits aus der Intuition des Gefühls gewinnt und nicht aus einer theoretischen Reflexion über die physische Natur des Menschen. In einem weiteren Punkt scheint Kant sich der Grundkonzeption des Engländers zu nähern, insofern bei ihm der moralische Grundwert außer als Würde auch als Sc h ö n he i t der menschlichen Natur erscheint, ein Umstand, der hauptsächlich zu jener Identifizierung ästhetischen Gesichtspunktes mit dem moralphilosophischen geführt hat, von der oben die Rede war. Aber wir müssen bedenken daß hier die ästhetische Kategorie der Schönheit in einem weiteren' Sinn gefaßt wird. in demselben wie er bereits in der Preisschrift die materialen sittlichen Werte als Gegenstand des unmittelbaren Gefühles der Lust oder des Wohlgefallens und das Böse als etwas unmittelbar H ä ß I ich es oder Verabscheuungswertes bezeichnet Die. Kategorien drängen sich eben in dem Augenb:ICk m welchem das Gefühl als das eigentliche Organ auch für dIe sIttlIchen Werte aufgefaßt wird. Aber es handelt sich für Kant bei. der Schönheit der menschlichen Natur als Gegenstand des moralIschen Gefühls ebenso um einen si t tl ich enGrundwert wie bei der Würde derselben, und nicht um einen bloß ästhetischen. Das ergibt sich klar aus einem Doppelten: einmal ist für ihn die Schönheit der menschlichen Natur das Prinzip des Grundsatzes der allgemeinen Menschenliebe, gemäß dem der Handelnde alle ohne Unterschied liebt und sich selbst nur so weit als er einer unter allen ist also eines Grundsatzes, der im höchsten Maße edel und erhaben' aber nicht schön ist wie die moralischen Sympathien. Ferner komm; was damit bereits gesagt ist, dieser Wert jedem Menschen allein

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dadurch z,u, daß er eine menschliche Natur hat, also unabhängig davon, in welcher Verfassung sich diese befindet, d. h. er kommt dem körperlich kranken und entstellten, aber auch dem moralIsch verkommenen und geistig verkrüppelten Menschen noch zu, der kein Gegenstand eines ästhetischen Wohlgefallens mehr sein kann. Die Schönheit der Menschennatur als sittlicher Grundwert kann demnach nichts anderes bedeuten als die Liebenswertheit der Person als solcher. Sie darf also in keiner Weise vermengt werden mit dem, was Kant die schöne· Tugend und dem, was er die Schönheit der Tugend nennt. Denn die erstere, die er vornehmlich dem weiblichen Geschlecht und dem sanguinischen Temperament zuschreibt, ist, wie schon betont, nach dem strengen Urteil der Morallehre überhaupt keine Tugend, sondern eine tugenähnliche moralische Qualität, die deshalb als adoptierte Tugend bez,eichnet wird. Thr Motiv ist gerade nicht jener universale Beweggrund der Schönheit der menschlichen Natur, die dem moralischen Gefühl als solchem korrelat ist, sondern es sind partikuläre Gründe, die der besonderen Gefühlsanlage d. h. den besonderen Neigungen des Einzelnen zugeordnet sind, wie etwa seinem weichmütigen oder gefälligen Naturell. Der aus ihnen resultierende moralische Charakter, den Kant als Gutgeartetheit oder als das gute Herz bezeichnet, verwirklicht den ästhetischen Wert des Schönen und wird daher als schöne Tugend bez,eichnet, womit allerdings nicht gesagt ist, daß sich ihr ganz,er Wert in diesem ästhetischen Gehalt erschöpfe; denn ihr moralischer Wert besteht in ihrer Tugendähnlichkeit und zugleich in ihrer hilfeleistenden Funktion. für die wahre Tugend, auf die wir noch.. z,u sprechen kommen werden; davon ist aber offenbar der ästhetische verschieden, nach welchem sie für uns ein Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens ist. Von beiden aber, der Schönheit der menschlichen Natur und der schönen Tugend, verschieden ist das, was Kant die Schönheit der Tu gen d nennt. In diesem Begriff treten die beiden Aspekte, der moralische und ästhetische, so klar auseinander, daß ihr UnO: terschied schwer übersehen werden kann. Die Schönheit der Tugend_ gründet darin, daß die Grundsätze der Tugendgesinnung alle Triebe einschließlich der moralischen Sympathien sich unterordnen und einschränken und so zu einer proportionierten Anwendung bringen, 'wodurch der edle Anstand zuwege gebracht wird, der die Schönheit der Tugend ist'. Die Schönheit der Tugend setzt also wirkliche Tugend, die als solche edel und erhaben ist, voraus und bedeutet die Ordnung und Harmonie, die durch sie notwendig in der Welt der subjektiven Triebe und Neigungen hervorgebracht wird. Sie ist also eine sekundär bewirkte ästhetische Eigenschaft der wahren Tugend. Die schöne Tugend dagegen ist überhaupt keine wahre Tugend, sondern nur ein Supplement oder Ersatz für sie dort, wo sie fehlt, und eine Unterstütz,ung derselben dort, wo sie vorhanden ist. Die Schönheit der

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menschlichen Natur aber ist als sittlicher Grundwert das Prinzip des Gebotes und des Grundsatzes der allgemeinen Menschenliebe, der den moralischen Charakter im höchsten Maße erhaben macht, Hier stellt sich nun die Frage, wie Kant dazu kam, den fundamentalenPersonwertals Schönheit der menschlichen Natu r zu begreifen, was nicht so ohne weiteres verständlich erscheint wie dessen Fassung als W ü r d e , weil ja diese letztere sich von der spezifischen Art des sittlich Guten als des Edlen und Erhabenen her ohne weiteres nahelegt. Man könnte in Entsprechung dazu an die schöne Tugend als formales Prinz,ip der Schönheit der menschlichen Natur denken. Aber dieser Weg der Begründung erweist sich deshalb als ungangbar, weil diese schöne Tugend gar keine Tugend im wahren Sinn ist, sondern ihrer Substanz nach dem u nt e r s i t t I i c h e n Bereich zugehört, was daraus erhellt, daß sie, sich selbst überlassen, auch zu lasterhaften Handlungen bewegen kann: daß sie also der menschlichen Natur jenen Grundwert verleihen soll, der als Formalobjekt des moralischen Gefühls den umfassenden Imperativ der a.1J.gemeinen Menschenliebe begründet, ist ein schwer vollziebarer Gedanke, ganz abgesehen davon, daß diese moralischen Sympathien durchaus nicht allen Menschen in hinreichendem Maße eigen sind, während die Schönheit der menschlichen Natur offenbar als dieser wesentlich gedacht wird. Man wird folglich eine andere Deutung dieses Begriffes suchen müssen. Hier bietet sich nun ungezwungen, worauf auch Menzer hinweist, die Art und Weise an, wie Kant in der Preis schrift das sittlich Gute und Böse als Objekt des moralischen Gefühls charakterisiert: das Gute als das, was für dieses um seiner selbst willen mit Lust und Wohlgefallen verbunden ist, das Böse als das, was unmittelbar und an sich als etwas H ä ß l i c h e s und Ver ab s c heu u n g s wer te s empfunden wird. Wenn hier das Böse also bezeichnet wird, dann ist damit eo ipso das sittlich Gute einschlußweise als etwas Schönes und Liebenswertes gedacht, und man kann in der Tat auch den Gegenstand eines unmittelbaren Wohlgefallens gar nicht anders kennz,eichnen; denn was gefällt, ist eben das Schöne. Wenn aber dem sittlich Guten als solchem wes e nh aft die Eigenschaft der Schönheit zukommt, dann auch der menschlichen Natur, die der Tugend fähig und zu ihr berufen ist. Damit wird offenbar, daß wir hier im Traktat eine d 0 P pe I te Schönheit der Tugend oder des Sittlichen zu unterscheiden haben: die äst he ti s c h e Schönheit, die ihr eignet nur insofern sie durch die Unterordnung der Triebe in dem sinnlichen Begehren Ordnung und Harmonie hervorruft; das aber ist nur eine notwendige Wirkung der Tugend als des Handelns aus Grundsätzen, nicht aber ihr Wesen; die moralische Schönheit aber, die das Objekt des spezifisch moralischen Wertgefühls ist, kommt dem sittlich Guten als solchem und wesenhaft zu, insofern es ein Wert ist, der um seiner

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dadurch z,u, daß er eine menschliche Natur hat, also unabhängig davon, in welcher Verfassung sich diese befindet, d. h. er kommt dem körperlich kranken und entstellten, aber auch dem moralIsch verkommenen und geistig verkrüppelten Menschen noch zu, der kein Gegenstand eines ästhetischen Wohlgefallens mehr sein kann. Die Schönheit der Menschennatur als sittlicher Grundwert kann demnach nichts anderes bedeuten als die Liebenswertheit der Person als solcher. Sie darf also in keiner Weise vermengt werden mit dem, was Kant die schöne· Tugend und dem, was er die Schönheit der Tugend nennt. Denn die erstere, die er vornehmlich dem weiblichen Geschlecht und dem sanguinischen Temperament zuschreibt, ist, wie schon betont, nach dem strengen Urteil der Morallehre überhaupt keine Tugend, sondern eine tugenähnliche moralische Qualität, die deshalb als adoptierte Tugend bez,eichnet wird. Thr Motiv ist gerade nicht jener universale Beweggrund der Schönheit der menschlichen Natur, die dem moralischen Gefühl als solchem korrelat ist, sondern es sind partikuläre Gründe, die der besonderen Gefühlsanlage d. h. den besonderen Neigungen des Einzelnen zugeordnet sind, wie etwa seinem weichmütigen oder gefälligen Naturell. Der aus ihnen resultierende moralische Charakter, den Kant als Gutgeartetheit oder als das gute Herz bezeichnet, verwirklicht den ästhetischen Wert des Schönen und wird daher als schöne Tugend bez,eichnet, womit allerdings nicht gesagt ist, daß sich ihr ganz,er Wert in diesem ästhetischen Gehalt erschöpfe; denn ihr moralischer Wert besteht in ihrer Tugendähnlichkeit und zugleich in ihrer hilfeleistenden Funktion. für die wahre Tugend, auf die wir noch.. z,u sprechen kommen werden; davon ist aber offenbar der ästhetische verschieden, nach welchem sie für uns ein Gegenstand des ästhetischen Wohlgefallens ist. Von beiden aber, der Schönheit der menschlichen Natur und der schönen Tugend, verschieden ist das, was Kant die Schönheit der Tu gen d nennt. In diesem Begriff treten die beiden Aspekte, der moralische und ästhetische, so klar auseinander, daß ihr UnO: terschied schwer übersehen werden kann. Die Schönheit der Tugend_ gründet darin, daß die Grundsätze der Tugendgesinnung alle Triebe einschließlich der moralischen Sympathien sich unterordnen und einschränken und so zu einer proportionierten Anwendung bringen, 'wodurch der edle Anstand zuwege gebracht wird, der die Schönheit der Tugend ist'. Die Schönheit der Tugend setzt also wirkliche Tugend, die als solche edel und erhaben ist, voraus und bedeutet die Ordnung und Harmonie, die durch sie notwendig in der Welt der subjektiven Triebe und Neigungen hervorgebracht wird. Sie ist also eine sekundär bewirkte ästhetische Eigenschaft der wahren Tugend. Die schöne Tugend dagegen ist überhaupt keine wahre Tugend, sondern nur ein Supplement oder Ersatz für sie dort, wo sie fehlt, und eine Unterstütz,ung derselben dort, wo sie vorhanden ist. Die Schönheit der

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menschlichen Natur aber ist als sittlicher Grundwert das Prinzip des Gebotes und des Grundsatzes der allgemeinen Menschenliebe, der den moralischen Charakter im höchsten Maße erhaben macht, Hier stellt sich nun die Frage, wie Kant dazu kam, den fundamentalenPersonwertals Schönheit der menschlichen Natu r zu begreifen, was nicht so ohne weiteres verständlich erscheint wie dessen Fassung als W ü r d e , weil ja diese letztere sich von der spezifischen Art des sittlich Guten als des Edlen und Erhabenen her ohne weiteres nahelegt. Man könnte in Entsprechung dazu an die schöne Tugend als formales Prinz,ip der Schönheit der menschlichen Natur denken. Aber dieser Weg der Begründung erweist sich deshalb als ungangbar, weil diese schöne Tugend gar keine Tugend im wahren Sinn ist, sondern ihrer Substanz nach dem u nt e r s i t t I i c h e n Bereich zugehört, was daraus erhellt, daß sie, sich selbst überlassen, auch zu lasterhaften Handlungen bewegen kann: daß sie also der menschlichen Natur jenen Grundwert verleihen soll, der als Formalobjekt des moralischen Gefühls den umfassenden Imperativ der a.1J.gemeinen Menschenliebe begründet, ist ein schwer vollziebarer Gedanke, ganz abgesehen davon, daß diese moralischen Sympathien durchaus nicht allen Menschen in hinreichendem Maße eigen sind, während die Schönheit der menschlichen Natur offenbar als dieser wesentlich gedacht wird. Man wird folglich eine andere Deutung dieses Begriffes suchen müssen. Hier bietet sich nun ungezwungen, worauf auch Menzer hinweist, die Art und Weise an, wie Kant in der Preis schrift das sittlich Gute und Böse als Objekt des moralischen Gefühls charakterisiert: das Gute als das, was für dieses um seiner selbst willen mit Lust und Wohlgefallen verbunden ist, das Böse als das, was unmittelbar und an sich als etwas H ä ß l i c h e s und Ver ab s c heu u n g s wer te s empfunden wird. Wenn hier das Böse also bezeichnet wird, dann ist damit eo ipso das sittlich Gute einschlußweise als etwas Schönes und Liebenswertes gedacht, und man kann in der Tat auch den Gegenstand eines unmittelbaren Wohlgefallens gar nicht anders kennz,eichnen; denn was gefällt, ist eben das Schöne. Wenn aber dem sittlich Guten als solchem wes e nh aft die Eigenschaft der Schönheit zukommt, dann auch der menschlichen Natur, die der Tugend fähig und zu ihr berufen ist. Damit wird offenbar, daß wir hier im Traktat eine d 0 P pe I te Schönheit der Tugend oder des Sittlichen zu unterscheiden haben: die äst he ti s c h e Schönheit, die ihr eignet nur insofern sie durch die Unterordnung der Triebe in dem sinnlichen Begehren Ordnung und Harmonie hervorruft; das aber ist nur eine notwendige Wirkung der Tugend als des Handelns aus Grundsätzen, nicht aber ihr Wesen; die moralische Schönheit aber, die das Objekt des spezifisch moralischen Wertgefühls ist, kommt dem sittlich Guten als solchem und wesenhaft zu, insofern es ein Wert ist, der um seiner

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selbst willen wohlgefällt. Zwar ist der spezifische Wertcharakter des sittlich Guten das E dIe, was den ästhetischen Wert des Erhabenen begründet; aber das Edle ist doch auch ein Gut e s und als solches ein Gegenstand des Wohlgefallens und der Liebe, und davon ist unabtrennbar der Wert der sittlichen Schönheit. Das Gute vereinigt also in der Tat beide Aspekte des Sc h ö n e n und des E dIe n, obwohl es an sich und unmittelbar nur den ästhetischen Wert des Erhab e n e n fundiert, nicht aber den ästhetischen Wert des Schönen, außer indirekt. Daraus erhellt, wie wenig Foerster den IBeobachtungen I gerecht wird, wenn er ihren Inhalt so zusammenfaßt: Kant suche hier festzustellen, wie weit die Billigung des Guten sich auf ästhetische Urteile zurückführen lasse. Damit hängt ein weiteres zusammen, was ebenfalls bei Foerster, vor allem aber dann in Schilpps Interpretation von großer Bedeutung ist: nämlich die Deutung der Roll e der s in nl ich e n Tri e b federn und Neigungen für die Sittlichkeit. Nach Foerster versteht Kant in den Beobachtungen Grundsätzen noch nicht Vernunftmaximen, sondern nur das Bewußtsein von dem Gefühl der Schönheit und Würde der menschlichen Natur. Und wenn sich so auf der einen Seite bereits eine gründliche ethische Wertbestimmung geltend mache, so finde man auf der anderen noch nichts von dem für sein späteres System grundlegenden Gedanken, daß das sittliche Handeln durch alle sinnlichen Triebfedern verunreinigt werde und diese daher zu bekämpfen und zu unterdrücken seien; denn er nehme nicht nur den leitenden Grundsatz des Sittlichen selbst aus dem Gefühlsleben, sondern ziehe zum Aufbau der sittlichen Ordnung auch solche N e,igungen heran, die nur die Absicht auf das eigene Wohl haben. Letzteres ist im Grund auch die Auffassung Schilpps, der sich allerdings darin wesentlich von Foerster unterscheidet, daß er den von diesem so stark betonten Unterschied zwischen dem damaligen ethischen Standpunkt Kants und dem späteren der kritischen Ethik nicht anerkennt 15 • Aber es ist nicht richtig, wie wir gesehen haben, daß dieser den' leitenden Grundsatz des Sittlichen dem bloßen Gefühlsleben entnimmt_ und daß deshalb ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen den IGrundsätzen l der Beobachtungen und den späteren IVernunftmaximen l ; ferner sind die Grundsätze der Tugendgesinnung nicht identisch mit den sittlichen Imperativen oder sittlichen Gesetzen, sondern es sind die Grundsatze oder Vor sät z e , die das handelnde Subjekt faßt, die zwar im rechten Verhältnis zur Gesamtpflicht stehen sollen, in denen dieses aber auch irren kann. Die Grundsätze oder Vorsätze des Handeins sind nichts anderes als was er später mit dem Terminus M a x i me n im Gegensatz zu den moralischen Gesetzen bezeichnet. Lediglich in der Auffassung der letzteren besteht zwischen den Beobachtungen und der späteren Ethik ein we15) Foerster, Diss. S.14 t; Schilpp, o.c. S.55 t; S.94.

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sentlicher Unterschied, insofern die Regeln der Verbindlichkeit hier -noch auf ein Prinzip der (praktischen) Vernunft und auf die Inhalte des moralischen Gefühls zurückgeführt, während sie später, ja wie wir sehen werden, schon in der unmittelbar folgenden Entwicklungsphase aus der praktischen Vernunft allein abgeleitet werden. Das, worauf es hier vor"allem ankommt, ist die These Foersters und Schilpps, daß Kant in den Beobachtungen zum Aufbau der sittlichen Ordnung auch jene Triebe und Neigungen heranziehe, die nur auf das eigene Wohl abzielen bzw. die grundsätzlich dem sinnlichen Streben zugehören, während er diese später - wenigstens nachFoerster - als Verunreinigung des sittlichen Handeins betrachtet habe. Beide Autoren stützen sich für ihre These vor allem auf die Ausführungen im Schlußabsatz des zweiten Abschnittes, in dem der Philosoph eine Überschau zu geben versucht über den mo r a 1 i s c h e n Gesamtcharakter der menschlichen Natur, wobei aber der Begriff Imoralisch l offenbar in einem weiteren Sinn verstanden wird, so wie er etwa vom moralischen Charakter oder dem sittlichen Gefühl des Sanguinikers oder des weiblichen Geschlechtes spricht; denn zu diesem moralischen Charakter der menschlichen Natur tragen alle Typen ihren jeweils eigentümlichen Zug bei, obwohl die wenigsten unter ihnen im eigentlichen Sinne sittlich handeln. Der Gesichtspunkt aber, unter dem er diesen moralischen Gesamtcharakter der menschlichen Natur betrachtet, ist der äst h e ti s c he: das Schöne und das Erhabene an ihm. Durch die Vereinigung der verschiedenen moralischen Charakterzüge, wie sie die einzelnen Typen und Temperamente verwirklichen, sagt er, erhält das Gesamtbild einen prä c h ti gen Ausdruck. Prächtig ist nach der Definition des 1. Abschnittes eine solche Verbindung des Erhabenen und Schönen, daß über eine erhabene Anlage in solcher Weise Schönheit ausgebreitet ist, daß der Ausdruck des Erhabenen doch durch alle Schönheit hindurch sichtbar bleibt, wie das z. B. bei der Peterskirche in Rom der Fall sei. Es geht also hier offenbar dem ganzen Zusammenhang nach um eine ästhetische Beurteilung des moralischen Gesamtcharakters der menschlichen Natur, wie ja schon das Prädikat des Prä c h ti gen hinreichend zum Ausdruck bringt. Trennt man nun die unmittelbar ästhetische Fragestellung von dem, was Kant über das Verhältnis der moralischen Sympathien zu dem im eigentlichen Sinn moralisch Guten sagt, dann findet man, daß dieses schon in völlig gleichem Sinn verstanden wird wie in seiner späteren Ethik. Er sieht nämlich die Rolle der gutartigen Triebe einmal darin, daß sie einen Ersatz für das tugendhafte Handeln bei jenen darstellen, die sich nicht zu einem solchen können; ferner und vor allem aber darin, daß sie bei all e n das Ubergewicht der niedrigen Leidenschaften der Habsucht und der gemeinen Wollust durch ein Gegengewicht ausgleichen und dadurch Handlungen nach Grundsätzen überhaupt möglich machen, die ohne diese

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selbst willen wohlgefällt. Zwar ist der spezifische Wertcharakter des sittlich Guten das E dIe, was den ästhetischen Wert des Erhabenen begründet; aber das Edle ist doch auch ein Gut e s und als solches ein Gegenstand des Wohlgefallens und der Liebe, und davon ist unabtrennbar der Wert der sittlichen Schönheit. Das Gute vereinigt also in der Tat beide Aspekte des Sc h ö n e n und des E dIe n, obwohl es an sich und unmittelbar nur den ästhetischen Wert des Erhab e n e n fundiert, nicht aber den ästhetischen Wert des Schönen, außer indirekt. Daraus erhellt, wie wenig Foerster den IBeobachtungen I gerecht wird, wenn er ihren Inhalt so zusammenfaßt: Kant suche hier festzustellen, wie weit die Billigung des Guten sich auf ästhetische Urteile zurückführen lasse. Damit hängt ein weiteres zusammen, was ebenfalls bei Foerster, vor allem aber dann in Schilpps Interpretation von großer Bedeutung ist: nämlich die Deutung der Roll e der s in nl ich e n Tri e b federn und Neigungen für die Sittlichkeit. Nach Foerster versteht Kant in den Beobachtungen Grundsätzen noch nicht Vernunftmaximen, sondern nur das Bewußtsein von dem Gefühl der Schönheit und Würde der menschlichen Natur. Und wenn sich so auf der einen Seite bereits eine gründliche ethische Wertbestimmung geltend mache, so finde man auf der anderen noch nichts von dem für sein späteres System grundlegenden Gedanken, daß das sittliche Handeln durch alle sinnlichen Triebfedern verunreinigt werde und diese daher zu bekämpfen und zu unterdrücken seien; denn er nehme nicht nur den leitenden Grundsatz des Sittlichen selbst aus dem Gefühlsleben, sondern ziehe zum Aufbau der sittlichen Ordnung auch solche N e,igungen heran, die nur die Absicht auf das eigene Wohl haben. Letzteres ist im Grund auch die Auffassung Schilpps, der sich allerdings darin wesentlich von Foerster unterscheidet, daß er den von diesem so stark betonten Unterschied zwischen dem damaligen ethischen Standpunkt Kants und dem späteren der kritischen Ethik nicht anerkennt 15 • Aber es ist nicht richtig, wie wir gesehen haben, daß dieser den' leitenden Grundsatz des Sittlichen dem bloßen Gefühlsleben entnimmt_ und daß deshalb ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen den IGrundsätzen l der Beobachtungen und den späteren IVernunftmaximen l ; ferner sind die Grundsätze der Tugendgesinnung nicht identisch mit den sittlichen Imperativen oder sittlichen Gesetzen, sondern es sind die Grundsatze oder Vor sät z e , die das handelnde Subjekt faßt, die zwar im rechten Verhältnis zur Gesamtpflicht stehen sollen, in denen dieses aber auch irren kann. Die Grundsätze oder Vorsätze des Handeins sind nichts anderes als was er später mit dem Terminus M a x i me n im Gegensatz zu den moralischen Gesetzen bezeichnet. Lediglich in der Auffassung der letzteren besteht zwischen den Beobachtungen und der späteren Ethik ein we15) Foerster, Diss. S.14 t; Schilpp, o.c. S.55 t; S.94.

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sentlicher Unterschied, insofern die Regeln der Verbindlichkeit hier -noch auf ein Prinzip der (praktischen) Vernunft und auf die Inhalte des moralischen Gefühls zurückgeführt, während sie später, ja wie wir sehen werden, schon in der unmittelbar folgenden Entwicklungsphase aus der praktischen Vernunft allein abgeleitet werden. Das, worauf es hier vor"allem ankommt, ist die These Foersters und Schilpps, daß Kant in den Beobachtungen zum Aufbau der sittlichen Ordnung auch jene Triebe und Neigungen heranziehe, die nur auf das eigene Wohl abzielen bzw. die grundsätzlich dem sinnlichen Streben zugehören, während er diese später - wenigstens nachFoerster - als Verunreinigung des sittlichen Handeins betrachtet habe. Beide Autoren stützen sich für ihre These vor allem auf die Ausführungen im Schlußabsatz des zweiten Abschnittes, in dem der Philosoph eine Überschau zu geben versucht über den mo r a 1 i s c h e n Gesamtcharakter der menschlichen Natur, wobei aber der Begriff Imoralisch l offenbar in einem weiteren Sinn verstanden wird, so wie er etwa vom moralischen Charakter oder dem sittlichen Gefühl des Sanguinikers oder des weiblichen Geschlechtes spricht; denn zu diesem moralischen Charakter der menschlichen Natur tragen alle Typen ihren jeweils eigentümlichen Zug bei, obwohl die wenigsten unter ihnen im eigentlichen Sinne sittlich handeln. Der Gesichtspunkt aber, unter dem er diesen moralischen Gesamtcharakter der menschlichen Natur betrachtet, ist der äst h e ti s c he: das Schöne und das Erhabene an ihm. Durch die Vereinigung der verschiedenen moralischen Charakterzüge, wie sie die einzelnen Typen und Temperamente verwirklichen, sagt er, erhält das Gesamtbild einen prä c h ti gen Ausdruck. Prächtig ist nach der Definition des 1. Abschnittes eine solche Verbindung des Erhabenen und Schönen, daß über eine erhabene Anlage in solcher Weise Schönheit ausgebreitet ist, daß der Ausdruck des Erhabenen doch durch alle Schönheit hindurch sichtbar bleibt, wie das z. B. bei der Peterskirche in Rom der Fall sei. Es geht also hier offenbar dem ganzen Zusammenhang nach um eine ästhetische Beurteilung des moralischen Gesamtcharakters der menschlichen Natur, wie ja schon das Prädikat des Prä c h ti gen hinreichend zum Ausdruck bringt. Trennt man nun die unmittelbar ästhetische Fragestellung von dem, was Kant über das Verhältnis der moralischen Sympathien zu dem im eigentlichen Sinn moralisch Guten sagt, dann findet man, daß dieses schon in völlig gleichem Sinn verstanden wird wie in seiner späteren Ethik. Er sieht nämlich die Rolle der gutartigen Triebe einmal darin, daß sie einen Ersatz für das tugendhafte Handeln bei jenen darstellen, die sich nicht zu einem solchen können; ferner und vor allem aber darin, daß sie bei all e n das Ubergewicht der niedrigen Leidenschaften der Habsucht und der gemeinen Wollust durch ein Gegengewicht ausgleichen und dadurch Handlungen nach Grundsätzen überhaupt möglich machen, die ohne diese

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Hilfe vielleicht gänzlich von jenen erstickt würden. Wenn er dagegen von dem größeren Stoß und Antrieb spricht, den diese Neidem sich nach Grundsätzen bestimmenden Willen geben sollen, so kann das im Sinne einer solchen Gegenwirkung gegen den hemmenden Einfluß der niedrigen Leidenschaften verstanden werden gemäß dem Grundsatz, daß alles, was dem Hindernis der Ausübung eines Vermögens entgegenwirkt, soviel bedeutet wie eine Beförderung derselben. Diese Deutung wird dadurch nahegelegt , daß das Handeln nach ihm grundsätzlich nur insofern tugendhaft ist als es aus Grundsätzen hervorgeht; denn damit ist unbestreitbar gegeben, daß eine Handlung, in der jene moralischen Sympathien, wenn auch nur partial als Motiv wirksam sind, eben dadurch in ihrer sittlichen Reinheit getrübt werden muß. Wollte man also das Wort von dem größeren Stoß und Antrieb nicht in dem obigen Sinn deuten, dann müßte man es so verstehen, daß bei uns Menschen weg e n. der s i t tl ich e n S c h w ä c heu n s e r erN at u r de facto in das tugendhafte Handeln immer auch eine untersittliche Komponente aus den gutartigen Neigungen eingehen muß, damit sich das Handeln aus Grundsätzen überhaupt entfalten kann, was aber eine unvermeidliche Verunreinigung der sittlichen Motivation mit sich bringt. Den gutartigen Leidenschaften kommt also in jedem Fall eine wichtige Rolle auch für das tugendhafte Handeln zu, aber es ist eine nur negative und supplementäre Funktion. Wenn man diesen Standpunkt mit dem vergleicht, was Kant über das Verhältnis zwischen dem echten sittlichen Handeln und diesen moralischen Sympathien etwa in der Kr.d. pr. V. sagt, so wird man feststellen können, daß er dort noch durchaus dieselbe Auffassung vertritt 16. Und so zeigt sich auch an diesem Punkt, wie weit die grundlegenden ethischen Anschauungen der späteren Ethik zeitlich zurückreichen. Wie man die Fassuhg des sittlichen Grundwertes als Schönheit der menschlichen Natur allgemein auf den Einfluß Shaftesburys zurückführt, so sucht man den Ursprung der parallelen als Würde der menschlichen Natur durchwegs bei Rousseau. Zwar weisen die Interpreten ziemlich übereinstimmend darauf hin, daß in Kant durch seine vorausgegangene Entwicklung diese Auffassung des Ethischen schon vor be reit e t war, so daß die Anregung von seiten des Genfers ihn nur seine eigene Überzeugung klarer formulieren und in ihrer grundlegenden Bedeutung erkennen ließ. Nach Menzer war ihm die Würde Menschen schon als persönliches Erlebnis aufgegangen in der Uberwindung der Antriebe der Sinnlichkeit durch die Kraft des vernunftgebotenen Willens. Und Schilpp betont bei aller Anerkenntnis des Einflusses Rousseaus auf Kant, daß es unmöglich ist, gerade diese für seine ganze zukünftige ethische Lehre schlechthin fundamentale Idee ausschließlich auf das Konto des Genfers zu set16) KGS V, S.88, 31-37; 118, 9-11.

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zen, habe vielmehr die Überzeugung vom inneren Wert jedes menschhchen Wesens von frühester Jugend auf durch seine im Geist de,s erfolgte Erziehung überkommen und als Grundhaltung mIt ms Leben genommen; denn das sei eine der Grundlehren dieser gewesen und ein wesentlicher Bestandteil jeder streng pIetIstlschen Erziehung. Wenn aber von äußeren Einflüssen die Rede ist, durch die Kant in seinen 'Beobachtungen' angeregt wurde, bzw. von den Quellen, aus denen er schöpfte, so ist auch hier ohne Zweifel an erster Stelle Hut c he so n zu nennen. Schon der Titel von dessen erster und berühmtester Abhandlung 'Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend' wie auch die Überschriften bestimmter Kapitel des 1. Buches seiner 'Sittenlehre' (tVon den feine rn Empfindungskräften der menschlichen Natur', 'Über das Gefühl der Ehre und Schande ') legen schon von ihrem Thema her die Vermutung nahe, daß Kant starke Anregungen von dieser Seite erhielt, wenn man sich vergegenwärtigt, wie intensiver sich damals mit den Schriften des Schotten beschäftigte. Sieht man näher zu, so lassen sich nicht nur für die rein ästhetischen Ausführungen der .Abhandlung auffallende Berührungspunkte mit den letzteren nachweisen, sondern vor allem auch für jene, die den moralischen Charakter selber betreffen also jene Partien, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind. Schon bei Hutcheson finden wir im Bereich der ästhetischen Empfindungen neben denen des Schönen die des Erhabenen angedeutet (Sittern. ö 5, Lei 184), sie zählen mit den moralischen und denen für Ehre und Schande zu den fe in ern Empfindungen (Sch Vorr. 3 ff., 259; Sittenl. 59 ff.). Ferner setzt der edle Grundtrieb des Wohlwollens in seinem durch die Vernunft vorgestellten Gegenstand, dem ganzen System der empfindenden und vernünftigen Wesen, einschlußweise das mit, was Kant ausdrücklich als Gegenstand des moralischen Gefühls bezeichnet: die Schönheit und Würde der menschlichen Natur, wie er denn auch diese ihre Eigenschaften an vielen Stellen die über diesen Grundtrieb und über das moralische Gefühl handeln' entweder voraussetzt oder ausdrücklich hervorhebt. Er spricht nich; nur von einem Gefühl für die Würde und den Adel der menschlichen N.atur (Lei 9), von der Hochschätzung, Bewunderung und Liebe, die em tugendhafter Charakter, auch wenn er im entlegensten Weltteil wäre, notwendig erregt (Sch 138,143), sondern er betont auch immer wieder, daß das Herz jedes Menschen an sich und von Natur aus, d. h. wenn es nicht durch falsche und parteiische Vorstellungen vom Guten oder durch eine übermächtige Selbstsucht verdeckt wird zum Wohlwollen gegen alle anderen geneigt ist und nach ihrem Glük: ke strebt, also zu sittlich guten Handlungen und zur Tugend (Sittenl. 52f. ,7'3,99,107 etc. Sch158f. ,251f. ,257f.; Lei 165)· vor allem aber ist in jedem Menschen das moralische Gefülü das unbe-

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Hilfe vielleicht gänzlich von jenen erstickt würden. Wenn er dagegen von dem größeren Stoß und Antrieb spricht, den diese Neidem sich nach Grundsätzen bestimmenden Willen geben sollen, so kann das im Sinne einer solchen Gegenwirkung gegen den hemmenden Einfluß der niedrigen Leidenschaften verstanden werden gemäß dem Grundsatz, daß alles, was dem Hindernis der Ausübung eines Vermögens entgegenwirkt, soviel bedeutet wie eine Beförderung derselben. Diese Deutung wird dadurch nahegelegt , daß das Handeln nach ihm grundsätzlich nur insofern tugendhaft ist als es aus Grundsätzen hervorgeht; denn damit ist unbestreitbar gegeben, daß eine Handlung, in der jene moralischen Sympathien, wenn auch nur partial als Motiv wirksam sind, eben dadurch in ihrer sittlichen Reinheit getrübt werden muß. Wollte man also das Wort von dem größeren Stoß und Antrieb nicht in dem obigen Sinn deuten, dann müßte man es so verstehen, daß bei uns Menschen weg e n. der s i t tl ich e n S c h w ä c heu n s e r erN at u r de facto in das tugendhafte Handeln immer auch eine untersittliche Komponente aus den gutartigen Neigungen eingehen muß, damit sich das Handeln aus Grundsätzen überhaupt entfalten kann, was aber eine unvermeidliche Verunreinigung der sittlichen Motivation mit sich bringt. Den gutartigen Leidenschaften kommt also in jedem Fall eine wichtige Rolle auch für das tugendhafte Handeln zu, aber es ist eine nur negative und supplementäre Funktion. Wenn man diesen Standpunkt mit dem vergleicht, was Kant über das Verhältnis zwischen dem echten sittlichen Handeln und diesen moralischen Sympathien etwa in der Kr.d. pr. V. sagt, so wird man feststellen können, daß er dort noch durchaus dieselbe Auffassung vertritt 16. Und so zeigt sich auch an diesem Punkt, wie weit die grundlegenden ethischen Anschauungen der späteren Ethik zeitlich zurückreichen. Wie man die Fassuhg des sittlichen Grundwertes als Schönheit der menschlichen Natur allgemein auf den Einfluß Shaftesburys zurückführt, so sucht man den Ursprung der parallelen als Würde der menschlichen Natur durchwegs bei Rousseau. Zwar weisen die Interpreten ziemlich übereinstimmend darauf hin, daß in Kant durch seine vorausgegangene Entwicklung diese Auffassung des Ethischen schon vor be reit e t war, so daß die Anregung von seiten des Genfers ihn nur seine eigene Überzeugung klarer formulieren und in ihrer grundlegenden Bedeutung erkennen ließ. Nach Menzer war ihm die Würde Menschen schon als persönliches Erlebnis aufgegangen in der Uberwindung der Antriebe der Sinnlichkeit durch die Kraft des vernunftgebotenen Willens. Und Schilpp betont bei aller Anerkenntnis des Einflusses Rousseaus auf Kant, daß es unmöglich ist, gerade diese für seine ganze zukünftige ethische Lehre schlechthin fundamentale Idee ausschließlich auf das Konto des Genfers zu set16) KGS V, S.88, 31-37; 118, 9-11.

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zen, habe vielmehr die Überzeugung vom inneren Wert jedes menschhchen Wesens von frühester Jugend auf durch seine im Geist de,s erfolgte Erziehung überkommen und als Grundhaltung mIt ms Leben genommen; denn das sei eine der Grundlehren dieser gewesen und ein wesentlicher Bestandteil jeder streng pIetIstlschen Erziehung. Wenn aber von äußeren Einflüssen die Rede ist, durch die Kant in seinen 'Beobachtungen' angeregt wurde, bzw. von den Quellen, aus denen er schöpfte, so ist auch hier ohne Zweifel an erster Stelle Hut c he so n zu nennen. Schon der Titel von dessen erster und berühmtester Abhandlung 'Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend' wie auch die Überschriften bestimmter Kapitel des 1. Buches seiner 'Sittenlehre' (tVon den feine rn Empfindungskräften der menschlichen Natur', 'Über das Gefühl der Ehre und Schande ') legen schon von ihrem Thema her die Vermutung nahe, daß Kant starke Anregungen von dieser Seite erhielt, wenn man sich vergegenwärtigt, wie intensiver sich damals mit den Schriften des Schotten beschäftigte. Sieht man näher zu, so lassen sich nicht nur für die rein ästhetischen Ausführungen der .Abhandlung auffallende Berührungspunkte mit den letzteren nachweisen, sondern vor allem auch für jene, die den moralischen Charakter selber betreffen also jene Partien, die in unserem Zusammenhang von Bedeutung sind. Schon bei Hutcheson finden wir im Bereich der ästhetischen Empfindungen neben denen des Schönen die des Erhabenen angedeutet (Sittern. ö 5, Lei 184), sie zählen mit den moralischen und denen für Ehre und Schande zu den fe in ern Empfindungen (Sch Vorr. 3 ff., 259; Sittenl. 59 ff.). Ferner setzt der edle Grundtrieb des Wohlwollens in seinem durch die Vernunft vorgestellten Gegenstand, dem ganzen System der empfindenden und vernünftigen Wesen, einschlußweise das mit, was Kant ausdrücklich als Gegenstand des moralischen Gefühls bezeichnet: die Schönheit und Würde der menschlichen Natur, wie er denn auch diese ihre Eigenschaften an vielen Stellen die über diesen Grundtrieb und über das moralische Gefühl handeln' entweder voraussetzt oder ausdrücklich hervorhebt. Er spricht nich; nur von einem Gefühl für die Würde und den Adel der menschlichen N.atur (Lei 9), von der Hochschätzung, Bewunderung und Liebe, die em tugendhafter Charakter, auch wenn er im entlegensten Weltteil wäre, notwendig erregt (Sch 138,143), sondern er betont auch immer wieder, daß das Herz jedes Menschen an sich und von Natur aus, d. h. wenn es nicht durch falsche und parteiische Vorstellungen vom Guten oder durch eine übermächtige Selbstsucht verdeckt wird zum Wohlwollen gegen alle anderen geneigt ist und nach ihrem Glük: ke strebt, also zu sittlich guten Handlungen und zur Tugend (Sittenl. 52f. ,7'3,99,107 etc. Sch158f. ,251f. ,257f.; Lei 165)· vor allem aber ist in jedem Menschen das moralische Gefülü das unbe-

126 irrbar die Tugend billigt und das Laster verabscheut und das vermöge seiner Natur die Bestimmung hat. alle unsere Kräfte in Ordnung und Schranken zu halten und uns daher durch sein gebietendes Wesen eine eigene Würde verleiht. die uns zum Bewußtsein kommt, sobald wir uns dieses Gefühls bewußt werden (Sittenl. 122. Lei 112, 137.168). Ausdrücklich spricht auch er schon von den moralischen G run d sät zen. durch die die Menschen regiert werden können. wenn sie auch häufig von eigennützigen Leidenschaften unterdrückt und durch parteiische und falsche Vorstellungen vom Guten und Bösen in Verwirrung gebracht werden können (Lei 257 f.), ebenso betont er. daß die guten Gemütsfähigkeiten nicht unmittelbar gelehrt oder durch Unterweisung hervorgebracht werden können. sondern daß sie ursprünglich in unserer Natur durch ihren großen Urheber eingepflanzt und hernach durch unseren eigenen Fleiß gestärkt und bestätigt werden müssen (Sch 284); wenn wir diesem Gefühl geflissentlich Vorschub tun. so wird es durch häufige Erfüllung immer stärker (Lei 167); dazu ist notwendig eine beständige Aufmerksamkeit des Gemüts. eine stete Herrschaft über sich selbst und ein standhafter Entschluß. sich aller Handlungen zu enthalten, solange man nicht jeden Umstand derselben gelassen untersucht hat (Lei 174f.). Außerdem hebt auch er bereits sehr klar das Gefühl und den Beweggrund der Ehr e von dem eigentlich moralischen ab, wenn er sie auch wohl für enger mit dem letzteren verbunden hält als Kant (Sch 235,238.243f.; Sittenl. 73f. .124f.); dazu kommt als weiteres entscheidendes Moment. daß er auch die Ge fäll i g k ei t und den Affekt des Mit 1 eid es als solche von der eigentlichen Tugendgesinnung unterscheidet: Handlungen. die aus bloßer Ehrliebe oder bloßer Gefälligkeit gegen die Neigungen anderer geschehen. verdienen zwar Liebe. aber nicht die Hochschätzung der Tugend. ja man kann aus Gefälligkeit für andere etwas Schädliches tun. indem man den falschen Geschmack der andern befriedigt ohne Rücksicht auf die eigenen edlern Absichten (Sch 243 f. • Lei 180); der Affekt • des Mitleides aber ist ebenfalls von dem ruhigen Wohlwollen der Tugend verschieden und nur jene besonderen liebreichen Neigungen, welche andern bzw. der Gesamtheit nicht schädlich sind. werden vom moralischen Gefühl als tugendhaft gebilligt (Sch 194, Lei Vorr. 11). ja die Zucht unserer Leidenschaften ist von allgemeiner Notwendigkeit und wenn auch unsere lieblosen und verderblichen Neigungen wie Zorn, Haß etc. derselben am meisten bedürfen, so ist sie doch auch für die zärtlichen und gütigen notwendig; denn es ist von größter Wichtigkeit. sowohl die gelassenen eigennützigen wie gemeinnützigen Begierden soviel als möglich stärker als die besonderen Leidenschaften zu machen und dem gelassenen Wohlwollen eine durchgängige Überlegenheit zu verschaffen (Lei 175 f.; cf. 299 f. ; Sittenl. 133 f.).

127 Damit ist zugleich die höchste Tugend nach Hutcheson. die das Maß aller anderen Grade derselben ist. in formaler Hinsicht gekennzeichnet: sie besteht wie in den 'Beobachtungen' in dem ruhigen Gefühl der allgemeinen Achtung und des allgemeinen Wohlwollens für das ganze System der empfindenden und vernünftigen Wesen. in dem das betreffende Subjekt sich nur wie einen Teil des Ganzen betrachtet und daher sich so objektiv wie· eine dritte Person beurteilt. wodurch nicht nur alle bösartigen Leidenschaften. sondern auch die Selbstliebe und die besonderen gütigen und wohlwollenden Leidenschaften auf ihr rechtes Maß zurückgeführt werden (Sch 177 f. ,185 f.. 187 f. .233 f. : Vergleich mit der Schwerkraft; Lei 34 ff. .124.198 f. : Feindesliebe) . Bei aller Hochschätzung aber der Tugend in ihrer vollkommensten Gestalt und der Forderung ihrer reinen Motivierung vergißt Hutcheson nicht. daß beim gegenwärtigen Zustand des Menschen auf die Mithilfe von außer- und unter sittlichen Beweggründen nicht verzichtet werden kann. da es ohne sie nicht möglich ist. auf eine Beständigkeit in der Tugend zu trauen oder mit einer Sicherheit für den Charakter zu rechnen. Die wichtigsten dieser Hilfsmotive sind die Erinnerung an die Befriedigung und das Glück. das mit dem tugendhaften Handeln verbunden war. das Gefühl für Ehre und Schan..: deo die somigen Vorteile in diesem Leben und die Erwartung zukünftiger Belohnungen und Bestrafungen als Sanktion der göttlichen Gesetze (Lei 323 f. .26; Sittenl. 75). Und ähnlich wie Kant in den Beobachtungen mißt auch er bereits in der Gesamtbetrachtung des Wohles der Menschheit neben dem Handeln aus echtt:)r Tugendgesinnung dem aus nicht tugendhaften Motiven, nämlich dem aus Eigennutz und Ehrsucht und den liebreichen Affekten und Leidenschaften eine große Bedeutung bei: sie wirken wie die Kohäsionskräfte der allgemeinen Schwerkraft als Gegengewicht gegen die selbstlosen Neigungen (Sch 233 f. ), es gibt nicht nur einen Grad des Mangels an Selbstliebe, der, weil dem allgemeinen Wohle schädlich. geradezu lasterhaft ist (Sch 184). sondern es würde. da doch 9/10 der den Menschen nützlichen Dinge von ihrem Fleiß und ihrer Arbeit abhängen. das allgemeine Wohlwollen allein dem Fleiße kein starker Beweggrund sein, Arbeit und Mühe und andere Schwierigkeiten. die wir aus Selbstliebe verabscheuen, auf sich zu nehmen. Darum haben wir, um uns zum Fleiße zu ermuntern die stärksten Bande des Blutes. der Freundschaft und Dankbarkeit (d. h. der besonderen liebreichen Affekte) und die zufälligen Beweggründe der Ehre und auch des äußeren Vorteils nötig (Sch 299f., Lei 186f.). Ja er betont die Notwendigkeit eines ge·wissen Mittelstandes und Ausgleiches zwischen den gemeinnützigen und eigennützigen Neigungen zum Wohle des Ganzen, insofern etwa eine allgemeine Erhöhung der ersteren, also des Verlangens nach Tugend und Ehre. bewirken würde. daß der Held des Cervantes, der durch Hunger und Elend abgezehrt ist, kein seltener Charakter mehr wäre (Lei 211 f. ).

126 irrbar die Tugend billigt und das Laster verabscheut und das vermöge seiner Natur die Bestimmung hat. alle unsere Kräfte in Ordnung und Schranken zu halten und uns daher durch sein gebietendes Wesen eine eigene Würde verleiht. die uns zum Bewußtsein kommt, sobald wir uns dieses Gefühls bewußt werden (Sittenl. 122. Lei 112, 137.168). Ausdrücklich spricht auch er schon von den moralischen G run d sät zen. durch die die Menschen regiert werden können. wenn sie auch häufig von eigennützigen Leidenschaften unterdrückt und durch parteiische und falsche Vorstellungen vom Guten und Bösen in Verwirrung gebracht werden können (Lei 257 f.), ebenso betont er. daß die guten Gemütsfähigkeiten nicht unmittelbar gelehrt oder durch Unterweisung hervorgebracht werden können. sondern daß sie ursprünglich in unserer Natur durch ihren großen Urheber eingepflanzt und hernach durch unseren eigenen Fleiß gestärkt und bestätigt werden müssen (Sch 284); wenn wir diesem Gefühl geflissentlich Vorschub tun. so wird es durch häufige Erfüllung immer stärker (Lei 167); dazu ist notwendig eine beständige Aufmerksamkeit des Gemüts. eine stete Herrschaft über sich selbst und ein standhafter Entschluß. sich aller Handlungen zu enthalten, solange man nicht jeden Umstand derselben gelassen untersucht hat (Lei 174f.). Außerdem hebt auch er bereits sehr klar das Gefühl und den Beweggrund der Ehr e von dem eigentlich moralischen ab, wenn er sie auch wohl für enger mit dem letzteren verbunden hält als Kant (Sch 235,238.243f.; Sittenl. 73f. .124f.); dazu kommt als weiteres entscheidendes Moment. daß er auch die Ge fäll i g k ei t und den Affekt des Mit 1 eid es als solche von der eigentlichen Tugendgesinnung unterscheidet: Handlungen. die aus bloßer Ehrliebe oder bloßer Gefälligkeit gegen die Neigungen anderer geschehen. verdienen zwar Liebe. aber nicht die Hochschätzung der Tugend. ja man kann aus Gefälligkeit für andere etwas Schädliches tun. indem man den falschen Geschmack der andern befriedigt ohne Rücksicht auf die eigenen edlern Absichten (Sch 243 f. • Lei 180); der Affekt • des Mitleides aber ist ebenfalls von dem ruhigen Wohlwollen der Tugend verschieden und nur jene besonderen liebreichen Neigungen, welche andern bzw. der Gesamtheit nicht schädlich sind. werden vom moralischen Gefühl als tugendhaft gebilligt (Sch 194, Lei Vorr. 11). ja die Zucht unserer Leidenschaften ist von allgemeiner Notwendigkeit und wenn auch unsere lieblosen und verderblichen Neigungen wie Zorn, Haß etc. derselben am meisten bedürfen, so ist sie doch auch für die zärtlichen und gütigen notwendig; denn es ist von größter Wichtigkeit. sowohl die gelassenen eigennützigen wie gemeinnützigen Begierden soviel als möglich stärker als die besonderen Leidenschaften zu machen und dem gelassenen Wohlwollen eine durchgängige Überlegenheit zu verschaffen (Lei 175 f.; cf. 299 f. ; Sittenl. 133 f.).

127 Damit ist zugleich die höchste Tugend nach Hutcheson. die das Maß aller anderen Grade derselben ist. in formaler Hinsicht gekennzeichnet: sie besteht wie in den 'Beobachtungen' in dem ruhigen Gefühl der allgemeinen Achtung und des allgemeinen Wohlwollens für das ganze System der empfindenden und vernünftigen Wesen. in dem das betreffende Subjekt sich nur wie einen Teil des Ganzen betrachtet und daher sich so objektiv wie· eine dritte Person beurteilt. wodurch nicht nur alle bösartigen Leidenschaften. sondern auch die Selbstliebe und die besonderen gütigen und wohlwollenden Leidenschaften auf ihr rechtes Maß zurückgeführt werden (Sch 177 f. ,185 f.. 187 f. .233 f. : Vergleich mit der Schwerkraft; Lei 34 ff. .124.198 f. : Feindesliebe) . Bei aller Hochschätzung aber der Tugend in ihrer vollkommensten Gestalt und der Forderung ihrer reinen Motivierung vergißt Hutcheson nicht. daß beim gegenwärtigen Zustand des Menschen auf die Mithilfe von außer- und unter sittlichen Beweggründen nicht verzichtet werden kann. da es ohne sie nicht möglich ist. auf eine Beständigkeit in der Tugend zu trauen oder mit einer Sicherheit für den Charakter zu rechnen. Die wichtigsten dieser Hilfsmotive sind die Erinnerung an die Befriedigung und das Glück. das mit dem tugendhaften Handeln verbunden war. das Gefühl für Ehre und Schan..: deo die somigen Vorteile in diesem Leben und die Erwartung zukünftiger Belohnungen und Bestrafungen als Sanktion der göttlichen Gesetze (Lei 323 f. .26; Sittenl. 75). Und ähnlich wie Kant in den Beobachtungen mißt auch er bereits in der Gesamtbetrachtung des Wohles der Menschheit neben dem Handeln aus echtt:)r Tugendgesinnung dem aus nicht tugendhaften Motiven, nämlich dem aus Eigennutz und Ehrsucht und den liebreichen Affekten und Leidenschaften eine große Bedeutung bei: sie wirken wie die Kohäsionskräfte der allgemeinen Schwerkraft als Gegengewicht gegen die selbstlosen Neigungen (Sch 233 f. ), es gibt nicht nur einen Grad des Mangels an Selbstliebe, der, weil dem allgemeinen Wohle schädlich. geradezu lasterhaft ist (Sch 184). sondern es würde. da doch 9/10 der den Menschen nützlichen Dinge von ihrem Fleiß und ihrer Arbeit abhängen. das allgemeine Wohlwollen allein dem Fleiße kein starker Beweggrund sein, Arbeit und Mühe und andere Schwierigkeiten. die wir aus Selbstliebe verabscheuen, auf sich zu nehmen. Darum haben wir, um uns zum Fleiße zu ermuntern die stärksten Bande des Blutes. der Freundschaft und Dankbarkeit (d. h. der besonderen liebreichen Affekte) und die zufälligen Beweggründe der Ehre und auch des äußeren Vorteils nötig (Sch 299f., Lei 186f.). Ja er betont die Notwendigkeit eines ge·wissen Mittelstandes und Ausgleiches zwischen den gemeinnützigen und eigennützigen Neigungen zum Wohle des Ganzen, insofern etwa eine allgemeine Erhöhung der ersteren, also des Verlangens nach Tugend und Ehre. bewirken würde. daß der Held des Cervantes, der durch Hunger und Elend abgezehrt ist, kein seltener Charakter mehr wäre (Lei 211 f. ).

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Die .Ähnlichkeit mit den parallelen Kantischen Thesen ist so offensichtlich, daß sich ein besonderer Vergleich erübrigt. Damit ist die Abhängigkeit der moralphilosophisch bedeutsamen Teile der Beobachtungen von Hutcheson erwiesen. Allerdings wird zugleich deutlich, daß Kant die Lehren des letzteren nicht einfach übernommen, sondern die ihm gebotenen Anregungen durchaus 'in seinem eigenen Stil' entwickelt hat: wesentlich klarer treten bei ihm hervor die Grundsätze als das Prinzip der Tugendgesinnung, die Schönheit und Würde der menschlichen Natur als der umfassende Gegenstand des moralischen Gefühls, der bei dem Schotten nur implicit gegeben und mehr vorausgesetzt wird, insbesondere aber die grundsätzliche und scharfe Abgrenzung der Tugendgesinnung von allen tugendähnlichen Haltungen und Motivierungen. Der Grund, warum Kant das Bedürfnis hatte, die Ansätze Hutchesons in diesem Sinn weiterzuentwickeln, liegt nach dem über die Preisschrift Gesagten auf der Hand: für ihn gab es neben dem moralischen Gefühl und seinem Gegenstand das andere Grundprinzip der Moralität, das der Pflicht bzw. der Ge sam t p f I ich t , das den Grundsätzen der Tugend als objektive und schlechterdings gültige Norm vorgegeben war und das eine wesentlich klarer,e Trennungslinie zwischen der eigentlichen sittlichen Motivation/l.lnd der tugendähnlichen als das Prinzip des Schotten nicht nur ermöglichte, sondern geradezu forderte. Vergegenwärtigt man sich die Art und die Reichweite des Einflusses Hutchesons in den Beobachtungen, so werden die Gründe, aus denen Foerster, Menzer und zum Teil auch Schilpp eine Einwirkung Rousseaus in dieser Abhandlung annehmen zu müssen glaubten, weitgehend fragwürdig, vor allem wenn man außerdem berücksichtigt, daß der Schotte selber schon sehr wesentliche Positionen des Genfers vorweggenommen hat und sie Kant also aus dieser Quelle bereits bekannt waren 17. Daß dieser damals bereits zum wenigsten die früheren Schriften Rousseaus gekannt hat, nachdem er spätestens 1759 durch einen Brief Hamans auf sie aufmerksam gemacht 17) Die Lehren Hutchesons, die sich in auffallender Weise mit denen Rousseaus berühren. sind folgende: 1) Der Mensch ist von Natur aus gut und es gibt kein von Natur boshaftes Wesen unter den Werken Gottes. Die Begierde nach Tugend ist dem Menschen so fest eingepflanzt. daß keine Erziehung, keine falschen Grundsätze und verderbten Fertigkeiten und kein Zwang sie auszurotten vermag; die Einrichtung unserer Natur ist auf wunderbare Weise zur Erregung des Mitleides geschickt gemacht als der von allen Nationen verstandenen Stimme der Natur und gerade die rohe ungesittete Menge wird durch sie am meisten gerührt. wie sie denn überhaupt am meisten jedem moralischen Eindruck offen steht (Sch.158 ff.. 229. 241. 152 f•• 257 f.. 2'11 f•• 275). Das meiste vom Elend der Menschen kommt aus ihrer Torheit und ihren Lastern (Lei 192); ihre Neigungen sind gut und alle Leidenschaften und Affekte im mäßigen Grad unschuldig (Lei 322. 93). 2) Verwirrung und Verderbnis der natürlichen Neigungen durch den Einfluß der Gesellschaft, der Erziehung. der Meinungen und Moden; daraus die Veränderung der natürlichen Begierden und Verwirrung der Empfindungen. z.B. auch beim Genuß des Schönen. daraus alle Verderbnis, Ausschweifungen und Tor-

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worden war 18, ist möglich, aber unwahrscheinlich, da sich in seinen Veröffentlichungen zu Beginn der sechziger Jahre keinerlei Spuren der revolutionären Ideen des letzteren nachweisen lassen. Aber die für die ganze Interpretation seiner ethischen Entwicklung grundlegende Frage ist in diesem Zusammenhang, ob unsere Abhandlung, die im Herbst 1763 abgeschlossen wurde, bereits entscheidend durch die ein Jahr vorher erschienenen Hauptwerke des Schweizers, nämlich dessen Emile und Contrat Social beeinflußt ist bzw. bereits als das Erg e b n i s s ein erg run d sät z 1 ich e n Aus ein a n der set zu n g mit die sen, besonders mit dem Emile, zu gelten hat, oder ob ihre Abfassung noch vor dieser Auseinandersetzung und unberührt von ihr erfolgte. Denn es ist klar: wenn die Beobachtungen, die offenbar in der moralphilosophischen Prinzipienlehre im wesentlichen den Standpunkt der Preisschrift voraussetzen, bereits unter dem Eindruck der Gedankenwelt des Emile geschrieben sind und Kants grundsätzliche Stellungnahme zu heiten und die Folge davon, daß uns jeder Glückswechsel unglücklich machen muß (Lei 13, 16. 62. 99. 106, 180. 109); da unsere Vergnügen und Schmerzen zum großen Teil von der Einbildungskraft abhll.ngig sind, ist der unglücklich, der sich für unglücklich hält (Lei 109. 99 f.) und umgekehrt sind Menschen, welche sich den rechten Begriff von den Dingen machen, bloß den IIOtwendigen Übeln des Lehens unterworfen; denn solange unsere begehrenden Triebe nicht durch unsere Meinungen und fremden Verknüpfungen von Begriffen geschwächt und auf mannigfache Art geändert werden, sind die körperlichen Begierden leicht zu befriedigen; denn die Natur hat es fast in eines jeden Macht gestellt, sie soweit zu befriedigen, daß dadurch der Körper erhalten und der Schmerz hinweggeschafft wird (Lei 166, 99). 3) Die Tugend ist zu berechnen aus dem Verhältnis zwischen Wohlwollen und dem Grad der Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen; darum kann die Tugend die größte sein, wo die Fähigkeiten gering sind, woraus fOlgt, daß der Mangel an äußeren Glücksumständen keinen von der heldenmütigen Tugend ausschließe. auch die gewöhnlichen Menschen können. wenn sie in ihrem Kreise das ihnen Mögliche tun. ebenso Helden in der Tugend sein wie die von der Welt bewunderten Größen (Sch 209 f.). 4) Die unausrottbare Überzeugung im Herzen des Menschen. daß Gott die Tugend glücklich machen wird; die. Notwendigkeit an einen künftigen Zustand zu glauben ergibt sich aus den natürlichen Begriffen der Gerechtigkeit der Regierung der Welt: dieser Glaube an eine Gottheit. eine Vorsehung. einen künftigen Zustand ist die einzige Stütze eines guten Gemütes (Sch 164. Lei 172, 197; Sittenl. 314); die Überzeugung vom Dasein Gottes ergibt sich außerdem aus der inneren Ordnung unserer Natur und der äußeren der Schöpfung (Sittenl. 266 ff.). Die verschiedenen Religionsbegriffe und die äußeren Religionsübungen sind gut, soweit sie in uns die Liebe zu Gott und den Menschen befördern (Sch 176, 221). 5) Von der natürlichen Gleichheit der Menschen und den natürlichen und angeborenen Rechten jeder einzelnen Person sowie dem Unrecht, andere ihrer unveräußerlichen natürlichen Freiheit zu berauben (Sitten!. 435 ff.). Der Mensch im Zustand der Natur. d. h. vor der Herbeiführung des bürgerlichen Zustandes. hat das Recht oder die moralische Befugnis, jene Rechte, deren Verletzung das Leben unerträglich machten, mit Gewalt zu verteidigen. Er hat ferner das Recht zur bürgerlichen Verfassung, durch die er seine veräußerlichen Rechte dem Beherrscher überträgt. so daß alle menschlicne Gewalt auf der Übertragung eines Rechtes beruht, über die veräußerlichen Rechte der anderen zu gebieten. und die unveräußerlichen der einzelnen unübersteigbare Schranken jeder Regierungsart bilden (Sch 293 f.. 302 f., 310; Sitten!. 804 ff.). Die Übereinstimmung in so grundlegenden Lehrpunkten legt die Annahme nahe. daß Rousseau wesentlich von Hutcheson beeinflußt wurde. 18) KGS X, S.30, 13.

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Die .Ähnlichkeit mit den parallelen Kantischen Thesen ist so offensichtlich, daß sich ein besonderer Vergleich erübrigt. Damit ist die Abhängigkeit der moralphilosophisch bedeutsamen Teile der Beobachtungen von Hutcheson erwiesen. Allerdings wird zugleich deutlich, daß Kant die Lehren des letzteren nicht einfach übernommen, sondern die ihm gebotenen Anregungen durchaus 'in seinem eigenen Stil' entwickelt hat: wesentlich klarer treten bei ihm hervor die Grundsätze als das Prinzip der Tugendgesinnung, die Schönheit und Würde der menschlichen Natur als der umfassende Gegenstand des moralischen Gefühls, der bei dem Schotten nur implicit gegeben und mehr vorausgesetzt wird, insbesondere aber die grundsätzliche und scharfe Abgrenzung der Tugendgesinnung von allen tugendähnlichen Haltungen und Motivierungen. Der Grund, warum Kant das Bedürfnis hatte, die Ansätze Hutchesons in diesem Sinn weiterzuentwickeln, liegt nach dem über die Preisschrift Gesagten auf der Hand: für ihn gab es neben dem moralischen Gefühl und seinem Gegenstand das andere Grundprinzip der Moralität, das der Pflicht bzw. der Ge sam t p f I ich t , das den Grundsätzen der Tugend als objektive und schlechterdings gültige Norm vorgegeben war und das eine wesentlich klarer,e Trennungslinie zwischen der eigentlichen sittlichen Motivation/l.lnd der tugendähnlichen als das Prinzip des Schotten nicht nur ermöglichte, sondern geradezu forderte. Vergegenwärtigt man sich die Art und die Reichweite des Einflusses Hutchesons in den Beobachtungen, so werden die Gründe, aus denen Foerster, Menzer und zum Teil auch Schilpp eine Einwirkung Rousseaus in dieser Abhandlung annehmen zu müssen glaubten, weitgehend fragwürdig, vor allem wenn man außerdem berücksichtigt, daß der Schotte selber schon sehr wesentliche Positionen des Genfers vorweggenommen hat und sie Kant also aus dieser Quelle bereits bekannt waren 17. Daß dieser damals bereits zum wenigsten die früheren Schriften Rousseaus gekannt hat, nachdem er spätestens 1759 durch einen Brief Hamans auf sie aufmerksam gemacht 17) Die Lehren Hutchesons, die sich in auffallender Weise mit denen Rousseaus berühren. sind folgende: 1) Der Mensch ist von Natur aus gut und es gibt kein von Natur boshaftes Wesen unter den Werken Gottes. Die Begierde nach Tugend ist dem Menschen so fest eingepflanzt. daß keine Erziehung, keine falschen Grundsätze und verderbten Fertigkeiten und kein Zwang sie auszurotten vermag; die Einrichtung unserer Natur ist auf wunderbare Weise zur Erregung des Mitleides geschickt gemacht als der von allen Nationen verstandenen Stimme der Natur und gerade die rohe ungesittete Menge wird durch sie am meisten gerührt. wie sie denn überhaupt am meisten jedem moralischen Eindruck offen steht (Sch.158 ff.. 229. 241. 152 f•• 257 f.. 2'11 f•• 275). Das meiste vom Elend der Menschen kommt aus ihrer Torheit und ihren Lastern (Lei 192); ihre Neigungen sind gut und alle Leidenschaften und Affekte im mäßigen Grad unschuldig (Lei 322. 93). 2) Verwirrung und Verderbnis der natürlichen Neigungen durch den Einfluß der Gesellschaft, der Erziehung. der Meinungen und Moden; daraus die Veränderung der natürlichen Begierden und Verwirrung der Empfindungen. z.B. auch beim Genuß des Schönen. daraus alle Verderbnis, Ausschweifungen und Tor-

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worden war 18, ist möglich, aber unwahrscheinlich, da sich in seinen Veröffentlichungen zu Beginn der sechziger Jahre keinerlei Spuren der revolutionären Ideen des letzteren nachweisen lassen. Aber die für die ganze Interpretation seiner ethischen Entwicklung grundlegende Frage ist in diesem Zusammenhang, ob unsere Abhandlung, die im Herbst 1763 abgeschlossen wurde, bereits entscheidend durch die ein Jahr vorher erschienenen Hauptwerke des Schweizers, nämlich dessen Emile und Contrat Social beeinflußt ist bzw. bereits als das Erg e b n i s s ein erg run d sät z 1 ich e n Aus ein a n der set zu n g mit die sen, besonders mit dem Emile, zu gelten hat, oder ob ihre Abfassung noch vor dieser Auseinandersetzung und unberührt von ihr erfolgte. Denn es ist klar: wenn die Beobachtungen, die offenbar in der moralphilosophischen Prinzipienlehre im wesentlichen den Standpunkt der Preisschrift voraussetzen, bereits unter dem Eindruck der Gedankenwelt des Emile geschrieben sind und Kants grundsätzliche Stellungnahme zu heiten und die Folge davon, daß uns jeder Glückswechsel unglücklich machen muß (Lei 13, 16. 62. 99. 106, 180. 109); da unsere Vergnügen und Schmerzen zum großen Teil von der Einbildungskraft abhll.ngig sind, ist der unglücklich, der sich für unglücklich hält (Lei 109. 99 f.) und umgekehrt sind Menschen, welche sich den rechten Begriff von den Dingen machen, bloß den IIOtwendigen Übeln des Lehens unterworfen; denn solange unsere begehrenden Triebe nicht durch unsere Meinungen und fremden Verknüpfungen von Begriffen geschwächt und auf mannigfache Art geändert werden, sind die körperlichen Begierden leicht zu befriedigen; denn die Natur hat es fast in eines jeden Macht gestellt, sie soweit zu befriedigen, daß dadurch der Körper erhalten und der Schmerz hinweggeschafft wird (Lei 166, 99). 3) Die Tugend ist zu berechnen aus dem Verhältnis zwischen Wohlwollen und dem Grad der Möglichkeiten und Fähigkeiten des Menschen; darum kann die Tugend die größte sein, wo die Fähigkeiten gering sind, woraus fOlgt, daß der Mangel an äußeren Glücksumständen keinen von der heldenmütigen Tugend ausschließe. auch die gewöhnlichen Menschen können. wenn sie in ihrem Kreise das ihnen Mögliche tun. ebenso Helden in der Tugend sein wie die von der Welt bewunderten Größen (Sch 209 f.). 4) Die unausrottbare Überzeugung im Herzen des Menschen. daß Gott die Tugend glücklich machen wird; die. Notwendigkeit an einen künftigen Zustand zu glauben ergibt sich aus den natürlichen Begriffen der Gerechtigkeit der Regierung der Welt: dieser Glaube an eine Gottheit. eine Vorsehung. einen künftigen Zustand ist die einzige Stütze eines guten Gemütes (Sch 164. Lei 172, 197; Sittenl. 314); die Überzeugung vom Dasein Gottes ergibt sich außerdem aus der inneren Ordnung unserer Natur und der äußeren der Schöpfung (Sittenl. 266 ff.). Die verschiedenen Religionsbegriffe und die äußeren Religionsübungen sind gut, soweit sie in uns die Liebe zu Gott und den Menschen befördern (Sch 176, 221). 5) Von der natürlichen Gleichheit der Menschen und den natürlichen und angeborenen Rechten jeder einzelnen Person sowie dem Unrecht, andere ihrer unveräußerlichen natürlichen Freiheit zu berauben (Sitten!. 435 ff.). Der Mensch im Zustand der Natur. d. h. vor der Herbeiführung des bürgerlichen Zustandes. hat das Recht oder die moralische Befugnis, jene Rechte, deren Verletzung das Leben unerträglich machten, mit Gewalt zu verteidigen. Er hat ferner das Recht zur bürgerlichen Verfassung, durch die er seine veräußerlichen Rechte dem Beherrscher überträgt. so daß alle menschlicne Gewalt auf der Übertragung eines Rechtes beruht, über die veräußerlichen Rechte der anderen zu gebieten. und die unveräußerlichen der einzelnen unübersteigbare Schranken jeder Regierungsart bilden (Sch 293 f.. 302 f., 310; Sitten!. 804 ff.). Die Übereinstimmung in so grundlegenden Lehrpunkten legt die Annahme nahe. daß Rousseau wesentlich von Hutcheson beeinflußt wurde. 18) KGS X, S.30, 13.

130 dieser letzteren darstellen, dann hat Rousseau seine Hauptwirkung schon in den Beobachtungen getan, und damit ist gegeben, daß sein Einfluß auf die ethische Entwicklung des Philosophen begrenzt und episodisch bleiben wird: auf keinen Fall ist dann damit zu rechnen, daß von dieser Seite ein Anstoß zu einer neuen Umformung seiner moralphilosophischen Grundkonzeption, zu einer weiteren 'Umkippung' auf diesem Gebiet erfolgen wird. Hat aber die wesentliche Auseinandersetzung mit dem Emile erst na c h der Abfassung stattgefunden, dann ist alles noch offen und es ist im Ernst mit der eber bezeichneten Möglichkeit zu rechnen. Nun entscheiden sich die meisten Autoren mit einer gewissen Selbstverständlichkeit für die erstere Alternative, womit zugleich auch ihre Deutung der folgenden Entwicklungsphase schon in einem bestimmten Sinn festgelegt ist. Beispielhaft für diese Auffassung der Beobachtungen dürfte die Arbeit 'Kant und Rousseau' von K. Dieterich gewesen sein, der wohl als der klassische Vertreter dieser Richtung der Interpretation bezeichnet werden darf. Nach ihm spiegeln sich die Einwirkungen Rousseaus unverkennbar und mit unmittelbarer Frische in dem kleinen kulturgeschichtlichen Essai aus dem Jahre 1764, in welchem uns der Philosoph ein Stück seiner damaligen Anthropologie mitteilt . .. Die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen unp Erhabenen .. führen uns die Fragen vor, welche Kant bei der Lektüre Rousseaus entgegentraten, und die Antworten auf diese Fragen, welche sich ihm im Augenblick darboten; sie sind zugleich ein lebendiger Ausdruck der ganzen Stimmung, welche die glühende Beredtsamkeit des Apostels der allgemeinen Menschenrechte in ihm erzeugte (S. 9 f.) ... Der Zweifel Rousseaus an dem Werte von Kunst und Wissenschaft für die Sitten ist zum Schweigen gebracht; seine eigene Ansicht über den Zusammenhang der verschiedenen Gebiete der Kultur und die Gesetze ihres Fortschrittes trägt noch das Gepräge einer gewissen poetischen Unbestimmtheit, , Aber wir haben die Empfindung, daß wir an der Quelle einer bedeutenden Auffassung der geistigen Welt stehen, welche später zwar' eine systematische und methodische Entwicklung erfahren mag, aber vielleicht in der präzisen, oft etwas scholastischen wissenschaftlichen Form, welche sie damit erhält, ihre eigentliche Seele vielfach für uns verhüllt .. , Vermissen wir an dem Lebensideale jener Tage noch etwas von der späteren Sonnenklarheit, so ist uns ein Ersatz dafür der Morgenduft, der darüber schwebt. Die Farbenstimmung des letzteren verrät deutlich, daß hier die Strahlen einer südlicheren Sonne einen Augenblick gewirkt haben. Die Sprache Kants von Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde erinnert an die Glut des Rousseauschen Stils, der ihn nach seinem eigenen Geständnis unwiderstehlich bestochen hatte (S. 11 f. ) .. ' Der Verfasser der Beobachtungen schöpft (nach den pessimistischen Tendenzen der 'Naturgeschichte') Mut für die irdische Zukunft der gesamten Menschengat-

131 tung, weil er unter dem mächtigen Impulse des Emile, dieses Naturevangeliums der Erziehung, ., begonnen hat, sich in die ursprüngliche Natur des Menschen zu versenken und diese in der einfachen und harmonischen Kultur der Alten anzuschauen. Er kann den Traum Rousseaus von einem' idealen Naturzustand der UI'zeit nicht teilen, wohl aber dessen Begeisterung für schöne und volle, einfache und naive Menschlichkeit,. Wahre Natur und wahre Kultur sind in der Antike vereint. In unseren Tagen erwacht aber nach der langen Nacht des Mittelalters der Sinn für das klassische Altertum wieder. Wir können deshalb hoffen, daß auch die Bildung der zivilisierten Nationen der Neuzeit, besonders die Bildung der germanischen Völker, schließlich zu der höheren Einheit von Natur und Kultur gelangen wird, von welcher Rousseau nichts ahnte. So hat Kant die pessimistischen Stimmungen verscheucht, die ihn auf der Höhe der spekulativen Weltbetrachtung anwandelten, seit ihm die Wahrheit und der Irrtum der Rousseauschen Ideen, die Zu st immung zu dem Emile und der Widerspruch gegen den seI ben eine neue Perspektive für die Auffassung der Geschichte eröffnet{S. 13 f.) ... Die Stellung, welche Kant in dem unscheinbaren Essai von 1764 zu den Fragen des sozialen Lebens einnimmt, hat er nie wieder verlassen, Rousseau hat Kant angezogen, aber nur, um ihn wieder abzustoßen; in diesem Spiel der Anziehung und Abstoßung, das sich zwischen dem deutschen Philosophen und dem geistVOllen literarischen Vorläufer der Französischen Revolution entwickelt, hat jener sich selbst gefunden und ist der Begründer der Ethik geworden, auf deren Grundsätzen unsere gesunde deutsche Staatenentwicklung zu einem großen Teil beruht (S. 16). Charakteristisch für diese Interpretation ist nun, daß alle weitere ethische Entwicklung Kants im Prinzip lediglich als Entfaltung des in der Abhandlung gewonnenen Standpunktes aufgefaßt wird: der Philosoph zergliedere aus seiner kulturgeschichtlichen Fragestellung heraus in den 'Zusätzen', die er zu den Beobachtungen mache der Verfasser verlegt sie in den Zeitraum von 1765-75 -, restlos die mannigfachen Gefühle und Triebe der Menschen, um sie auf ihre einfachen Grundelemente zurückzuführen, wozu aber die Ansätze schon in den Beobachtungen selbst zu erkennen seien. Dabei erschienen ihm jetzt verschiedene Tatsachen unseres Bewußtseins, die er 1764 als ursprünglich betrachtet hatte, nun als zusammengesetzt ... Im Laufe seiner fortgesetzten Untersuchungen sei in ihm die Überzeugung entstanden, daß das ideale Wertgefühl des Menschen, so wesentlich es auch sein mag, in letzter Linie doch noch etwas Abgeleitetes sei. Dabei sei ihm die grundlegende Funktion des In tel lek te s bei der Ausbildung dieser Gefühle immer mehr klar geworden; den Zusammenhang der feineren Gefühle mit den intellektuellen Fähigkeiten habe er ja schon in den Beobachtungen betont, ebenso auch, daß die höhere Form des sittlichen Gefühls die Erwei-

130 dieser letzteren darstellen, dann hat Rousseau seine Hauptwirkung schon in den Beobachtungen getan, und damit ist gegeben, daß sein Einfluß auf die ethische Entwicklung des Philosophen begrenzt und episodisch bleiben wird: auf keinen Fall ist dann damit zu rechnen, daß von dieser Seite ein Anstoß zu einer neuen Umformung seiner moralphilosophischen Grundkonzeption, zu einer weiteren 'Umkippung' auf diesem Gebiet erfolgen wird. Hat aber die wesentliche Auseinandersetzung mit dem Emile erst na c h der Abfassung stattgefunden, dann ist alles noch offen und es ist im Ernst mit der eber bezeichneten Möglichkeit zu rechnen. Nun entscheiden sich die meisten Autoren mit einer gewissen Selbstverständlichkeit für die erstere Alternative, womit zugleich auch ihre Deutung der folgenden Entwicklungsphase schon in einem bestimmten Sinn festgelegt ist. Beispielhaft für diese Auffassung der Beobachtungen dürfte die Arbeit 'Kant und Rousseau' von K. Dieterich gewesen sein, der wohl als der klassische Vertreter dieser Richtung der Interpretation bezeichnet werden darf. Nach ihm spiegeln sich die Einwirkungen Rousseaus unverkennbar und mit unmittelbarer Frische in dem kleinen kulturgeschichtlichen Essai aus dem Jahre 1764, in welchem uns der Philosoph ein Stück seiner damaligen Anthropologie mitteilt . .. Die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen unp Erhabenen .. führen uns die Fragen vor, welche Kant bei der Lektüre Rousseaus entgegentraten, und die Antworten auf diese Fragen, welche sich ihm im Augenblick darboten; sie sind zugleich ein lebendiger Ausdruck der ganzen Stimmung, welche die glühende Beredtsamkeit des Apostels der allgemeinen Menschenrechte in ihm erzeugte (S. 9 f.) ... Der Zweifel Rousseaus an dem Werte von Kunst und Wissenschaft für die Sitten ist zum Schweigen gebracht; seine eigene Ansicht über den Zusammenhang der verschiedenen Gebiete der Kultur und die Gesetze ihres Fortschrittes trägt noch das Gepräge einer gewissen poetischen Unbestimmtheit, , Aber wir haben die Empfindung, daß wir an der Quelle einer bedeutenden Auffassung der geistigen Welt stehen, welche später zwar' eine systematische und methodische Entwicklung erfahren mag, aber vielleicht in der präzisen, oft etwas scholastischen wissenschaftlichen Form, welche sie damit erhält, ihre eigentliche Seele vielfach für uns verhüllt .. , Vermissen wir an dem Lebensideale jener Tage noch etwas von der späteren Sonnenklarheit, so ist uns ein Ersatz dafür der Morgenduft, der darüber schwebt. Die Farbenstimmung des letzteren verrät deutlich, daß hier die Strahlen einer südlicheren Sonne einen Augenblick gewirkt haben. Die Sprache Kants von Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde erinnert an die Glut des Rousseauschen Stils, der ihn nach seinem eigenen Geständnis unwiderstehlich bestochen hatte (S. 11 f. ) .. ' Der Verfasser der Beobachtungen schöpft (nach den pessimistischen Tendenzen der 'Naturgeschichte') Mut für die irdische Zukunft der gesamten Menschengat-

131 tung, weil er unter dem mächtigen Impulse des Emile, dieses Naturevangeliums der Erziehung, ., begonnen hat, sich in die ursprüngliche Natur des Menschen zu versenken und diese in der einfachen und harmonischen Kultur der Alten anzuschauen. Er kann den Traum Rousseaus von einem' idealen Naturzustand der UI'zeit nicht teilen, wohl aber dessen Begeisterung für schöne und volle, einfache und naive Menschlichkeit,. Wahre Natur und wahre Kultur sind in der Antike vereint. In unseren Tagen erwacht aber nach der langen Nacht des Mittelalters der Sinn für das klassische Altertum wieder. Wir können deshalb hoffen, daß auch die Bildung der zivilisierten Nationen der Neuzeit, besonders die Bildung der germanischen Völker, schließlich zu der höheren Einheit von Natur und Kultur gelangen wird, von welcher Rousseau nichts ahnte. So hat Kant die pessimistischen Stimmungen verscheucht, die ihn auf der Höhe der spekulativen Weltbetrachtung anwandelten, seit ihm die Wahrheit und der Irrtum der Rousseauschen Ideen, die Zu st immung zu dem Emile und der Widerspruch gegen den seI ben eine neue Perspektive für die Auffassung der Geschichte eröffnet{S. 13 f.) ... Die Stellung, welche Kant in dem unscheinbaren Essai von 1764 zu den Fragen des sozialen Lebens einnimmt, hat er nie wieder verlassen, Rousseau hat Kant angezogen, aber nur, um ihn wieder abzustoßen; in diesem Spiel der Anziehung und Abstoßung, das sich zwischen dem deutschen Philosophen und dem geistVOllen literarischen Vorläufer der Französischen Revolution entwickelt, hat jener sich selbst gefunden und ist der Begründer der Ethik geworden, auf deren Grundsätzen unsere gesunde deutsche Staatenentwicklung zu einem großen Teil beruht (S. 16). Charakteristisch für diese Interpretation ist nun, daß alle weitere ethische Entwicklung Kants im Prinzip lediglich als Entfaltung des in der Abhandlung gewonnenen Standpunktes aufgefaßt wird: der Philosoph zergliedere aus seiner kulturgeschichtlichen Fragestellung heraus in den 'Zusätzen', die er zu den Beobachtungen mache der Verfasser verlegt sie in den Zeitraum von 1765-75 -, restlos die mannigfachen Gefühle und Triebe der Menschen, um sie auf ihre einfachen Grundelemente zurückzuführen, wozu aber die Ansätze schon in den Beobachtungen selbst zu erkennen seien. Dabei erschienen ihm jetzt verschiedene Tatsachen unseres Bewußtseins, die er 1764 als ursprünglich betrachtet hatte, nun als zusammengesetzt ... Im Laufe seiner fortgesetzten Untersuchungen sei in ihm die Überzeugung entstanden, daß das ideale Wertgefühl des Menschen, so wesentlich es auch sein mag, in letzter Linie doch noch etwas Abgeleitetes sei. Dabei sei ihm die grundlegende Funktion des In tel lek te s bei der Ausbildung dieser Gefühle immer mehr klar geworden; den Zusammenhang der feineren Gefühle mit den intellektuellen Fähigkeiten habe er ja schon in den Beobachtungen betont, ebenso auch, daß die höhere Form des sittlichen Gefühls die Erwei-

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terung und Verallgemeinerung einer niederen Form darstelle, welche von seiten des vernünftigen, allgemeine Grundsätze bildenden Denkens ausgehe. Es sei also kein weiter Schritt mehr gewesen zu der Ansicht, daß das spezifische menschliche Gefühl nicht bloß in seiner höheren Entwicklung, sondern in seinem ganzen Dasein durch das Denken bestimmt wird, so daß es von Haus aus als ein in te 1lektuelles Lustgefühl zu betrachten ist. Der Philosoph brauchte also nur das, was er in den Beobachtungen ausgesprochen, in seine Gründe und Konsequenzen zu verfolgen. Von 1770 an lasse sich dieser entschiedene Umschwung in der Kantischen Auffassung des Verhältnisses von sittlichem Gefühl und Intellekt deutlich beobachten, nachdem einige Zeit des Schwankens vorausgegangen. Als Beleg dafür führt der Verfasser nebeneinander den Schlußsatz der Preisschrift, ein Fragment aus den Bemerkungen (XX,26,I), die moralphilosophische Hauptstelle der Dissertation von 1770 und einen Brief an Herz aus dem Jahre 1773 an, also Zeugnisse, die sich auf einen mehr als zehnjährigen Zeitraum verteilen (S. 27 f.). In den großen Linien folgen Menzer und Schilpp und bis zu einem gewissen Grad auch K I. Re ich in seiner gedrängten Abhandlung'Rousseau und Kant' sowohl in der Auffassung der Beobachtungen selbst wie auch in der Deutung der nachfolgenden Entwicklung durchaus diesem von Dieterich vorgezeichneten Schema. Auch nach Menzer stellen die Beobachtungen bereits die entscheidende Auseinandersetzung mit Rousseaus Emile dar: der Traktat zeige, daß Kant mit einem richtigeren historischen Blick als jener die Entwicklung des menschlichen Geschlechtes beurteile. Im Schlußabschnitt, wo er betone, daß t rot z R 0 u s s e au das Geheimnis der Erziehung noch nicht entdeckt sei, gebe er gleichzeitig einen Überblick über die bisherige Geschichte der Menschheit, in dem er die eigene Epoche nicht als eine solche des Verfalls, sondern des Fortschrittes zum Besseren darstelle, während sie nach jenem den Beweis für die Schädlichkeit der Kulturentwicklung erbringe. In diesem Sinn versteht der Verfasser auch die Kantischen 'Bemerkungen': aus ihnen gehe hervor, daß er dem Zustand der Üppigkeit eine Daseinsberechtigung einräume gegenüber dem der Natur, indem er zeige, wie neben den unleugbaren Nachteilen sich auch b e d e u t end e Vor teil e in ihm geltend machten. Gerade die fanatische Bekämpfung Rousseaus gegen die Wissenschaften mußten ihn zurückstoßen; wenn er auch einsah, daß die alleinige Schätzung derselben nicht die Ehre der Menschheit ausmache, so habe er doch ihre völlige Verwerfung niemals zugeben können. Sein eigener wissenschaftlicher Drang und seine ganze bisherige Entwicklung mußte laut gegen eine solche Auffassung protestieren. Weil er eine Forschernatur war, mußte er diesen Standpunkt bald überwinden. Das Ideal Rousseaus habe seinen eigenen anthropologischen Forschungen, deren Niederschlag wir im IV. Abschnitt der Beobachtungen vor uns haben, nicht standgehalten.

Rousseau habe den Anstoß zu solchen Untersuchungen gegeben, die dann ihrerseits zu seiner Widerlegung führten. Seine Untersuchung über das wahre Wesen der Tugend im Traktat zeigten, welch feine Gefühle und daher auch welche Kultur des Gefühls Wesensvoraussetzung für die wahre Tugend sind, die aber dem natürlichen Menschen, der mehr aus Instinkt als aus sittlichen Motiven handelt, völlig fremd waren, ganz abgesehen davon, daß der moralische Wert erst im Kampf gegen die Versuchungen hervortrete, die im Naturzustand ebenfalls fehlten. Das habe Kant in Gegensatz zu Rousseau bringen müssen. Schon damals habe er mehr oder weniger bewußt eine imperativistische Ethik angestrebt. Wenn er sich auch einige Zeit mit Rousseau in den Träumen von der sittlichen Güte der Menschennatur verloren habe, so hätten ihn doch die eigene Erfahrung und die religiösen Motive seiner Erziehung immer wieder darauf hingewiesen, daß der Mensch erst durch den Kampf gegen das Sinnliche wahrhaft sittlich werden kann 19. In der Linie dieser Auffassung der Beobachtungen liegt nun durchaus auch Menzers Interpretation der Kantischen Veröffentlichungen um 1765 und der 'Bemerkungen' zu den Beobachtungen. Die ersteren bringen nach seiner Auffassung keine für die Entwicklung wesentlich neuen und entscheidenden Momente: das Vorlesungsprogramm von 1765 zeige, daß er die ps y ch 0 10 gi s che M etho de der Engländer und Rousseaus akzeptiert habe und daß er eine normative Ehtik nur auf einer 'Psychologischen Grundlage für möglich halte; zugleich aber auch, daß er die Versuche der Engländer ergänzen wolle und daß er diese Ergänzung vermutlich in einer stärkeren Betonung der Vernunft für das Entstehen des sittlichen Urteils und der darauf aufbauenden sittlichen Grundsätze gesehen habe. Auch die Träume eines Geistersehers enthalten nach ihm eigentlich nur die Konsequenzen seines von den Engländern und Rousseau übernommenen Grundsatzes von dem unauflöslichen Gefühl des Guten, besonders hinsichtlich der Motivierung des sittlichen Tuns unabhängig von jenseitigen Hoffnungen (so sehr, daß diese selbst erst ihre Sicherheit gewinnen durch die reine sittliche Motivierung), abgesehen von einem in t e res san t e n Ver s u c h, das alte Problem der Verbindlichkeit auf eine neue Weise zu lösen, indem er sie in Anknüpfung an Hutcheson abzuleiten suche aus einer Art gei s ti ger G r a v i tat ion der denkenden Naturen zueinander. Wenn nun die se ganze Erklärung auch nur ein Phantasiegebilde sei, von dem er sich zudem ausdrücklich losgesagt (in seinem Brief an Mendelssohn vom 8.4.66), so zeige sie doch, daß er sich wieder mit diesem Problem beschäftigte, ohne freilich in den sechziger Jahren schon eine Lösung zu finden. In den 'Bemerkungen' aber sieht Menzer die Art und Weise angedeutet, wie Kant in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts immer weiter von der gefühlsmäßigen Begründung der Sittlichkeit nach 19) Menzer, Entwicklungsgang, K-St.IIl, S.42 ff.

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terung und Verallgemeinerung einer niederen Form darstelle, welche von seiten des vernünftigen, allgemeine Grundsätze bildenden Denkens ausgehe. Es sei also kein weiter Schritt mehr gewesen zu der Ansicht, daß das spezifische menschliche Gefühl nicht bloß in seiner höheren Entwicklung, sondern in seinem ganzen Dasein durch das Denken bestimmt wird, so daß es von Haus aus als ein in te 1lektuelles Lustgefühl zu betrachten ist. Der Philosoph brauchte also nur das, was er in den Beobachtungen ausgesprochen, in seine Gründe und Konsequenzen zu verfolgen. Von 1770 an lasse sich dieser entschiedene Umschwung in der Kantischen Auffassung des Verhältnisses von sittlichem Gefühl und Intellekt deutlich beobachten, nachdem einige Zeit des Schwankens vorausgegangen. Als Beleg dafür führt der Verfasser nebeneinander den Schlußsatz der Preisschrift, ein Fragment aus den Bemerkungen (XX,26,I), die moralphilosophische Hauptstelle der Dissertation von 1770 und einen Brief an Herz aus dem Jahre 1773 an, also Zeugnisse, die sich auf einen mehr als zehnjährigen Zeitraum verteilen (S. 27 f.). In den großen Linien folgen Menzer und Schilpp und bis zu einem gewissen Grad auch K I. Re ich in seiner gedrängten Abhandlung'Rousseau und Kant' sowohl in der Auffassung der Beobachtungen selbst wie auch in der Deutung der nachfolgenden Entwicklung durchaus diesem von Dieterich vorgezeichneten Schema. Auch nach Menzer stellen die Beobachtungen bereits die entscheidende Auseinandersetzung mit Rousseaus Emile dar: der Traktat zeige, daß Kant mit einem richtigeren historischen Blick als jener die Entwicklung des menschlichen Geschlechtes beurteile. Im Schlußabschnitt, wo er betone, daß t rot z R 0 u s s e au das Geheimnis der Erziehung noch nicht entdeckt sei, gebe er gleichzeitig einen Überblick über die bisherige Geschichte der Menschheit, in dem er die eigene Epoche nicht als eine solche des Verfalls, sondern des Fortschrittes zum Besseren darstelle, während sie nach jenem den Beweis für die Schädlichkeit der Kulturentwicklung erbringe. In diesem Sinn versteht der Verfasser auch die Kantischen 'Bemerkungen': aus ihnen gehe hervor, daß er dem Zustand der Üppigkeit eine Daseinsberechtigung einräume gegenüber dem der Natur, indem er zeige, wie neben den unleugbaren Nachteilen sich auch b e d e u t end e Vor teil e in ihm geltend machten. Gerade die fanatische Bekämpfung Rousseaus gegen die Wissenschaften mußten ihn zurückstoßen; wenn er auch einsah, daß die alleinige Schätzung derselben nicht die Ehre der Menschheit ausmache, so habe er doch ihre völlige Verwerfung niemals zugeben können. Sein eigener wissenschaftlicher Drang und seine ganze bisherige Entwicklung mußte laut gegen eine solche Auffassung protestieren. Weil er eine Forschernatur war, mußte er diesen Standpunkt bald überwinden. Das Ideal Rousseaus habe seinen eigenen anthropologischen Forschungen, deren Niederschlag wir im IV. Abschnitt der Beobachtungen vor uns haben, nicht standgehalten.

Rousseau habe den Anstoß zu solchen Untersuchungen gegeben, die dann ihrerseits zu seiner Widerlegung führten. Seine Untersuchung über das wahre Wesen der Tugend im Traktat zeigten, welch feine Gefühle und daher auch welche Kultur des Gefühls Wesensvoraussetzung für die wahre Tugend sind, die aber dem natürlichen Menschen, der mehr aus Instinkt als aus sittlichen Motiven handelt, völlig fremd waren, ganz abgesehen davon, daß der moralische Wert erst im Kampf gegen die Versuchungen hervortrete, die im Naturzustand ebenfalls fehlten. Das habe Kant in Gegensatz zu Rousseau bringen müssen. Schon damals habe er mehr oder weniger bewußt eine imperativistische Ethik angestrebt. Wenn er sich auch einige Zeit mit Rousseau in den Träumen von der sittlichen Güte der Menschennatur verloren habe, so hätten ihn doch die eigene Erfahrung und die religiösen Motive seiner Erziehung immer wieder darauf hingewiesen, daß der Mensch erst durch den Kampf gegen das Sinnliche wahrhaft sittlich werden kann 19. In der Linie dieser Auffassung der Beobachtungen liegt nun durchaus auch Menzers Interpretation der Kantischen Veröffentlichungen um 1765 und der 'Bemerkungen' zu den Beobachtungen. Die ersteren bringen nach seiner Auffassung keine für die Entwicklung wesentlich neuen und entscheidenden Momente: das Vorlesungsprogramm von 1765 zeige, daß er die ps y ch 0 10 gi s che M etho de der Engländer und Rousseaus akzeptiert habe und daß er eine normative Ehtik nur auf einer 'Psychologischen Grundlage für möglich halte; zugleich aber auch, daß er die Versuche der Engländer ergänzen wolle und daß er diese Ergänzung vermutlich in einer stärkeren Betonung der Vernunft für das Entstehen des sittlichen Urteils und der darauf aufbauenden sittlichen Grundsätze gesehen habe. Auch die Träume eines Geistersehers enthalten nach ihm eigentlich nur die Konsequenzen seines von den Engländern und Rousseau übernommenen Grundsatzes von dem unauflöslichen Gefühl des Guten, besonders hinsichtlich der Motivierung des sittlichen Tuns unabhängig von jenseitigen Hoffnungen (so sehr, daß diese selbst erst ihre Sicherheit gewinnen durch die reine sittliche Motivierung), abgesehen von einem in t e res san t e n Ver s u c h, das alte Problem der Verbindlichkeit auf eine neue Weise zu lösen, indem er sie in Anknüpfung an Hutcheson abzuleiten suche aus einer Art gei s ti ger G r a v i tat ion der denkenden Naturen zueinander. Wenn nun die se ganze Erklärung auch nur ein Phantasiegebilde sei, von dem er sich zudem ausdrücklich losgesagt (in seinem Brief an Mendelssohn vom 8.4.66), so zeige sie doch, daß er sich wieder mit diesem Problem beschäftigte, ohne freilich in den sechziger Jahren schon eine Lösung zu finden. In den 'Bemerkungen' aber sieht Menzer die Art und Weise angedeutet, wie Kant in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts immer weiter von der gefühlsmäßigen Begründung der Sittlichkeit nach 19) Menzer, Entwicklungsgang, K-St.IIl, S.42 ff.

134 dem Muster der Engländer und Rousseaus abrückte und immer mehr zu einer rat ional e n Beg rü nd un g derselben durchstieß. die uns in ihrer vollen Gestalt in der Dissertation des Jahres 1770 entgegentrete. So findet er in diesen Reflexionen ausgedrückt. daß ihn zur Zeit ihrer Niederschrift lebhafte Z w e i f eierfaßt hatten gegen das von den Engländern behauptete Vorhandensein des moralischen Gefühls in jedem Menschen. Hand in Hand mit dieser wachsenden Skepsis gegen das moralische Gefühl gehe einerseits die teilweise Wiedereinführung der religiösen Sanktion der sittlichen Gebote. die jetzt wenigstens für die schwerer zu erfüllenden wieder als notwendig erachtet wird. andererseits aber die stärkere Betonung des pe rsönlichen Moments für das sittliche Handeln: des Rechtes des Individuums. aber auch seiner Pflicht. selber Urheber seiner Sittlichkeit zu sein. Auch Klo Reich geht in semer gedrängten Skizze 'Rousseau und Kant' von der Voraussetzung aus. daß die Schriften der Jahre 1764-66 (neben den 'Beobachtungen' vor allem die 'Träume eines Geistersehers ') der Beschäftigung mit dem E m i l e einen großen Teil ihres Inhalts verdanken. Aber auch in den 'Bemerkungen'. die zumeist aus der Zeit kurz nach dem Erscheinen des Werkchens (1764) stammen. uns einiges von Kants frühester Auseinandersetzung mit 'Rousseaus Buch' erhalten. Sie zeigen, daß die Lektüre des letzteren in ihm eine Revolution hervorgebracht hat. Worauf sich diese erstreckte. erfahren wir nach dem Verfasser in der Vorlesungsankündigung von 1765: nämlich daß er die von Rousseau im Emile gehandhabte Methode in der Tu gen dIe h r e übernommen habe. Im Hinblick auf die allgemeine praktische Weltweisheit. d. h. die moralphilosophische Prinzipienlehre • jedoch berufe er sich hier nicht auf Rousseau. sondern auf die Engländer. deren Versuchen er jene Präzision und Ergänzung geben wolle. die ihnen noch mangle. Daraus leitet Reich seine These ab. daß Kant in dieser Epoche der Auseinandersetzung mit Rousseau das Gebiet der Moralphilosophie, auf dem er von ihm lernen konnte. für beschränkt gehalten hat. Belehren lasse er sich von ihm in der Tugendlehre , soweit sie von der Erkenntnis der Natur des Menschen abhängig ist. d. h. in der moralischen Anthropologie. aber als einen Lehrer 'in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit' sehe er.ihn nicht an. Hier teile vielmehr der junge Kant mit Rousseau die ShaftesburyHutchesonsche Lehre von dem ersten Grund der Sittlichkeit. nämlich ihre 'Lehre vom moralischen Gefühl und dem ihm zuzurechnenden Prinzip der Teilnahme an der Glückseligkeit anderer'. Sie lehnen also in der moralischen Anthropologie Shaftesburys Kulturmoralismus ab. folgen ihm aber in seiner Theorie der Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit. Im Prinzip entscheidet sich auch Sc h i l p p für diese Auffassung der Beobachtungen (daß sie nämlich bereits das Ergebnis der Aus-

135 einandersetzung mit dem Emile sind). wenn er auch diese These wesentlich vorsichtiger vertritt und sie daher im einzelnen zu be g r ü n den sucht. Er ist der Überzeugung. daß der wirklich starke Einfluß Rousseaus (der doch offenbar vom Emile ausging) sich bei Kant schon bald nach Vollendung des Versuchs über die Negativen Größen (spätestens Mai 1763) geltend machte und daß um die Zeit. da er die Beobachtungen zum Abschluß brachte. jene große Sinnesänderung über ihn gekommen sei. von der er in jenem berühmten Fragment der Bemerkungen berichtet; denn mit diesem letzteren beziehe er sich deutlich auf eine Stelle des 'Versuches'. in der er seiner Verachtung des 'Pöbels' Ausdruck gegeben. Die Beobachtungen enthielten nicht nur die erste ausdrückliche Bezugnahme Kants auf Rousseau, sondern nicht wenige Stellen, an denen dessen Einfluß mehr oder weniger deutlich feststellbar sei: so wenn er den Grundsatz des Wohlwollens gegen a 11 e Menschen aufstelle, dem alle Handlungen unterzuordnen seien. oder wenn er immer wieder von der W ü r d e des Menschen bzw. der menschlichen Natur spreche. oder bemerke, daß wir niemals in Widerspruch zum guten Geschmack kämen. wenn wir uns der Natur gemäß verhielten. wohl aber. wenn wir die natürliche Ordnung umzukehren versuchten. Auch sein Hinweis auf das noch unentdeckte Geheimnis der Erz i e h u n g im letzten Satz der Bemerkungen könne nicht als Grund angeführt werden, daß er damals den Emile noch nicht näher gekannt habe; er spreche eher für die gegenteilige Annahme. weil seine Anerkennung des Problems der Erziehung sich gerade daraus erkläre, daß der Emile bereits seinen Eindruck auf ihn gemacht habe (8.46 f.). Im ganzen und großen kommt dann auch Schilpp in seinen Analysen der 'Bemerkungen' und der Veröffentlichungen des Jahres 1765 zu durchaus ähnlichen Ergebnissen wie Menzer. soviel sich auch ihre Interpretation im einzelnen voneinander unterscheiden mag. Nach ihm beweist die innere und äußere Evidenz der Bemerkungen, daß Kant im Grunde noch dieselbe verständnisvolle, aber doch zurückhaltende Auffassung hinsichtlich Rousseaus 'natürlichem Mensehen' und des moralischen Sinnes der Briten vertrat. die wir in den Beobachtungen antrafen. Aber er sehe 8 eh wie r i g k e i t e n und sei überzeugt von der Unmöglichkeit, sich einen der beiden Standpunkte zu eigen zu machen. Das Fragment spiegle einen Zu s t a n d des Zweifels und der Unsicherheit wider und sei weit davon entfernt, irgend welche Formulierung des ethischen Problems oder auch nur das klare Bewußtsein von seiner spezifischen Natur zum Ausdruck zu bringen. Aber was soll man schließlich von solchen wahllos hingeschriebenen Randbemerkungen diesbezüglich auch erwarten können? So wendet sich der Verfasser gegen die These Menzers. Kant sei in den Bemerkungen zur Überzeugung gelangt, daß das moralische Gefühl keine tragfähige Grundlage einer allgemein gültigen ethischen Theorie abgeben könne, und Sich daher einer

134 dem Muster der Engländer und Rousseaus abrückte und immer mehr zu einer rat ional e n Beg rü nd un g derselben durchstieß. die uns in ihrer vollen Gestalt in der Dissertation des Jahres 1770 entgegentrete. So findet er in diesen Reflexionen ausgedrückt. daß ihn zur Zeit ihrer Niederschrift lebhafte Z w e i f eierfaßt hatten gegen das von den Engländern behauptete Vorhandensein des moralischen Gefühls in jedem Menschen. Hand in Hand mit dieser wachsenden Skepsis gegen das moralische Gefühl gehe einerseits die teilweise Wiedereinführung der religiösen Sanktion der sittlichen Gebote. die jetzt wenigstens für die schwerer zu erfüllenden wieder als notwendig erachtet wird. andererseits aber die stärkere Betonung des pe rsönlichen Moments für das sittliche Handeln: des Rechtes des Individuums. aber auch seiner Pflicht. selber Urheber seiner Sittlichkeit zu sein. Auch Klo Reich geht in semer gedrängten Skizze 'Rousseau und Kant' von der Voraussetzung aus. daß die Schriften der Jahre 1764-66 (neben den 'Beobachtungen' vor allem die 'Träume eines Geistersehers ') der Beschäftigung mit dem E m i l e einen großen Teil ihres Inhalts verdanken. Aber auch in den 'Bemerkungen'. die zumeist aus der Zeit kurz nach dem Erscheinen des Werkchens (1764) stammen. uns einiges von Kants frühester Auseinandersetzung mit 'Rousseaus Buch' erhalten. Sie zeigen, daß die Lektüre des letzteren in ihm eine Revolution hervorgebracht hat. Worauf sich diese erstreckte. erfahren wir nach dem Verfasser in der Vorlesungsankündigung von 1765: nämlich daß er die von Rousseau im Emile gehandhabte Methode in der Tu gen dIe h r e übernommen habe. Im Hinblick auf die allgemeine praktische Weltweisheit. d. h. die moralphilosophische Prinzipienlehre • jedoch berufe er sich hier nicht auf Rousseau. sondern auf die Engländer. deren Versuchen er jene Präzision und Ergänzung geben wolle. die ihnen noch mangle. Daraus leitet Reich seine These ab. daß Kant in dieser Epoche der Auseinandersetzung mit Rousseau das Gebiet der Moralphilosophie, auf dem er von ihm lernen konnte. für beschränkt gehalten hat. Belehren lasse er sich von ihm in der Tugendlehre , soweit sie von der Erkenntnis der Natur des Menschen abhängig ist. d. h. in der moralischen Anthropologie. aber als einen Lehrer 'in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit' sehe er.ihn nicht an. Hier teile vielmehr der junge Kant mit Rousseau die ShaftesburyHutchesonsche Lehre von dem ersten Grund der Sittlichkeit. nämlich ihre 'Lehre vom moralischen Gefühl und dem ihm zuzurechnenden Prinzip der Teilnahme an der Glückseligkeit anderer'. Sie lehnen also in der moralischen Anthropologie Shaftesburys Kulturmoralismus ab. folgen ihm aber in seiner Theorie der Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit. Im Prinzip entscheidet sich auch Sc h i l p p für diese Auffassung der Beobachtungen (daß sie nämlich bereits das Ergebnis der Aus-

135 einandersetzung mit dem Emile sind). wenn er auch diese These wesentlich vorsichtiger vertritt und sie daher im einzelnen zu be g r ü n den sucht. Er ist der Überzeugung. daß der wirklich starke Einfluß Rousseaus (der doch offenbar vom Emile ausging) sich bei Kant schon bald nach Vollendung des Versuchs über die Negativen Größen (spätestens Mai 1763) geltend machte und daß um die Zeit. da er die Beobachtungen zum Abschluß brachte. jene große Sinnesänderung über ihn gekommen sei. von der er in jenem berühmten Fragment der Bemerkungen berichtet; denn mit diesem letzteren beziehe er sich deutlich auf eine Stelle des 'Versuches'. in der er seiner Verachtung des 'Pöbels' Ausdruck gegeben. Die Beobachtungen enthielten nicht nur die erste ausdrückliche Bezugnahme Kants auf Rousseau, sondern nicht wenige Stellen, an denen dessen Einfluß mehr oder weniger deutlich feststellbar sei: so wenn er den Grundsatz des Wohlwollens gegen a 11 e Menschen aufstelle, dem alle Handlungen unterzuordnen seien. oder wenn er immer wieder von der W ü r d e des Menschen bzw. der menschlichen Natur spreche. oder bemerke, daß wir niemals in Widerspruch zum guten Geschmack kämen. wenn wir uns der Natur gemäß verhielten. wohl aber. wenn wir die natürliche Ordnung umzukehren versuchten. Auch sein Hinweis auf das noch unentdeckte Geheimnis der Erz i e h u n g im letzten Satz der Bemerkungen könne nicht als Grund angeführt werden, daß er damals den Emile noch nicht näher gekannt habe; er spreche eher für die gegenteilige Annahme. weil seine Anerkennung des Problems der Erziehung sich gerade daraus erkläre, daß der Emile bereits seinen Eindruck auf ihn gemacht habe (8.46 f.). Im ganzen und großen kommt dann auch Schilpp in seinen Analysen der 'Bemerkungen' und der Veröffentlichungen des Jahres 1765 zu durchaus ähnlichen Ergebnissen wie Menzer. soviel sich auch ihre Interpretation im einzelnen voneinander unterscheiden mag. Nach ihm beweist die innere und äußere Evidenz der Bemerkungen, daß Kant im Grunde noch dieselbe verständnisvolle, aber doch zurückhaltende Auffassung hinsichtlich Rousseaus 'natürlichem Mensehen' und des moralischen Sinnes der Briten vertrat. die wir in den Beobachtungen antrafen. Aber er sehe 8 eh wie r i g k e i t e n und sei überzeugt von der Unmöglichkeit, sich einen der beiden Standpunkte zu eigen zu machen. Das Fragment spiegle einen Zu s t a n d des Zweifels und der Unsicherheit wider und sei weit davon entfernt, irgend welche Formulierung des ethischen Problems oder auch nur das klare Bewußtsein von seiner spezifischen Natur zum Ausdruck zu bringen. Aber was soll man schließlich von solchen wahllos hingeschriebenen Randbemerkungen diesbezüglich auch erwarten können? So wendet sich der Verfasser gegen die These Menzers. Kant sei in den Bemerkungen zur Überzeugung gelangt, daß das moralische Gefühl keine tragfähige Grundlage einer allgemein gültigen ethischen Theorie abgeben könne, und Sich daher einer

136 Begründung der Ehtik durch Vernunft zugewandt habe. Denn das stehe in Widerspruch mit der Anerkennung der Leistung der Engländer in der Vorlesungs ankündigung von 1765 (S. 74). Auch diese letztere bringt nach seiner Überzeugung nichts wesentlich Neues gegenüber dem, was Kant bereits vorher gesagt hatte: sie enthalte weder eine Abwendung von den Engländern und Rousseau noch eine unkritische Übernahme ihres Standpunktes. Da es dje Ethik mit dem menschlichen Verhalten zu tun hat, werde hier mit Recht für sie eine re ali s t i sc h e Fundierung verlangt und die e m pi r i sc h e Methode als ein wichtiger Faktor für die Bestimmung der wesentlichen Natur des Menschen betrachtet. So bringe die Nachricht nichts deutlich Neues für unser Verständnis der Entwicklung seines ethischen Gedankens, wohl aber, so meint Schiipp, einen neuen dokumentarischen Beweis für die Richtigkeit der eigenen vorausgehenden Interpretation. Auch in seinen Analysen der Träume eines Geistersehers kommt er zu ähnlichen abschließenden Ergebnissen wie Menzer: "Es würde bedeuten, mehr in die 'Träume' hineinzulesen als ihr tatsächlicher Inhalt verbürgt, wollte man sagen, die Abhandlung gelange zu einer klaren und überlegten Darstellung eines neuen ethischen Standpunktes. Kant findet weiterhin in der Moralität eine wichtige Rolle für die Gefühle (for the feelings); der Mensch hat unmittelbare moralische Vorschriften, aber sie sind im Herzen (S. 86). Aber das sei nicht das eigentlich Bedeutsame der Abhandlung; dieses bestehe in der Andeutung von neuartigen Ideen, die von großem Interesse seien und bedeutsam in die Zukunft wiesen, indem sie bereits ahnen ließen, was Kant in den folgenden Jahren mehr im einzelnen herausarbeiten würde. Das gelte besonders für die Auffassung der Moralität 'as essentially a process of transition by rational reflection' (S. 88). Aus der Interpretation dieser Autoren wird deutlich, von welcher Tragweite die Beantwortung der obigen Frage ist, ob die Beobachtungen bereits als das Erg e b n i s der Aus ein a n der set zu n g K a nt s mit R 0 u s se au, speziell dessen Emile, zu betrachten sind oder nicht. Wir stehen hier ohne Zweifel wiederum an einer der entscheidenden 'Weichenstellen' der gesamten Interpretation der vorkritischen Ethik, und wir sind überzeugt, daß die genannten Forscher durch ihre mehr oder wp.niger unkritische Annahme der ersten Alternative sich den Zugang zur zweiten grundlegenden Entwicklungsphase der Ehtik Kants im Prinzip verschlossen haben. Denn diese letztere ist bestimmt und geprägt durch den Ein f1 u ß R 0 u s se aus, der viel weiter reicht als die traditionelle Auffassung voraussetzt. Zeugnisse dieses tiefgreifenden Einflusses sind alle Veröffentlichungen Kants na c h den Beobachtungen, darunter vor allem die Vorlesungsnachricht von 1765 und die Träume eines Geiste.:sehers und last not least eben die Bemerkungen zur Abhandlung 'Uber das Gefühl des Schönen und Erhabenen'. Gerade die letzteren sind

137 in ihrer uns heute zugänglichen integralen Textgestalt ein unüberwindlicher Beweis für die elementare Einwirkung Rousseaus aufKant und die Bedeutung, die dieser für die zweite Entwicklungsphase der ethischen Prinzipienlehre des letzteren zukommt. Jene obige Interpretation, die in den Schriften von 1765 und in den Bemerkungen keinen wesentlichen Entwicklungsfortschritt über die Beobachtungen hinaus feststellen z.u können glaubte, wäre u. E. nicht möglich gewesen. wenn ihren Autoren der unverkürzte Text der Bemerkungen vorgelegen hätte. Bei der Textgestalt aber, auf die sie angewiesen waren, die selbst auf eine willkürliche Auswahl und zum Teil auf willkürliche Ergünzungen der Texte zurückging, sowie bei dem allgemeinen Charakter solcher Kollektionen von nicht unmittelbar zusammenhängenden Bemerkungen konnte jeder Autor durch entsprechende abermalige Auswahl und Akzentverteilung sich leicht jeweils die eigene Auffassung durch die Quelle bestätigen lassen. Dann aber war es auch nicht mehr schwer, das grundsätzlich Neue, das in den Veröffentlichungen des Zeitraums mehr angedeutet als ausgesprochen wird, zu übersehen, womit folgerichtig der Übergang zum Standpunkt der Dissertation von 1770 völlig rätselhaft werden mußte. Wir uns also zunächst eingehender mit der genannten grundlegenden Frage befassen, die wir als entscheidende Weichenstelle der Interpretation gekennzeichnet haben. Fürs erste kann nun nicht in Abrede gestellt werden, daß manche der Gründe Schilpps, besonders wenn man sie etwas weiter verfolgt, alles in allem genommen, doch ein ni c h t z u u n t e r s c h ätz end e s Ge w ich t haben. Das ist vor allem der ausdrückliche Hinweis auf Rousseau im Rahmen einer Anmerkung des IV. Abschnittes, in der er sich mit der Rolle des weiblichen Geschlechtes in den Gesellschaften, besonders in den Gesellschaften nach französischem Geschmack befaßt, wo sich alles um die Dame dreht, und dabei betont, daß durch solch galantes Getändel das Frauenzimmer deswegen durchaus nicht mehr geehrt würde. Dann fährt er fort: "Ich möchte wohl, um wer weiß wie viel, dasjenige nicht gesagt haben, was R 0 u s s e au so verwegen behauptet: daß ein Fra u e n z i m m e r n i e mal s e t was mehr als ein großes Kind werde. Allein der scharfsichtige Schweizer schrieb dieses in Frankreich, und vermutlich empfand er es als ein so großer Verteidiger des schönen Geschlechts mit Entrüstung, daß man demselben nicht mit mehr wirklicher Achtung daselbst begegnet". Kant spielt hier offenbar auf eine Stelle zu Beginn des IV. Buches des Emile an 20. Und die ga n z e Art, wie er hier Rousseau einführt: der scharfsinnige Schweizer, der große Verteidiger des schönen Geschlechtes, der sich entrüstet, daß man 20) Les ma:les en qui l'on le developpement ult&ieur du sexe gardent cette conformite toute leur vie ö ils sont toujours de grands enfans. et les fernmes. ne perdant point cette meme conformire. semblent. bien des egards. ne jamais etre autre chose. Emile. 1. Oeuvres (Paris. Lahure 1856) t. 2. p.1.

136 Begründung der Ehtik durch Vernunft zugewandt habe. Denn das stehe in Widerspruch mit der Anerkennung der Leistung der Engländer in der Vorlesungs ankündigung von 1765 (S. 74). Auch diese letztere bringt nach seiner Überzeugung nichts wesentlich Neues gegenüber dem, was Kant bereits vorher gesagt hatte: sie enthalte weder eine Abwendung von den Engländern und Rousseau noch eine unkritische Übernahme ihres Standpunktes. Da es dje Ethik mit dem menschlichen Verhalten zu tun hat, werde hier mit Recht für sie eine re ali s t i sc h e Fundierung verlangt und die e m pi r i sc h e Methode als ein wichtiger Faktor für die Bestimmung der wesentlichen Natur des Menschen betrachtet. So bringe die Nachricht nichts deutlich Neues für unser Verständnis der Entwicklung seines ethischen Gedankens, wohl aber, so meint Schiipp, einen neuen dokumentarischen Beweis für die Richtigkeit der eigenen vorausgehenden Interpretation. Auch in seinen Analysen der Träume eines Geistersehers kommt er zu ähnlichen abschließenden Ergebnissen wie Menzer: "Es würde bedeuten, mehr in die 'Träume' hineinzulesen als ihr tatsächlicher Inhalt verbürgt, wollte man sagen, die Abhandlung gelange zu einer klaren und überlegten Darstellung eines neuen ethischen Standpunktes. Kant findet weiterhin in der Moralität eine wichtige Rolle für die Gefühle (for the feelings); der Mensch hat unmittelbare moralische Vorschriften, aber sie sind im Herzen (S. 86). Aber das sei nicht das eigentlich Bedeutsame der Abhandlung; dieses bestehe in der Andeutung von neuartigen Ideen, die von großem Interesse seien und bedeutsam in die Zukunft wiesen, indem sie bereits ahnen ließen, was Kant in den folgenden Jahren mehr im einzelnen herausarbeiten würde. Das gelte besonders für die Auffassung der Moralität 'as essentially a process of transition by rational reflection' (S. 88). Aus der Interpretation dieser Autoren wird deutlich, von welcher Tragweite die Beantwortung der obigen Frage ist, ob die Beobachtungen bereits als das Erg e b n i s der Aus ein a n der set zu n g K a nt s mit R 0 u s se au, speziell dessen Emile, zu betrachten sind oder nicht. Wir stehen hier ohne Zweifel wiederum an einer der entscheidenden 'Weichenstellen' der gesamten Interpretation der vorkritischen Ethik, und wir sind überzeugt, daß die genannten Forscher durch ihre mehr oder wp.niger unkritische Annahme der ersten Alternative sich den Zugang zur zweiten grundlegenden Entwicklungsphase der Ehtik Kants im Prinzip verschlossen haben. Denn diese letztere ist bestimmt und geprägt durch den Ein f1 u ß R 0 u s se aus, der viel weiter reicht als die traditionelle Auffassung voraussetzt. Zeugnisse dieses tiefgreifenden Einflusses sind alle Veröffentlichungen Kants na c h den Beobachtungen, darunter vor allem die Vorlesungsnachricht von 1765 und die Träume eines Geiste.:sehers und last not least eben die Bemerkungen zur Abhandlung 'Uber das Gefühl des Schönen und Erhabenen'. Gerade die letzteren sind

137 in ihrer uns heute zugänglichen integralen Textgestalt ein unüberwindlicher Beweis für die elementare Einwirkung Rousseaus aufKant und die Bedeutung, die dieser für die zweite Entwicklungsphase der ethischen Prinzipienlehre des letzteren zukommt. Jene obige Interpretation, die in den Schriften von 1765 und in den Bemerkungen keinen wesentlichen Entwicklungsfortschritt über die Beobachtungen hinaus feststellen z.u können glaubte, wäre u. E. nicht möglich gewesen. wenn ihren Autoren der unverkürzte Text der Bemerkungen vorgelegen hätte. Bei der Textgestalt aber, auf die sie angewiesen waren, die selbst auf eine willkürliche Auswahl und zum Teil auf willkürliche Ergünzungen der Texte zurückging, sowie bei dem allgemeinen Charakter solcher Kollektionen von nicht unmittelbar zusammenhängenden Bemerkungen konnte jeder Autor durch entsprechende abermalige Auswahl und Akzentverteilung sich leicht jeweils die eigene Auffassung durch die Quelle bestätigen lassen. Dann aber war es auch nicht mehr schwer, das grundsätzlich Neue, das in den Veröffentlichungen des Zeitraums mehr angedeutet als ausgesprochen wird, zu übersehen, womit folgerichtig der Übergang zum Standpunkt der Dissertation von 1770 völlig rätselhaft werden mußte. Wir uns also zunächst eingehender mit der genannten grundlegenden Frage befassen, die wir als entscheidende Weichenstelle der Interpretation gekennzeichnet haben. Fürs erste kann nun nicht in Abrede gestellt werden, daß manche der Gründe Schilpps, besonders wenn man sie etwas weiter verfolgt, alles in allem genommen, doch ein ni c h t z u u n t e r s c h ätz end e s Ge w ich t haben. Das ist vor allem der ausdrückliche Hinweis auf Rousseau im Rahmen einer Anmerkung des IV. Abschnittes, in der er sich mit der Rolle des weiblichen Geschlechtes in den Gesellschaften, besonders in den Gesellschaften nach französischem Geschmack befaßt, wo sich alles um die Dame dreht, und dabei betont, daß durch solch galantes Getändel das Frauenzimmer deswegen durchaus nicht mehr geehrt würde. Dann fährt er fort: "Ich möchte wohl, um wer weiß wie viel, dasjenige nicht gesagt haben, was R 0 u s s e au so verwegen behauptet: daß ein Fra u e n z i m m e r n i e mal s e t was mehr als ein großes Kind werde. Allein der scharfsichtige Schweizer schrieb dieses in Frankreich, und vermutlich empfand er es als ein so großer Verteidiger des schönen Geschlechts mit Entrüstung, daß man demselben nicht mit mehr wirklicher Achtung daselbst begegnet". Kant spielt hier offenbar auf eine Stelle zu Beginn des IV. Buches des Emile an 20. Und die ga n z e Art, wie er hier Rousseau einführt: der scharfsinnige Schweizer, der große Verteidiger des schönen Geschlechtes, der sich entrüstet, daß man 20) Les ma:les en qui l'on le developpement ult&ieur du sexe gardent cette conformite toute leur vie ö ils sont toujours de grands enfans. et les fernmes. ne perdant point cette meme conformire. semblent. bien des egards. ne jamais etre autre chose. Emile. 1. Oeuvres (Paris. Lahure 1856) t. 2. p.1.

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demselben in Frankreich so wenig echte Achtung entgegenbringt, scheint eine gewisse Vertrautheit mit dem Emile vorauszusetzen. Was aber Kants Anspielung auf das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung in den Schlußsätzen der Abhandlung angeht, so ist zwar die Begründung Schilpps, daß in der Voraussetzung seiner Bekanntschaft mit dem Emile sich die ziemlich unvermittelte Erwähnung des Problems der Erziehung leichter verstehen lasse, nicht unbedingt überzeugend; merkwürdig dagegen ist, daß wir in der Einleitung zum Emile selber auf eine ähnliche Wendung stoßen: "La de toutes les utilites, qui est l'art de former les hommes, est encore oubliee". Schließlich ist es in der Tat auffallend, daß sich in den Beobachtungen häufiger Gedankengänge finden, die inhaltlich durchaus mit solchen des Emile verwandt sind, und zwar nicht so sehr jene, die Schilpp vorzugsweise aus dem 11. Abschnitt der Abhandlung anführt, nämlich jene, die die Würde der menschlichen Natur betonen 21, soridern vor allem zahlreiche aus dem dritten, in dem Kant über das Verhältnis des Charakters der beiden Geschlechter zueinander handelt. Wir verweisen mit Schilpp auf seine wiederholte Berufung auf das, was in Sachen des Geschmackes der Ordnung der Natur, der Einfalt der Natur gemäß ist bzw. ihr widerspricht 22; ferner daß, was die Geschlechtsverhältnisse betrifft, die Zwecke der Natur darauf hinausgehen, den Mann durch die Geschlechterneigung mehr zu veredeln und das Frauenzimmer noch mehr zu verschönern und daß Eitelkeit und Moden den natürlichen Trieben wohl eine falsche Richtung geben können, daß aber die Natur jeder Zeit zu ihrer Ordnung zurückzuführen suche 23; daß der Streit der Geschlechter welchem der Vorzug vor dem anderen zukomme, gegenstandslos sei: weil die Vollkommenheit beider unvergleichbar und es infolgedessen darauf ankomme, daß jedes seine Art zur größtmöglichen Vollkommenheit bringe, statt der des anderen nachzueifern 24; daß die Frauen durch ihre Reize über das männliche Geschlecht herrschen, aber dadurch, daß sie sich bemühen, es den Männern gleichzutun, ihre spezifisch weiblichen Vorzüge einbüßen und dadurch nicht nur die Macht über die Männer verlieren, sondern diesen auch wirklich unterlegen werden 25 ; daß aus der gesellschaftlichen Verbindung der Geschlechter in der Ehe eine einzige moralische Person entstehe, in der die besonderen Fähigkeiten der Partner einander zugeordnet sind und einander ergänzen 26 ; daß der Inhalt der großen Wissen21) Schilpp o.c. S.47. Alle diese Stellen lassen sich ohne weiteres aus dem Einfluß der Lehren Hutchesons und ihrer philosophischen Verarbeitung durch Kant bzw. ihrer Assimilation durch dessen ethischen Charakter erklären. 22) KGS 11, S. 240, 20; 242, 9-13; 225, 28-31. 23) Ibid. S.241, 10-14. 24) Ibid. S.230, 21-27; 240, 24-241,3; 241, 31-242,13. 25) Ibid. S.229, 27-230,28. 26) Ibid. S.242, 14-30.

schaft des Frauenzimmers der Mensch und unter den Menschen der Mann ist 27; daß die Frauenzimmer schon in der Kindheit gern geputzt sind und sich gefallen, wenn sie geziert sind 28 und ähnliches, wie z. B. die Erwähnung der Jungfer Ninon Lenclos in einem ähnlichen Sinn wie im Emile. Zwar lassen siah manche dieser parallelen Gedankengänge auch aus der bloßen Verwandtschaft oder Gleichheit des Themas erklären und einzelne sind so selbstverständlich, daß man weder ein Kant noch ein Rousseau sein muß, um sie zu entdecken, wie z. B. der Gedanke, auf den sich Schilpp beruft, der im Zusammenhang so lautet: "Ein alter Mann, der verliebt tut, ist ein Geck und die ähnlichen Anmaßungen des anderen Geschlechtes sind alsdann ekelhaft. An der Natur liegt es niemals, wenn wir nicht mit einem guten Anstande erscheinen, sondern daran, daß man sie verkehren will" 29 • Nichtsdestoweniger ist die Häufigkeit der Anklänge so groß, daß sie auf diese Weise nicht befriedigend erklärt werden können. Man muß also in der Tat beim Verfasser der Beobachtungen bereits eine ge w i s s e Ver t rau t he i t mit dem Emile voraussetzen, ebenso auch, daß er zur Gestaltung seines Textes, vor allem im III. Abschnitt der Abhandlung, sich in mancher Hinsicht von diesem Werke anregen ließ. Weiter aber wird man nicht gehen können; vor allem wird man daraus nicht schließen dürfen, daß nun di e Be 0 bach tun gen bereits das Ergebnis der grundSätzlichen Auseinandersetzung Kants mit Rousseau, näherhin dessen Ern i 1 e e nt haI te n. Denn eine eingehendere Untersuchung zeigt deutlich, daß die Beeinflussung und Anregung Kants durch den letzteren hier noch durchaus an der Oberfläche bleibt, daß die Abhandlung noch im wesentlichen unberührt ist von den revolutionierenden Grundideen des Rousseauschen Hauptwerkes. Die Beobachtungen bieten noch den Anblick einer harmonisch in sich abgeschlossenen und in sich ruhenden Welt von einer durchaus optimistischen Grundauffassung sowohl des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, besonders der Rolle des weiblichen, wie auch der Kulturaufgabe der Menschheit und der einzelnen Völker. Nichts von dem Gegensatz zwischen dem Zustand der Natur und dem der Zivilisation und seiner Problematik, durch die alle Darlegungen des Emile letztlich geprägt sind. Wir haben in den 'Beobachtungen', wie die vorher aufgeführten Interpreten mit Recht betonen, eine durchaus andere Auffassung von den Aufgaben und der Bedeutung der Zivilisation, von Kunst und Wissenschaft als Rousseau sie vertritt. Das Fehlen jedes Hinweises auf den Naturzustand wie auch auf das Prinzip und das Wesen der Vergesellschaftung eines Volkes sowie auf die verschiedenen Gesellschaftsformen, wozu sich gerade im IV. Abschnitt, in 27) Ibid. S.230, 28-30. 28) Ibid. S.229, 1-3. 29) Ibid. S,·240, 20-23.

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demselben in Frankreich so wenig echte Achtung entgegenbringt, scheint eine gewisse Vertrautheit mit dem Emile vorauszusetzen. Was aber Kants Anspielung auf das noch unentdeckte Geheimnis der Erziehung in den Schlußsätzen der Abhandlung angeht, so ist zwar die Begründung Schilpps, daß in der Voraussetzung seiner Bekanntschaft mit dem Emile sich die ziemlich unvermittelte Erwähnung des Problems der Erziehung leichter verstehen lasse, nicht unbedingt überzeugend; merkwürdig dagegen ist, daß wir in der Einleitung zum Emile selber auf eine ähnliche Wendung stoßen: "La de toutes les utilites, qui est l'art de former les hommes, est encore oubliee". Schließlich ist es in der Tat auffallend, daß sich in den Beobachtungen häufiger Gedankengänge finden, die inhaltlich durchaus mit solchen des Emile verwandt sind, und zwar nicht so sehr jene, die Schilpp vorzugsweise aus dem 11. Abschnitt der Abhandlung anführt, nämlich jene, die die Würde der menschlichen Natur betonen 21, soridern vor allem zahlreiche aus dem dritten, in dem Kant über das Verhältnis des Charakters der beiden Geschlechter zueinander handelt. Wir verweisen mit Schilpp auf seine wiederholte Berufung auf das, was in Sachen des Geschmackes der Ordnung der Natur, der Einfalt der Natur gemäß ist bzw. ihr widerspricht 22; ferner daß, was die Geschlechtsverhältnisse betrifft, die Zwecke der Natur darauf hinausgehen, den Mann durch die Geschlechterneigung mehr zu veredeln und das Frauenzimmer noch mehr zu verschönern und daß Eitelkeit und Moden den natürlichen Trieben wohl eine falsche Richtung geben können, daß aber die Natur jeder Zeit zu ihrer Ordnung zurückzuführen suche 23; daß der Streit der Geschlechter welchem der Vorzug vor dem anderen zukomme, gegenstandslos sei: weil die Vollkommenheit beider unvergleichbar und es infolgedessen darauf ankomme, daß jedes seine Art zur größtmöglichen Vollkommenheit bringe, statt der des anderen nachzueifern 24; daß die Frauen durch ihre Reize über das männliche Geschlecht herrschen, aber dadurch, daß sie sich bemühen, es den Männern gleichzutun, ihre spezifisch weiblichen Vorzüge einbüßen und dadurch nicht nur die Macht über die Männer verlieren, sondern diesen auch wirklich unterlegen werden 25 ; daß aus der gesellschaftlichen Verbindung der Geschlechter in der Ehe eine einzige moralische Person entstehe, in der die besonderen Fähigkeiten der Partner einander zugeordnet sind und einander ergänzen 26 ; daß der Inhalt der großen Wissen21) Schilpp o.c. S.47. Alle diese Stellen lassen sich ohne weiteres aus dem Einfluß der Lehren Hutchesons und ihrer philosophischen Verarbeitung durch Kant bzw. ihrer Assimilation durch dessen ethischen Charakter erklären. 22) KGS 11, S. 240, 20; 242, 9-13; 225, 28-31. 23) Ibid. S.241, 10-14. 24) Ibid. S.230, 21-27; 240, 24-241,3; 241, 31-242,13. 25) Ibid. S.229, 27-230,28. 26) Ibid. S.242, 14-30.

schaft des Frauenzimmers der Mensch und unter den Menschen der Mann ist 27; daß die Frauenzimmer schon in der Kindheit gern geputzt sind und sich gefallen, wenn sie geziert sind 28 und ähnliches, wie z. B. die Erwähnung der Jungfer Ninon Lenclos in einem ähnlichen Sinn wie im Emile. Zwar lassen siah manche dieser parallelen Gedankengänge auch aus der bloßen Verwandtschaft oder Gleichheit des Themas erklären und einzelne sind so selbstverständlich, daß man weder ein Kant noch ein Rousseau sein muß, um sie zu entdecken, wie z. B. der Gedanke, auf den sich Schilpp beruft, der im Zusammenhang so lautet: "Ein alter Mann, der verliebt tut, ist ein Geck und die ähnlichen Anmaßungen des anderen Geschlechtes sind alsdann ekelhaft. An der Natur liegt es niemals, wenn wir nicht mit einem guten Anstande erscheinen, sondern daran, daß man sie verkehren will" 29 • Nichtsdestoweniger ist die Häufigkeit der Anklänge so groß, daß sie auf diese Weise nicht befriedigend erklärt werden können. Man muß also in der Tat beim Verfasser der Beobachtungen bereits eine ge w i s s e Ver t rau t he i t mit dem Emile voraussetzen, ebenso auch, daß er zur Gestaltung seines Textes, vor allem im III. Abschnitt der Abhandlung, sich in mancher Hinsicht von diesem Werke anregen ließ. Weiter aber wird man nicht gehen können; vor allem wird man daraus nicht schließen dürfen, daß nun di e Be 0 bach tun gen bereits das Ergebnis der grundSätzlichen Auseinandersetzung Kants mit Rousseau, näherhin dessen Ern i 1 e e nt haI te n. Denn eine eingehendere Untersuchung zeigt deutlich, daß die Beeinflussung und Anregung Kants durch den letzteren hier noch durchaus an der Oberfläche bleibt, daß die Abhandlung noch im wesentlichen unberührt ist von den revolutionierenden Grundideen des Rousseauschen Hauptwerkes. Die Beobachtungen bieten noch den Anblick einer harmonisch in sich abgeschlossenen und in sich ruhenden Welt von einer durchaus optimistischen Grundauffassung sowohl des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, besonders der Rolle des weiblichen, wie auch der Kulturaufgabe der Menschheit und der einzelnen Völker. Nichts von dem Gegensatz zwischen dem Zustand der Natur und dem der Zivilisation und seiner Problematik, durch die alle Darlegungen des Emile letztlich geprägt sind. Wir haben in den 'Beobachtungen', wie die vorher aufgeführten Interpreten mit Recht betonen, eine durchaus andere Auffassung von den Aufgaben und der Bedeutung der Zivilisation, von Kunst und Wissenschaft als Rousseau sie vertritt. Das Fehlen jedes Hinweises auf den Naturzustand wie auch auf das Prinzip und das Wesen der Vergesellschaftung eines Volkes sowie auf die verschiedenen Gesellschaftsformen, wozu sich gerade im IV. Abschnitt, in 27) Ibid. S.230, 28-30. 28) Ibid. S.229, 1-3. 29) Ibid. S,·240, 20-23.

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140 ",ern er die moralischen Eigenschaften der verschiedenen Völker, der zivilisiertesten wie der rohesten, miteinander vergleicht, reichlich Gelegenheit geboten hätte, wäre völlig unverständlich in der Voraussetzung, daß Kant sich in der Abhandlung mit Rousseau habe auseinandersetzen wollen. Ferner ist sicherlich richtig, daß in den moralphilosophischen und anthropologischen Ausführungen des Traktates die W ü r d e der menschlichen Natur ohne Rücksicht auf Rang und Stand und Bildung eine grundlegende Bedeutung hat und daß sich Kant in diesem Punkt mit Rousseau begegnet. Aber andererseits haben wir diesen Begriff fast in der gleichen zentralen Stellung bereits bei Hutcheson und außerdem ist bemerkenswert, daß bei Kant die ursprüngliche und unverlierbare Freiheit, die bei Rousseau geradezu den Kern und Ursprung der Würde der Person ausmacht und folglich auch das eigentliche Ziel der Erziehung gegenüber den versklavenden Einflüssen des gesellschaftlichen Zustandes darstellt, kaum eine Rolle spielt: nur einmal anläßlich der Schilderung des moralischen Charakters des Melancholikers erscheint die Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit neben anderen guten Qualitäten als ausgezeichnete Eigenschaft dieses Temperaments 30, dagegen nicht an jenen Stellen, wo er die Würde der Pe:r;son ausdrücklich als Prinzip der Tugendgrundsätze aufstellt, so daß der Schluß naheliegt, daß er hinsichtlich der Freiheit auch damals noch im wesentlichen auf dem Standpunkt Hutchesons stand. Ebenso fehlt die von Rousseau in diesem Zusammenhang immer wieder erhobene Forderung, daß der Mensch sich gerade auch im Sittlichen seiner Natur und Stellung als Mensch stets bewußt bleiben müsse, um zu der ihm allein möglichen Vollkommenheit und Glückseligkeit zu gelangen. Dazu kommt als drittes entscheidendes Moment, daß Kants Auffassung des spezifischen Charakters der beiden Geschlechter und ihres Verhältnisses zueinander hier in den Beobachtungen noch wesentlich anders ist als die Rousseaus im Emile trotz aller inhaltlichen Übereinstimmungen in Einzelzügen. Bei Kant baut sich alles auf den Gegensatz von Schönheit und Erhabenheit, Anmut und Würde auf, der die moralischen und geistigen und körperlichen Geschlechtercharaktere bestimmt, was zu einer optimistischen, liebenswürdigen und unschuldigen Bewertung des weiblichen Charakters führt; bei Rousseau dagegen wird alles aus dem Gegensatz zwischen den Grundmerkmalen des S ta r k e nun d Sc h w ach e n hergeleitet, von denen das erstere, nämlich das männliche Geschlecht, von Natur bestimmt ist anzugreifen und zu überwältigen, das letztere aber, das weibliche, den Mann durch seine Reize anzuziehen und von ihm 30) "Er hat ein hohes Gefühl von der WUrde der menschlichen Natur. Er schätzt sich selbst und hält einen jeden Menschen fUr ein Geschöpf. das da Achtung verdient. Er duldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich" (lbid. S. 221).

überwältigt zu werden; daraus aber ergibt sich für Rousseau eine Charakterisierung des weiblichen Charakters,die viel weniger optimistisch,liebenswürdig und unschuldig ist, weil darin die K 0 k e t t e r i e , und zwar meist in einem ziemlich zweideutigen Sinn, als Grundmerkmal desselben erscheint, dem die weibliche Scham, List und Verschlagenheit als Hilfsmittel der Natur zugeordnet werden. Nun könnte man gegen dieses Argument freilich im Sinne der oben angeführten Autoren einwenden, das Fehlen dieser charakteristisch Rousseauschen Grundideen sei noch kein Beweis dafür daß die Beobachtungen nicht bereits eine grundlegende Stellungncilime Kants zu Rousseaus Emile darstellen. Denn er habe trotz des tiefen Eindrucks, den dieses Werk in seinem Geiste hervorrief, auch ihm gegenüber durchaus seine Selbständigkeit bewahrt und habe möglicherweise bewußt die eben gekennzeichneten Lehren nicht mitübernommen, ja sie durch die gegenteiligen einschlußweise , aber sehr deutlich abgelehnt. Dieser Ausweg, der ohnehin nicht sehr überzeu . gend wirkt, wird nun durch die Bemerkungen zu den Beobachtungen, wenn wir deren vollständigen Text auf uns wirken lassen, völlig unmöglich. Denn wir sehen, daß hier die Rousseauschen Ideen mit elementarer Wucht das Denken Kants überfluten und durchdringen und ihn veranlassen, seine obigen, von Rousseau abweichenden Auffassungen weitgehend im Sinn des letzteren zu revidieren. Die Grundideen des Emile werden in den Bemerkungen nicht nur immer wieder mit einer Eindringlichkeit ohnegleichen formuliert, sondern sie prägen von nun an auch unverkennbar sämtliche Veröffe nt li c h u n gen K a nt s in die sem Z e i t rau m, so daß ihr diesbezüglicher Gegensatz zu den Beobachtungen sofort in die Augen springt. Wir wollen hier beispielshalber nur seine kurze Notiz vom 10. 2. 1764 über den abenteuerlichen Hirten Komarnicki und dessen achtjährigen Sohn anführen: "Bei dem Anschauen und Anhören des begeisterten Faunusund seines Buben, so heißt es hier, ist für solche Augen, welche die rohe Natur gerne ausspähen, die unter der Zucht der Menschen gemeiniglich sehr unkenntlich wird, das Merkwürdigste der k 1 ein e W i 1 d e , der in den Wäldern aufgewachsen. allen Beschwerlichkeiten der Witterung mit fröhlicher Munterkeit Trotz zu bieten gelernt hat, in seinem Gesichte keine gemeine Freimütigkeit zeiget und von der blöden Verlegenheit nichts an sich hat die eine Wirkung der Knechtschaft oder der erzwungenen keiten in der feineren Erziehung wird und. kurz zu sagen . .. ein voll kom me ne sKi n d in demjenigen Verstande zu sein scheint es ein Experimentalmoralist wünschen kann, der so billig wäre: nlcht eher die Sätze des Herrn Ro u s se a. u den schönen Hirngespinsten beizuzählen als bis er sie geprüft hätte .. "31. Unüberhörbar fritt uns bereits aus diesen wenigen Sätzen die s p e z i fis c h Rousseausche Gedankenwelt entgegen. Das gilt aber inglei31) KGS 11, S.489.

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140 ",ern er die moralischen Eigenschaften der verschiedenen Völker, der zivilisiertesten wie der rohesten, miteinander vergleicht, reichlich Gelegenheit geboten hätte, wäre völlig unverständlich in der Voraussetzung, daß Kant sich in der Abhandlung mit Rousseau habe auseinandersetzen wollen. Ferner ist sicherlich richtig, daß in den moralphilosophischen und anthropologischen Ausführungen des Traktates die W ü r d e der menschlichen Natur ohne Rücksicht auf Rang und Stand und Bildung eine grundlegende Bedeutung hat und daß sich Kant in diesem Punkt mit Rousseau begegnet. Aber andererseits haben wir diesen Begriff fast in der gleichen zentralen Stellung bereits bei Hutcheson und außerdem ist bemerkenswert, daß bei Kant die ursprüngliche und unverlierbare Freiheit, die bei Rousseau geradezu den Kern und Ursprung der Würde der Person ausmacht und folglich auch das eigentliche Ziel der Erziehung gegenüber den versklavenden Einflüssen des gesellschaftlichen Zustandes darstellt, kaum eine Rolle spielt: nur einmal anläßlich der Schilderung des moralischen Charakters des Melancholikers erscheint die Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit neben anderen guten Qualitäten als ausgezeichnete Eigenschaft dieses Temperaments 30, dagegen nicht an jenen Stellen, wo er die Würde der Pe:r;son ausdrücklich als Prinzip der Tugendgrundsätze aufstellt, so daß der Schluß naheliegt, daß er hinsichtlich der Freiheit auch damals noch im wesentlichen auf dem Standpunkt Hutchesons stand. Ebenso fehlt die von Rousseau in diesem Zusammenhang immer wieder erhobene Forderung, daß der Mensch sich gerade auch im Sittlichen seiner Natur und Stellung als Mensch stets bewußt bleiben müsse, um zu der ihm allein möglichen Vollkommenheit und Glückseligkeit zu gelangen. Dazu kommt als drittes entscheidendes Moment, daß Kants Auffassung des spezifischen Charakters der beiden Geschlechter und ihres Verhältnisses zueinander hier in den Beobachtungen noch wesentlich anders ist als die Rousseaus im Emile trotz aller inhaltlichen Übereinstimmungen in Einzelzügen. Bei Kant baut sich alles auf den Gegensatz von Schönheit und Erhabenheit, Anmut und Würde auf, der die moralischen und geistigen und körperlichen Geschlechtercharaktere bestimmt, was zu einer optimistischen, liebenswürdigen und unschuldigen Bewertung des weiblichen Charakters führt; bei Rousseau dagegen wird alles aus dem Gegensatz zwischen den Grundmerkmalen des S ta r k e nun d Sc h w ach e n hergeleitet, von denen das erstere, nämlich das männliche Geschlecht, von Natur bestimmt ist anzugreifen und zu überwältigen, das letztere aber, das weibliche, den Mann durch seine Reize anzuziehen und von ihm 30) "Er hat ein hohes Gefühl von der WUrde der menschlichen Natur. Er schätzt sich selbst und hält einen jeden Menschen fUr ein Geschöpf. das da Achtung verdient. Er duldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von den vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich" (lbid. S. 221).

überwältigt zu werden; daraus aber ergibt sich für Rousseau eine Charakterisierung des weiblichen Charakters,die viel weniger optimistisch,liebenswürdig und unschuldig ist, weil darin die K 0 k e t t e r i e , und zwar meist in einem ziemlich zweideutigen Sinn, als Grundmerkmal desselben erscheint, dem die weibliche Scham, List und Verschlagenheit als Hilfsmittel der Natur zugeordnet werden. Nun könnte man gegen dieses Argument freilich im Sinne der oben angeführten Autoren einwenden, das Fehlen dieser charakteristisch Rousseauschen Grundideen sei noch kein Beweis dafür daß die Beobachtungen nicht bereits eine grundlegende Stellungncilime Kants zu Rousseaus Emile darstellen. Denn er habe trotz des tiefen Eindrucks, den dieses Werk in seinem Geiste hervorrief, auch ihm gegenüber durchaus seine Selbständigkeit bewahrt und habe möglicherweise bewußt die eben gekennzeichneten Lehren nicht mitübernommen, ja sie durch die gegenteiligen einschlußweise , aber sehr deutlich abgelehnt. Dieser Ausweg, der ohnehin nicht sehr überzeu . gend wirkt, wird nun durch die Bemerkungen zu den Beobachtungen, wenn wir deren vollständigen Text auf uns wirken lassen, völlig unmöglich. Denn wir sehen, daß hier die Rousseauschen Ideen mit elementarer Wucht das Denken Kants überfluten und durchdringen und ihn veranlassen, seine obigen, von Rousseau abweichenden Auffassungen weitgehend im Sinn des letzteren zu revidieren. Die Grundideen des Emile werden in den Bemerkungen nicht nur immer wieder mit einer Eindringlichkeit ohnegleichen formuliert, sondern sie prägen von nun an auch unverkennbar sämtliche Veröffe nt li c h u n gen K a nt s in die sem Z e i t rau m, so daß ihr diesbezüglicher Gegensatz zu den Beobachtungen sofort in die Augen springt. Wir wollen hier beispielshalber nur seine kurze Notiz vom 10. 2. 1764 über den abenteuerlichen Hirten Komarnicki und dessen achtjährigen Sohn anführen: "Bei dem Anschauen und Anhören des begeisterten Faunusund seines Buben, so heißt es hier, ist für solche Augen, welche die rohe Natur gerne ausspähen, die unter der Zucht der Menschen gemeiniglich sehr unkenntlich wird, das Merkwürdigste der k 1 ein e W i 1 d e , der in den Wäldern aufgewachsen. allen Beschwerlichkeiten der Witterung mit fröhlicher Munterkeit Trotz zu bieten gelernt hat, in seinem Gesichte keine gemeine Freimütigkeit zeiget und von der blöden Verlegenheit nichts an sich hat die eine Wirkung der Knechtschaft oder der erzwungenen keiten in der feineren Erziehung wird und. kurz zu sagen . .. ein voll kom me ne sKi n d in demjenigen Verstande zu sein scheint es ein Experimentalmoralist wünschen kann, der so billig wäre: nlcht eher die Sätze des Herrn Ro u s se a. u den schönen Hirngespinsten beizuzählen als bis er sie geprüft hätte .. "31. Unüberhörbar fritt uns bereits aus diesen wenigen Sätzen die s p e z i fis c h Rousseausche Gedankenwelt entgegen. Das gilt aber inglei31) KGS 11, S.489.

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chem, ja in noch stärkerem Ausmaße von den weiteren Veröffentlichungen des nun folgenden Zeitraums, wie wir im nächsten Kapitel im einzelnen sehen werden. Aus dem Vergleich der Beobachtungen mit diesen Veröffentlichungen sowie den Bemerkungen gewinnt man die unbedingte Gewißheit, daß die gedankliche Konzeption der Abhandlung ihrer Substanz nach noch unberührt ist von dem spezifischen Ideengut des Emile und Contrat, dal,s das Rousseausche Element, soweit von einem solchen die Rede sein kann, an der Oberfläche haften bleibt und nur am Rande des Horizontes erscheint. Auch die Art, wie Kant in jener Anmerkung des IV. Abschnittes den Schweizer zitiert 32 , spricht für diese Auffassung: nicht an einer der entscheidenden Kernstellen des ll. oder llI. Abschnittes erfolgt dieser Hinweis, sondern an einer Stelle von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung, und auch hier nur als Abrundung der eigenen Ausführungen in der Anmerkung, wobei Kant offenbar vor allem durch den par a d 0 xe n Charakter der Rousseauschen Auffassung zu diesem Hinweis bestimmt wurde. Wie soll man sich vorstellen, daß Kant, der Rousseau hier sozusagen um der Kuriosität willen zitiert, nicht bei der Dis ku s s ion der Hauptthemen wiederholt auf ihn verwiesen hätte, wenn diese die grundlegende Auseinandersetzung mit dem Emile darstellen würden? Ebenso wird von diesem Vergleich her auch die Auffassung unmöglich, daß Kant mit der Bemerkung von dem noch unentdeckten Geheimnis der Erziehung zum Schluß der Beobachtungen seine Stellungnahme zu Rousseaus Emile oder Erziehungslehre habe ausdrükken wollen. Denn das würde einer gl 0 baI e n AbI e hn u n g dieser letzteren gleichkommen; eine solche läßt sich aber kaum denken ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Rousseau, und außerdem wissen wir aus den Veröffentlichungen dieses Zeitraums wie auch aus den Bemerkungen, daß Kant die Erziehungslehre Rousseaus weitgehend anerkannt hat, wie später noch 1m einzelnen deutlich werden wird 33. Aus all diesen Überlegungen also ergibt sich, daß Kant sich erst in den Monaten, die zwischen dem Abschluß der Beobachtungen (Oktober 1763) und dem Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes liegen (Februar 1764), den Emile und Contrat Rousseaus eingehender studiert und begonnen hat, sich innerlich mit diesen Werken auseinanderzusetzen. Nachdem wir nun diese entscheidende Vorfrage geklärt haben, können wir an die Analyse der Bemerkungen selbst und der Veröffentlichungen des Jahres 1765 herantreten, mit der wir, wie wir sehen werden, in die zweite entscheidende Entw i c k I u n g s p h ase der Kantischen Ethik eintreten. 32) Ibid. S.246 f. 33) Vergleiche (Bd. XV) R 1473 (1f). 1281 (p a 'P 1f und bes. 1501 (a-'I' ) (S. 791 f.) sowie 1524 ('I') (S. 898. 10). aus denen hervorgeht. daß er sich auch später noch weitgehend zu den Erziehungsgrt1ndsätzen Rousseaus bekannte. Er hat sich also die Auseinandersetzung mit der Erzie.hungslehre des letzteren nicht so einfach gemacht. wie die traditionelle Interpretation voraussetzt.

Viertes Kapitel

DIE ZWEITE PHASE DER ENTWICKLUNG DER ETHIK KANTS: DIE UMFORMUNG SEINER ETHISCHEN PRINZIPIENLEHRE UNTER DEM EINFLUSS ROUSSEAUS

Die ethische Prinzipienlehre Kants hatte in der Auseinandersetzung mit der Wolffschule unter dem Einfluß der Morallehre des Crusius und Hutchesons schon am Anfang der sechziger Jahre eine klar geprägte Eigengestalt gewonnen, in der bereits wesentliche Grundgedanken seiner späteren Ethik deutlich hervortreten. Diese erste Kantische Grundlegung der Moralphilosophie hatte allerdings mit einem noch ungelösten Problem geendet: daß, um in den ersten Gründen der Sittlichkeit zum größten Grad philosophischer Evidenz zu gelangen, der oberste Grundbegriff der Verbindlichkeit noch sicherer bestimmt werden müßte, indem allererst auszumachen sei, ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste innere Grund des Begehrungsvermögens) die ersten Grundsätze dazu entscheide. Um die Lösung dieses in der Preisschrift noch nicht bewältigten wichtigen Problems geht es nun vor allem in der nach dem Abschluß der Beobachtungen einsetzenden neuen Entwicklungsphase, die durch das Studium d'er Hauptwerke Rousseaus, des Emileund des Contrat Social, nicht nur eingeleitet, sondern auch entscheidend bestimmt wurde. Aus der verschiedenen quellenmäßigen Situation aber ergibt sich für diese ein wesentlich anderes Verfahren als für die erste in den vorausgehenden Kapiteln. Dort hatten wir in der Preisschrift eine wenn auch skizzenhafte, so doch thematische Darlegung der damaligen ethischen Prinzipienlehre vor uns, und so bestand neben der sorgfältigen Interpretation der Texte die Hauptaufgabe darin,' die Ursprünge und die Entwicklung dieser Konzeption aus den in den Quellen liegenden spärlichen Anhaltspunkten zu ermitteln. Hier haben wir keine systematische Darstellung seines neu gewonnenen Standpunktes in irgendeiner seiner Veröffentlichungen dieses Zeitraums, sondern nur gelegentliche Andeutungen, dafür aber in den fragmentarischen Bemerkungen zu den Beobachtungen seine erste und unmittelbarste Auseinandersetzung mit dem Ern i l e R 0 u s s e aus, der ja auch eine Zusammenfassung der Grundlehren des Contrat enthält, eine Auseinandersetzung, in der nicht nur die Grundthesen seines neuen Standpunktes klar formuliert werden, sondern auch der Weg faßbar wird, auf dem er zu ihnen gelangte. Für die Behandlung dieser zweiten Entwicklungsphase wird damit naturgemäß diese Auseinandersetzung Kants mit Rous-

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chem, ja in noch stärkerem Ausmaße von den weiteren Veröffentlichungen des nun folgenden Zeitraums, wie wir im nächsten Kapitel im einzelnen sehen werden. Aus dem Vergleich der Beobachtungen mit diesen Veröffentlichungen sowie den Bemerkungen gewinnt man die unbedingte Gewißheit, daß die gedankliche Konzeption der Abhandlung ihrer Substanz nach noch unberührt ist von dem spezifischen Ideengut des Emile und Contrat, dal,s das Rousseausche Element, soweit von einem solchen die Rede sein kann, an der Oberfläche haften bleibt und nur am Rande des Horizontes erscheint. Auch die Art, wie Kant in jener Anmerkung des IV. Abschnittes den Schweizer zitiert 32 , spricht für diese Auffassung: nicht an einer der entscheidenden Kernstellen des ll. oder llI. Abschnittes erfolgt dieser Hinweis, sondern an einer Stelle von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung, und auch hier nur als Abrundung der eigenen Ausführungen in der Anmerkung, wobei Kant offenbar vor allem durch den par a d 0 xe n Charakter der Rousseauschen Auffassung zu diesem Hinweis bestimmt wurde. Wie soll man sich vorstellen, daß Kant, der Rousseau hier sozusagen um der Kuriosität willen zitiert, nicht bei der Dis ku s s ion der Hauptthemen wiederholt auf ihn verwiesen hätte, wenn diese die grundlegende Auseinandersetzung mit dem Emile darstellen würden? Ebenso wird von diesem Vergleich her auch die Auffassung unmöglich, daß Kant mit der Bemerkung von dem noch unentdeckten Geheimnis der Erziehung zum Schluß der Beobachtungen seine Stellungnahme zu Rousseaus Emile oder Erziehungslehre habe ausdrükken wollen. Denn das würde einer gl 0 baI e n AbI e hn u n g dieser letzteren gleichkommen; eine solche läßt sich aber kaum denken ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Rousseau, und außerdem wissen wir aus den Veröffentlichungen dieses Zeitraums wie auch aus den Bemerkungen, daß Kant die Erziehungslehre Rousseaus weitgehend anerkannt hat, wie später noch 1m einzelnen deutlich werden wird 33. Aus all diesen Überlegungen also ergibt sich, daß Kant sich erst in den Monaten, die zwischen dem Abschluß der Beobachtungen (Oktober 1763) und dem Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes liegen (Februar 1764), den Emile und Contrat Rousseaus eingehender studiert und begonnen hat, sich innerlich mit diesen Werken auseinanderzusetzen. Nachdem wir nun diese entscheidende Vorfrage geklärt haben, können wir an die Analyse der Bemerkungen selbst und der Veröffentlichungen des Jahres 1765 herantreten, mit der wir, wie wir sehen werden, in die zweite entscheidende Entw i c k I u n g s p h ase der Kantischen Ethik eintreten. 32) Ibid. S.246 f. 33) Vergleiche (Bd. XV) R 1473 (1f). 1281 (p a 'P 1f und bes. 1501 (a-'I' ) (S. 791 f.) sowie 1524 ('I') (S. 898. 10). aus denen hervorgeht. daß er sich auch später noch weitgehend zu den Erziehungsgrt1ndsätzen Rousseaus bekannte. Er hat sich also die Auseinandersetzung mit der Erzie.hungslehre des letzteren nicht so einfach gemacht. wie die traditionelle Interpretation voraussetzt.

Viertes Kapitel

DIE ZWEITE PHASE DER ENTWICKLUNG DER ETHIK KANTS: DIE UMFORMUNG SEINER ETHISCHEN PRINZIPIENLEHRE UNTER DEM EINFLUSS ROUSSEAUS

Die ethische Prinzipienlehre Kants hatte in der Auseinandersetzung mit der Wolffschule unter dem Einfluß der Morallehre des Crusius und Hutchesons schon am Anfang der sechziger Jahre eine klar geprägte Eigengestalt gewonnen, in der bereits wesentliche Grundgedanken seiner späteren Ethik deutlich hervortreten. Diese erste Kantische Grundlegung der Moralphilosophie hatte allerdings mit einem noch ungelösten Problem geendet: daß, um in den ersten Gründen der Sittlichkeit zum größten Grad philosophischer Evidenz zu gelangen, der oberste Grundbegriff der Verbindlichkeit noch sicherer bestimmt werden müßte, indem allererst auszumachen sei, ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl (der erste innere Grund des Begehrungsvermögens) die ersten Grundsätze dazu entscheide. Um die Lösung dieses in der Preisschrift noch nicht bewältigten wichtigen Problems geht es nun vor allem in der nach dem Abschluß der Beobachtungen einsetzenden neuen Entwicklungsphase, die durch das Studium d'er Hauptwerke Rousseaus, des Emileund des Contrat Social, nicht nur eingeleitet, sondern auch entscheidend bestimmt wurde. Aus der verschiedenen quellenmäßigen Situation aber ergibt sich für diese ein wesentlich anderes Verfahren als für die erste in den vorausgehenden Kapiteln. Dort hatten wir in der Preisschrift eine wenn auch skizzenhafte, so doch thematische Darlegung der damaligen ethischen Prinzipienlehre vor uns, und so bestand neben der sorgfältigen Interpretation der Texte die Hauptaufgabe darin,' die Ursprünge und die Entwicklung dieser Konzeption aus den in den Quellen liegenden spärlichen Anhaltspunkten zu ermitteln. Hier haben wir keine systematische Darstellung seines neu gewonnenen Standpunktes in irgendeiner seiner Veröffentlichungen dieses Zeitraums, sondern nur gelegentliche Andeutungen, dafür aber in den fragmentarischen Bemerkungen zu den Beobachtungen seine erste und unmittelbarste Auseinandersetzung mit dem Ern i l e R 0 u s s e aus, der ja auch eine Zusammenfassung der Grundlehren des Contrat enthält, eine Auseinandersetzung, in der nicht nur die Grundthesen seines neuen Standpunktes klar formuliert werden, sondern auch der Weg faßbar wird, auf dem er zu ihnen gelangte. Für die Behandlung dieser zweiten Entwicklungsphase wird damit naturgemäß diese Auseinandersetzung Kants mit Rous-

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144 seau, also der weitläufige Komplex der 'Bemerkungen', in den Mittelpunkt des Interesses treten. Das Grundproblem dieses neuen Entwicklungsabschnittes läßt sich in folgende Fragen zusammenfassen: Welches war der eigentliche Einfluß Rousseaus auf Kant in der Moralphilosophie? Hat er in der moralphilosophischen Entwicklung Kants, vor allem was dessen ethische P r in z i pie nIe h re angeht, eine entscheidende Wendung herbeigeführt, und wenn dies zu bej.ahen ist, in welchem Sinn erfolgte sie und wie weit ist sie durch Ubernahme von Rousseauschen Gedanken oder Anregungen bedingt? Obwohl für die Lösung dieser Probleme, wie schon angedeutet, den Reflexionen der 'Bemerkungen' eine überragende Bedeutung zukommt und obwohl auch deren Datierung - in globo - hinreichend gesichert ist 1 , erscheint es doch zweckmäßig, von den ethischen Ausführungen jener Veröffentlichungen auszugehen, die zeitlich auf die Beobachtungen folgen, also dem Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes (1764), der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im WS 65/66 (1765) und den Träumen eines Geistersehers (1765), die alle drei gekennzeichnet sind durch die deutlichen Spuren des Einflusses, den das Studium der Hauptwerke Rousseaus auf das Denken Kants ausgeübt hat. Denn wenn es gelingt, eine unmittelbare Beziehung ihrer Lehren zu gewissen entscheidenden Komplexen dieser Reflexionen aufzuweisen, so haben wir darin ein zusätzliches Kriterium für die Datierung der letzteren - besonders die Träume eines Geistersehers enthalten diesbezüglich wertvolle Anhaltspunkte; umgekehrt aber sind die Bemerkungen eine nicht zu unterschätzende Hilfe, die oft sehr skizzenhaften und nur andeutenden Lehren der genannten Schriften in ihrem Sinn und Inhalt zu bestimmen, was deshalb von Wichtigkeit ist, weil gerade sie in ihrer eigentlichen Bedeutung oft mi ß ver s t an den und in ihrer Rolle für die ethische Entwicklung Kants nicht selten u n t er s c h ätz t wurden. Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir an die Analyse der Veröffentlichungen der Jahre 1764/65 herantreten, wobei. es uns in erster Linie darum geht, neben ihrem systematischen Gehalt auch ihr Verhältnis zu Rousseau einerseits und zu den Reflexionen der 'Bemerkungen' andererseits genauer zu bestimmen. Der Dissertation des Jahres 1770, die am Ende dieser entscheidenden Entwicklungsphase liegt, bleibt eine besondere Betrachtung zum Schluß dieses KapitelS vorbehalten.

1) Cf. KGS

xx.

471 f.

1.

Versuch über die Krankheiten des Kopfes (Februar 1764)

In diesem Aufsatz, den Kant veranIaßt durch das Auftreten des Schwärmers Komarnicki und seines Begleiters im 4. - 8. Stück der 'Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen ' (vom 13. - 27. Februar 1764) erscheinen ließ, sind es vor allem die ku 1 tu r phi los 0 phi s c h e n I d e e n R 0 u s s e aus, die dem Ganzen das charakteristische Gepräge verleihen. Er behandelt hier zwar ausdrücklich nur die Krankheiten des Kopfes, aber er stellt ihnen grundsätzlich die des Herzens, d. h. die Entartungen des Willens als Gegenstück zur Seite und führt beide auf die der b ü r ger I ich e n Verfas sung eigentümliche Verderbnis zurück. Bereits aus den einleitenden Sätzen des erstep Abschnittes weht uns ein völlig anderer Geist entgegen als etwa aus dem die Kultur sehr positiv wertenden Schlußabschnitt der Beobachtungen: die Deckung mit Rousseau geht z. T. bis in die Phraseologie hinein: H Die Einfalt und Gnügsamkeit der Natur fordert· und bildet an dem Menschen nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der künstliche Zwang und die Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung heckt Witzlinge und Vernünftler, gelegentlich aber auch Narren und Betrüger aus und gebiert den weisen oder sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne Schleier dichte genug gewebt ist, den die Anständigkeit über die geheimen Gebrechen des Kopfes oder des Herzens ausbreitet. Nach dem Maße, als die Kunst hoch steigt, werden Vernunft una Tugend endlich das allgemeine Losungswort, doch so, daß der Eifer von beiden zu sprechen wohl unterwiesene und artige Personen überheben kann sich mit ihrem Besitze zu belästigen. Die allgemeine Achtung, darin beide gepriesenen Eigenschaften stehen, macht gleichwohl diesen merklichen Unterschied, daß jedermann weit eifersüchtiger auf die Verstandesvorzüge als auf die guten Eigenschaften des Willens ist, und daß in der Vergleichung zwischen Dummheit und Schelmerei niemand einen Augenblick ansteht, sich zum Vortheil der letzteren zu erklären; welches auch gewiß sehr wohl ausgedacht ist, weil, wenn alles überhaupt auf Kunst ankommt, die feine Schlauigkeit nicht kann entbehrt werden, wohl aber die Redlichkeit, die in solchem Verhältnisse nur hinderlich ist. Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Bürgern, nämlich unter denen, die sich darauf verstehen so zu scheinen, und ich schmeichle mir, man werde so billig sein, mir von dieser Feinigkeit auch so viel zuzutrauen, daß, wenn ich glelCh in dem Besitze der bewährtesten Heilungsmittel wäre, die Krankheiten des Kopfes und des Herzens aus dem Grunde zu heben, ich doch Bedenken tragen würde diesen altväterischen Plunder dem öffentlichen Gewerbe in den Weg zu legen, wohlbewußt, daß die be-

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144 seau, also der weitläufige Komplex der 'Bemerkungen', in den Mittelpunkt des Interesses treten. Das Grundproblem dieses neuen Entwicklungsabschnittes läßt sich in folgende Fragen zusammenfassen: Welches war der eigentliche Einfluß Rousseaus auf Kant in der Moralphilosophie? Hat er in der moralphilosophischen Entwicklung Kants, vor allem was dessen ethische P r in z i pie nIe h re angeht, eine entscheidende Wendung herbeigeführt, und wenn dies zu bej.ahen ist, in welchem Sinn erfolgte sie und wie weit ist sie durch Ubernahme von Rousseauschen Gedanken oder Anregungen bedingt? Obwohl für die Lösung dieser Probleme, wie schon angedeutet, den Reflexionen der 'Bemerkungen' eine überragende Bedeutung zukommt und obwohl auch deren Datierung - in globo - hinreichend gesichert ist 1 , erscheint es doch zweckmäßig, von den ethischen Ausführungen jener Veröffentlichungen auszugehen, die zeitlich auf die Beobachtungen folgen, also dem Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes (1764), der Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im WS 65/66 (1765) und den Träumen eines Geistersehers (1765), die alle drei gekennzeichnet sind durch die deutlichen Spuren des Einflusses, den das Studium der Hauptwerke Rousseaus auf das Denken Kants ausgeübt hat. Denn wenn es gelingt, eine unmittelbare Beziehung ihrer Lehren zu gewissen entscheidenden Komplexen dieser Reflexionen aufzuweisen, so haben wir darin ein zusätzliches Kriterium für die Datierung der letzteren - besonders die Träume eines Geistersehers enthalten diesbezüglich wertvolle Anhaltspunkte; umgekehrt aber sind die Bemerkungen eine nicht zu unterschätzende Hilfe, die oft sehr skizzenhaften und nur andeutenden Lehren der genannten Schriften in ihrem Sinn und Inhalt zu bestimmen, was deshalb von Wichtigkeit ist, weil gerade sie in ihrer eigentlichen Bedeutung oft mi ß ver s t an den und in ihrer Rolle für die ethische Entwicklung Kants nicht selten u n t er s c h ätz t wurden. Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir an die Analyse der Veröffentlichungen der Jahre 1764/65 herantreten, wobei. es uns in erster Linie darum geht, neben ihrem systematischen Gehalt auch ihr Verhältnis zu Rousseau einerseits und zu den Reflexionen der 'Bemerkungen' andererseits genauer zu bestimmen. Der Dissertation des Jahres 1770, die am Ende dieser entscheidenden Entwicklungsphase liegt, bleibt eine besondere Betrachtung zum Schluß dieses KapitelS vorbehalten.

1) Cf. KGS

xx.

471 f.

1.

Versuch über die Krankheiten des Kopfes (Februar 1764)

In diesem Aufsatz, den Kant veranIaßt durch das Auftreten des Schwärmers Komarnicki und seines Begleiters im 4. - 8. Stück der 'Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen ' (vom 13. - 27. Februar 1764) erscheinen ließ, sind es vor allem die ku 1 tu r phi los 0 phi s c h e n I d e e n R 0 u s s e aus, die dem Ganzen das charakteristische Gepräge verleihen. Er behandelt hier zwar ausdrücklich nur die Krankheiten des Kopfes, aber er stellt ihnen grundsätzlich die des Herzens, d. h. die Entartungen des Willens als Gegenstück zur Seite und führt beide auf die der b ü r ger I ich e n Verfas sung eigentümliche Verderbnis zurück. Bereits aus den einleitenden Sätzen des erstep Abschnittes weht uns ein völlig anderer Geist entgegen als etwa aus dem die Kultur sehr positiv wertenden Schlußabschnitt der Beobachtungen: die Deckung mit Rousseau geht z. T. bis in die Phraseologie hinein: H Die Einfalt und Gnügsamkeit der Natur fordert· und bildet an dem Menschen nur gemeine Begriffe und eine plumpe Redlichkeit, der künstliche Zwang und die Üppigkeit der bürgerlichen Verfassung heckt Witzlinge und Vernünftler, gelegentlich aber auch Narren und Betrüger aus und gebiert den weisen oder sittsamen Schein, bei dem man sowohl des Verstandes als der Rechtschaffenheit entbehren kann, wenn nur der schöne Schleier dichte genug gewebt ist, den die Anständigkeit über die geheimen Gebrechen des Kopfes oder des Herzens ausbreitet. Nach dem Maße, als die Kunst hoch steigt, werden Vernunft una Tugend endlich das allgemeine Losungswort, doch so, daß der Eifer von beiden zu sprechen wohl unterwiesene und artige Personen überheben kann sich mit ihrem Besitze zu belästigen. Die allgemeine Achtung, darin beide gepriesenen Eigenschaften stehen, macht gleichwohl diesen merklichen Unterschied, daß jedermann weit eifersüchtiger auf die Verstandesvorzüge als auf die guten Eigenschaften des Willens ist, und daß in der Vergleichung zwischen Dummheit und Schelmerei niemand einen Augenblick ansteht, sich zum Vortheil der letzteren zu erklären; welches auch gewiß sehr wohl ausgedacht ist, weil, wenn alles überhaupt auf Kunst ankommt, die feine Schlauigkeit nicht kann entbehrt werden, wohl aber die Redlichkeit, die in solchem Verhältnisse nur hinderlich ist. Ich lebe unter weisen und wohlgesitteten Bürgern, nämlich unter denen, die sich darauf verstehen so zu scheinen, und ich schmeichle mir, man werde so billig sein, mir von dieser Feinigkeit auch so viel zuzutrauen, daß, wenn ich glelCh in dem Besitze der bewährtesten Heilungsmittel wäre, die Krankheiten des Kopfes und des Herzens aus dem Grunde zu heben, ich doch Bedenken tragen würde diesen altväterischen Plunder dem öffentlichen Gewerbe in den Weg zu legen, wohlbewußt, daß die be-

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liebte Modecur des Verstandes und des Herzens schon in erwünschtem Fortgange sei ... "2. In den folgenden Ausführungen kommt das Ideal der w eise n Einfalt im Unterschied zur rohen des eingangs erwähnten Naturzustandes zum Aufleuchten, wenn er gegenüber der verschmitzten Klugheit in der Behandlung der Menschen die Einfalt als den liebenswürdigen Mangel dieser so sehr gepriesenen Fähigkeit bezeichnet und sie folgendermaßen beschreibt: "Da die Ränke und falschen Kunstgriffe in der bürgerlichen Gesellschaft allmählich zu gewöhnlichen Maximen werden und das Spiel der menschlichen Handlungen sehr verwickeln, so ist es kein Wunder, wenn ein sonst verständiger und redlicher Mann, dem entweder alle diese Schlauigkeit zu verächtlich ist, als daß er sich damit beschäftige, oder der sein ehrliches und wohlwollendes Herz nicht dazu bewegen kann, sich von der menschlichen Natur einen so verhaßten Begriff zu machen, unter Betrügern allerwärts in Schlingen geraten und ihnen viel zu lachen geben müsse .. "3. Im Zusammenhang mit der Behandlung Jener Krankheit des Kopfes, die er Tor he i t nennt und die nach ihm darin besteht, daß eine übermächtige Leidenschaft den Gebrauch eines sonst guten Verstandes fesselt, wie etwa die verliebte Leidenschaft oder ein höherer Grad der Ehrbegierde oder auch Neigungen von minderer Heftigkeit und Allgemeinheit, wie der Baugeist, die Bilderneigung und die Büchersucht, stoßen wir fast unvermittelt auf den urrousseauschen Gedanken: "Der ausgeartete Mensch ist aus seiner natürlichen Stelle gewichen und wird von allem gezogen und von allem gehalten"4. Im Rahmen seiner Ausführungen über die Ver r ü c k t he i t, die nach ihm auf einer Verwirrung der Erfahrungsbegriffe beruht und in einem Träumen bei wachem Zustand besteht, bzw. die Phantastere i, bei der die Wahrnehmung der Sinne nur teilweise Blendwerk oder chimärisch sei, spricht er auch von einer Art der letzteren, die man jemand bloß deswegen beimesse, weil der Grad des Gefühls, von gewissen Gegenständen gerührt zu werden, für die Mäßigung eines gesunden Kopfes ausschweifend erscheine. Auf diesem Fuße sei der Melancholiker ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens, die Liebe habe phantastische Entzückungen und die alten Staaten hätten sich des feinen Kunstgriffes bedient, die Bürger hinsichtlich der öffentlichen Wohlfahrt zu Phantasten zu machen. Damit wird bereits eine bestimmte Art solch angeblicher Phantasterei angedeutet: "Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr erhitzt wird als es andere nach ihrem matten und öfters unedlen Gefühl sich vorstellen können, ist in ihrer ein Phantast. 2) Ibid. ll, 259 f. 3) Ibid. S.261. 4) Ibid. S. 262, 3-4.

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Ich stelle den Ar ist i des unter Wucherer, den E pik te t unter Hofleute und den Johann Jakob Rousseau unter die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich höre ein lautes Hohngelächter, und hundert Stimmen rufen: Welche Phantasten! Dieser zweideutige Anschein von Phantasterei in an sich guten moralischen Empfindungen ist der E nt h u s i a s mus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden"s. Daß er hier Rousseau an die Seite der überragenden ethischen Gestalten der Antike stellt und ihn als einen der großen Vertreter des Enthusiasmus des moralischen Gefühls bezeichnet, zeigt, wie hoch er ihn einschätzt und wie tief ihn seine Lehre beeindruckt hat. Im vorletzten Absatz kommt er nochmals auf jene ku I t ur phi losophische Betrachtung zu sprechen, von der er in der Einleitung ausgegangen war, und führt hier sämtliche Krankheiten des Kopfes und auch des Herzens mehr oder weniger auf die Gärungsmittel der bürgerlichen Verfassung zurück: "Der Mensch im Zustande der Natur kann nur wenig Thorheiten und schwerlich einiger Narrheit unterworfen sein. Seine Bedürfnisse halten ihn jederzeit nahe an der Erfahrung und geben seinem gesunden Verstande eine so leichte Beschäftigung, daß er kaum bemerkt, er habe zu seinen Handlungen Verstand nöthig. Seinen groben und gemeinen Begierden gibt die Trägheit eine Mäßigung, welche der wenigen Urtheilskraft, die er bedarf, Macht genug läßt, über sie seinem größten Vortheile gemäß zu herrschen. Wo sollte er wohl zur Narrheit Stoff hernehmen, da er, um anderer Urtheil unbekümmert, weder eitel noch aufgeblasen sein kann? Indem er von dem Werthe ungenossener Güter gar keine Vorstellung hat, so ist er vor der Ungereimtheit der filzigen Habsucht gesichert, und weil in seinen Kopf niemals einiger Witz Eingang findet, so ist er eben so wohl gegen allen Aberwitz gut verwahrt. Gleichergestalt kann die Störung des Gemüths in diesem Stande der Einfalt nur selten statt finden. Wenn das Gehirn des Wilden einigen Anstoß erlitten hätte, so weiß ich nicht, wo die Phantasterei herkommen sollte, um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn allein unablässig beschäftigen, zu verdrängen. Welcher Wahnsinn kann ihn wohl anwandeln, da er niemals Ursache hat, sich in seinem Urtheile weit zu versteigen? Der Wahnwitz aber ist gewiß ganz und gar über seine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe krank ist, entweder blödsinnig oder toll sein, und auch dieses muß höchst selten geschehen, denn er ist mehrentheils gesund, weil er frei ist und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gährungsmittel zu allem diesem Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößern dienen. Der Verstand, in so fern er zu den Nothwendigkeiten und den einfältigen Vergnügungen des Lebens zureicht, ist ein ge s und e r Ver s ta n d, in wie fern er aber zu der gekün5) Ibid. S. 266, 32-267.11.

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liebte Modecur des Verstandes und des Herzens schon in erwünschtem Fortgange sei ... "2. In den folgenden Ausführungen kommt das Ideal der w eise n Einfalt im Unterschied zur rohen des eingangs erwähnten Naturzustandes zum Aufleuchten, wenn er gegenüber der verschmitzten Klugheit in der Behandlung der Menschen die Einfalt als den liebenswürdigen Mangel dieser so sehr gepriesenen Fähigkeit bezeichnet und sie folgendermaßen beschreibt: "Da die Ränke und falschen Kunstgriffe in der bürgerlichen Gesellschaft allmählich zu gewöhnlichen Maximen werden und das Spiel der menschlichen Handlungen sehr verwickeln, so ist es kein Wunder, wenn ein sonst verständiger und redlicher Mann, dem entweder alle diese Schlauigkeit zu verächtlich ist, als daß er sich damit beschäftige, oder der sein ehrliches und wohlwollendes Herz nicht dazu bewegen kann, sich von der menschlichen Natur einen so verhaßten Begriff zu machen, unter Betrügern allerwärts in Schlingen geraten und ihnen viel zu lachen geben müsse .. "3. Im Zusammenhang mit der Behandlung Jener Krankheit des Kopfes, die er Tor he i t nennt und die nach ihm darin besteht, daß eine übermächtige Leidenschaft den Gebrauch eines sonst guten Verstandes fesselt, wie etwa die verliebte Leidenschaft oder ein höherer Grad der Ehrbegierde oder auch Neigungen von minderer Heftigkeit und Allgemeinheit, wie der Baugeist, die Bilderneigung und die Büchersucht, stoßen wir fast unvermittelt auf den urrousseauschen Gedanken: "Der ausgeartete Mensch ist aus seiner natürlichen Stelle gewichen und wird von allem gezogen und von allem gehalten"4. Im Rahmen seiner Ausführungen über die Ver r ü c k t he i t, die nach ihm auf einer Verwirrung der Erfahrungsbegriffe beruht und in einem Träumen bei wachem Zustand besteht, bzw. die Phantastere i, bei der die Wahrnehmung der Sinne nur teilweise Blendwerk oder chimärisch sei, spricht er auch von einer Art der letzteren, die man jemand bloß deswegen beimesse, weil der Grad des Gefühls, von gewissen Gegenständen gerührt zu werden, für die Mäßigung eines gesunden Kopfes ausschweifend erscheine. Auf diesem Fuße sei der Melancholiker ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens, die Liebe habe phantastische Entzückungen und die alten Staaten hätten sich des feinen Kunstgriffes bedient, die Bürger hinsichtlich der öffentlichen Wohlfahrt zu Phantasten zu machen. Damit wird bereits eine bestimmte Art solch angeblicher Phantasterei angedeutet: "Wer durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr erhitzt wird als es andere nach ihrem matten und öfters unedlen Gefühl sich vorstellen können, ist in ihrer ein Phantast. 2) Ibid. ll, 259 f. 3) Ibid. S.261. 4) Ibid. S. 262, 3-4.

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Ich stelle den Ar ist i des unter Wucherer, den E pik te t unter Hofleute und den Johann Jakob Rousseau unter die Doktoren der Sorbonne. Mich deucht, ich höre ein lautes Hohngelächter, und hundert Stimmen rufen: Welche Phantasten! Dieser zweideutige Anschein von Phantasterei in an sich guten moralischen Empfindungen ist der E nt h u s i a s mus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden"s. Daß er hier Rousseau an die Seite der überragenden ethischen Gestalten der Antike stellt und ihn als einen der großen Vertreter des Enthusiasmus des moralischen Gefühls bezeichnet, zeigt, wie hoch er ihn einschätzt und wie tief ihn seine Lehre beeindruckt hat. Im vorletzten Absatz kommt er nochmals auf jene ku I t ur phi losophische Betrachtung zu sprechen, von der er in der Einleitung ausgegangen war, und führt hier sämtliche Krankheiten des Kopfes und auch des Herzens mehr oder weniger auf die Gärungsmittel der bürgerlichen Verfassung zurück: "Der Mensch im Zustande der Natur kann nur wenig Thorheiten und schwerlich einiger Narrheit unterworfen sein. Seine Bedürfnisse halten ihn jederzeit nahe an der Erfahrung und geben seinem gesunden Verstande eine so leichte Beschäftigung, daß er kaum bemerkt, er habe zu seinen Handlungen Verstand nöthig. Seinen groben und gemeinen Begierden gibt die Trägheit eine Mäßigung, welche der wenigen Urtheilskraft, die er bedarf, Macht genug läßt, über sie seinem größten Vortheile gemäß zu herrschen. Wo sollte er wohl zur Narrheit Stoff hernehmen, da er, um anderer Urtheil unbekümmert, weder eitel noch aufgeblasen sein kann? Indem er von dem Werthe ungenossener Güter gar keine Vorstellung hat, so ist er vor der Ungereimtheit der filzigen Habsucht gesichert, und weil in seinen Kopf niemals einiger Witz Eingang findet, so ist er eben so wohl gegen allen Aberwitz gut verwahrt. Gleichergestalt kann die Störung des Gemüths in diesem Stande der Einfalt nur selten statt finden. Wenn das Gehirn des Wilden einigen Anstoß erlitten hätte, so weiß ich nicht, wo die Phantasterei herkommen sollte, um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn allein unablässig beschäftigen, zu verdrängen. Welcher Wahnsinn kann ihn wohl anwandeln, da er niemals Ursache hat, sich in seinem Urtheile weit zu versteigen? Der Wahnwitz aber ist gewiß ganz und gar über seine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe krank ist, entweder blödsinnig oder toll sein, und auch dieses muß höchst selten geschehen, denn er ist mehrentheils gesund, weil er frei ist und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gährungsmittel zu allem diesem Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößern dienen. Der Verstand, in so fern er zu den Nothwendigkeiten und den einfältigen Vergnügungen des Lebens zureicht, ist ein ge s und e r Ver s ta n d, in wie fern er aber zu der gekün5) Ibid. S. 266, 32-267.11.

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stelten Üppigkeit, es sei im Genusse oder in den Wissenschaften, erfordert wird, ist der feine Verstand. Der gesunde Verstand des Bürgers wäre also schon ein sehr feiner Verstand für den natürlichen Menschen, und die Begriffe, die in gewissen Ständen einen feinen Verstand voraussetzen, schicken sich nicht mehr für diejenigen, welche der Einfalt der Natur zum wenigsten in Einsichten näher sind, und machen, wenn sie zu diesen übergehen, aus ihnen gemeiniglich Narren"6. Man sieht aus diesen Stellen: Rousseaus Werke, namentlich der Emile, haben ihre Wirkung auf Kant getan: er hat s ich w e i t gehend dessen kulturphilosophische Konzeption zu ei gen ge mac h t , die in den Beobachtungen noch völlig fehlt: daß der Mensch im Zustand der bürgerlichen Gesittung ausgeartet und aus der ihm von der Natur angewiesenen Stelle gewichen sei und gerade dadurch die ihm ursprünglich von der Natur gegebene Gesundheit des Verstandes und des Herzens verloren habe. Die Grundlehren Rousseaus sind zu bekannt, als daß wir die Übereinstimmung hier im einzelnen nachweisen müßten; sie ist besonders eindrucksvoll für den, der unmittelbar nach dem Studium der Hauptwerke des Schweizers Kants zeitlich einander so nahe liegende Abhandlungen: die 'Beobachtungen' und unseren gegenwärtigen Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes, in dieser Hinsicht miteinander vergleicht. Von wesentlichem Interesse aber ist es in unserem Zusammenhang, sich eine konkrete Vorstellung zu machen, wie weitgehend die vorgetragenen Lehren sich dem Wortlaut oder wenigstens dem Inhalt nach decken mit den Reflexionen der Bemerkungen. Wenn wir auch jene Reflexionen mit berücksichtigen, die die Grundgedanken der hier nur andeutungsweise vorgetragenen Lehren weiter explizieren, so kommen dafür folgende in Betracht: XX,5,21-6,4; 6,6-11; 9,2-4; 11, 9-13; 11,14-17; 14,9-15,3; 15,16-18; 17,5-11; 31,13-24; 34,1618; 39,20-27; 41,19-30; 45,17-46,3; 53,2-4; 57,22-58,6; 77,6-12; 84,10-11; 90,1-2; 95,14-16; 101,1; 101,22f.; 122,6-10; 131,7-9; 151,4-6; 151,12-15; 164,12-16; 176,1-4; 181,11-16; 184,15-25.

2. Die Vorlesungsankündigung für das Winterhalbjahr 1765/66 und die 'Träume eines Geistersehers' (1765) Nicht weniger offensichtlich ist der Einfluß Rousseaus in der 'Nachricht' und in den 'Träumen eines Geistersehers'. Liest man sorgfältig die Einleitung zur Vorlesungsankündigung , so stoßen einem schon hier typisch Rousseausche Ideen auf und zwar zunächst solche, die die P ä d a go gi k betreffen. So die Klage über den Übelstand, daß die Unterweisung der Jugend an den Universitäten notge6) Ibid. S. 269.

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drungen den Jahren vorauseilen müsse, was wider die natürliche Ordnung sei und nur allzu leicht zu jenem Ergebnis führe, um dessentwillen Rousseau jede verfrühte Belehrung so entschieden abgelehnt hatte: nämlich die 'frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker. die blinder ist als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer ist als die Rousseau hatte allerdings aus dieser Erkenntnis radikalere Konsequenzen gezogen (nämlich grundsätzlich mit der Belehrung nie dem Alter und dem natürlichen Fassungsvermögen des Kindes und Jugendlichen vorzugreifen), während Kant, durch seine berufliche Tätigkeit gezwungen, diesem Übelstand nur einigermaßen durch eine Verbesserung der Methode des Unterrichts abhelfen wilt, indem er diesen soweit als möglich der natürlichen Ordnung, d. h. dem fortschreitenden Auffassungsvermögen seiner Hörer anpaßt. Aber selbst in der Begründung, warum er sich nicht die radikalen Konsequenzen des Schweizers zu eigen macht, wird noch dessen Einfluß deutlich: In dem Zeitalter ein er se h rau s geschmückten bürgerlichen Verfassung seien die feineren Einsichten, die auf den Akademien vermittelt werden und die ihrer Natur nach eigentlich nur zur Zierde des Lebens und zu dem entbehrlich Schönen gehören, zu Mitteln des Fortkommens und damit zu Bedürfnissen geworden. Der Rousseausche Hintergrund ist auch hier unverkennbar. Wenn man diese von ihm vorgeschlagene Methode umkehre, fährt Kant ganz in Rousseauschem Geist fort, "so erschnappt der Schüler eine Art von Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde, und trägt erborgte Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist, wobei seine Gemüthsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals, aber zugleich durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden ist. Dieses ist die Ursache, weswegen man nicht selten Gelehrte (eigentlich Studierte) antrifft, die wenig Verstand zeigen, und warum die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens". Ein weiterer an Rousseau erinnernder Zug dieser Einleitungliegt in ihrer Bestimmung des Z i eIe s der philosophischen Unterweisung: sie soll nicht ein bereits fertiges Wissen vermitteln, sondern eine Anleitung zu eigenem selbständigen Denken geben: "Kurz er (der Zuhörer) soll nicht Ge dan k e n, sondern denk e n lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll". Und zwar ergebe sich diese Methode aus der eigentümlichen Natur der Weltweisheit (Philosophie), die als eine typische Beschäftigung für das Mannesalter sich von den vorhergehenden Schulunterweisungen der Jugend wesentlich unterscheide: Die Jugend war bisher gewohnt zu lernen. Nun denkt sie, sie werde jetzt auch die Phi los 0 phi eIe r n e n , was aber unmöglich sei; denn man könne nur philosophieren lerne n. In der Philosophie gebe es im Unterschied zu den geschichtE-

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stelten Üppigkeit, es sei im Genusse oder in den Wissenschaften, erfordert wird, ist der feine Verstand. Der gesunde Verstand des Bürgers wäre also schon ein sehr feiner Verstand für den natürlichen Menschen, und die Begriffe, die in gewissen Ständen einen feinen Verstand voraussetzen, schicken sich nicht mehr für diejenigen, welche der Einfalt der Natur zum wenigsten in Einsichten näher sind, und machen, wenn sie zu diesen übergehen, aus ihnen gemeiniglich Narren"6. Man sieht aus diesen Stellen: Rousseaus Werke, namentlich der Emile, haben ihre Wirkung auf Kant getan: er hat s ich w e i t gehend dessen kulturphilosophische Konzeption zu ei gen ge mac h t , die in den Beobachtungen noch völlig fehlt: daß der Mensch im Zustand der bürgerlichen Gesittung ausgeartet und aus der ihm von der Natur angewiesenen Stelle gewichen sei und gerade dadurch die ihm ursprünglich von der Natur gegebene Gesundheit des Verstandes und des Herzens verloren habe. Die Grundlehren Rousseaus sind zu bekannt, als daß wir die Übereinstimmung hier im einzelnen nachweisen müßten; sie ist besonders eindrucksvoll für den, der unmittelbar nach dem Studium der Hauptwerke des Schweizers Kants zeitlich einander so nahe liegende Abhandlungen: die 'Beobachtungen' und unseren gegenwärtigen Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes, in dieser Hinsicht miteinander vergleicht. Von wesentlichem Interesse aber ist es in unserem Zusammenhang, sich eine konkrete Vorstellung zu machen, wie weitgehend die vorgetragenen Lehren sich dem Wortlaut oder wenigstens dem Inhalt nach decken mit den Reflexionen der Bemerkungen. Wenn wir auch jene Reflexionen mit berücksichtigen, die die Grundgedanken der hier nur andeutungsweise vorgetragenen Lehren weiter explizieren, so kommen dafür folgende in Betracht: XX,5,21-6,4; 6,6-11; 9,2-4; 11, 9-13; 11,14-17; 14,9-15,3; 15,16-18; 17,5-11; 31,13-24; 34,1618; 39,20-27; 41,19-30; 45,17-46,3; 53,2-4; 57,22-58,6; 77,6-12; 84,10-11; 90,1-2; 95,14-16; 101,1; 101,22f.; 122,6-10; 131,7-9; 151,4-6; 151,12-15; 164,12-16; 176,1-4; 181,11-16; 184,15-25.

2. Die Vorlesungsankündigung für das Winterhalbjahr 1765/66 und die 'Träume eines Geistersehers' (1765) Nicht weniger offensichtlich ist der Einfluß Rousseaus in der 'Nachricht' und in den 'Träumen eines Geistersehers'. Liest man sorgfältig die Einleitung zur Vorlesungsankündigung , so stoßen einem schon hier typisch Rousseausche Ideen auf und zwar zunächst solche, die die P ä d a go gi k betreffen. So die Klage über den Übelstand, daß die Unterweisung der Jugend an den Universitäten notge6) Ibid. S. 269.

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drungen den Jahren vorauseilen müsse, was wider die natürliche Ordnung sei und nur allzu leicht zu jenem Ergebnis führe, um dessentwillen Rousseau jede verfrühte Belehrung so entschieden abgelehnt hatte: nämlich die 'frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker. die blinder ist als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer ist als die Rousseau hatte allerdings aus dieser Erkenntnis radikalere Konsequenzen gezogen (nämlich grundsätzlich mit der Belehrung nie dem Alter und dem natürlichen Fassungsvermögen des Kindes und Jugendlichen vorzugreifen), während Kant, durch seine berufliche Tätigkeit gezwungen, diesem Übelstand nur einigermaßen durch eine Verbesserung der Methode des Unterrichts abhelfen wilt, indem er diesen soweit als möglich der natürlichen Ordnung, d. h. dem fortschreitenden Auffassungsvermögen seiner Hörer anpaßt. Aber selbst in der Begründung, warum er sich nicht die radikalen Konsequenzen des Schweizers zu eigen macht, wird noch dessen Einfluß deutlich: In dem Zeitalter ein er se h rau s geschmückten bürgerlichen Verfassung seien die feineren Einsichten, die auf den Akademien vermittelt werden und die ihrer Natur nach eigentlich nur zur Zierde des Lebens und zu dem entbehrlich Schönen gehören, zu Mitteln des Fortkommens und damit zu Bedürfnissen geworden. Der Rousseausche Hintergrund ist auch hier unverkennbar. Wenn man diese von ihm vorgeschlagene Methode umkehre, fährt Kant ganz in Rousseauschem Geist fort, "so erschnappt der Schüler eine Art von Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde, und trägt erborgte Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist, wobei seine Gemüthsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals, aber zugleich durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden ist. Dieses ist die Ursache, weswegen man nicht selten Gelehrte (eigentlich Studierte) antrifft, die wenig Verstand zeigen, und warum die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens". Ein weiterer an Rousseau erinnernder Zug dieser Einleitungliegt in ihrer Bestimmung des Z i eIe s der philosophischen Unterweisung: sie soll nicht ein bereits fertiges Wissen vermitteln, sondern eine Anleitung zu eigenem selbständigen Denken geben: "Kurz er (der Zuhörer) soll nicht Ge dan k e n, sondern denk e n lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll". Und zwar ergebe sich diese Methode aus der eigentümlichen Natur der Weltweisheit (Philosophie), die als eine typische Beschäftigung für das Mannesalter sich von den vorhergehenden Schulunterweisungen der Jugend wesentlich unterscheide: Die Jugend war bisher gewohnt zu lernen. Nun denkt sie, sie werde jetzt auch die Phi los 0 phi eIe r n e n , was aber unmöglich sei; denn man könne nur philosophieren lerne n. In der Philosophie gebe es im Unterschied zu den geschichtE-

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ehen und mathematischen Disziplinen keine fertige Wissenschaft, woraus folge ftdaßman des Zutrauens des gemeinen Wesens mißbrauche, wenn man, an statt die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern und sie zur künftig reifern ei gene n Einsicht auszubilden, sie mit einer dem Vorgeben nach schon fertigen Weltweisheit hintergeht, die ihnen zugute von anderen ausgedacht wäre, woraus ein Blendwerk von Wissenschaft entspringt". Die eigentümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit sei z e t e ti s eh, wie sie einige Alten nannten (von 1] T e iv ), d. i. forschend, und werde nur bei schon geübter Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d. i. entschieden. Gewiß wäre es eine Übertreibung, die eben dargelegten methodischen Grundsätze ausschließlich auf das Konto des Rousseauschen Einflusses zu setzen; denn was Kant hier als das eigentümliche Merkmal der Weltweisheit bezeichnet, die zetetische Methode, hat er selber praktisch seit der Habilitationsschrift geübt und nicht umsonst bezeichnet er sich in den Bemerkungen als einen Forscher von Natur. Aber die Verwandtschaft mit den Grundauffassungen Rousseaus ist doch nicht zu übersehen, der ganz allgemein schon im ersten Unterricht des Kindes nicht fertiges Wissen vermitteln will, vielmehr den Zögling die Wissenschaften sozusagen selbst er f i n den läßt, in der Überzeugung, daß nur auf diese Weise eine echte Aneignung und ein wirkliches Verstehen erreicht werden kann 7• Deutlich dagegen ist der Einfluß Rousseaus wieder nachweisbar in den Ausführungen speziell über das E t h i k k 0 11 e g. Schon in den einleitenden Darlegungen, daß die moralische Weltweisheit noch leichter als die Metaphysik den Schein von Wissenschaft und Gründlichkeit annehme, stoßen wir auf jenen Grundsatz, der auch im letzten Abschnitt der 'Träume' von fundamentaler Bedeutung ist: daß die Unterscheidung des Guten und Bösen in den Handlungen und das Urteil über die sittliche Rechtmäßigkeit geradezu und ohne den Umschweif der Beweise vom menschlichen Herzen durch dasjenige, was man Sentiment nennt, leicht und richtig erkannt werden könne; daß so die Fragen mehrenteils schon vor den Vernunftgründen entschieden seien, was dann dazu führe, alle Beweisgründe, die nur einigen Anschein haben, hingehen 7-U lassen. Während hier die Verwendung des Begriffs 'Sentiment' auf die Engländer verweist, die er kurz darauf anerkennend erwähnt, gemahnt der Terminus 'Herz' mehr an Rousseau, vor allem, wenn man unsere Stelle mit dem Schlußabschnitt der 'Träume' vergleicht, in dem dieser Begriff eine so große Rolle spielt und die Abhängigkeit von dieseIY' offensichtlich ist8; aber es ist auch nicht zu übersehen, daß der ganze Gedankengang dieses Absatzes nur wie eine kurze Zusammenfassung dessen 7) Ibid. S. 306 f. Cf. Rousseau. Oeuvres Completes (Lahure) I. 544 f. ; 545 f.; 357; 571 f. ; 584; 585 f. ; II.27 f.; 40; 137 (le bavardage des academies). 8) KGS H. 372. 19-29.

erscheint, was Crusius im § 136 seiner 'Anweisung' im Hinblick auf den Gewissenstrieb ausführt. Vor allem aber tritt uns der Einfluß des Genfers entgegen in der nun skizzierten neuen Methode der Ethik, die Kant als eine schöne Entdeckung /:leiner Zeit bezeichnet, weil sie, wenn man sie in ihrem völligen Plane erwägt, den Alten gänzlich unbekannt gewesen Sie best.eht darin, in der Tugendlehre jederzeit dasjeni'ge histound phIlosophisch zu erwägen, was ge s chi e h t, ehe er anzeIge, was ge sehe he n soll, um so die Methode deutlich zu machen, nach welcher man den Menschen studieren müsse nicht allein denjenigen, der durch die veränderliche Gestalt zufälligen entstellt und als solcher selbst von Philosophen fast jederzeIt verkannt worden, sondern die Natur des Menschen die imm.er bleibe und deren eigentümliche Stellung in der Schöpfung; das dieser anthropologischen Untersuchung aber ist, damit man WIsse 'welche Vollkommenheit ihm im Stande der roh e n und welche im Stande der we i sen Einfalt angemessen sei, was dagegen die Vorschrift seines Verhaltens sei, wenn er, indem er aus beiderlei Grenzen hinausgeht, die höchste Stufe der physischen oder moralischen Vortrefflichkeit zu berühren trachtet, aber von beiden mehr oder weniger abweicht'. Wir erfahren aus einem etwas soäteren Brief Hamans an Herder (vom 16.2.67), daß Kant damals an einer Metaphysik der Moral arbeitete, 'die im Kontrast der bisherigen mehr untersuchen wird, was der Mensch ist, als was er sein sol1'9. Das Anliegen dieser Methode ist es, aus der veränderlichen geschichtlichen Gestalt des Menschen das Unveränderliche und Blei?ende seiner wesentlichen Natur und damit seine eigentliche Stellung mnerhalb der Ordnung der Geschöpfe zu bestimmen und auf diese Weise das Sollen als das, was der Natur des Menschen angemessen ist; die Lösung dieses fundamentalen Problems (der wesentlichen Natur des Menschen) aber war nach den Reflexionen der Bemerkungen gerade die große Leistung Rou s s e aus, die Kant bewog, ihm für die Anthropologie und Ethik die gleiche Bedeutung zuzuerkennen, wie er sie Ne w ton für die Physik und Astronomie zuschrieb. Aber auch seine Ausführungen zum Kolleg über die 'P h Y s i sc h e Ge 0 g rap h i e' lassen u. E. noch einmal den Einfluß Rousseaus erkennen: wenn er sich hier vornimmt, u. a. den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschied desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde zu beschreiben, "eine sehr wichtige und eben so reizende Betrachtung, ohne welche man schwerlich allgemeine Urteile vom Menschen fällen kann, und wo die unter einander und mit dem moralischen Zustande älterer Zeiten geschehene Vergleichung uns eine große Karte des menschlichen Geschlechtes vor Augen legt", so ist das 9) Cf. KGS IV. 624.

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ehen und mathematischen Disziplinen keine fertige Wissenschaft, woraus folge ftdaßman des Zutrauens des gemeinen Wesens mißbrauche, wenn man, an statt die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern und sie zur künftig reifern ei gene n Einsicht auszubilden, sie mit einer dem Vorgeben nach schon fertigen Weltweisheit hintergeht, die ihnen zugute von anderen ausgedacht wäre, woraus ein Blendwerk von Wissenschaft entspringt". Die eigentümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit sei z e t e ti s eh, wie sie einige Alten nannten (von 1] T e iv ), d. i. forschend, und werde nur bei schon geübter Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d. i. entschieden. Gewiß wäre es eine Übertreibung, die eben dargelegten methodischen Grundsätze ausschließlich auf das Konto des Rousseauschen Einflusses zu setzen; denn was Kant hier als das eigentümliche Merkmal der Weltweisheit bezeichnet, die zetetische Methode, hat er selber praktisch seit der Habilitationsschrift geübt und nicht umsonst bezeichnet er sich in den Bemerkungen als einen Forscher von Natur. Aber die Verwandtschaft mit den Grundauffassungen Rousseaus ist doch nicht zu übersehen, der ganz allgemein schon im ersten Unterricht des Kindes nicht fertiges Wissen vermitteln will, vielmehr den Zögling die Wissenschaften sozusagen selbst er f i n den läßt, in der Überzeugung, daß nur auf diese Weise eine echte Aneignung und ein wirkliches Verstehen erreicht werden kann 7• Deutlich dagegen ist der Einfluß Rousseaus wieder nachweisbar in den Ausführungen speziell über das E t h i k k 0 11 e g. Schon in den einleitenden Darlegungen, daß die moralische Weltweisheit noch leichter als die Metaphysik den Schein von Wissenschaft und Gründlichkeit annehme, stoßen wir auf jenen Grundsatz, der auch im letzten Abschnitt der 'Träume' von fundamentaler Bedeutung ist: daß die Unterscheidung des Guten und Bösen in den Handlungen und das Urteil über die sittliche Rechtmäßigkeit geradezu und ohne den Umschweif der Beweise vom menschlichen Herzen durch dasjenige, was man Sentiment nennt, leicht und richtig erkannt werden könne; daß so die Fragen mehrenteils schon vor den Vernunftgründen entschieden seien, was dann dazu führe, alle Beweisgründe, die nur einigen Anschein haben, hingehen 7-U lassen. Während hier die Verwendung des Begriffs 'Sentiment' auf die Engländer verweist, die er kurz darauf anerkennend erwähnt, gemahnt der Terminus 'Herz' mehr an Rousseau, vor allem, wenn man unsere Stelle mit dem Schlußabschnitt der 'Träume' vergleicht, in dem dieser Begriff eine so große Rolle spielt und die Abhängigkeit von dieseIY' offensichtlich ist8; aber es ist auch nicht zu übersehen, daß der ganze Gedankengang dieses Absatzes nur wie eine kurze Zusammenfassung dessen 7) Ibid. S. 306 f. Cf. Rousseau. Oeuvres Completes (Lahure) I. 544 f. ; 545 f.; 357; 571 f. ; 584; 585 f. ; II.27 f.; 40; 137 (le bavardage des academies). 8) KGS H. 372. 19-29.

erscheint, was Crusius im § 136 seiner 'Anweisung' im Hinblick auf den Gewissenstrieb ausführt. Vor allem aber tritt uns der Einfluß des Genfers entgegen in der nun skizzierten neuen Methode der Ethik, die Kant als eine schöne Entdeckung /:leiner Zeit bezeichnet, weil sie, wenn man sie in ihrem völligen Plane erwägt, den Alten gänzlich unbekannt gewesen Sie best.eht darin, in der Tugendlehre jederzeit dasjeni'ge histound phIlosophisch zu erwägen, was ge s chi e h t, ehe er anzeIge, was ge sehe he n soll, um so die Methode deutlich zu machen, nach welcher man den Menschen studieren müsse nicht allein denjenigen, der durch die veränderliche Gestalt zufälligen entstellt und als solcher selbst von Philosophen fast jederzeIt verkannt worden, sondern die Natur des Menschen die imm.er bleibe und deren eigentümliche Stellung in der Schöpfung; das dieser anthropologischen Untersuchung aber ist, damit man WIsse 'welche Vollkommenheit ihm im Stande der roh e n und welche im Stande der we i sen Einfalt angemessen sei, was dagegen die Vorschrift seines Verhaltens sei, wenn er, indem er aus beiderlei Grenzen hinausgeht, die höchste Stufe der physischen oder moralischen Vortrefflichkeit zu berühren trachtet, aber von beiden mehr oder weniger abweicht'. Wir erfahren aus einem etwas soäteren Brief Hamans an Herder (vom 16.2.67), daß Kant damals an einer Metaphysik der Moral arbeitete, 'die im Kontrast der bisherigen mehr untersuchen wird, was der Mensch ist, als was er sein sol1'9. Das Anliegen dieser Methode ist es, aus der veränderlichen geschichtlichen Gestalt des Menschen das Unveränderliche und Blei?ende seiner wesentlichen Natur und damit seine eigentliche Stellung mnerhalb der Ordnung der Geschöpfe zu bestimmen und auf diese Weise das Sollen als das, was der Natur des Menschen angemessen ist; die Lösung dieses fundamentalen Problems (der wesentlichen Natur des Menschen) aber war nach den Reflexionen der Bemerkungen gerade die große Leistung Rou s s e aus, die Kant bewog, ihm für die Anthropologie und Ethik die gleiche Bedeutung zuzuerkennen, wie er sie Ne w ton für die Physik und Astronomie zuschrieb. Aber auch seine Ausführungen zum Kolleg über die 'P h Y s i sc h e Ge 0 g rap h i e' lassen u. E. noch einmal den Einfluß Rousseaus erkennen: wenn er sich hier vornimmt, u. a. den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschied desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde zu beschreiben, "eine sehr wichtige und eben so reizende Betrachtung, ohne welche man schwerlich allgemeine Urteile vom Menschen fällen kann, und wo die unter einander und mit dem moralischen Zustande älterer Zeiten geschehene Vergleichung uns eine große Karte des menschlichen Geschlechtes vor Augen legt", so ist das 9) Cf. KGS IV. 624.

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die Erfüllung dessen, was die Methode der Tugendlehre verlangte: den Menschen historisch zu studieren. damit diese Kenntnis bei der Jugend die Erfahrenheit ersetze und so für die praktische Vernunft vorbereite. Aber es ist auch die Verwirklichung des Planes, der ihm im IV. Abschnitt der Beobachtungen vorgeschwebt war und gerade in dieser Hinsicht tritt uns hier ein neuer Gesichtspunkt entgegen, der auf Rousseaus Contrat hinzuweisen scheint: daß nämlich der Zustand der Staaten und Völkerschaften auf der Erde erwogen werden soll "nicht sowohl wie er auf den zufälligen Ursachen der Unternehmung und des Schicksals einzelner Menschen als etwa der Regierungsfolge • den Eroberungen und Staatsränken beruht, sondern in Verhältnis auf das, was beständiger ist und den entfernten Grund von jenen enthält, nämlich die Lage ihrer Länder, die Produkte, Sitten, Gewerbe, Handlung und Bevölkerung", also das, was. wie er vorher gesagt hatte, das eigentliche Fundament aller Geschichte ist, ohne welches sie von Märchenerzählungen wenig unterschieden wäre. Hier dürfte Kant von den Gedankengängen angeregt sein, die Rousseau im Kapitel 11 des ll. Buches und in Kapitel 8 des III. Buches seiCo nt rat entwickelt. In s y s te m a t i s c her Hinsicht ist an diesen Ausführungen der 'Nachricht' naturgemäß vor allem wichtig, was Kant über seine neue Methode der Tugendlehre ausführt, die offenbar an der Rousseaus orientiert ist. Man hat sich auf diese die ethische Methode betreffenden Darlegungen berufen, um den wesentlichen Unterschied zwischen der vorkritischen und kritischen Ethik deutlich zu machen in dem Sinn, daß der Philosoph in der kritischen Phase jede empirische oder anthropologische Begründung der moralischen Prinzipien mit Entschiedenheit abgelehnt, während er es in den sechziger Jahren noch für notwendig gehalten habe, zuerst historisch und philosophisch zu erwägen, was geschieht, ehe man anzeige, was geschehen soll, wobei man diese letzteren Worte so verstand, als habe er damit eine empirische Begründung der moralischen Prinzipien gefordert - so Küenburg; ähnlich hat auch schon Menzer die Auffassung vertreten, daß sich Kant hier die psychologische Methode der Engländer vollends zu eigen gemacht und sie als die einzig mögliche Grundlage für eine no r m at iv e Ethik gehalten habe, also gerade auch um das Problem der Verpflichtung zu lösen, dessen Lösung den Engländern nicht vollständig gelungen sei 10 • Ohne Zweifel werden jedoch in dieser Art der Interpretation entscheidende Momente des Textes übersehen. Zunächst hat Schilpp mit Recht darauf hingewiesen, daß die fraglichen Sätze keineswegs ausdrücken, Kant wolle die ethischen Grundprobleme , speziell das der Verpflichtung, dadurch lösen, daß er untersucht, was geschieht, d.h. wie sich die Menschen tatsächlich verhalten, sondern lediglich, daß man, be vor man diese Probleme und die ihnen gemäße Methode 10) Küenburg. Diss. S.26; Menzer. Entwicklungsgang. K-St ll. S.317 f.

153

diskutiere, historisch und philosophisch erwägen müsse, was geschieht, um die Methode deutlich zu machen, nach der man den Menschen studieren müsse und zwar nach seiner wesentlichen, immer bleibenden Natur. Es hätte den Interpreten nicht schwer fallen dürfen, den elementaren Unterschied zu erfassen zwischen der Auffindung der Methode auf einem spezifischen Gebiet der intellektuellen Bemühung (endeavor) und der Vor be r e i tun g dieser Untersuchung durch eine verschiedene Art von Studium auf einem anderen Gebiet 11 • Offensichtlich haben die genannten Interpreten in der Tat das, was Kant über die Methode dieses vorausgehenden vorbereitenden Studiums der Natur des Menschen ausführte, ohne weiteres auf die Be,gründung der Prinzipien des Sollens selbst übertragen, obwohl dieser in Wirklichkeit nur von einer Vorbedingung der letzteren spricht. Aber der wesentliche Gesichtspunkt liegt nicht einmal in dieser gewiß nicht unwichtigen Unterscheidung, sondern in einer anderen fundamentaleren, auf die u. W. erstmals KI. Re i ch mit Nachdruck hingewiesen hat: Kant spricht in den erwähnten Ausführungen, beim Lichte besehen, überhaupt nur von der Methode der Tu gen dIe h re , nicht aber von der der grundlegenden praktischen Disziplin, nämlich der allgemeinen praktischen Weltweisheit, d. h. der moralphilosophischen Prinzipienlehre. Aber er unterscheidet eingangs sehr genau zwischen beiden, indem er sagt, daß er in dem bevorstehenden Semester die bei den praktischen Disziplinen, nämlich die all ge meine praktische Weltweisheit und die Tugendlehre, nach Baumgarten vortragen werde. Von der ersteren deutet er lediglich an, daß er den Versuchen der Engländer, nämlich Shaftesbury, Hutcheson und Hume, die obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Untersuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt seien, dieJenige Prä z i s ion und Erg ä n z u n g geben werde, die ihnen noch mangle. Aber er sagt doch mit keiner Silbe, daß er dabei nach derjenigen Methode :verfahren wolle oder müsse, die er in der Tu gen dIe h re für richtig erachtet und an der er auch später in der kritischen Phase noch durchaus festhält, insofern er sowohl zur näheren Bestimmung der menschlichen Tugendpflichten wie auch für die praktische Methodenlehre die An t h r 0 polo gi e stets als unentbehrlich betrachtet hat. Worin jene Ergänzung der ethischen Prinzipienlehre der Engländer näherhin bestand und nach welcher Methode er dabei verfuhr, wird hier weder gesagt noch angedeutet. Menzer vermutet auf Grund der Ausführungen des einleitenden Absatzes zum Thema E t h i k, daß sie in einer stärkeren Betonung der Vernunft bei der Bildung der sittlichen Urteile und der darauf beruhenden Grundsätze bestanden habe. Aber man wird Schilpp recht geben müssen, daß die Gründe, die jener für seine Vermutung anführt, keineswegs überzeugend sind, ja daß der Wortlaut dieses ersten Absatzes eher das Gegenteil der 11) SchlIpp. o. c. S. 77.

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die Erfüllung dessen, was die Methode der Tugendlehre verlangte: den Menschen historisch zu studieren. damit diese Kenntnis bei der Jugend die Erfahrenheit ersetze und so für die praktische Vernunft vorbereite. Aber es ist auch die Verwirklichung des Planes, der ihm im IV. Abschnitt der Beobachtungen vorgeschwebt war und gerade in dieser Hinsicht tritt uns hier ein neuer Gesichtspunkt entgegen, der auf Rousseaus Contrat hinzuweisen scheint: daß nämlich der Zustand der Staaten und Völkerschaften auf der Erde erwogen werden soll "nicht sowohl wie er auf den zufälligen Ursachen der Unternehmung und des Schicksals einzelner Menschen als etwa der Regierungsfolge • den Eroberungen und Staatsränken beruht, sondern in Verhältnis auf das, was beständiger ist und den entfernten Grund von jenen enthält, nämlich die Lage ihrer Länder, die Produkte, Sitten, Gewerbe, Handlung und Bevölkerung", also das, was. wie er vorher gesagt hatte, das eigentliche Fundament aller Geschichte ist, ohne welches sie von Märchenerzählungen wenig unterschieden wäre. Hier dürfte Kant von den Gedankengängen angeregt sein, die Rousseau im Kapitel 11 des ll. Buches und in Kapitel 8 des III. Buches seiCo nt rat entwickelt. In s y s te m a t i s c her Hinsicht ist an diesen Ausführungen der 'Nachricht' naturgemäß vor allem wichtig, was Kant über seine neue Methode der Tugendlehre ausführt, die offenbar an der Rousseaus orientiert ist. Man hat sich auf diese die ethische Methode betreffenden Darlegungen berufen, um den wesentlichen Unterschied zwischen der vorkritischen und kritischen Ethik deutlich zu machen in dem Sinn, daß der Philosoph in der kritischen Phase jede empirische oder anthropologische Begründung der moralischen Prinzipien mit Entschiedenheit abgelehnt, während er es in den sechziger Jahren noch für notwendig gehalten habe, zuerst historisch und philosophisch zu erwägen, was geschieht, ehe man anzeige, was geschehen soll, wobei man diese letzteren Worte so verstand, als habe er damit eine empirische Begründung der moralischen Prinzipien gefordert - so Küenburg; ähnlich hat auch schon Menzer die Auffassung vertreten, daß sich Kant hier die psychologische Methode der Engländer vollends zu eigen gemacht und sie als die einzig mögliche Grundlage für eine no r m at iv e Ethik gehalten habe, also gerade auch um das Problem der Verpflichtung zu lösen, dessen Lösung den Engländern nicht vollständig gelungen sei 10 • Ohne Zweifel werden jedoch in dieser Art der Interpretation entscheidende Momente des Textes übersehen. Zunächst hat Schilpp mit Recht darauf hingewiesen, daß die fraglichen Sätze keineswegs ausdrücken, Kant wolle die ethischen Grundprobleme , speziell das der Verpflichtung, dadurch lösen, daß er untersucht, was geschieht, d.h. wie sich die Menschen tatsächlich verhalten, sondern lediglich, daß man, be vor man diese Probleme und die ihnen gemäße Methode 10) Küenburg. Diss. S.26; Menzer. Entwicklungsgang. K-St ll. S.317 f.

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diskutiere, historisch und philosophisch erwägen müsse, was geschieht, um die Methode deutlich zu machen, nach der man den Menschen studieren müsse und zwar nach seiner wesentlichen, immer bleibenden Natur. Es hätte den Interpreten nicht schwer fallen dürfen, den elementaren Unterschied zu erfassen zwischen der Auffindung der Methode auf einem spezifischen Gebiet der intellektuellen Bemühung (endeavor) und der Vor be r e i tun g dieser Untersuchung durch eine verschiedene Art von Studium auf einem anderen Gebiet 11 • Offensichtlich haben die genannten Interpreten in der Tat das, was Kant über die Methode dieses vorausgehenden vorbereitenden Studiums der Natur des Menschen ausführte, ohne weiteres auf die Be,gründung der Prinzipien des Sollens selbst übertragen, obwohl dieser in Wirklichkeit nur von einer Vorbedingung der letzteren spricht. Aber der wesentliche Gesichtspunkt liegt nicht einmal in dieser gewiß nicht unwichtigen Unterscheidung, sondern in einer anderen fundamentaleren, auf die u. W. erstmals KI. Re i ch mit Nachdruck hingewiesen hat: Kant spricht in den erwähnten Ausführungen, beim Lichte besehen, überhaupt nur von der Methode der Tu gen dIe h re , nicht aber von der der grundlegenden praktischen Disziplin, nämlich der allgemeinen praktischen Weltweisheit, d. h. der moralphilosophischen Prinzipienlehre. Aber er unterscheidet eingangs sehr genau zwischen beiden, indem er sagt, daß er in dem bevorstehenden Semester die bei den praktischen Disziplinen, nämlich die all ge meine praktische Weltweisheit und die Tugendlehre, nach Baumgarten vortragen werde. Von der ersteren deutet er lediglich an, daß er den Versuchen der Engländer, nämlich Shaftesbury, Hutcheson und Hume, die obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Untersuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt seien, dieJenige Prä z i s ion und Erg ä n z u n g geben werde, die ihnen noch mangle. Aber er sagt doch mit keiner Silbe, daß er dabei nach derjenigen Methode :verfahren wolle oder müsse, die er in der Tu gen dIe h re für richtig erachtet und an der er auch später in der kritischen Phase noch durchaus festhält, insofern er sowohl zur näheren Bestimmung der menschlichen Tugendpflichten wie auch für die praktische Methodenlehre die An t h r 0 polo gi e stets als unentbehrlich betrachtet hat. Worin jene Ergänzung der ethischen Prinzipienlehre der Engländer näherhin bestand und nach welcher Methode er dabei verfuhr, wird hier weder gesagt noch angedeutet. Menzer vermutet auf Grund der Ausführungen des einleitenden Absatzes zum Thema E t h i k, daß sie in einer stärkeren Betonung der Vernunft bei der Bildung der sittlichen Urteile und der darauf beruhenden Grundsätze bestanden habe. Aber man wird Schilpp recht geben müssen, daß die Gründe, die jener für seine Vermutung anführt, keineswegs überzeugend sind, ja daß der Wortlaut dieses ersten Absatzes eher das Gegenteil der 11) SchlIpp. o. c. S. 77.

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Annahme Menzers nahe legen würde 12 • Was Kant hier mit dieser 'Ergänzung' näherhin im Auge hatte, kann nur bestimmt werden aus seinen damaligen Anschauungen über die Prinzipien des Sollens, s 0 weit sie uns aus anderen Quellen bekannt sind. In der Tat sind wir aus der Preis schrift sowohl wie vor allem aus den Bemerkungen und den Träumen eines Geistersehers sehr genau informiert über Kants' damalige Auffassung von den Grundlagen der sittlichen Verpflichtung, speziell darüber, worin sie wesentlich über die diesbezügliche Lehre der Engländer hinausgeht. Das ist nun der Punkt, wo Klo Reich auf Grund der lobenden Anerkennung der letzteren durch Kant und infolge des Mangels detaillierter Analysen der Quellen, vor allem der Preisschrift, zu einer falschen Schlußfolgerung gelangt. Er meint, wie wir gesehen haben, daß Kant einerseits Rousseau nur als Lehrer und Anreger auf dem beschränkten Gebiet der moraliäehen Anthropologie anerkannt habe, nicht aber als Lehrer in der Untersuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit, daß er aber andererseits mit Rousseau die ShaftesburyHutchesonsche Lehre von den ersten Prinzipien der Moralität, nämlich die Lehre vom moralischen Gefühl und dem ihm zuzurechnenden Prinzip der Teilnahme an der Glückseligkeit anderer akzeptiert und lediglich (wiederum mit Rousseau) den Shaftesburyschen Ku I t u r mo ra 1 i s mus abgelehnt habe. Das aber ist es gerade, was von den genannten Quellen her sich als gänzlich unzutreffend erweist, wie im folgenden deutlich werden wird. Was die etwa um die gleiche Zeit entstandene Abhandlung 'Träume eines Geistersehers' betrifft, so ist zunächst für das Verständnis derselben wichtig, sich über ihren besonderen Charakter und ihre besondere Funktion im Rahmen der übrigen Arbeiten des Philosophen klar zu werden. Sie stellt ohne Zweifel außer der Dissertation von 1770 die bedeutendste Veröffentlichung dieses Zeitraums dar und reiht sich so ebenbrütig den bereits genannten vier Abhandlungen der Jahre 1762/63 an. Ihre Bedeutung wird noch unterstrichen durch den Umstand, daß Kant in den folgenden fünf Jahren bis 1770 (außer dem naturphilosophischen Aufsatz 'Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume') nichts veröffentlicht hat. Vor allem ist zu beachten, daß wir hier eine Abhandlung über ein wesentlich met a p h Y s i s c h e s Problem vor uns haben, und wenn sie auch partienweise wertvolle Ausführungen moralphilosophischen Inhaltes enthält, sie doch offenbar keine t h em at i s c he Dar I e gun g einer ethischen Prinzipienlehre intendiert; auch stehen ihre moralphilosophischen Darlegungen zu sehr am Rande und sind im ganzen viel zu sporadisch als daß sie etwa denen der Preis schrift an die Seite gestellt werden könnten. Ja, genau betrachtet ist die Ahhandlung nicht einmal in ihrer metaphysischen Thematik mit der 12) Cf. ibid. S.78.

letzteren vergleichbar; denn sie behandelt nur ein ganz spezielles Problem der Metaphysik: die Erkenntnis des Wesens und Wirkens der gei s t i gen Na tu ren, soweit sie einen Teil des Universums ausmachen, und unter ihnen zunächst der menschlichen Seele, insofern sie als ein unkörperliches, aber mit dem Leib verbundenes Wesen gedacht wird 13. Es geht also hier nicht wie in der Preisschrift um daR Wesen und die spezifische Methode der metaphysischen Erkenntnis überhaupt, wenn er auch mit der Behandlung des obigen Teilproblems (dessen Lösung bekanntlich negativ ausfällt) grundsätzliche Ausführungen zur Metaphysik als solcher verbindet. Der wenig ausgeglichene und abgerundete Charakter der Abhandlung, in der sich die Themen öfter überschneiden, hängt mit der Art ihrer Entstehung zusammen. Es war eine Gelegenheitsschrift, die ihm, wie er selbst bekennt, abgenötigt worden war von dem ungestümen Drängen bekannter und unbekannter Freunde 14, die ihn um eine Stellungnahme zu dem damals erschienenen Werk Svedenborgs über Geistererscheinungen angingen, und die er, wie er in seinem Brief an Mendelssohn vom 8.4.66 bemerkt, in ziemlicher Unordnung abgefaßt und bogenweise hintereinander hat abdrucken lassen, wobei er nicht immer übersehen konnte, was zum bp.sseren Verständnis des folgenden hätte vorausgeschickt werden sollen 15. Aus seinem Brief an Lambert vom 31. 12. 6516 erfahren wir Genaue res über seine ei gen tl ich e n 1 i t e rar i s c h e n PI ä neu nd A (' bei te n, durch die er vor allem die in der Preisschrift in Angriff genommene Bestimmung des wahren Wesens und der wahren Methode der Metaphysik weiterführen und zum Abschluß bringen wollte. Er arbeitete damals Ende 65 an einem größeren Werk über die eigentümliche Methode der metaphysischen bzw. der philosophischen Erkenntnis überhaupt, die man beobachten müsse, "wenn man demjenigen Blendwerk des Wissens entgehen will, was da macht, daß man alle Augenblicke glaubt zur Entscheidung gelangt zu sein, aber ebenso oft seinen Weg wieder zurücknehmen muß, und woraus auch die zerstörende Uneinigkeit der vermeinten Philosophen entspringt, weil gar kein gemeinsames Richtmaß da ist, ihre Bemühungen einstimmig zu machen". Wenn er dann des näheren darlegt, in welcher Richtung er die Lösung sieht: daß es dabei vor allem darauf ankomme, aus der Natur einer jeden ihm vorliegenden Untersuchung zu sehen, was man wissen müsse, um die Auflösung einer besonderen Aufgabe zu leisten, und welcher Grad der Erkenntnis aus demjenigen bestimmt sei, was gegeben worden, so daß das Urteil öfters eingeschränkter. aber auch bestimmter und sicherer werde als es gemeinhin geschehe, so erhellt daraus ein doppeltes: nicht nur daß er 13) Cf. Kants Brief an Mendelssohn vom 8. 4. 14) KGS II, 318, 17.20; 367,10-11. 15) Ibid. X, 68,19-20; 69,27-28; 71,19-28. 16) Ibid. S.54 ff.

in KGS X, S. 71, 28-34.

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Annahme Menzers nahe legen würde 12 • Was Kant hier mit dieser 'Ergänzung' näherhin im Auge hatte, kann nur bestimmt werden aus seinen damaligen Anschauungen über die Prinzipien des Sollens, s 0 weit sie uns aus anderen Quellen bekannt sind. In der Tat sind wir aus der Preis schrift sowohl wie vor allem aus den Bemerkungen und den Träumen eines Geistersehers sehr genau informiert über Kants' damalige Auffassung von den Grundlagen der sittlichen Verpflichtung, speziell darüber, worin sie wesentlich über die diesbezügliche Lehre der Engländer hinausgeht. Das ist nun der Punkt, wo Klo Reich auf Grund der lobenden Anerkennung der letzteren durch Kant und infolge des Mangels detaillierter Analysen der Quellen, vor allem der Preisschrift, zu einer falschen Schlußfolgerung gelangt. Er meint, wie wir gesehen haben, daß Kant einerseits Rousseau nur als Lehrer und Anreger auf dem beschränkten Gebiet der moraliäehen Anthropologie anerkannt habe, nicht aber als Lehrer in der Untersuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit, daß er aber andererseits mit Rousseau die ShaftesburyHutchesonsche Lehre von den ersten Prinzipien der Moralität, nämlich die Lehre vom moralischen Gefühl und dem ihm zuzurechnenden Prinzip der Teilnahme an der Glückseligkeit anderer akzeptiert und lediglich (wiederum mit Rousseau) den Shaftesburyschen Ku I t u r mo ra 1 i s mus abgelehnt habe. Das aber ist es gerade, was von den genannten Quellen her sich als gänzlich unzutreffend erweist, wie im folgenden deutlich werden wird. Was die etwa um die gleiche Zeit entstandene Abhandlung 'Träume eines Geistersehers' betrifft, so ist zunächst für das Verständnis derselben wichtig, sich über ihren besonderen Charakter und ihre besondere Funktion im Rahmen der übrigen Arbeiten des Philosophen klar zu werden. Sie stellt ohne Zweifel außer der Dissertation von 1770 die bedeutendste Veröffentlichung dieses Zeitraums dar und reiht sich so ebenbrütig den bereits genannten vier Abhandlungen der Jahre 1762/63 an. Ihre Bedeutung wird noch unterstrichen durch den Umstand, daß Kant in den folgenden fünf Jahren bis 1770 (außer dem naturphilosophischen Aufsatz 'Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume') nichts veröffentlicht hat. Vor allem ist zu beachten, daß wir hier eine Abhandlung über ein wesentlich met a p h Y s i s c h e s Problem vor uns haben, und wenn sie auch partienweise wertvolle Ausführungen moralphilosophischen Inhaltes enthält, sie doch offenbar keine t h em at i s c he Dar I e gun g einer ethischen Prinzipienlehre intendiert; auch stehen ihre moralphilosophischen Darlegungen zu sehr am Rande und sind im ganzen viel zu sporadisch als daß sie etwa denen der Preis schrift an die Seite gestellt werden könnten. Ja, genau betrachtet ist die Ahhandlung nicht einmal in ihrer metaphysischen Thematik mit der 12) Cf. ibid. S.78.

letzteren vergleichbar; denn sie behandelt nur ein ganz spezielles Problem der Metaphysik: die Erkenntnis des Wesens und Wirkens der gei s t i gen Na tu ren, soweit sie einen Teil des Universums ausmachen, und unter ihnen zunächst der menschlichen Seele, insofern sie als ein unkörperliches, aber mit dem Leib verbundenes Wesen gedacht wird 13. Es geht also hier nicht wie in der Preisschrift um daR Wesen und die spezifische Methode der metaphysischen Erkenntnis überhaupt, wenn er auch mit der Behandlung des obigen Teilproblems (dessen Lösung bekanntlich negativ ausfällt) grundsätzliche Ausführungen zur Metaphysik als solcher verbindet. Der wenig ausgeglichene und abgerundete Charakter der Abhandlung, in der sich die Themen öfter überschneiden, hängt mit der Art ihrer Entstehung zusammen. Es war eine Gelegenheitsschrift, die ihm, wie er selbst bekennt, abgenötigt worden war von dem ungestümen Drängen bekannter und unbekannter Freunde 14, die ihn um eine Stellungnahme zu dem damals erschienenen Werk Svedenborgs über Geistererscheinungen angingen, und die er, wie er in seinem Brief an Mendelssohn vom 8.4.66 bemerkt, in ziemlicher Unordnung abgefaßt und bogenweise hintereinander hat abdrucken lassen, wobei er nicht immer übersehen konnte, was zum bp.sseren Verständnis des folgenden hätte vorausgeschickt werden sollen 15. Aus seinem Brief an Lambert vom 31. 12. 6516 erfahren wir Genaue res über seine ei gen tl ich e n 1 i t e rar i s c h e n PI ä neu nd A (' bei te n, durch die er vor allem die in der Preisschrift in Angriff genommene Bestimmung des wahren Wesens und der wahren Methode der Metaphysik weiterführen und zum Abschluß bringen wollte. Er arbeitete damals Ende 65 an einem größeren Werk über die eigentümliche Methode der metaphysischen bzw. der philosophischen Erkenntnis überhaupt, die man beobachten müsse, "wenn man demjenigen Blendwerk des Wissens entgehen will, was da macht, daß man alle Augenblicke glaubt zur Entscheidung gelangt zu sein, aber ebenso oft seinen Weg wieder zurücknehmen muß, und woraus auch die zerstörende Uneinigkeit der vermeinten Philosophen entspringt, weil gar kein gemeinsames Richtmaß da ist, ihre Bemühungen einstimmig zu machen". Wenn er dann des näheren darlegt, in welcher Richtung er die Lösung sieht: daß es dabei vor allem darauf ankomme, aus der Natur einer jeden ihm vorliegenden Untersuchung zu sehen, was man wissen müsse, um die Auflösung einer besonderen Aufgabe zu leisten, und welcher Grad der Erkenntnis aus demjenigen bestimmt sei, was gegeben worden, so daß das Urteil öfters eingeschränkter. aber auch bestimmter und sicherer werde als es gemeinhin geschehe, so erhellt daraus ein doppeltes: nicht nur daß er 13) Cf. Kants Brief an Mendelssohn vom 8. 4. 14) KGS II, 318, 17.20; 367,10-11. 15) Ibid. X, 68,19-20; 69,27-28; 71,19-28. 16) Ibid. S.54 ff.

in KGS X, S. 71, 28-34.

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hier das Problem der Methode der Metaphysik viel bestimmter for muliert als in der Preisschrift , sondern auch daß er uns in den Träumen die hier gekennzeichnete Methode an einem konkreten Beispiel vordemonstriert. Aber noch etwas anderes steht in diesem Brief an Lambert zu was in unserem Zusammenhang von großer Bedeutung ist: daß er nämlich dieses größere Werk, das von Kante r bereits voreilig im Leipziger Messekatalog für die Ostermesse 1766 angezeigt worden war, nochmals zurückstellte, weil es ihm noch nicht zu seiner Befriedigung gelungen sei, das richtige Verfahren der Metaphysik in concreto aufzuzeigen, und daß er, um die Hauptschrift nicht durch allzu weitläufige und doch unzulängliche Beispiele in die Länge zu ziehen, einige kleinere Bearbeitungen vorausschicken wollte, deren Stoff ihm bereits vorlag, worunter die 'Metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit' und die 'Metaphysischen Anfangsgründe der 'Praktischen Weltweisheit' die erstfm sein sollten. Es ist klar; wäre das größere Werk, an dem Kant damals arbeitete. oder auch nur die beiden kleineren als Vorläufer gedachten jemals veröffentlicht worden, dann läge seine Entwicklung zwischen der Preis schrift und der Dissertation von 1770 wesentlich klarer vor uns und würde uns der Mühe mancher verwickelten Untersuchung entheben. Wichtig ist also für die Beurteilung der Träume eines Geistersehers, daß es sich bei ihnen nicht um eine Schrift hand e 1 t, die s 0 zu sag e n auf dem ,Weg e und in der R ic h tung der eigentlichen literarischen Pläne und Entwürfe des Philosophen liegt, sondern außerhalb der s e 1 ben. Andererseits freilich bekommen sie gerade vom Hintergrund dieser unveröffentlichten Entwürfe her ein eigenartiges Gewicht; denn wir müssen annehmen, daß ein guter Teil der inzwischen von Kant gewonnenen neuen Einsichten, die er in den geplanten Schriften darlegen wollte. in irgend einer Form in unsere aus eine)n mehr zufälligen Anlaß entstandene Abhandlung eingegangen ist: so bekommen nicht nur seine hier enthaltenen Darlegungen über die theoretische Metaphysik, sondern auch die über die praktische Philosophie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Unverkennbar ist auch in dieser Abhandlung die R 0 u s se au s c h e P.rägung, wobei die Anklänge an den Emile gerade hier oft bis in den sprachlichen Ausdruck hinein gehen. Hatte er in dem Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes Rousseau als den wahren Wei- , sen den Doktoren der Sorbonne gegenüber gestellt und in der Nachricht davon gesprochen, daß die Akademien infolge ihrer falschen Methode des Unterrichts mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens,so nimmt er diesen Gedanken in den 'Träumen eines Geistersehers' wieder auf mit der abfälligen Bemerkung von dem methodischen Geschwätz der

hohen Schulen, die oft nur durch veränderliche Wortbedeutung schwer zu lösenden Fragen ausweichen (wie bei der gegenwärtigen nach dem Wesen eines Geistes) und auf denen das bequeme und meist vernünftige 'i c h we i ß ni c h t' nicht zu hören ist 17, alles in allem Sätze, die an Schärfe dem Urteil Rousseaus über die Akademien kaum nachstehen; in der Begründung dieser Oberflächlichkeit und Hohlheit des gelehrten Betriebs aber führt er einen Grundsatz an, der ganz im Sinne des 'Emile' ist: "Denn wovon man frühzeitig als ein Kind sehr viel weiß, davon ist man sicher, später hin und im Alter nichts zu wissen, und der Mann der Gründlichkeit wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahnes"18. Ebenso erinnern die abschließenden Sätze des ganzen theoretischen Teiles unverkennbar an Rousseau: wenn er hier, nachdem er die Vergeblichkeit der Bemühungen dargetan, mit Hilfe der Wissenschaft etwas Sicheres über die Geisterwelt auszumachen, den forschenden Geist von seinen metaphysischen Flügen auf den niedrigen Boden der Erfahrung und des gemeinen Verstandes zurückruft als den uns angewiesenen PI atz, aus dem wir niemals hinausgehen können und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, so lange wir uns am Nützlichen halten. Hesonders eindrUCKsvoll aber tritt uns der Einfluß des Genfers in dem kurzen III. Hauptstück, dem 'Praktischen Schluß aus der ganzen Abhandlung' entgegen. Hier wird zunächst der Gedanke weitergeführt, mit dem er das 11. Hauptstück geschlossen hatte: "Wenn die Wissenschaft ihren Kreis durchlaufen hat, gelangt sie natürlicher Weise zu dem Punkte eines bescheidenen Mißtrauens und sagt, unwillig über sich selbst: Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht einsehe! 11 womit sie zur Bestimmung der ihr durch die Natur gesetzten Grenzen komme, indem sie alle bodenlosen Spekulationen, die vielleicht an sich nicht unwürdig sein mögen, als au ß e rh alb der S p h ä red e s Me n s c he n li e gen d betrachte und dem limbus der Eitelkeit zuweise. Auf diese Weise treffe die Metaphysik mit der Grundhaltung der gereiften praktischen Vernunft, die zur Weisheit, d. h. zur weisen Einfalt werde, zusammen,. die mit Sokrates inmitten der Menge von Waren eines Jahrmarkts sage: Wie viele Dinge gibt es doch die ich nicht brauche. Solange aber dieser Punkt bei der Wissenschaft nicht erreicht sei, rufe die weise Einfalt vergeblich, daß solche große Bestrebungen entbehrlich seien. Die Annehmlichkeit, welche die Erweiterung des Wissens begleite, werde leicht den Schein der Pflichtmäßigkeit annehmen und jene vorsätzliche und überlegte Genügsamkeit als dumme Einfalt betrachten, die sich der Veredelung unserer Natur entgegensetzen wolle. Nachdem Kant nun diesen Weg der Wissenschaft von ihren spe17) Ibid. H, 319,13-17; cf. Rousseau, Oeuvres I, 584; 586; H, 137. 18) KGS H. 320.1-3; cf. Rousseau. Oeuvres I. ,566; 571 f. ; H, 48; 50 f.

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hier das Problem der Methode der Metaphysik viel bestimmter for muliert als in der Preisschrift , sondern auch daß er uns in den Träumen die hier gekennzeichnete Methode an einem konkreten Beispiel vordemonstriert. Aber noch etwas anderes steht in diesem Brief an Lambert zu was in unserem Zusammenhang von großer Bedeutung ist: daß er nämlich dieses größere Werk, das von Kante r bereits voreilig im Leipziger Messekatalog für die Ostermesse 1766 angezeigt worden war, nochmals zurückstellte, weil es ihm noch nicht zu seiner Befriedigung gelungen sei, das richtige Verfahren der Metaphysik in concreto aufzuzeigen, und daß er, um die Hauptschrift nicht durch allzu weitläufige und doch unzulängliche Beispiele in die Länge zu ziehen, einige kleinere Bearbeitungen vorausschicken wollte, deren Stoff ihm bereits vorlag, worunter die 'Metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit' und die 'Metaphysischen Anfangsgründe der 'Praktischen Weltweisheit' die erstfm sein sollten. Es ist klar; wäre das größere Werk, an dem Kant damals arbeitete. oder auch nur die beiden kleineren als Vorläufer gedachten jemals veröffentlicht worden, dann läge seine Entwicklung zwischen der Preis schrift und der Dissertation von 1770 wesentlich klarer vor uns und würde uns der Mühe mancher verwickelten Untersuchung entheben. Wichtig ist also für die Beurteilung der Träume eines Geistersehers, daß es sich bei ihnen nicht um eine Schrift hand e 1 t, die s 0 zu sag e n auf dem ,Weg e und in der R ic h tung der eigentlichen literarischen Pläne und Entwürfe des Philosophen liegt, sondern außerhalb der s e 1 ben. Andererseits freilich bekommen sie gerade vom Hintergrund dieser unveröffentlichten Entwürfe her ein eigenartiges Gewicht; denn wir müssen annehmen, daß ein guter Teil der inzwischen von Kant gewonnenen neuen Einsichten, die er in den geplanten Schriften darlegen wollte. in irgend einer Form in unsere aus eine)n mehr zufälligen Anlaß entstandene Abhandlung eingegangen ist: so bekommen nicht nur seine hier enthaltenen Darlegungen über die theoretische Metaphysik, sondern auch die über die praktische Philosophie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Unverkennbar ist auch in dieser Abhandlung die R 0 u s se au s c h e P.rägung, wobei die Anklänge an den Emile gerade hier oft bis in den sprachlichen Ausdruck hinein gehen. Hatte er in dem Aufsatz über die Krankheiten des Kopfes Rousseau als den wahren Wei- , sen den Doktoren der Sorbonne gegenüber gestellt und in der Nachricht davon gesprochen, daß die Akademien infolge ihrer falschen Methode des Unterrichts mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens,so nimmt er diesen Gedanken in den 'Träumen eines Geistersehers' wieder auf mit der abfälligen Bemerkung von dem methodischen Geschwätz der

hohen Schulen, die oft nur durch veränderliche Wortbedeutung schwer zu lösenden Fragen ausweichen (wie bei der gegenwärtigen nach dem Wesen eines Geistes) und auf denen das bequeme und meist vernünftige 'i c h we i ß ni c h t' nicht zu hören ist 17, alles in allem Sätze, die an Schärfe dem Urteil Rousseaus über die Akademien kaum nachstehen; in der Begründung dieser Oberflächlichkeit und Hohlheit des gelehrten Betriebs aber führt er einen Grundsatz an, der ganz im Sinne des 'Emile' ist: "Denn wovon man frühzeitig als ein Kind sehr viel weiß, davon ist man sicher, später hin und im Alter nichts zu wissen, und der Mann der Gründlichkeit wird zuletzt höchstens der Sophist seines Jugendwahnes"18. Ebenso erinnern die abschließenden Sätze des ganzen theoretischen Teiles unverkennbar an Rousseau: wenn er hier, nachdem er die Vergeblichkeit der Bemühungen dargetan, mit Hilfe der Wissenschaft etwas Sicheres über die Geisterwelt auszumachen, den forschenden Geist von seinen metaphysischen Flügen auf den niedrigen Boden der Erfahrung und des gemeinen Verstandes zurückruft als den uns angewiesenen PI atz, aus dem wir niemals hinausgehen können und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, so lange wir uns am Nützlichen halten. Hesonders eindrUCKsvoll aber tritt uns der Einfluß des Genfers in dem kurzen III. Hauptstück, dem 'Praktischen Schluß aus der ganzen Abhandlung' entgegen. Hier wird zunächst der Gedanke weitergeführt, mit dem er das 11. Hauptstück geschlossen hatte: "Wenn die Wissenschaft ihren Kreis durchlaufen hat, gelangt sie natürlicher Weise zu dem Punkte eines bescheidenen Mißtrauens und sagt, unwillig über sich selbst: Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht einsehe! 11 womit sie zur Bestimmung der ihr durch die Natur gesetzten Grenzen komme, indem sie alle bodenlosen Spekulationen, die vielleicht an sich nicht unwürdig sein mögen, als au ß e rh alb der S p h ä red e s Me n s c he n li e gen d betrachte und dem limbus der Eitelkeit zuweise. Auf diese Weise treffe die Metaphysik mit der Grundhaltung der gereiften praktischen Vernunft, die zur Weisheit, d. h. zur weisen Einfalt werde, zusammen,. die mit Sokrates inmitten der Menge von Waren eines Jahrmarkts sage: Wie viele Dinge gibt es doch die ich nicht brauche. Solange aber dieser Punkt bei der Wissenschaft nicht erreicht sei, rufe die weise Einfalt vergeblich, daß solche große Bestrebungen entbehrlich seien. Die Annehmlichkeit, welche die Erweiterung des Wissens begleite, werde leicht den Schein der Pflichtmäßigkeit annehmen und jene vorsätzliche und überlegte Genügsamkeit als dumme Einfalt betrachten, die sich der Veredelung unserer Natur entgegensetzen wolle. Nachdem Kant nun diesen Weg der Wissenschaft von ihren spe17) Ibid. H, 319,13-17; cf. Rousseau, Oeuvres I, 584; 586; H, 137. 18) KGS H. 320.1-3; cf. Rousseau. Oeuvres I. ,566; 571 f. ; H, 48; 50 f.

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158 kulativen Bemühungen um die Fragen nach der geistigen Natur der Seele und ihren künftigen Zustand bis zur Erkenntnis, daß diese ihrem Wesen nach außerhalb der Möglichkeit des Menschen liegen, nochmals in längeren Ausführungen dargetan hat, geht er im letzten Absatz näher ein auf die we i seE in fa I t, zu deren Begleiterin nun die so geläuterte und ernüchterte Wissenschaft wird. Die Eitelkeit begründe gerne ihre Bemühungen um diese Fragen durch den Vorwand der Wichtigkeit, daß nämlich die Vernunfteinsicht von der geistigen Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Beweggrund eines tugendhaften Lebens sehr nötig sei. Allein die wahre Weisheit, die die Begleiterin der Einfalt ist und bei der das Herz dem Verstand die Vorschrift gibt, mache gt::meiniglich die großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, weil ihre Zwecke nicht solcher Mittel bedürfen, die nimmermehr in aller Gew;Üt sind, wie der Philosoph bereits in der Vorrede zum Einzig möglichen Beweisgrund hinsichtlich der wichtigsten aller unserer Erkenntnisse: es ist ein Gott, ausgeführt hatte 19. Das Neue in den Träumen ist, daß hier nicht etwa wie dort dem natürlichen gemeinen Verstand ohne die Spitzfindigkeit feiner Schlüsse genugsam überführende Beweistümer (für das Dasein Gottes) zugeschrieben werden, sondern das Her z seI b s t als Sitz des moralischen Gefühls und des Gewissens dem Verstand die Vorschrift gibt, d. h. ihm die entscheidenden weltanschaulichen Erkenntnisse überliefert. Wie aber dieses zu denken ist, wird aus dem klar, was er weiter unten ausführt: Die Erfahrung lehre, daß es viele gibt, die von der künftigen Welt belehrt und überzeugt sind, gleichwohl dem Laster und der Niederträchtigkeit ergeben, nur auf Mittel sinnen, den drohenden Folgen der Zukunft arglistig auszuweichen; aber es habe wohl niemals eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Die eigentliche Quelle der Hoffnung auf das Weiterleben nach dem Tode ist also nicht die theoretische Erkenntnis der Geistigkeit der Seele, auch nicht die im Rahmen des gemeinen natürlichen Verstandes, sondern die moralische Gesinnung des Her zen s, die Tugend und Rechtschaffenheit, mit der sie unzertrennlich verbunden ist. Damit ist die Lösung der einen großen Weltanschauungsfrage auf die sittliche Gesinnung gegründet. Die entscheidende Anregung zu diesem Gedanken aber dürfte Kant außer bei Hutcheson in dem Glaubensbekenntnis des Rousseauschen Vi ca ire S a v 0 y a r derhalten haben, der, nachdem er wie die Güte so auch die GereChtigkeit Gottes als die notwendige Folge seiner unbegrenzten Macht aufgewiesen hat, weiterfährt: "Je mehr ich in mich selbst zurückkehre, je mehr ich mich befrage, desto deutlicher lese ich diese Worte in meine 19) KGS II, 65,5-18.

159 Seele geschrieben: sei gerecht und du wirst glücklich sein! Das sind wir gleichwohl dem jetzigen Zustande der Dinge nach nicht; dem Bösen geht es wohl und der Gerechte bleibt unterdrückt. Man sehe auch, welch ein Unwille sich in uns entzündet, wenn diese Erwartung getäuscht wird. Das Gewissen erhebt sich und murrt gegen seinen Urheber ... Sollte man bei dem Murren der ungeduldigen Sterblichen sagen, Gott sei ihnen die Belohnung vor dem Verdienst schuldig und verbunden, ihnen ihre Tugenden im voraus zu bezahlen? So laßt uns erst gut sein und dann werden wir glücklich sein! Laßt uns nicht den Preis vor dem Siege noch den Lohn vor der Arbeit fordern! Ist die Seele immateriell, so kann sie den Leib überleben und überlebt sie ihn, so ist die göttliche Vorsehung gerechtfertigt'. Hätte ich auch keinen anderen Beweis von der Immaterialität der Seele als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, so würde der allein mich abhalten, daran zu zweifeln. Ein so anstößiger Mißlaut in der allgemeinen Harmonie würde mich die Auflösung desselben suchen lassen. Ich würde zu mir sagen: es endigt sich nicht alles mit dem Leben. Alles kommt beim Tode wieder in Ordnung" 20 • Aber Kant spricht in diesem Zusammenhang mit einer deutlichen Zäsur zu der eben behandelten Hoffnung oder Erwartung der künftigen Welt noch von einem anderen: "So ist auch der mo ra I i sc h e GI au be bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustand angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt" 21. Diese deutliche Zäsur zum Vorausgehenden in Verbindung mit der uneingeschränkten Allgemeinheit des vorher angeführten Prinzips, daß bei der wahren das Herz dem Verstand die Vorschrift gebe und gemeinighch die großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich mache um zu ihr e n Z w eck e n zu gelangen, sowie der Terminus ImOralischer Glaube ' selbst im Gegensatz zur Hoffnung auf das zukünftige Leben, legen schon mit großer Wahrscheinlichkeit nahe daß Kant hier die Lösung der anderen großen Weltanschauungsfrag:, die des Das ein s Go t t es im Auge hat. Auch die Abhängigkeit des ganzen Abschnittes von dem bereits erwähnten Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars weist in diese Richtung; denn gegen Ende desselben lesen wir: "Mein Sohn, halten Sie Ihre Seele in dem Zustande, allzeit nach dem Dasein Gottes zu verlangen und Sie werden dann niemals an Gott zweifeln". Also ist der Glaube an das Dasein Gottes unzertrennlich mit der Tugend verbunden, aber auch umgekehrt ist dieser Glaube auch die notwendige Voraussetzung der Tugend, wie der Vikar am Ende des nämlichen Absatzes betont: daß 20) Rousseau II, 73 f. 21) KGS II, 373.8-11.

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158 kulativen Bemühungen um die Fragen nach der geistigen Natur der Seele und ihren künftigen Zustand bis zur Erkenntnis, daß diese ihrem Wesen nach außerhalb der Möglichkeit des Menschen liegen, nochmals in längeren Ausführungen dargetan hat, geht er im letzten Absatz näher ein auf die we i seE in fa I t, zu deren Begleiterin nun die so geläuterte und ernüchterte Wissenschaft wird. Die Eitelkeit begründe gerne ihre Bemühungen um diese Fragen durch den Vorwand der Wichtigkeit, daß nämlich die Vernunfteinsicht von der geistigen Natur der Seele zu der Überzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Beweggrund eines tugendhaften Lebens sehr nötig sei. Allein die wahre Weisheit, die die Begleiterin der Einfalt ist und bei der das Herz dem Verstand die Vorschrift gibt, mache gt::meiniglich die großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, weil ihre Zwecke nicht solcher Mittel bedürfen, die nimmermehr in aller Gew;Üt sind, wie der Philosoph bereits in der Vorrede zum Einzig möglichen Beweisgrund hinsichtlich der wichtigsten aller unserer Erkenntnisse: es ist ein Gott, ausgeführt hatte 19. Das Neue in den Träumen ist, daß hier nicht etwa wie dort dem natürlichen gemeinen Verstand ohne die Spitzfindigkeit feiner Schlüsse genugsam überführende Beweistümer (für das Dasein Gottes) zugeschrieben werden, sondern das Her z seI b s t als Sitz des moralischen Gefühls und des Gewissens dem Verstand die Vorschrift gibt, d. h. ihm die entscheidenden weltanschaulichen Erkenntnisse überliefert. Wie aber dieses zu denken ist, wird aus dem klar, was er weiter unten ausführt: Die Erfahrung lehre, daß es viele gibt, die von der künftigen Welt belehrt und überzeugt sind, gleichwohl dem Laster und der Niederträchtigkeit ergeben, nur auf Mittel sinnen, den drohenden Folgen der Zukunft arglistig auszuweichen; aber es habe wohl niemals eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Die eigentliche Quelle der Hoffnung auf das Weiterleben nach dem Tode ist also nicht die theoretische Erkenntnis der Geistigkeit der Seele, auch nicht die im Rahmen des gemeinen natürlichen Verstandes, sondern die moralische Gesinnung des Her zen s, die Tugend und Rechtschaffenheit, mit der sie unzertrennlich verbunden ist. Damit ist die Lösung der einen großen Weltanschauungsfrage auf die sittliche Gesinnung gegründet. Die entscheidende Anregung zu diesem Gedanken aber dürfte Kant außer bei Hutcheson in dem Glaubensbekenntnis des Rousseauschen Vi ca ire S a v 0 y a r derhalten haben, der, nachdem er wie die Güte so auch die GereChtigkeit Gottes als die notwendige Folge seiner unbegrenzten Macht aufgewiesen hat, weiterfährt: "Je mehr ich in mich selbst zurückkehre, je mehr ich mich befrage, desto deutlicher lese ich diese Worte in meine 19) KGS II, 65,5-18.

159 Seele geschrieben: sei gerecht und du wirst glücklich sein! Das sind wir gleichwohl dem jetzigen Zustande der Dinge nach nicht; dem Bösen geht es wohl und der Gerechte bleibt unterdrückt. Man sehe auch, welch ein Unwille sich in uns entzündet, wenn diese Erwartung getäuscht wird. Das Gewissen erhebt sich und murrt gegen seinen Urheber ... Sollte man bei dem Murren der ungeduldigen Sterblichen sagen, Gott sei ihnen die Belohnung vor dem Verdienst schuldig und verbunden, ihnen ihre Tugenden im voraus zu bezahlen? So laßt uns erst gut sein und dann werden wir glücklich sein! Laßt uns nicht den Preis vor dem Siege noch den Lohn vor der Arbeit fordern! Ist die Seele immateriell, so kann sie den Leib überleben und überlebt sie ihn, so ist die göttliche Vorsehung gerechtfertigt'. Hätte ich auch keinen anderen Beweis von der Immaterialität der Seele als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, so würde der allein mich abhalten, daran zu zweifeln. Ein so anstößiger Mißlaut in der allgemeinen Harmonie würde mich die Auflösung desselben suchen lassen. Ich würde zu mir sagen: es endigt sich nicht alles mit dem Leben. Alles kommt beim Tode wieder in Ordnung" 20 • Aber Kant spricht in diesem Zusammenhang mit einer deutlichen Zäsur zu der eben behandelten Hoffnung oder Erwartung der künftigen Welt noch von einem anderen: "So ist auch der mo ra I i sc h e GI au be bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustand angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt" 21. Diese deutliche Zäsur zum Vorausgehenden in Verbindung mit der uneingeschränkten Allgemeinheit des vorher angeführten Prinzips, daß bei der wahren das Herz dem Verstand die Vorschrift gebe und gemeinighch die großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich mache um zu ihr e n Z w eck e n zu gelangen, sowie der Terminus ImOralischer Glaube ' selbst im Gegensatz zur Hoffnung auf das zukünftige Leben, legen schon mit großer Wahrscheinlichkeit nahe daß Kant hier die Lösung der anderen großen Weltanschauungsfrag:, die des Das ein s Go t t es im Auge hat. Auch die Abhängigkeit des ganzen Abschnittes von dem bereits erwähnten Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars weist in diese Richtung; denn gegen Ende desselben lesen wir: "Mein Sohn, halten Sie Ihre Seele in dem Zustande, allzeit nach dem Dasein Gottes zu verlangen und Sie werden dann niemals an Gott zweifeln". Also ist der Glaube an das Dasein Gottes unzertrennlich mit der Tugend verbunden, aber auch umgekehrt ist dieser Glaube auch die notwendige Voraussetzung der Tugend, wie der Vikar am Ende des nämlichen Absatzes betont: daß 20) Rousseau II, 73 f. 21) KGS II, 373.8-11.

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es ohne den Glauben keine wahrhafte Tugend gebeH. Auch bei Rousseau steht hier der Terminus GI au b e ohne jede weitere Bestimmung und manche Kommentatoren haben deshalb vermutet er meine hier nicht unmittelbar den Glauben an das Dasein Gotte;, sondern den Glauben, dem er im unmittelbar Vorausgehenden Ausdruck gegeben: daß die Gottes- und Nächstenliebe die Hauptsumme des Gesetzes sei; daß es in jeder Religion eigentlich nur auf die Pflichten der Moral ankomme, daß der innere Gottesdienst die erste dieser Pflichten sei. Aber sowohl die oben zitierte, den Absatz einleitende Mahnung wie auch alles unmittelbar Folgende, das sich ganz um den Glauben an das Dasein Gottes dreht und die ausdrückliche Aufforderung enthält, diejenigen zu fliehen, die unter dem Vorwand, die Natur zu erklären, trostlose Lehren in die Herzen der Menschen streuen und deren scheinbarer Skeptizismus hundertmal dogmatischer sei als der entschiedene Ton ihrer Gegner, sowie die, unter den Philosophen Gott zu bekennen, läßt keinen Zweifel darüber, was mit dem Begriff 'Glaube ' an unserer Stelle gemeint ist. Damit fällt aber auch ein Licht auf den zu interpretierenden Satz vom moralischen Glauben bei Kant: daß nämlich auch bei ihm dieser Terminus im Sinne der Übe rzeugung vom Dasei n Go t te s zu verstehen ist. Zur Gewißheit aber wird diese unsere Interpretation erhoben durch eine Reflexion der Bemerkungen, die eine Parallele zu unserem Satz darstellt und in der der Begriff des Glaubens ausdrücklich in diesem Sinn erklärt wird: "Die Erkenntnis von Gott ist entweder spekulativisch und diese ist ungewiß und gefährlichen Irrtümern unterworfen oder mo ra li sc h durch den GI au ben und die denkt keine anderen Eigenschaften in Gott als die die auf die Moralität abzielen. Dieser Glaube ist natürlich oder übernatürlich. Jener ist ... It (XX, 57,17 ff. ). Die Interpretation Schilpps, die in dem 'moralischen Glauben', weil er den Menschen zu seinen w a h ren Zwecken führen müsse, den rationalen, reflektiven Aspekt der sittlichen Entscheidung, in aller Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhobenen Ein f ac hhe i t die Unrückführbarkeit und Endgültigkeit der letzteren und in dem GI au ben s moment deren Wagnischarakter ausgesprochen findet, mutet im Zusammenhang der Gedankenfolge dieses IH. Hauptstückes geradezu wie ein Fr emd k ö r per an. Denn es geht doch offenbar wie bei Rousseau um die Lösung der großen Weltanschauungsprobleme von der moralischen Gesinnung des Herzens he.r, wie sie die wahre Weisheit lehrt, die die Begleiterin der Einfalt 1st und die alle großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit überflüssig macht. Freilich dürfen trotz aller offenbaren Abhängigkeit dieses Abschnittes von Rousseau die U n te r s chi e d e gegenüber diesem letzteren nicht übersehen werden: Kaut betont klar und entscnieden die wesentliche innere Unabhängigkeit des Sittlichen von der Motivierung 22) Rousseau TI. 104; 105 f.

des Lohnes bzw. der Glückseligkeit im anderen Leben, während bei jenem wie überhaupt das Moment der Glückseligkeit so auch im besonde ren die jenseitige Belohnung mit dem Wesen des Sittlichen verfließt und deshalb auch in seine Motivierung eingeht. Das Tun des Guten ist für ihn identiSCh mit dem Glücklichsein oder des Lebens Genießen und folglich besteht aller Wert des Lebens seines Emile in der Glückseligkeit, die er genießt, wie es überhaupt der Zweck jedes empfindenden Wesens sei, glücklich zu sein, der innerste Trieb der Natur, der uns nie verlasse 23. Weil für Rousseau die Tugend nur in der Entfaltung und Erweiterung des Triebes der Selbstliebe besteht und aus diesem als ihrem Wurzelgrund emporwächst, ist die wahre Glückseligkeit sowohl Wesen wie eigentliches Motiv des tugendhaften Handeins , folglich auch die Erwartung des Lohnes nach dem Tode: "Er wird in seinem Herzen die Tugend hegen. •• endlich um der dauerhaften Glückseligkeit zu genießen, welche ihm die Ruhe eines guten Gewissens und die Betrachtung des höchsten Wesens in einer anderen Welt versprechen, wenn er von dieser einen guten Gebrauch gemacht haben wird" 24 • Obwohl nun Kant, wie wir aus der Analyse der Bemerkungen sehen werden, manche der hier ausgesprochenen Gedanken anerkennt, so haben wir bei ihm doch im Grundsätzlichen einen sehr deutlichen Unterschied: die Hoffnung auf das zukünftige Leben, d. h. die Erwartung des Lohnes und die Furcht vor der Strafe in einem Leben nach dem Tode darf nicht zum eigentlichen M ot iv werden, wenn das Handeln innerlich gut. d. h. aus echter sittlicher Gesinnung entspringen soll. Die bereits in sich (und ohne Rücksicht auf die Folgen) gute und edle Gesinnung ist dann als einer F 0 I g e unzertrennlich verbunden mit der Hoffnung auf eine Belohnung in einem künftigen Leben und mit dem Glauben an das Dasein Gottes. Für ihn, der bereits in der Preisschrift nach dem Vorbild des Crusius und Hutcheson die sittliche Gutheit streng vom Glückseligkeitswert getrennt hatte, konnte es hier keine Unklarheit geben: Tugend aus innerer moralischer Gesinnung und Glückseligkeit treten für ihn als wes e n sv er s chi e den auseinander, obwohl die erstere die letztere fordert während sie bei Rousseau mehr oder weniger in eins verschmelzen. Trotz alles Enthusiasmus des moralischen Gefühls bleibt dieser dem Naturalismus ebenso verhaftet wie in anderer Weise die Rationalisten: die Natur mit ihrem Prinzip der SeI b s t I i e b e konnte letztlich ebenso wenig das unbedingte sittliche Gebot begründen wie das Naturgemäße bei Wolff. So können wir in diesem letztenAbschnitt der Träume sowohl eine starke Abhängigkeit von Rousseau feststellen wie auch ein deutliches Abrücken von ihm in einer der entscheidendsten Fragen der Sittlichkeit. Systematisch noch bedeutsamer als diese 'praktischen Schlußfol23) Ibid. S. 203; 211; 234. 24) Ibid. S.107 f.

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es ohne den Glauben keine wahrhafte Tugend gebeH. Auch bei Rousseau steht hier der Terminus GI au b e ohne jede weitere Bestimmung und manche Kommentatoren haben deshalb vermutet er meine hier nicht unmittelbar den Glauben an das Dasein Gotte;, sondern den Glauben, dem er im unmittelbar Vorausgehenden Ausdruck gegeben: daß die Gottes- und Nächstenliebe die Hauptsumme des Gesetzes sei; daß es in jeder Religion eigentlich nur auf die Pflichten der Moral ankomme, daß der innere Gottesdienst die erste dieser Pflichten sei. Aber sowohl die oben zitierte, den Absatz einleitende Mahnung wie auch alles unmittelbar Folgende, das sich ganz um den Glauben an das Dasein Gottes dreht und die ausdrückliche Aufforderung enthält, diejenigen zu fliehen, die unter dem Vorwand, die Natur zu erklären, trostlose Lehren in die Herzen der Menschen streuen und deren scheinbarer Skeptizismus hundertmal dogmatischer sei als der entschiedene Ton ihrer Gegner, sowie die, unter den Philosophen Gott zu bekennen, läßt keinen Zweifel darüber, was mit dem Begriff 'Glaube ' an unserer Stelle gemeint ist. Damit fällt aber auch ein Licht auf den zu interpretierenden Satz vom moralischen Glauben bei Kant: daß nämlich auch bei ihm dieser Terminus im Sinne der Übe rzeugung vom Dasei n Go t te s zu verstehen ist. Zur Gewißheit aber wird diese unsere Interpretation erhoben durch eine Reflexion der Bemerkungen, die eine Parallele zu unserem Satz darstellt und in der der Begriff des Glaubens ausdrücklich in diesem Sinn erklärt wird: "Die Erkenntnis von Gott ist entweder spekulativisch und diese ist ungewiß und gefährlichen Irrtümern unterworfen oder mo ra li sc h durch den GI au ben und die denkt keine anderen Eigenschaften in Gott als die die auf die Moralität abzielen. Dieser Glaube ist natürlich oder übernatürlich. Jener ist ... It (XX, 57,17 ff. ). Die Interpretation Schilpps, die in dem 'moralischen Glauben', weil er den Menschen zu seinen w a h ren Zwecken führen müsse, den rationalen, reflektiven Aspekt der sittlichen Entscheidung, in aller Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhobenen Ein f ac hhe i t die Unrückführbarkeit und Endgültigkeit der letzteren und in dem GI au ben s moment deren Wagnischarakter ausgesprochen findet, mutet im Zusammenhang der Gedankenfolge dieses IH. Hauptstückes geradezu wie ein Fr emd k ö r per an. Denn es geht doch offenbar wie bei Rousseau um die Lösung der großen Weltanschauungsprobleme von der moralischen Gesinnung des Herzens he.r, wie sie die wahre Weisheit lehrt, die die Begleiterin der Einfalt 1st und die alle großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit überflüssig macht. Freilich dürfen trotz aller offenbaren Abhängigkeit dieses Abschnittes von Rousseau die U n te r s chi e d e gegenüber diesem letzteren nicht übersehen werden: Kaut betont klar und entscnieden die wesentliche innere Unabhängigkeit des Sittlichen von der Motivierung 22) Rousseau TI. 104; 105 f.

des Lohnes bzw. der Glückseligkeit im anderen Leben, während bei jenem wie überhaupt das Moment der Glückseligkeit so auch im besonde ren die jenseitige Belohnung mit dem Wesen des Sittlichen verfließt und deshalb auch in seine Motivierung eingeht. Das Tun des Guten ist für ihn identiSCh mit dem Glücklichsein oder des Lebens Genießen und folglich besteht aller Wert des Lebens seines Emile in der Glückseligkeit, die er genießt, wie es überhaupt der Zweck jedes empfindenden Wesens sei, glücklich zu sein, der innerste Trieb der Natur, der uns nie verlasse 23. Weil für Rousseau die Tugend nur in der Entfaltung und Erweiterung des Triebes der Selbstliebe besteht und aus diesem als ihrem Wurzelgrund emporwächst, ist die wahre Glückseligkeit sowohl Wesen wie eigentliches Motiv des tugendhaften Handeins , folglich auch die Erwartung des Lohnes nach dem Tode: "Er wird in seinem Herzen die Tugend hegen. •• endlich um der dauerhaften Glückseligkeit zu genießen, welche ihm die Ruhe eines guten Gewissens und die Betrachtung des höchsten Wesens in einer anderen Welt versprechen, wenn er von dieser einen guten Gebrauch gemacht haben wird" 24 • Obwohl nun Kant, wie wir aus der Analyse der Bemerkungen sehen werden, manche der hier ausgesprochenen Gedanken anerkennt, so haben wir bei ihm doch im Grundsätzlichen einen sehr deutlichen Unterschied: die Hoffnung auf das zukünftige Leben, d. h. die Erwartung des Lohnes und die Furcht vor der Strafe in einem Leben nach dem Tode darf nicht zum eigentlichen M ot iv werden, wenn das Handeln innerlich gut. d. h. aus echter sittlicher Gesinnung entspringen soll. Die bereits in sich (und ohne Rücksicht auf die Folgen) gute und edle Gesinnung ist dann als einer F 0 I g e unzertrennlich verbunden mit der Hoffnung auf eine Belohnung in einem künftigen Leben und mit dem Glauben an das Dasein Gottes. Für ihn, der bereits in der Preisschrift nach dem Vorbild des Crusius und Hutcheson die sittliche Gutheit streng vom Glückseligkeitswert getrennt hatte, konnte es hier keine Unklarheit geben: Tugend aus innerer moralischer Gesinnung und Glückseligkeit treten für ihn als wes e n sv er s chi e den auseinander, obwohl die erstere die letztere fordert während sie bei Rousseau mehr oder weniger in eins verschmelzen. Trotz alles Enthusiasmus des moralischen Gefühls bleibt dieser dem Naturalismus ebenso verhaftet wie in anderer Weise die Rationalisten: die Natur mit ihrem Prinzip der SeI b s t I i e b e konnte letztlich ebenso wenig das unbedingte sittliche Gebot begründen wie das Naturgemäße bei Wolff. So können wir in diesem letztenAbschnitt der Träume sowohl eine starke Abhängigkeit von Rousseau feststellen wie auch ein deutliches Abrücken von ihm in einer der entscheidendsten Fragen der Sittlichkeit. Systematisch noch bedeutsamer als diese 'praktischen Schlußfol23) Ibid. S. 203; 211; 234. 24) Ibid. S.107 f.

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gerungen aus der ganzen Abhandlung' ist jener Passus im II. Hauptstück des ersten Teiles, in welchem der Ausdruck 'Regel des allgemeinen Willens' unwillkürlich an den Contrat Rousseaus denken läßt. Diese Stelle hat in der Interpretation der vorkritischen Ethik schon von jeher eine sehr unterschiedliche Deutung gefunden. Die einen sehen in ihr noch keine grundsätzliche Wandlung in der Gesamtauffassung der ethischen Prinzipienlehre , obwohl sie anerkennen, daß der Philosoph hier den Rahmen seiner bisherigen Vorstellungen sprengt und einen Vorstoß zu neuen Lösungen unternimmt. So versteht Menzer die Stelle als einen interessanten Versuch, das alte von der Preisschrift her noch offene Problem der Verbindlichkeit zu lösen, ohne allerdings dieses Ziel SChOll erreichen zu können, da die von ihm hier entwickelte metaphysische Begründung der Regel des allgemeinen Willens ein Phantasiegebilde sei, von dem er sich später auch ausdrücklich losgesagt habe (im Brief an Mendelssohn vom 8.4.1766) 25. Schilpp aber glaubt, daß sich in dieser Lehre von der Regel des allgemeinen Willens als des Prinzips einer moralischen Einheit aller denkenden Naturen bereits der Standpunkt der Dissertation (so wie er ihn versteht) abzeichne, nämlich das f 0 r mal e Element im Sinne 'of a constructive process of reflection towards an object of pure practical reason', das er aber auch schon in den frühen Schriften de s Philosophen angedeutet findet 26. Küenburg jedoch lehnt auch noch eine solche zurückhaltende positive Bewertung der Stelle, wie sie etwa Menzer vertritt, entschieden ab: "Vollends in Ausführungen, die Kant selbst als philosophische Erdichtungen brandmarkt, in denen man weit •. fortgehen kann, die er schon in den Träumen selbst als von der Evidenz weit genug entfernt bezeichnet hatte einen vernünftigen Sinn, vorbereitende Gedanken für die kritische 'Ethik sehen zu wollen, ist ein An ach r 0 ni sm u s ". Wenn also in der Theorie der Träume eines Geistersehers kein ernstgemeinter Versuch, das Problem der Verbindlichkeit zu lösen, gefunden werden kann, so beweise sie doch wenigstens so vie:, dieses Problem den Philosophen auch im Sommer 1765 beschafhgte und sich ihm in seiner grundlegenden Bedeutung aufdrängte 27. Diametral entgegengesetzt ist die Auffassung K. Sc h mi d t s , der in der Regel des allgemeinen Willens als Ursprung einer moralischen Einheit und systematischen Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen eine fun d a me nt ale neue Konzeption erblickt, der Substanz nach bereits das Prinzip der gesetzgebenden prakhschen Vernunft und der Autonomie der Freiheit enthält, eine Auffassung, der sich auch A. Messer im wesentlichen anschließt 28. Merkwürdigerweise aber beurteilt der letztere die ganze Konzeption 25) 26) 27) 28)

Entwicklungsgang, K-St H, 321 f. SchUpp. o. c. S.79 ff. Küenburg. Diss. S.27; 38 f. K.Schmidt. Diss. S.31 ff. A.Messer. Kants Ethik. S.20.

trotzdem nur als einen Versuch 'über die Untersuchungen der Engländer hinauszugehen durch eine metaphysische Erklärung des sittlichen Gefühls', die er dann in seinem Brief an Mendelssohn wieder zurückgenommen habe 29 • Um hier klar zu sehen, was der Philosoph in seiner Theorie des allgemeinen Willens als Prinzip der Verpflichtung als ge s i che rt e Tat s ach e anerkennt und was er selbst als u n ver bin d 1 ich e Spekulation betrachtet, ist es unerläßlich, die einschlägigen Texte in ihrem näheren und weiteren Zusammenhang zu betrachten. Wir finden sie im II. Haupt stück des ersten Teiles unter dem Titel 'Ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen', in welchem Kant eine metaphysische Theorie dieser letzteren entwirft, um daraus eine plausible Erklärung der mannigfachen Berichte von Geistererscheinungen abzuleiten. Er stellt diese Theorie auf, nachdem er im 1. Hauptstück den Begriff eines geistigen Wesens in der uns einzig möglichen Weise, nämlich ne ga ti v bestimmt hatte: daß ein solches Wesen, beispielsweise die menschliche Seele, eine einfache Substanz sei, die zwar einen Raum einnehme oder in einem solchen eine Wirksamkeit ausübe, aber ohne ihn zu erfüllen, d. h. ohne materiellen Substanzen darin Widerstand zu leisten und mit anderen materiellen Elementen zusammen einen ausgedehnten Klumpen zu bilden. Er hatte dann die Gründe angeführt, die ihn persönlich geneigt machen, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten und seine eigene Seele in die Klasse dieser Wesen zu versetzen, nämlich die gänz1 ich ver s chi e den e Wir k w eis e der Seele und der Lebensprinzipien überhaupt gegenüber der des toten Stoffes, die einen nicht ungeübten Verstand von dieser Annahme zu überreden vermöchten. Sodann hatte er aus dem Begriff solcher Wesen als wahrscheinlich den Schluß gezogen, daß diese Art von Substanzen unter sich ein gemeinsames Ganzes, ein besonderes Reich mit einer systematischen Verfassung darstellten und nach eigenen, pneumatischen Gesetzen untereinander in Verbindung ständen, also eine eigene immaterielle Welt, einen mundus intelligibilis konstituie rten. Es wäre nun schön, so führt er weiterhin aus, wenn eine solche systematische Verfassung der Geisterwelt nicht lediglich aus dem Begriff der geistigen Natur überhaupt, der gar zu hypothetisch sei, sondern aus ein er wirklichen und allgemein zugestandenen Beobachtun g geschlossen oder auch nur wahrscheinlich vermutet werden könnte. Daher wolle er einen Versuch dieser Art hier einschalten, der zwar etwas außerhalb seines Weges liege und auch von der Evidenz weit genug entfernt sei, aber doch zu nicht unangenehmen Vermutungen Anlaß geben könne. Hier läßt nun der Verfasser die Darlegung des allgemein gültigen moralischen Gesetzes als eines solchen des all g e m ein e n 29) A. Messer. ibid. S.20 f.

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gerungen aus der ganzen Abhandlung' ist jener Passus im II. Hauptstück des ersten Teiles, in welchem der Ausdruck 'Regel des allgemeinen Willens' unwillkürlich an den Contrat Rousseaus denken läßt. Diese Stelle hat in der Interpretation der vorkritischen Ethik schon von jeher eine sehr unterschiedliche Deutung gefunden. Die einen sehen in ihr noch keine grundsätzliche Wandlung in der Gesamtauffassung der ethischen Prinzipienlehre , obwohl sie anerkennen, daß der Philosoph hier den Rahmen seiner bisherigen Vorstellungen sprengt und einen Vorstoß zu neuen Lösungen unternimmt. So versteht Menzer die Stelle als einen interessanten Versuch, das alte von der Preisschrift her noch offene Problem der Verbindlichkeit zu lösen, ohne allerdings dieses Ziel SChOll erreichen zu können, da die von ihm hier entwickelte metaphysische Begründung der Regel des allgemeinen Willens ein Phantasiegebilde sei, von dem er sich später auch ausdrücklich losgesagt habe (im Brief an Mendelssohn vom 8.4.1766) 25. Schilpp aber glaubt, daß sich in dieser Lehre von der Regel des allgemeinen Willens als des Prinzips einer moralischen Einheit aller denkenden Naturen bereits der Standpunkt der Dissertation (so wie er ihn versteht) abzeichne, nämlich das f 0 r mal e Element im Sinne 'of a constructive process of reflection towards an object of pure practical reason', das er aber auch schon in den frühen Schriften de s Philosophen angedeutet findet 26. Küenburg jedoch lehnt auch noch eine solche zurückhaltende positive Bewertung der Stelle, wie sie etwa Menzer vertritt, entschieden ab: "Vollends in Ausführungen, die Kant selbst als philosophische Erdichtungen brandmarkt, in denen man weit •. fortgehen kann, die er schon in den Träumen selbst als von der Evidenz weit genug entfernt bezeichnet hatte einen vernünftigen Sinn, vorbereitende Gedanken für die kritische 'Ethik sehen zu wollen, ist ein An ach r 0 ni sm u s ". Wenn also in der Theorie der Träume eines Geistersehers kein ernstgemeinter Versuch, das Problem der Verbindlichkeit zu lösen, gefunden werden kann, so beweise sie doch wenigstens so vie:, dieses Problem den Philosophen auch im Sommer 1765 beschafhgte und sich ihm in seiner grundlegenden Bedeutung aufdrängte 27. Diametral entgegengesetzt ist die Auffassung K. Sc h mi d t s , der in der Regel des allgemeinen Willens als Ursprung einer moralischen Einheit und systematischen Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen eine fun d a me nt ale neue Konzeption erblickt, der Substanz nach bereits das Prinzip der gesetzgebenden prakhschen Vernunft und der Autonomie der Freiheit enthält, eine Auffassung, der sich auch A. Messer im wesentlichen anschließt 28. Merkwürdigerweise aber beurteilt der letztere die ganze Konzeption 25) 26) 27) 28)

Entwicklungsgang, K-St H, 321 f. SchUpp. o. c. S.79 ff. Küenburg. Diss. S.27; 38 f. K.Schmidt. Diss. S.31 ff. A.Messer. Kants Ethik. S.20.

trotzdem nur als einen Versuch 'über die Untersuchungen der Engländer hinauszugehen durch eine metaphysische Erklärung des sittlichen Gefühls', die er dann in seinem Brief an Mendelssohn wieder zurückgenommen habe 29 • Um hier klar zu sehen, was der Philosoph in seiner Theorie des allgemeinen Willens als Prinzip der Verpflichtung als ge s i che rt e Tat s ach e anerkennt und was er selbst als u n ver bin d 1 ich e Spekulation betrachtet, ist es unerläßlich, die einschlägigen Texte in ihrem näheren und weiteren Zusammenhang zu betrachten. Wir finden sie im II. Haupt stück des ersten Teiles unter dem Titel 'Ein Fragment der geheimen Philosophie, die Gemeinschaft mit der Geisterwelt zu eröffnen', in welchem Kant eine metaphysische Theorie dieser letzteren entwirft, um daraus eine plausible Erklärung der mannigfachen Berichte von Geistererscheinungen abzuleiten. Er stellt diese Theorie auf, nachdem er im 1. Hauptstück den Begriff eines geistigen Wesens in der uns einzig möglichen Weise, nämlich ne ga ti v bestimmt hatte: daß ein solches Wesen, beispielsweise die menschliche Seele, eine einfache Substanz sei, die zwar einen Raum einnehme oder in einem solchen eine Wirksamkeit ausübe, aber ohne ihn zu erfüllen, d. h. ohne materiellen Substanzen darin Widerstand zu leisten und mit anderen materiellen Elementen zusammen einen ausgedehnten Klumpen zu bilden. Er hatte dann die Gründe angeführt, die ihn persönlich geneigt machen, das Dasein immaterieller Naturen in der Welt zu behaupten und seine eigene Seele in die Klasse dieser Wesen zu versetzen, nämlich die gänz1 ich ver s chi e den e Wir k w eis e der Seele und der Lebensprinzipien überhaupt gegenüber der des toten Stoffes, die einen nicht ungeübten Verstand von dieser Annahme zu überreden vermöchten. Sodann hatte er aus dem Begriff solcher Wesen als wahrscheinlich den Schluß gezogen, daß diese Art von Substanzen unter sich ein gemeinsames Ganzes, ein besonderes Reich mit einer systematischen Verfassung darstellten und nach eigenen, pneumatischen Gesetzen untereinander in Verbindung ständen, also eine eigene immaterielle Welt, einen mundus intelligibilis konstituie rten. Es wäre nun schön, so führt er weiterhin aus, wenn eine solche systematische Verfassung der Geisterwelt nicht lediglich aus dem Begriff der geistigen Natur überhaupt, der gar zu hypothetisch sei, sondern aus ein er wirklichen und allgemein zugestandenen Beobachtun g geschlossen oder auch nur wahrscheinlich vermutet werden könnte. Daher wolle er einen Versuch dieser Art hier einschalten, der zwar etwas außerhalb seines Weges liege und auch von der Evidenz weit genug entfernt sei, aber doch zu nicht unangenehmen Vermutungen Anlaß geben könne. Hier läßt nun der Verfasser die Darlegung des allgemein gültigen moralischen Gesetzes als eines solchen des all g e m ein e n 29) A. Messer. ibid. S.20 f.

164 Willens folgen, durch das aus der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen entstehe. und leitet daraus die Theorie ab. daß dieses Gesetz des allgemeinen Willens als Wirkung eines gegenseitigen realen Einflusses der unter sich in Gemeinschaft stehenden geistigen Naturen gedeutet werden könne. Dieser Abschnitt. den Kant als etwas von seinem Wege abliegend bezeichnet, enthält die wichti.gen Ausführungen. die uns einen Einblick gewähren in den StandsEüner damaligen moralphilosophischen Anschauungen. Freilich scheinen sie wieder dadurch zunichte gemacht zu werden, daß er die Spekulationen dieses ganzen zweiten Hauptstückes in dem nächstfolgen den. das den bezeichnenden Titel trägt 'Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie. die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben' als völlig unverbindlich und dazu als überflüssig erklärt; letzteres. indem er dartut. daß die Phänomene der Geistererscheinungen viel einfacher und natürlicher als Folgen ein er Kr an k heit des Gehirns. die der Verrücktheit ähnlich sei, erklärt werden könnten und so die tiefen Vermutungen des zweiten Hauptstückes ganz überflüssig machten. weil es viel bequemer und auch einer vernünftigen Denkungsart angemessener sei. die Gründe der Erklärung aus einem Stoff zu nehmen, den uns die Erfahrung darbietet, als sich in schwindlichten Begriffen einer halb schließenden und halb dichtenden Vernunft zu verlieren. In seinem Brief an Mendelssohn vom 8.4.66 betont er ausdrücklich, daß diese Erdichtung eines von der Materie unabhängigen Geisterreiches niemals auch nur den Beweis der Möglichkeit zulasse und die Denklichkeit desselben, deren Anschein daher rühre, daß sich auch seine Unmöglichkeit nicht beweisen lasse, sei ein bIo ß e s BI end wer k , und sein Versuch von der Analogie eines wirklichen sittlichen Einflusses der geistigen Naturen mit der allgemeinen Gravitation sei eigentlich nicht eine ernstliche Meinung von ihm, sondem nur ein Beispiel, wie weit man, u. zw. ungehindert, in philosophischen Erdichtungen fortgehen könne, wo die Data fehlen. Andererseits freilich bekennt er in der Abhandlung selbst im vierten Hauptstück des 1. Teiles, daß er persönlich, eben weil auch die Unmöglichkeit dieser Begriffe sich nicht beweisen lasse, es nicht wage, den Geistererzählungen alle Wahrheit abzustreiten, aber so, daß er jedem in dieser Sache sein eigenes Urteil unbenommen lasse. Für ihn selbst aber wäre der Ausschlag der Gründe des zweiten Hauptstückes so groß, daß sie ihn bei der Anhörung der mancherlei befremdlichen Erzählungen dieser Art ernsthaft und unentschieden hielten. Allerdings kommt nach ihm das Gewicht dieser Gründe eigentlich nicht aus ihrer objektiven Stärke, sondern eher daher, daß das Gemüt von vorn herein ein unüberwindliches Interesse an denselben habe. nämlich das der Hoffnung auf die Zukunft, ein Interesse, das der Verstandeswaage für diesen Arm einen mechanischen

165 Vorteil verschaffe derart, daß auch leichte Gründe, die auf seine Schale gelegt werden, das an sich größere Gewicht der Schale der reinen Spekulation in die Höhe ziehe. Mit einem Wort: die Spekulationen des gesamten zweiten Hauptstückes werden von Kant ausdrücklich inden Bezirk der unverbindlichen Meinungen verwiesen d. h. jenem Bereich zugeteilt, von dem man in Zukunft wohl noch etwas me in e n, aber nicht mehr etwas w iss e n könne. Jedoch betrifft. genau besehen, diese Skepsis des dritten und vierten Hauptstückes , ni c h t die G run dIa g e , von der aus Kant im zweiten seine Theorie de s Geisterreiches errichtet, sondern nur die seT h e 0 r i e seI b s t , welche in dem von Kant ausdrücklich als problematisch bezeichneten Schluß auf einen realen, aber übermateriellen, d.h. pneumatischen Einfluß der geistigen Wesen ineinander nach Analogie der Anziehungskraft der Materie besteht. Die Grundlage dieser Theorie aber, die Tatsache und die Eigenart der moralischen Gesetze, kraft der unser Wille durch die Willkür der anderen notwendig bestimmt wird. wird ausdrücklich als eine wirkliche und allgemein zugestandene Beobachtung anerkannt ,folglich in keiner Weise mit jener Theorie in Frage gestellt. Kant weist zunächst auf die eigenartige Tendenz unseres Gemütes hin, die Ziele seiner Bestrebungen außer uns in anderen vernünftigen Wesen zu suchen. so daß einige der mächtigsten Antriebe. die das menschliche Herz bewegen. außerhalb diesem zu scheinen. woraus ein Streit zweier Kräfte entspringt: der EI g e nn ü tz i gk e i t und des Privatbedürfnisses • die alles auf sich beziehen, und der Gemeinnützigkeit, durch die das Gemütüber sich selbst hinaus nach dem Wohl der anderen strebt. Im Zusammenhang damit macht er auf den eigenartigen und unwiderstehlichen Trieb uns.erer Natur aufmerksam. der selbst in dem uneigennützigsten w:ahrhaftigsten Herzen lebendig sei. nämlich dasjenige. was man fur SIch selbst als gut oder wahr erkenne, mit dem Urteil anderer zu vergleichen und beide einstimmig zu machen, desgleicheri" jede mehschliche Seele auf dem ErkenntnisWege gleichsam anzuhalten. wenn wir bemerken. daß sie einen anderen Weg einschlage als jenen. den wir für den rechten halten. All das sei vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom all g e m e inen menschlichen Verstande und ein Mittel, dem Ganzen denkender Wesen eine Art von Vernunfteinheit zu verschaffen. Ohne sich aber bei dieser letzteren Betrachtung, die zunächst die Ordnung der Erkenntnis und des Urteilens betrifft, aufzuhalten. geht er sogleich zu einer anderen über, die ihm für seine gegenwärtige Absicht einleuchtender und beträchtlicher erscheint. jene nämlich, die in der näheren Ausführung des eingangs ausgesprochenen Gedankens besteht: "Wenn wir äußere Dinge auf unser Bedürfnis beziehen, so können wir dieses nicht thun, ohne uns zugleich durch eine gewisse

164 Willens folgen, durch das aus der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen entstehe. und leitet daraus die Theorie ab. daß dieses Gesetz des allgemeinen Willens als Wirkung eines gegenseitigen realen Einflusses der unter sich in Gemeinschaft stehenden geistigen Naturen gedeutet werden könne. Dieser Abschnitt. den Kant als etwas von seinem Wege abliegend bezeichnet, enthält die wichti.gen Ausführungen. die uns einen Einblick gewähren in den StandsEüner damaligen moralphilosophischen Anschauungen. Freilich scheinen sie wieder dadurch zunichte gemacht zu werden, daß er die Spekulationen dieses ganzen zweiten Hauptstückes in dem nächstfolgen den. das den bezeichnenden Titel trägt 'Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie. die Gemeinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben' als völlig unverbindlich und dazu als überflüssig erklärt; letzteres. indem er dartut. daß die Phänomene der Geistererscheinungen viel einfacher und natürlicher als Folgen ein er Kr an k heit des Gehirns. die der Verrücktheit ähnlich sei, erklärt werden könnten und so die tiefen Vermutungen des zweiten Hauptstückes ganz überflüssig machten. weil es viel bequemer und auch einer vernünftigen Denkungsart angemessener sei. die Gründe der Erklärung aus einem Stoff zu nehmen, den uns die Erfahrung darbietet, als sich in schwindlichten Begriffen einer halb schließenden und halb dichtenden Vernunft zu verlieren. In seinem Brief an Mendelssohn vom 8.4.66 betont er ausdrücklich, daß diese Erdichtung eines von der Materie unabhängigen Geisterreiches niemals auch nur den Beweis der Möglichkeit zulasse und die Denklichkeit desselben, deren Anschein daher rühre, daß sich auch seine Unmöglichkeit nicht beweisen lasse, sei ein bIo ß e s BI end wer k , und sein Versuch von der Analogie eines wirklichen sittlichen Einflusses der geistigen Naturen mit der allgemeinen Gravitation sei eigentlich nicht eine ernstliche Meinung von ihm, sondem nur ein Beispiel, wie weit man, u. zw. ungehindert, in philosophischen Erdichtungen fortgehen könne, wo die Data fehlen. Andererseits freilich bekennt er in der Abhandlung selbst im vierten Hauptstück des 1. Teiles, daß er persönlich, eben weil auch die Unmöglichkeit dieser Begriffe sich nicht beweisen lasse, es nicht wage, den Geistererzählungen alle Wahrheit abzustreiten, aber so, daß er jedem in dieser Sache sein eigenes Urteil unbenommen lasse. Für ihn selbst aber wäre der Ausschlag der Gründe des zweiten Hauptstückes so groß, daß sie ihn bei der Anhörung der mancherlei befremdlichen Erzählungen dieser Art ernsthaft und unentschieden hielten. Allerdings kommt nach ihm das Gewicht dieser Gründe eigentlich nicht aus ihrer objektiven Stärke, sondern eher daher, daß das Gemüt von vorn herein ein unüberwindliches Interesse an denselben habe. nämlich das der Hoffnung auf die Zukunft, ein Interesse, das der Verstandeswaage für diesen Arm einen mechanischen

165 Vorteil verschaffe derart, daß auch leichte Gründe, die auf seine Schale gelegt werden, das an sich größere Gewicht der Schale der reinen Spekulation in die Höhe ziehe. Mit einem Wort: die Spekulationen des gesamten zweiten Hauptstückes werden von Kant ausdrücklich inden Bezirk der unverbindlichen Meinungen verwiesen d. h. jenem Bereich zugeteilt, von dem man in Zukunft wohl noch etwas me in e n, aber nicht mehr etwas w iss e n könne. Jedoch betrifft. genau besehen, diese Skepsis des dritten und vierten Hauptstückes , ni c h t die G run dIa g e , von der aus Kant im zweiten seine Theorie de s Geisterreiches errichtet, sondern nur die seT h e 0 r i e seI b s t , welche in dem von Kant ausdrücklich als problematisch bezeichneten Schluß auf einen realen, aber übermateriellen, d.h. pneumatischen Einfluß der geistigen Wesen ineinander nach Analogie der Anziehungskraft der Materie besteht. Die Grundlage dieser Theorie aber, die Tatsache und die Eigenart der moralischen Gesetze, kraft der unser Wille durch die Willkür der anderen notwendig bestimmt wird. wird ausdrücklich als eine wirkliche und allgemein zugestandene Beobachtung anerkannt ,folglich in keiner Weise mit jener Theorie in Frage gestellt. Kant weist zunächst auf die eigenartige Tendenz unseres Gemütes hin, die Ziele seiner Bestrebungen außer uns in anderen vernünftigen Wesen zu suchen. so daß einige der mächtigsten Antriebe. die das menschliche Herz bewegen. außerhalb diesem zu scheinen. woraus ein Streit zweier Kräfte entspringt: der EI g e nn ü tz i gk e i t und des Privatbedürfnisses • die alles auf sich beziehen, und der Gemeinnützigkeit, durch die das Gemütüber sich selbst hinaus nach dem Wohl der anderen strebt. Im Zusammenhang damit macht er auf den eigenartigen und unwiderstehlichen Trieb uns.erer Natur aufmerksam. der selbst in dem uneigennützigsten w:ahrhaftigsten Herzen lebendig sei. nämlich dasjenige. was man fur SIch selbst als gut oder wahr erkenne, mit dem Urteil anderer zu vergleichen und beide einstimmig zu machen, desgleicheri" jede mehschliche Seele auf dem ErkenntnisWege gleichsam anzuhalten. wenn wir bemerken. daß sie einen anderen Weg einschlage als jenen. den wir für den rechten halten. All das sei vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom all g e m e inen menschlichen Verstande und ein Mittel, dem Ganzen denkender Wesen eine Art von Vernunfteinheit zu verschaffen. Ohne sich aber bei dieser letzteren Betrachtung, die zunächst die Ordnung der Erkenntnis und des Urteilens betrifft, aufzuhalten. geht er sogleich zu einer anderen über, die ihm für seine gegenwärtige Absicht einleuchtender und beträchtlicher erscheint. jene nämlich, die in der näheren Ausführung des eingangs ausgesprochenen Gedankens besteht: "Wenn wir äußere Dinge auf unser Bedürfnis beziehen, so können wir dieses nicht thun, ohne uns zugleich durch eine gewisse

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Empfindung gebunden und eingeschränkt zu fühlen, die uns merken läßt, daß in uns gleichsam ein fremder Wille wirksam sei, und unser eigen Belieben die Bedingung von äußerer Beistimmung nöthig habe. Eine geheime Macht nöthigt uns, unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten, ob dieses gleidl öfters ungern geschieht und der eigennützigen Neigung stark widerstreitet", und so sei der Zielpunkt unserer Triebe nicht bloß in uns, sondern es seien noch andere Kräfte, die uns bewegen, in dem Wollen anderer außer uns. Aus diesem letzteren entsprängen die sittlichen Antriebe, die uns oft gegen den Eigennutz fortreißen, das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. deren jedes uns manche Aufopferung abnötige, und die, obwohl beide gelegentlich durch eigennützige Neigungen überwogen werden, doch in jedem Menschenherzen ihre Wirklichkeit geltend machten. "Dadurch sehen wir uns, fährt Kant wörtlich fort, in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Re gel des all g e m ein e n Will e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine mo r a l i s c h e Ein he i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das si tt 1 ich e Ge f ü h 1 nennen, so redet man davon nur als von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht. ohne die Ursachen desselben auszumachen". Ähnlich wie Newton die sichere Eigenschaft aller Materie, sich nach einem bestimmten Gesetz einander zu nähern, die Gravitation nannte zur Bezeichnung eines durch die Erfahrung gegebenen Verhaltens der Materie. ohne sich auf die philosophische Untersuchung der Ursache dieses Phänomens im Wesen der Körper' einzulassen, andererseits aber doch kein Bedenken getragen habe, dieses Verhalten als Wirkung einer allgemeinen Tätigkeit der Körper ineinander aufzufassen und ihr den Namen Anz i e h u n g s kr a ft zu geben, so wäre es vielleicht auch möglich, "die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich aufeinander wechselweise beziehen, gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen, vorzustellen, so daß das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet". Man sieht aus diesen Ausführungen deutlich, wo nach Kant die geSicherte Tatsache der moralischen Erfahrung, d. h. des sittlichen Gefühles aufhört und die unsichere Hypothese anfängt: die erstere ist die empfundene Nötigung unseres Willens zur Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen oder, ander:;; ausgedrückt, die Empfindung unserer Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens,

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sie entspricht im naturwissenschaftlichen Gegenbild der durchgehenden Erfahrungstatsache der Annäherung der Massen nach dem gesicherten Gesetze der Gravitation und bezeichnet die Feststellung dessen, was wir innerlich erfahren, wessen wir uns unmittelbar bewußt werden. Und ebenso wie das Gesetz der Gravitation an sich nichts aussagt über die Ursache dieses Verhaltens der Körper, so ist auch an sich durch die obige Feststellung der inneren Erfahrung noch nichts ausgemacht über das, was dieser Empfindung als metaphysische Ursache zugrunde liegt, ja Kant gebraucht hier sogar eine Wendung. die die spätere Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit an sich irgendwie vorwegnimmt: dieses Gefühl der notwendigen Übereinstimmung sei nur die Er sc h ein u n g dessen, was in uns wirklich vorgehe. Die Theorie und Hypothese aber beginnt deutlich dort, wo entsprechend dem Vorgehen Newtons, der kein Bedenken trug, das bezeichnete Verhalten der Körper auf eine allen Massen in h ä r i e rende Tätigkeit und aufeinander und ineinander wirkende Kraft zurückzuführen, das Phänomen unseres moralischen Gefühls oder Bewußtseins: die empfundene Nötigung unseres Wollens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen auf ein 1neinanderwirken oder ineinander Einfließen der geistigen Naturen, d. h. auf eine reale Wechselwirkung zwischen den geistigen Substanzen des mundus intelligibilis zurückgeführt wird. Aber dieser Schluß wird von Kant selber als sehr problematisch empfunden: 'Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen •.. gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen in einander einfließen, vorzustellen .•• '? nachdem er schon einleitend bemerkt hatte, daß dieser ganze Versuch einer Begründung des mundes intelligibilis von der Evidenz weit genug entfernt sei. Er weist in diesem Zusammenhang, gleichsam zur Bekräftigung dieser wenig evidenten Theorie, auf die sehr g ü n s t i gen F 0 1 gen der Annahme hin, durch die man für sie leicht eingenommen werden könne: Einmal würde auf diese Weise der Widerspruch verschwinden zwischen den Verhältnissen des physischen Lebens, d. h. des physischen Wohlergehens und dem moralischen Verhalten, der hier auf der Welt so befremdlich in die Augen falle; denn wenn auch die Moralität nach der physischen Naturordnung niemals ihre volle Wirkung im leiblichen Leben des Menschen finde, so könnte sie diese bereits jetzt in einer geistigen Welt nach pneumatischen Gesetzen haben in dem Sinne, daß die Seelen der Menschen schon in diesem Leben auf Grund ihres sittlichen Verhaltens und Zustandes ihre bestimmte Stelle unter den geistigen Substanzen des Universums nach übermateriellen Gesehen einnehmen würden, ähnlich wie jeder Körper nach den Bewegungsgesetzen der Materie notwendig seinen Platz im Universum einnehme. Ferner könnte das Leben in der anderen

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Empfindung gebunden und eingeschränkt zu fühlen, die uns merken läßt, daß in uns gleichsam ein fremder Wille wirksam sei, und unser eigen Belieben die Bedingung von äußerer Beistimmung nöthig habe. Eine geheime Macht nöthigt uns, unsere Absicht zugleich auf anderer Wohl oder nach fremder Willkür zu richten, ob dieses gleidl öfters ungern geschieht und der eigennützigen Neigung stark widerstreitet", und so sei der Zielpunkt unserer Triebe nicht bloß in uns, sondern es seien noch andere Kräfte, die uns bewegen, in dem Wollen anderer außer uns. Aus diesem letzteren entsprängen die sittlichen Antriebe, die uns oft gegen den Eigennutz fortreißen, das starke Gesetz der Schuldigkeit und das schwächere der Gütigkeit. deren jedes uns manche Aufopferung abnötige, und die, obwohl beide gelegentlich durch eigennützige Neigungen überwogen werden, doch in jedem Menschenherzen ihre Wirklichkeit geltend machten. "Dadurch sehen wir uns, fährt Kant wörtlich fort, in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Re gel des all g e m ein e n Will e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine mo r a l i s c h e Ein he i t und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen. Will man diese in uns empfundene Nöthigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen das si tt 1 ich e Ge f ü h 1 nennen, so redet man davon nur als von einer Erscheinung dessen, was in uns wirklich vorgeht. ohne die Ursachen desselben auszumachen". Ähnlich wie Newton die sichere Eigenschaft aller Materie, sich nach einem bestimmten Gesetz einander zu nähern, die Gravitation nannte zur Bezeichnung eines durch die Erfahrung gegebenen Verhaltens der Materie. ohne sich auf die philosophische Untersuchung der Ursache dieses Phänomens im Wesen der Körper' einzulassen, andererseits aber doch kein Bedenken getragen habe, dieses Verhalten als Wirkung einer allgemeinen Tätigkeit der Körper ineinander aufzufassen und ihr den Namen Anz i e h u n g s kr a ft zu geben, so wäre es vielleicht auch möglich, "die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen, wie solche sich aufeinander wechselweise beziehen, gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen ineinander einfließen, vorzustellen, so daß das sittliche Gefühl diese empfundene Abhängigkeit des Privatwillens vom allgemeinen Willen wäre und eine Folge der natürlichen und allgemeinen Wechselwirkung, dadurch die immaterielle Welt ihre sittliche Einheit erlangt, indem sie sich nach den Gesetzen dieses ihr eigenen Zusammenhanges zu einem System von geistiger Vollkommenheit bildet". Man sieht aus diesen Ausführungen deutlich, wo nach Kant die geSicherte Tatsache der moralischen Erfahrung, d. h. des sittlichen Gefühles aufhört und die unsichere Hypothese anfängt: die erstere ist die empfundene Nötigung unseres Willens zur Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen oder, ander:;; ausgedrückt, die Empfindung unserer Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens,

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sie entspricht im naturwissenschaftlichen Gegenbild der durchgehenden Erfahrungstatsache der Annäherung der Massen nach dem gesicherten Gesetze der Gravitation und bezeichnet die Feststellung dessen, was wir innerlich erfahren, wessen wir uns unmittelbar bewußt werden. Und ebenso wie das Gesetz der Gravitation an sich nichts aussagt über die Ursache dieses Verhaltens der Körper, so ist auch an sich durch die obige Feststellung der inneren Erfahrung noch nichts ausgemacht über das, was dieser Empfindung als metaphysische Ursache zugrunde liegt, ja Kant gebraucht hier sogar eine Wendung. die die spätere Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit an sich irgendwie vorwegnimmt: dieses Gefühl der notwendigen Übereinstimmung sei nur die Er sc h ein u n g dessen, was in uns wirklich vorgehe. Die Theorie und Hypothese aber beginnt deutlich dort, wo entsprechend dem Vorgehen Newtons, der kein Bedenken trug, das bezeichnete Verhalten der Körper auf eine allen Massen in h ä r i e rende Tätigkeit und aufeinander und ineinander wirkende Kraft zurückzuführen, das Phänomen unseres moralischen Gefühls oder Bewußtseins: die empfundene Nötigung unseres Wollens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen auf ein 1neinanderwirken oder ineinander Einfließen der geistigen Naturen, d. h. auf eine reale Wechselwirkung zwischen den geistigen Substanzen des mundus intelligibilis zurückgeführt wird. Aber dieser Schluß wird von Kant selber als sehr problematisch empfunden: 'Sollte es nicht möglich sein, die Erscheinung der sittlichen Antriebe in den denkenden Naturen •.. gleichfalls als die Folge einer wahrhaftig tätigen Kraft, dadurch geistige Naturen in einander einfließen, vorzustellen .•• '? nachdem er schon einleitend bemerkt hatte, daß dieser ganze Versuch einer Begründung des mundes intelligibilis von der Evidenz weit genug entfernt sei. Er weist in diesem Zusammenhang, gleichsam zur Bekräftigung dieser wenig evidenten Theorie, auf die sehr g ü n s t i gen F 0 1 gen der Annahme hin, durch die man für sie leicht eingenommen werden könne: Einmal würde auf diese Weise der Widerspruch verschwinden zwischen den Verhältnissen des physischen Lebens, d. h. des physischen Wohlergehens und dem moralischen Verhalten, der hier auf der Welt so befremdlich in die Augen falle; denn wenn auch die Moralität nach der physischen Naturordnung niemals ihre volle Wirkung im leiblichen Leben des Menschen finde, so könnte sie diese bereits jetzt in einer geistigen Welt nach pneumatischen Gesetzen haben in dem Sinne, daß die Seelen der Menschen schon in diesem Leben auf Grund ihres sittlichen Verhaltens und Zustandes ihre bestimmte Stelle unter den geistigen Substanzen des Universums nach übermateriellen Gesehen einnehmen würden, ähnlich wie jeder Körper nach den Bewegungsgesetzen der Materie notwendig seinen Platz im Universum einnehme. Ferner könnte das Leben in der anderen

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Welt nach der Aufhebung der Gemeinschaft der Seele mit dem Leib als eine natürliche Fortsetzung der Verknüpfungbetrachtet werden, in der sie schon während dieses Lebens gestanden hat und es würden sich natürlicherweise dort die gesamten Folgen der in diesem Leben ausgeübten Sittlichkeit wiederfinden. Die Gegenwart des Menschen und seine Zukunft im anderen Leben wären so gleichsam aus ein e m S t ü c k und würden ein s t e t i g e s G a n z e s na c h der 0 r d nun g der Natur ausmachen, was Kant deshalb so bedeutsam erscheint, weil man dann der Pflicht enthoben wäre, um den Übelstand der Diskrepanz zwischen dem moralischen Verhalten und seinen Folgen in dieser Welt zu überwinden, zu einem außerordentlichen göttlichen Willen seine Zuflucht nehmen zu müssen, wo immer der Verdacht oleibe, daß wir unsere schwachen Begriffe auf den Höchsten vielleicht sehr verkehrt angewandt haben. Naturgemäß aber fallen alle diese Gedanken zugleich mit der Theorie, auf der sie beruhen, unter das Verdikt des folgenden Hauptstückes, das alle derartigen Hypothesen in den Bereich der bloßen Meinung verweist. -Für unsere gegenwärtige Betrachtung bleibt also zunächst allein das bedeutsam, was Kant hier als eine wirkliche und allgemein zugestandene Beobachtung oder Erfahrung anspricht und als Ausga n g s p unk t seiner Spekulation verwendet: es ist das Phänomen des Bewußtseins unserer Abhängigkeit bis in die geheimsten Beweggründe hinein von der .Kegel des allgemeinen Willens, durch die in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen entsteht; es ist die Empfindung der Nötigung unseres Wollens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen, die man das sittliche Gefühl nennen kann, wenn man nur die Erscheinung dessen ausdrücken will, was in uns wirklich vorgeht. Das Entscheidende dabei ist, daß mit dem Gesetz des allgemeinen Willens, von dem wir uns im moralischen Gefühl abhängig wissen, im Grunde zum erstenmal daR Prinzip des F 0 r mal i s mus statuiert wird, womit in der Tat ein völlig neuer Ansatz gewonnen ist zur Lösung der Frage nach dem obersten Prinzip der Verpflichtung im Sinne eines echten Formalprinzips des Sollens. Wie wir sahen, hatte der Philosoph diese Lösung schon in der Preisschrift versucht, wo er nach Analogie der Grundsätze der theoretischen Erkenntnis ein zweifaches 1 e e res Formalprinzip der Verpflichtung und als Gegenstück der Wirklichkeitserfahrung das materiale Prinzip des moralischen Gefühls aufgestellt hatte. Ein Hauptgrund , warum er damals noch nicht zu einer voll befriedigenden Lösung des Problems gelangte, liegt ohne Zweifel darin, daß er diese auf dem Wege einer Analogie zu seiner dort entwickelten Prinzipienlehre der t h e 0 r e t i s c h e n Erkenntnis versuchte. Denn so lange die praktischen Prinzipien in dieser Weise aufgefaßt wurden, mußte es bei der unrückführbaren Zweiheit: reines, aber unbestimmtes und leeres Formalprinzip der Verpflichtung und die Inhalte

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des Guten aus der Quelle des moralischen Gefühls als einer Art sittlicher Werterfahrung bleiben. Demgegenüber taucht nun in den 'Träumen' ein ga n z neu erG run d des verpflichtenden Charakters jener umfassenden Grundsätze der Gerechtigkeit oder Schuldigkeit und der Gütigkeit oder des Wohlwollens auf, denen wir bereits in den Beobachtungen begegnet waren: nämlich das Gesetz oder die Regel des allgemeinen Willens, von dem wir uns durch das moralische Gefühl bis in die innersten Beweggründe des Handelns hinein schlechterdings abhängig fühlen, ein Prinzip, das jetzt offenbar alle jene Funktionen übernimmt, die in den 'Beobachtungen' dem ausgebreiteten moralischen Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur zugeschrieben worden waren. Das Gefühl der Abhängigkeit von dieser Regel besagt, daß wir uns unbedingt genötigt wissen, unser Handeln so einzurichten, daß es mit dem Wo h 1 und der Will kür aller anderen übereinstimmt; aber wenn auch auf diese Weise die bewegenden Gründe unseres Handeins irgendwie außer uns in dem Willen der anderen liegen, so handelt es sich doch hierbei um eine Abhängigkeit von einer all g e m ein e n Re gel, nach der alle denkenden Naturen in ihrem Wollen übereinstimmen können. Das moralische Gefühl selbst aber ist jetzt nicht mehr wie in der Preisschrift und in den 'Beobachtungen' das fühlende Innewerden und Anerkennen in haI t 1 ich e r Wer te , sondern die Empfindung oder das Bewußtsein der Abhängigkeit oder Nötigung unseres Wollens und Urteilens durch das Gesetz des allgemeinen Willens bzw. der allgemeinen Vernunft als letzter, entscheidender Norm. Man sieht, daß sich der Begriff des moralischen Gefühls womöglich noch weiter von dem eines subjektiv sinnlichen entfernt als dies schon in den 'Beobachtungen' der Fall gewesen war, nicht nur, weil durch eine solche Regel alle subjektiven Neigungen stärkste Einschränkung erleiden müssen, sondern vor allem, weil das Gefühl für eine Regel des allgemeinen Willens oder das Bewußtsein der Nötigung durch eine solche von dem Moment des subjektiven Affekte s, das in dem Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur noch kräftig mitschwang, völlig entleert zu sein scheint. Kant deutet in den 'Träumen' zwei Möglichkeiten der Erklärung des moralischen Gefühls an, insofern es das Bewußtsein der unbedingten Abhängigkeit unseres Wollens von der Regel des allgemeinen Willens besagt, von denen er aber nur auf die eine näher eingeht, nämlich jene. die ihm von besonderer Bedeutung erscheint für das metaphysische und spekulative Anliegen der Abhandlung: daß das Bewußtsein dieses Gesetzes und der Nötigung durch dasselbe die Er s c h ein u n g des realen Ineinanderwirkens der geistigen Naturen nach pneumatischen Gesetzen sei; denn um dieser Deutung willen hatte er ja auch allein diesen Abstecher auf das moralphilosophische Gebiet unternommen.

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Welt nach der Aufhebung der Gemeinschaft der Seele mit dem Leib als eine natürliche Fortsetzung der Verknüpfungbetrachtet werden, in der sie schon während dieses Lebens gestanden hat und es würden sich natürlicherweise dort die gesamten Folgen der in diesem Leben ausgeübten Sittlichkeit wiederfinden. Die Gegenwart des Menschen und seine Zukunft im anderen Leben wären so gleichsam aus ein e m S t ü c k und würden ein s t e t i g e s G a n z e s na c h der 0 r d nun g der Natur ausmachen, was Kant deshalb so bedeutsam erscheint, weil man dann der Pflicht enthoben wäre, um den Übelstand der Diskrepanz zwischen dem moralischen Verhalten und seinen Folgen in dieser Welt zu überwinden, zu einem außerordentlichen göttlichen Willen seine Zuflucht nehmen zu müssen, wo immer der Verdacht oleibe, daß wir unsere schwachen Begriffe auf den Höchsten vielleicht sehr verkehrt angewandt haben. Naturgemäß aber fallen alle diese Gedanken zugleich mit der Theorie, auf der sie beruhen, unter das Verdikt des folgenden Hauptstückes, das alle derartigen Hypothesen in den Bereich der bloßen Meinung verweist. -Für unsere gegenwärtige Betrachtung bleibt also zunächst allein das bedeutsam, was Kant hier als eine wirkliche und allgemein zugestandene Beobachtung oder Erfahrung anspricht und als Ausga n g s p unk t seiner Spekulation verwendet: es ist das Phänomen des Bewußtseins unserer Abhängigkeit bis in die geheimsten Beweggründe hinein von der .Kegel des allgemeinen Willens, durch die in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen entsteht; es ist die Empfindung der Nötigung unseres Wollens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen, die man das sittliche Gefühl nennen kann, wenn man nur die Erscheinung dessen ausdrücken will, was in uns wirklich vorgeht. Das Entscheidende dabei ist, daß mit dem Gesetz des allgemeinen Willens, von dem wir uns im moralischen Gefühl abhängig wissen, im Grunde zum erstenmal daR Prinzip des F 0 r mal i s mus statuiert wird, womit in der Tat ein völlig neuer Ansatz gewonnen ist zur Lösung der Frage nach dem obersten Prinzip der Verpflichtung im Sinne eines echten Formalprinzips des Sollens. Wie wir sahen, hatte der Philosoph diese Lösung schon in der Preisschrift versucht, wo er nach Analogie der Grundsätze der theoretischen Erkenntnis ein zweifaches 1 e e res Formalprinzip der Verpflichtung und als Gegenstück der Wirklichkeitserfahrung das materiale Prinzip des moralischen Gefühls aufgestellt hatte. Ein Hauptgrund , warum er damals noch nicht zu einer voll befriedigenden Lösung des Problems gelangte, liegt ohne Zweifel darin, daß er diese auf dem Wege einer Analogie zu seiner dort entwickelten Prinzipienlehre der t h e 0 r e t i s c h e n Erkenntnis versuchte. Denn so lange die praktischen Prinzipien in dieser Weise aufgefaßt wurden, mußte es bei der unrückführbaren Zweiheit: reines, aber unbestimmtes und leeres Formalprinzip der Verpflichtung und die Inhalte

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des Guten aus der Quelle des moralischen Gefühls als einer Art sittlicher Werterfahrung bleiben. Demgegenüber taucht nun in den 'Träumen' ein ga n z neu erG run d des verpflichtenden Charakters jener umfassenden Grundsätze der Gerechtigkeit oder Schuldigkeit und der Gütigkeit oder des Wohlwollens auf, denen wir bereits in den Beobachtungen begegnet waren: nämlich das Gesetz oder die Regel des allgemeinen Willens, von dem wir uns durch das moralische Gefühl bis in die innersten Beweggründe des Handelns hinein schlechterdings abhängig fühlen, ein Prinzip, das jetzt offenbar alle jene Funktionen übernimmt, die in den 'Beobachtungen' dem ausgebreiteten moralischen Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur zugeschrieben worden waren. Das Gefühl der Abhängigkeit von dieser Regel besagt, daß wir uns unbedingt genötigt wissen, unser Handeln so einzurichten, daß es mit dem Wo h 1 und der Will kür aller anderen übereinstimmt; aber wenn auch auf diese Weise die bewegenden Gründe unseres Handeins irgendwie außer uns in dem Willen der anderen liegen, so handelt es sich doch hierbei um eine Abhängigkeit von einer all g e m ein e n Re gel, nach der alle denkenden Naturen in ihrem Wollen übereinstimmen können. Das moralische Gefühl selbst aber ist jetzt nicht mehr wie in der Preisschrift und in den 'Beobachtungen' das fühlende Innewerden und Anerkennen in haI t 1 ich e r Wer te , sondern die Empfindung oder das Bewußtsein der Abhängigkeit oder Nötigung unseres Wollens und Urteilens durch das Gesetz des allgemeinen Willens bzw. der allgemeinen Vernunft als letzter, entscheidender Norm. Man sieht, daß sich der Begriff des moralischen Gefühls womöglich noch weiter von dem eines subjektiv sinnlichen entfernt als dies schon in den 'Beobachtungen' der Fall gewesen war, nicht nur, weil durch eine solche Regel alle subjektiven Neigungen stärkste Einschränkung erleiden müssen, sondern vor allem, weil das Gefühl für eine Regel des allgemeinen Willens oder das Bewußtsein der Nötigung durch eine solche von dem Moment des subjektiven Affekte s, das in dem Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur noch kräftig mitschwang, völlig entleert zu sein scheint. Kant deutet in den 'Träumen' zwei Möglichkeiten der Erklärung des moralischen Gefühls an, insofern es das Bewußtsein der unbedingten Abhängigkeit unseres Wollens von der Regel des allgemeinen Willens besagt, von denen er aber nur auf die eine näher eingeht, nämlich jene. die ihm von besonderer Bedeutung erscheint für das metaphysische und spekulative Anliegen der Abhandlung: daß das Bewußtsein dieses Gesetzes und der Nötigung durch dasselbe die Er s c h ein u n g des realen Ineinanderwirkens der geistigen Naturen nach pneumatischen Gesetzen sei; denn um dieser Deutung willen hatte er ja auch allein diesen Abstecher auf das moralphilosophische Gebiet unternommen.

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Daneben weist er aber auch noch auf eine an der e Er k 1 ä run g s m ö gl ich k e i t hin, die weniger metaphysisch ist, und zwar gelegentlich der Erwähnung jenes Triebes, den alle Menschen in sich empfinden, ihre Urteile über das Gute und Wahre mit denen der anderen zu vergleichen und einstimmig zu machen: nämlich, daß es sich vielleicht hier um die empfundene Abhängigkeit unseres individuellen Urteilsvermögens von dem all ge me in e n me n s c h 1 ich e n Ver s t an d handelt, durch die dem Ganzen denkender Wesen eine Art Vernunfteinheit verschafft wird. Es ist nun aus den Ausführungen Kants, so wie sie in den 'Träumen' liegen, nicht ohne weiteres klar, wie er über das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Phänomene denkt, nämlich des Bewußtseins der Abhängigkeit unseres Wollens von der Regel des allgemeinen Willens und der Notwendigkeit, unser Urteil über das Gute (und das Wahre) mit dem der anderen in Übereinstimmung zu bringen, bzw. unsere Billigung desselben von der der anderen abhängig zu machen; der Grund dieser Unklarheit liegt ohne Zweifel darin, daß er sie nicht im Hinblick auf ihre Bedeutung für die moralische Prinzipienlehre betrachtet, sondern nur unter der Rücksicht seiner Theorie des mundus intelligibilis, für die aber das letztere Phänomenen, eine 'sonst nicht unerhebliche Betrachtung', weniger beträchtlich und einleuchtend ist, weswegen er sich begnügt, auf dasselbe kurz hinzuweisen und eine Erklärung desselben anzudeuten, ohne aber näher darauf einzugehen oder auch dessen Verhältnis zu dem anderen, für seinen Zweck bedeutsameren zu diskutieren. Trotzdemaber wird aus der ganzen Art, wie er diesen Gesichtspunkt im Zusammenhang mit dem übrigen durchführt, namentlich aber aus den einleitenden Sätzen des ganzen Abschnittes, die sich offenbar auf beide Tendenzen oder Nötigungen der menschlichen Natur beziehen, hinreichend klar, daß er die, unser Urteil über das Gute bzw. unsere Billigung desselben von der der anderen abhängig zu machen, als. mit dem moralischen Gefühl der Abhängigkeit vom Gesetz des allgemeinen Willens wesentlich verbunden, ja allem Anschein nach beide nur als Aspekte ein und desselben Grundphänomens betrachtet. Wenn nun jene Nötigung möglicherweise nur die Abhängigkeit unseres Urteilsvermögens vom allgemeinen menschlichen Verstand darstellt, durch welche dem Ganzen denkender Wesen eine Art Vernunfteinheit verschafft wird, so kann dementsprechend auch jenes Bewußtsein der Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens als ein Mittel aufgefaßt werden, dem Ganzen oder der Welt aller denkenden Wesen eine Art moralische Einheit, oder Einheit des Wollens zu geben, so daß wir also hier tatsächlich eine zweite Möglichkeit der Begründung des moralischen Gefühls angedeutet finden: eine transzendental-logische, nach der der individuelle Verstand und Wille sich vom allgemeinen Verstand und Willen abhängig fühlt, wodurch alle geistigen Naturen zu einer Art Ver-

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nunft- und Willenseinheit nach pneumatischen Gesetzen zusammengeschlossen werden, aber so, daß diese Gesetze nicht solche eines real physischen aber übermateriellen Wirkens darstellen, sondern nur logische, die sich aus der Idee eines allgemein menschlichen Verstandes und eines allgemein menschlichen Willens ergeben. Nach den Darlegungen dieser Stelle der 'Träume' läßt Kant beide Erklärungsmöglichkeiten des moralischen Gefühls, die metaphysisch-reale und die transzendental-logische offen: beide werden problematisch aufgestellt. Jedoch zeigt sowohl das nächstfolgende Hauptstück der Abhandlung, in welchem er die vorausgehenden metaphysischen Spekulationen als ein sich Verlieren 'in schwindlichten Begriffen einer halb dichtenden, halb schließenden Vernunft' bezeichnet, wie auch die oben erwähnte Stelle seines Briefes an Mendeissohn vom 8.4.66, an der er die Annahme einer geistigen Welt auf Grund einer übermRteriellen, aber realen Einwirkung der geistigen Naturen ineinander ganz ähnlich wie in den 'Träumen' selbst eine Erdichtung, die Möglichkeit derselben aber ein bloßes Blendwerk nennt, daß er tatsächlich die metaphysisch-reale Deutung des Phänomens der sittlichen Antriebe oder des Gefühls der Abhängigkeit vom Gesetz des allgemeinen Willens nicht ernstlich in Erwägung gezogen hat. Daraus läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit erschließen, daß er bereits damals nur die transzendental-logische Deutung wirklich ernst genommen hat, und wir dürfen annehmen, daß er diese in den 'Metaphysischen Anfangsgründen der praktischen Weltweisheit', die, wie aus dem Briefe an Lambert vom 31.12.65 hervorgeht, zur Zeit der Abfassung der 'Träume' bereits zur Veröffentlichung fertig gestellt waren, eingehender entwickelt hatte. Abschließend bleibt noch die Frage zu stellen, ob diese Lehre von der Regel des allgemeinen Willens als des obersten Prinzips aller Grundsätze der Verbindlichkeit zurückzuführen sei auf den Einfluß oder das Vorbild Rousseaus, der in seinem Contrat Social die volonte generale als Prinzip der staatsbürgerlichen Gesellschaftsund Rechtsordnung aufstellte. Schilpp gibt zu, da13 der Ausdruck 'Regel des allgemeinen Willens' wahrscheinlich seinen Ursprung in Rousseau habe, betont aber, daß Kants Konzeption weit über das hinausgehe, was jener je in diesen Ausdruck hineingelegt habe 30. Und Kl. Reich wendet sich entschieden gegen die These der französischen positivistischen wie der deutschen idealistischen Geschichtsdeutung, nach der die Lehre Rousseaus vom allgemeinen Willen die praktische Philosophie Kants inauguriert habe, indem er zeigt, daß der allgemeine Wille als Staatsrechtsprinzip bei Rousseau keineswegs das erfülle, was Kant mit seinem Prinzip der Autonomie des Willens intendiert habe 31. Ohne Zweifel ist das richtig. Trotzdem aber muß die Frage offen 30) Schilpp. o. c. S.80. 31) Klo Reich. o. c. S.13; 15 f.

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Daneben weist er aber auch noch auf eine an der e Er k 1 ä run g s m ö gl ich k e i t hin, die weniger metaphysisch ist, und zwar gelegentlich der Erwähnung jenes Triebes, den alle Menschen in sich empfinden, ihre Urteile über das Gute und Wahre mit denen der anderen zu vergleichen und einstimmig zu machen: nämlich, daß es sich vielleicht hier um die empfundene Abhängigkeit unseres individuellen Urteilsvermögens von dem all ge me in e n me n s c h 1 ich e n Ver s t an d handelt, durch die dem Ganzen denkender Wesen eine Art Vernunfteinheit verschafft wird. Es ist nun aus den Ausführungen Kants, so wie sie in den 'Träumen' liegen, nicht ohne weiteres klar, wie er über das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Phänomene denkt, nämlich des Bewußtseins der Abhängigkeit unseres Wollens von der Regel des allgemeinen Willens und der Notwendigkeit, unser Urteil über das Gute (und das Wahre) mit dem der anderen in Übereinstimmung zu bringen, bzw. unsere Billigung desselben von der der anderen abhängig zu machen; der Grund dieser Unklarheit liegt ohne Zweifel darin, daß er sie nicht im Hinblick auf ihre Bedeutung für die moralische Prinzipienlehre betrachtet, sondern nur unter der Rücksicht seiner Theorie des mundus intelligibilis, für die aber das letztere Phänomenen, eine 'sonst nicht unerhebliche Betrachtung', weniger beträchtlich und einleuchtend ist, weswegen er sich begnügt, auf dasselbe kurz hinzuweisen und eine Erklärung desselben anzudeuten, ohne aber näher darauf einzugehen oder auch dessen Verhältnis zu dem anderen, für seinen Zweck bedeutsameren zu diskutieren. Trotzdemaber wird aus der ganzen Art, wie er diesen Gesichtspunkt im Zusammenhang mit dem übrigen durchführt, namentlich aber aus den einleitenden Sätzen des ganzen Abschnittes, die sich offenbar auf beide Tendenzen oder Nötigungen der menschlichen Natur beziehen, hinreichend klar, daß er die, unser Urteil über das Gute bzw. unsere Billigung desselben von der der anderen abhängig zu machen, als. mit dem moralischen Gefühl der Abhängigkeit vom Gesetz des allgemeinen Willens wesentlich verbunden, ja allem Anschein nach beide nur als Aspekte ein und desselben Grundphänomens betrachtet. Wenn nun jene Nötigung möglicherweise nur die Abhängigkeit unseres Urteilsvermögens vom allgemeinen menschlichen Verstand darstellt, durch welche dem Ganzen denkender Wesen eine Art Vernunfteinheit verschafft wird, so kann dementsprechend auch jenes Bewußtsein der Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens als ein Mittel aufgefaßt werden, dem Ganzen oder der Welt aller denkenden Wesen eine Art moralische Einheit, oder Einheit des Wollens zu geben, so daß wir also hier tatsächlich eine zweite Möglichkeit der Begründung des moralischen Gefühls angedeutet finden: eine transzendental-logische, nach der der individuelle Verstand und Wille sich vom allgemeinen Verstand und Willen abhängig fühlt, wodurch alle geistigen Naturen zu einer Art Ver-

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nunft- und Willenseinheit nach pneumatischen Gesetzen zusammengeschlossen werden, aber so, daß diese Gesetze nicht solche eines real physischen aber übermateriellen Wirkens darstellen, sondern nur logische, die sich aus der Idee eines allgemein menschlichen Verstandes und eines allgemein menschlichen Willens ergeben. Nach den Darlegungen dieser Stelle der 'Träume' läßt Kant beide Erklärungsmöglichkeiten des moralischen Gefühls, die metaphysisch-reale und die transzendental-logische offen: beide werden problematisch aufgestellt. Jedoch zeigt sowohl das nächstfolgende Hauptstück der Abhandlung, in welchem er die vorausgehenden metaphysischen Spekulationen als ein sich Verlieren 'in schwindlichten Begriffen einer halb dichtenden, halb schließenden Vernunft' bezeichnet, wie auch die oben erwähnte Stelle seines Briefes an Mendeissohn vom 8.4.66, an der er die Annahme einer geistigen Welt auf Grund einer übermRteriellen, aber realen Einwirkung der geistigen Naturen ineinander ganz ähnlich wie in den 'Träumen' selbst eine Erdichtung, die Möglichkeit derselben aber ein bloßes Blendwerk nennt, daß er tatsächlich die metaphysisch-reale Deutung des Phänomens der sittlichen Antriebe oder des Gefühls der Abhängigkeit vom Gesetz des allgemeinen Willens nicht ernstlich in Erwägung gezogen hat. Daraus läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit erschließen, daß er bereits damals nur die transzendental-logische Deutung wirklich ernst genommen hat, und wir dürfen annehmen, daß er diese in den 'Metaphysischen Anfangsgründen der praktischen Weltweisheit', die, wie aus dem Briefe an Lambert vom 31.12.65 hervorgeht, zur Zeit der Abfassung der 'Träume' bereits zur Veröffentlichung fertig gestellt waren, eingehender entwickelt hatte. Abschließend bleibt noch die Frage zu stellen, ob diese Lehre von der Regel des allgemeinen Willens als des obersten Prinzips aller Grundsätze der Verbindlichkeit zurückzuführen sei auf den Einfluß oder das Vorbild Rousseaus, der in seinem Contrat Social die volonte generale als Prinzip der staatsbürgerlichen Gesellschaftsund Rechtsordnung aufstellte. Schilpp gibt zu, da13 der Ausdruck 'Regel des allgemeinen Willens' wahrscheinlich seinen Ursprung in Rousseau habe, betont aber, daß Kants Konzeption weit über das hinausgehe, was jener je in diesen Ausdruck hineingelegt habe 30. Und Kl. Reich wendet sich entschieden gegen die These der französischen positivistischen wie der deutschen idealistischen Geschichtsdeutung, nach der die Lehre Rousseaus vom allgemeinen Willen die praktische Philosophie Kants inauguriert habe, indem er zeigt, daß der allgemeine Wille als Staatsrechtsprinzip bei Rousseau keineswegs das erfülle, was Kant mit seinem Prinzip der Autonomie des Willens intendiert habe 31. Ohne Zweifel ist das richtig. Trotzdem aber muß die Frage offen 30) Schilpp. o. c. S.80. 31) Klo Reich. o. c. S.13; 15 f.

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172 bleiben, ob hier nicht doch eine tiefere Abhängigkeit von Rousseau vorliegt als sie mit der Übernahme des bloßen Ausdrucks der volont6 g6n6rale gegeben wäre. Jedenfalls ist auffallend, daß Kant abschließend seine metaphysische Erklärung unserer Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens im Lichte jenes Problems betrachtet, das im Emile eine so große Rolle spielt und bereits hier zu etwas wie einen praktischen Vernunftglauben an das Dasein Gottes und das Weiterleben der Seele nach dem Tode führt: nämlich die befremdliche Diskrepanz zwischen den moralischen und physischen Verhältnissen der Menschen hier auf der Erde 32. All das scheint doch auf eine tiefere Abhängigkeit von Rousseau hinzudeuten. Wir werden auf diese wichtige Frage in anderem Zusammenhang nochmals ausführlicher zurückkommen. Zum Schluß wollen wir wiederum zu den hier dargelegten, mehr oder weniger von Rousseau beeinflußten Gedanken der 'Nachricht' und der 'Träume' die Parallelen in den Bemerkungen feststellen, die zuweilen jene erst in ihrem eigentlichen Sinn verdeutlichen, wie wir dies bei der Stelle über den moralischen Glauben gesehen haben. Zunächst die verwandten Stellen zu den Ausführungen über die Methode in den Wissenschaften, und den Wert und den Rang derselben, über ihre Aufgabe und ihre wesentlichen Grenzen sowie über diewissenschaftlichen Bildungsstätten: 6,5; 7,8 -11; 175,13 -20; 39,1-4; 180,12-15; 37,5-10; 38,11-16; 39,20-27; 42,1-7; 44,8-16; 101,1; 119,9-14; 131,7-9; - 7,14f.; 90,1-2; 142,9-11; 150,16-151,3; 180.11-15; ferner die sehr zahlreichen Stellen der Bemerkungen, die den Ausführungen über die unveränderliche und bleibende Natur des Menschen und den ihm durch die Natur angewiesenen Posten in der Welt entsprechen bzw. den in der Nachricht erwähnten Zustand der rohen Einfalt, der weisen Einfalt und den der letzten Vervollkommnung des Menschen erläutern: 5,21-6,4; 6,6-11; 14,9-15,3; 15.4-8; 22,11-20; 22,26; 30,10-15; 31,13-24; 32,l1f.;'35.1-4; 37,5-10; 37,11-14; 38,3-10; 40,1-7; 41,19-30; 44,8-16; 45,8-16; 45,17-46,3; 46,11-15; 47,5-12; 47,13-48,7; 57,1-9; 57,22-58,6; 58,12-59,3; 60,7-11; 72,13-15; 91,10-94,17; 112,10-14; 120,12121,2; 121,15-122,6; 151,12-15; 153,1-4; 153,16-22; 160,14-19; 175,26-29; 180,5-8; 184,15-28; dazu jene Stellen, die von dem allgemeinen Willen als Prinzip der Sittlichkeit im allgemeinen oder im besonderen des Gesetzes der Schuldigkeit und der Gütigkeit sprechen: 67,5-10; 145,5; 145,21-25; 156,5-17; 157,8-158,8; 160,25162,3; 165,20-24; 166,5-7; 36,8-12; 138,10-16. Nimmt man hinzu, was Kant im Zusammenhang mit dem Prinzip vom allgemeinen Willen in den Träumen über das Wesen des moralischen Gefühls als Phänomen sowie über den Trieb ausführt, 'vermöge dessen wir so stark und so allgemein am Urtheile anderer hängen und fremde Billigung oder Beifall zur Vollendung des unseren von uns selbst so 32) KGS H. 335 ff.

nöthig zu sein erachten' (Gedanken, die bei Rousseau keine Entsprehaben) 33. so sind als Parallelen in den Bemerkungen hinzuzufugen: 136,16-137,2; 145,6-20; 147,15-17; - 97,1-11; 130,13-21; 156,5-17; 162,3-9; 165,15-19; 166,10-14; 169 1-5' zu den Ausführungen über das moralische Gefühl als Quelle' der 'sittlichen Urzu jenen über das Verhältnis zwischen der Hoffnung auf zukunftlge Belohnung und dem Motiv des sittlichen Wollens und Handelns sowie jenen über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit der Lösung der großen Weltanschauungsfragen verweisen wir auf folgende Parallel stellen in den Bemerkungen: 4,1f.; 18,10f.; 19,21-26; 26,1-4; 32,13-33.11; 49,6-11; 85,4-11; 135,10-13; 168,10f.; 12,15-22; 15,12-15; 16,14-17,4; 18,6-9' 24 21-25' 28 3-12' 48 11-13; 48,14f.; 56,3-5; 137,3f.; - 19,1'1-20'; 38,3'-10;'57,1;-21: 3. Kants 'Bemerkungen' zu den 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' Wir haben zum Abschluß unserer Analyse der Veröffentlichungen der Jahre 1764/65 eine weitgehende Übereinstimmung zwischen diesen und den Bemerkungen festgestellt und wollen uns nun der Betrachtung der letzteren selber zuwenden. Hier befinden wir uns in der vorteilhaften Lage, daß wir ihren Sinn und ihre Funktion im Rahder Entwicklung mit verhältnismäßig großer Sicherhelt bestlIDmen können, was wohl bei keiner anderen geschlossenen Gruppe von Reflexionen in dem Maße der Fall sein dürfte: wir stehen hier offenbar vor der unmittelbarsten und ur8prünglichsten Auseinandersetzung Kants mit den Hauptwerken Rousseaus, vor allem mit dessen E mi 1 e. Dies wurde auch früher schon auf Grund der Schubertschen Fassung der 'Bemerkungen' erkannt 34, ist aber durch die Veröffentlichung des unverkürzten Textes derselben erst in vollem Umfange deutlich geworden. Gewiß werden wir von vornherein kaum erwarten daß sich der Philosoph von den zum Teil sehr revolutionären Ideen' Rousseaus so beeindrucken ließ, daß er seinen eigenen Standpunkt aufgegeben und jenep:. ohne kritische Prüfung und Stellungnahme ausgeliefert hatte. Dafur war er von Natur aus ein viel zu selbständiger und eigenwilliger Denker, wie schon aus seinen ersten Veröffentlichungen hervorgeht, und außerdem war er gerade auf jenen Gebieten auf die sich die neuen Ideen Rousseaus vor allem bezogen, nämlich'Anthropologie, Ethik und Metaphysik, im Lauf der vergangenen Jahre selzu sehr bestimmten Auffassungen und z. T. ganz neuen Erkenntrossen gelangt. so daß man sich schlechterdings nicht vorstellen 33) Ibid. S.334. 34) Kl.Reich. o.c. S.6.

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172 bleiben, ob hier nicht doch eine tiefere Abhängigkeit von Rousseau vorliegt als sie mit der Übernahme des bloßen Ausdrucks der volont6 g6n6rale gegeben wäre. Jedenfalls ist auffallend, daß Kant abschließend seine metaphysische Erklärung unserer Abhängigkeit von der Regel des allgemeinen Willens im Lichte jenes Problems betrachtet, das im Emile eine so große Rolle spielt und bereits hier zu etwas wie einen praktischen Vernunftglauben an das Dasein Gottes und das Weiterleben der Seele nach dem Tode führt: nämlich die befremdliche Diskrepanz zwischen den moralischen und physischen Verhältnissen der Menschen hier auf der Erde 32. All das scheint doch auf eine tiefere Abhängigkeit von Rousseau hinzudeuten. Wir werden auf diese wichtige Frage in anderem Zusammenhang nochmals ausführlicher zurückkommen. Zum Schluß wollen wir wiederum zu den hier dargelegten, mehr oder weniger von Rousseau beeinflußten Gedanken der 'Nachricht' und der 'Träume' die Parallelen in den Bemerkungen feststellen, die zuweilen jene erst in ihrem eigentlichen Sinn verdeutlichen, wie wir dies bei der Stelle über den moralischen Glauben gesehen haben. Zunächst die verwandten Stellen zu den Ausführungen über die Methode in den Wissenschaften, und den Wert und den Rang derselben, über ihre Aufgabe und ihre wesentlichen Grenzen sowie über diewissenschaftlichen Bildungsstätten: 6,5; 7,8 -11; 175,13 -20; 39,1-4; 180,12-15; 37,5-10; 38,11-16; 39,20-27; 42,1-7; 44,8-16; 101,1; 119,9-14; 131,7-9; - 7,14f.; 90,1-2; 142,9-11; 150,16-151,3; 180.11-15; ferner die sehr zahlreichen Stellen der Bemerkungen, die den Ausführungen über die unveränderliche und bleibende Natur des Menschen und den ihm durch die Natur angewiesenen Posten in der Welt entsprechen bzw. den in der Nachricht erwähnten Zustand der rohen Einfalt, der weisen Einfalt und den der letzten Vervollkommnung des Menschen erläutern: 5,21-6,4; 6,6-11; 14,9-15,3; 15.4-8; 22,11-20; 22,26; 30,10-15; 31,13-24; 32,l1f.;'35.1-4; 37,5-10; 37,11-14; 38,3-10; 40,1-7; 41,19-30; 44,8-16; 45,8-16; 45,17-46,3; 46,11-15; 47,5-12; 47,13-48,7; 57,1-9; 57,22-58,6; 58,12-59,3; 60,7-11; 72,13-15; 91,10-94,17; 112,10-14; 120,12121,2; 121,15-122,6; 151,12-15; 153,1-4; 153,16-22; 160,14-19; 175,26-29; 180,5-8; 184,15-28; dazu jene Stellen, die von dem allgemeinen Willen als Prinzip der Sittlichkeit im allgemeinen oder im besonderen des Gesetzes der Schuldigkeit und der Gütigkeit sprechen: 67,5-10; 145,5; 145,21-25; 156,5-17; 157,8-158,8; 160,25162,3; 165,20-24; 166,5-7; 36,8-12; 138,10-16. Nimmt man hinzu, was Kant im Zusammenhang mit dem Prinzip vom allgemeinen Willen in den Träumen über das Wesen des moralischen Gefühls als Phänomen sowie über den Trieb ausführt, 'vermöge dessen wir so stark und so allgemein am Urtheile anderer hängen und fremde Billigung oder Beifall zur Vollendung des unseren von uns selbst so 32) KGS H. 335 ff.

nöthig zu sein erachten' (Gedanken, die bei Rousseau keine Entsprehaben) 33. so sind als Parallelen in den Bemerkungen hinzuzufugen: 136,16-137,2; 145,6-20; 147,15-17; - 97,1-11; 130,13-21; 156,5-17; 162,3-9; 165,15-19; 166,10-14; 169 1-5' zu den Ausführungen über das moralische Gefühl als Quelle' der 'sittlichen Urzu jenen über das Verhältnis zwischen der Hoffnung auf zukunftlge Belohnung und dem Motiv des sittlichen Wollens und Handelns sowie jenen über den Zusammenhang der Sittlichkeit mit der Lösung der großen Weltanschauungsfragen verweisen wir auf folgende Parallel stellen in den Bemerkungen: 4,1f.; 18,10f.; 19,21-26; 26,1-4; 32,13-33.11; 49,6-11; 85,4-11; 135,10-13; 168,10f.; 12,15-22; 15,12-15; 16,14-17,4; 18,6-9' 24 21-25' 28 3-12' 48 11-13; 48,14f.; 56,3-5; 137,3f.; - 19,1'1-20'; 38,3'-10;'57,1;-21: 3. Kants 'Bemerkungen' zu den 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' Wir haben zum Abschluß unserer Analyse der Veröffentlichungen der Jahre 1764/65 eine weitgehende Übereinstimmung zwischen diesen und den Bemerkungen festgestellt und wollen uns nun der Betrachtung der letzteren selber zuwenden. Hier befinden wir uns in der vorteilhaften Lage, daß wir ihren Sinn und ihre Funktion im Rahder Entwicklung mit verhältnismäßig großer Sicherhelt bestlIDmen können, was wohl bei keiner anderen geschlossenen Gruppe von Reflexionen in dem Maße der Fall sein dürfte: wir stehen hier offenbar vor der unmittelbarsten und ur8prünglichsten Auseinandersetzung Kants mit den Hauptwerken Rousseaus, vor allem mit dessen E mi 1 e. Dies wurde auch früher schon auf Grund der Schubertschen Fassung der 'Bemerkungen' erkannt 34, ist aber durch die Veröffentlichung des unverkürzten Textes derselben erst in vollem Umfange deutlich geworden. Gewiß werden wir von vornherein kaum erwarten daß sich der Philosoph von den zum Teil sehr revolutionären Ideen' Rousseaus so beeindrucken ließ, daß er seinen eigenen Standpunkt aufgegeben und jenep:. ohne kritische Prüfung und Stellungnahme ausgeliefert hatte. Dafur war er von Natur aus ein viel zu selbständiger und eigenwilliger Denker, wie schon aus seinen ersten Veröffentlichungen hervorgeht, und außerdem war er gerade auf jenen Gebieten auf die sich die neuen Ideen Rousseaus vor allem bezogen, nämlich'Anthropologie, Ethik und Metaphysik, im Lauf der vergangenen Jahre selzu sehr bestimmten Auffassungen und z. T. ganz neuen Erkenntrossen gelangt. so daß man sich schlechterdings nicht vorstellen 33) Ibid. S.334. 34) Kl.Reich. o.c. S.6.

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kann, wie er unter dem Eindruck der Rousseauschen Ideenwelt seinen eigenen festen Stand hätte verlieren können. Aber immerhin hat die Lektüre des Emile in ihm ein e Re v 0 1 u ti 0 n hervorgerufen und so mächtig auf ihn gewirkt wie wohl sonst kein anderes Buch. Die Bemerkungen sind nun das Dokument, in dem sich die erste Begegnung Kants mit diesem ihm so verwandten und doch wieder so verschiedenen Denker widerspiegelt, und das gibt ihnen ihre einmal i ge Be d eu tun g , vor allem auch für die Erkenntnis seiner ethischen Entwicklung. Nach Schilpp zeigen die 'Bemerkungen', daß Kant sehr beeindruckt war von Rousseaus St i1 und li te rar i s ch e n F ähi gk ei te n, daß er ferner von ihm auch einige wichtige Anregungen erhielt, so die Lehre von der Würde des Menschen ohne Rücksicht auf und Stand und dann vor allem die Idee, Erzieher der Menschheit zu sein, Gedanken, die ihm zu einem unverlierbaren geistigen Besitz geworden und die eine nicht unbeträchtliche Rolle in seiner weiteren philosophischen Entwicklung gespielt hätten. Aber das bedeutet nach dem Verfasser noch lange nicht, daß er diese Ideen unverändert, so wie sie lagen, von Rousseau übernommen habe. So sei es unmöglich, die von der Würde des Menschen ausschließlich auf das Konto des letzteren zu setzen, da sie längst in Kants Geist vorbereitet gewesen sei durch seine religiöse pietistische Jugenderziehung , und außerdem beweise das Fragment selber hinlänglich, daß er weit davon entfernt war, ein unbedingter Anhänger Rousseaus zu werden. Denn man dürfe nicht übersehen, daß dessen Lehre von der Würde der menschlichen Natur auf seiner reichlich mythischen Vorstellung von dem ursprünglichen Naturzustand beruhe. Sein Rat zum Stand des 'Wilden' zurückzukehren sei nicht so sehr auf anthropologische Erkenntnis oder geschichtliche Tatsachen gegründet als auf den Wunschtraum einer in hohem Maße empfindsamen Seele von lebhafter Einbildungskraft. Kant habe diese Sentimentalismen klar durchschaut: er spreche nicht ohne Schärfe von Rousseaus 'seltsamen und widersinnigen Meinungen' und bezichtige ihn, er habe sie mehr gesagt um aufzufallen als um ihres Wahrheitsgehaltes willen. Deutlicher hätte der Philosoph kaum sprechen können. Das scheint alles unanfechtbar und doch dürfte es von vornherein ein sc h i e fes Bild von der wirklichen Sachlage geben. Gewiß hat Kant da und dort in den Bemerkungen mit ausdrücklichen Worten kritisch zu Rousseau Stellung genommen, aber diese ÄußerungEJn sind doch alles in allem sehr maß voll und betreffen kaum die Substanz der Rousseauschen Lehre. Die entscheidenden kritischen Äußerungen sind folgende: "Es ist eine Beschwerde vor den Verstand Geschmack zu haben. Ich muß den Rousseau so lange lesen bis mich die Schönheit der Aus4rücke gar nicht mehr stört und dann kann ich allererst ihn mit Vernunft

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,4l.

unterSUChen':. (30 In einer weiteren Reflexion, auf die sich SchUpp vor allem stutzt (4;5 ,13), unterscheidet er einen dreifachen Eindruck der SC.hrift,en des J. J. Rou.sseau auf d.en verständigen Leser: der erste 1St, daß er eme ungememe Scharfslnnigkeit des Geistes einen edlen Schwung des Genies und eine gefühlvolle Seele in so hohem antrifft als vielleicht niemals ein Schriftsteller von welchem ZeItalter oder von welchem Volke er auch sei vereinbart mag besesDer zweite ist der der Befremdung über seltsame und wlderSlnnlsche M:inungen, die den allgemeinen Anschauungen so entgegengesetzt smd, daß man auf die Vermutung gerät, der Verfasser habe durch seine außerordentlichen Talente nur die Zauberkraft seiner Beredsamkeit beweisen und durch die Neuigkeit seiner Thesen unter den Nebenbuhlern des Witzes hervorstechen wollen dritte Gedanke (aber) zu welchem man nur schwerlich gelange: well es nur selten geschehe ••• und hier bricht die Reflexion (wie in manchen anderen Fällen) gerade an dem e nt s c h eid end e n Punkt ab; daraus folgt, daß man aus den beiden vorausgehenden nicht auf die eigentliche Einstellung Kants zu Rousseau schließen kann wie es Schilpp tut. Er spricht von dem Eindruck, den Rousseau auf den Leser mache, aber er nennt den entscheidenden dritten nicht mehr Ein weiteres Moment der Kritik enthält die Reflexion (29 4) d d· , , er . le von dem letzteren beschriebene Methode, einen großen Teil selnes Lebens damit zuzubringen, um ein Kind zu lehren wie es dereinst selbst leben soll, als unnatürlich und gekünstelt bez;ichnet. Aber es sei geziemend, daß ein Mensch sein Leben dazu verwe.nde, so viele zugleich leben zu lehren, daß die Aufopferung semes elgenen dagegen nicht zu achten sei, also als Lehrer einer Aber um solche Schulen der echten Lebenskunst zu gründen, m.ußte man Ern i l e erziehen. Daher hätte Rousseau zeigen sollen, w.le Schulen entspringen können. Er selber schlägt vor, daß Predlger auf dem Lande mit ihren eigenen Kindern und denen ihrer. Nachbarn damit machen. Außerdem stellt er gelegenthch noch emen wlchtlgen Unterschied zwischen der Methode Rousseaus seiner eigenen fest in der Bestimmung dessen, was zum Wesenthchen der menschlichen Natur gehört: "Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an" (14 5) ein Unter _den er in einer anderen Bemerkung begründet: weil es schwer auszumachen sei, ob uns für dieses und jenes die Natur. eingeartete Triebe gegeben habe oder ob sie bloß zufällig seieIne .Methode nach der meist Rousseau vorgehe, während es lelcht sel, das festzustellen, was sich in offenbarem Widerspruch zu dem in der Natur Liegenden befinde (47,13 f.). Diese:- Kritik an Rousseau, die alles in allem genommen 1St, steht andererseits eine weitgehende ausdruckllche Anerkennung gegenüber: vor allem das sehr per-

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kann, wie er unter dem Eindruck der Rousseauschen Ideenwelt seinen eigenen festen Stand hätte verlieren können. Aber immerhin hat die Lektüre des Emile in ihm ein e Re v 0 1 u ti 0 n hervorgerufen und so mächtig auf ihn gewirkt wie wohl sonst kein anderes Buch. Die Bemerkungen sind nun das Dokument, in dem sich die erste Begegnung Kants mit diesem ihm so verwandten und doch wieder so verschiedenen Denker widerspiegelt, und das gibt ihnen ihre einmal i ge Be d eu tun g , vor allem auch für die Erkenntnis seiner ethischen Entwicklung. Nach Schilpp zeigen die 'Bemerkungen', daß Kant sehr beeindruckt war von Rousseaus St i1 und li te rar i s ch e n F ähi gk ei te n, daß er ferner von ihm auch einige wichtige Anregungen erhielt, so die Lehre von der Würde des Menschen ohne Rücksicht auf und Stand und dann vor allem die Idee, Erzieher der Menschheit zu sein, Gedanken, die ihm zu einem unverlierbaren geistigen Besitz geworden und die eine nicht unbeträchtliche Rolle in seiner weiteren philosophischen Entwicklung gespielt hätten. Aber das bedeutet nach dem Verfasser noch lange nicht, daß er diese Ideen unverändert, so wie sie lagen, von Rousseau übernommen habe. So sei es unmöglich, die von der Würde des Menschen ausschließlich auf das Konto des letzteren zu setzen, da sie längst in Kants Geist vorbereitet gewesen sei durch seine religiöse pietistische Jugenderziehung , und außerdem beweise das Fragment selber hinlänglich, daß er weit davon entfernt war, ein unbedingter Anhänger Rousseaus zu werden. Denn man dürfe nicht übersehen, daß dessen Lehre von der Würde der menschlichen Natur auf seiner reichlich mythischen Vorstellung von dem ursprünglichen Naturzustand beruhe. Sein Rat zum Stand des 'Wilden' zurückzukehren sei nicht so sehr auf anthropologische Erkenntnis oder geschichtliche Tatsachen gegründet als auf den Wunschtraum einer in hohem Maße empfindsamen Seele von lebhafter Einbildungskraft. Kant habe diese Sentimentalismen klar durchschaut: er spreche nicht ohne Schärfe von Rousseaus 'seltsamen und widersinnigen Meinungen' und bezichtige ihn, er habe sie mehr gesagt um aufzufallen als um ihres Wahrheitsgehaltes willen. Deutlicher hätte der Philosoph kaum sprechen können. Das scheint alles unanfechtbar und doch dürfte es von vornherein ein sc h i e fes Bild von der wirklichen Sachlage geben. Gewiß hat Kant da und dort in den Bemerkungen mit ausdrücklichen Worten kritisch zu Rousseau Stellung genommen, aber diese ÄußerungEJn sind doch alles in allem sehr maß voll und betreffen kaum die Substanz der Rousseauschen Lehre. Die entscheidenden kritischen Äußerungen sind folgende: "Es ist eine Beschwerde vor den Verstand Geschmack zu haben. Ich muß den Rousseau so lange lesen bis mich die Schönheit der Aus4rücke gar nicht mehr stört und dann kann ich allererst ihn mit Vernunft

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,4l.

unterSUChen':. (30 In einer weiteren Reflexion, auf die sich SchUpp vor allem stutzt (4;5 ,13), unterscheidet er einen dreifachen Eindruck der SC.hrift,en des J. J. Rou.sseau auf d.en verständigen Leser: der erste 1St, daß er eme ungememe Scharfslnnigkeit des Geistes einen edlen Schwung des Genies und eine gefühlvolle Seele in so hohem antrifft als vielleicht niemals ein Schriftsteller von welchem ZeItalter oder von welchem Volke er auch sei vereinbart mag besesDer zweite ist der der Befremdung über seltsame und wlderSlnnlsche M:inungen, die den allgemeinen Anschauungen so entgegengesetzt smd, daß man auf die Vermutung gerät, der Verfasser habe durch seine außerordentlichen Talente nur die Zauberkraft seiner Beredsamkeit beweisen und durch die Neuigkeit seiner Thesen unter den Nebenbuhlern des Witzes hervorstechen wollen dritte Gedanke (aber) zu welchem man nur schwerlich gelange: well es nur selten geschehe ••• und hier bricht die Reflexion (wie in manchen anderen Fällen) gerade an dem e nt s c h eid end e n Punkt ab; daraus folgt, daß man aus den beiden vorausgehenden nicht auf die eigentliche Einstellung Kants zu Rousseau schließen kann wie es Schilpp tut. Er spricht von dem Eindruck, den Rousseau auf den Leser mache, aber er nennt den entscheidenden dritten nicht mehr Ein weiteres Moment der Kritik enthält die Reflexion (29 4) d d· , , er . le von dem letzteren beschriebene Methode, einen großen Teil selnes Lebens damit zuzubringen, um ein Kind zu lehren wie es dereinst selbst leben soll, als unnatürlich und gekünstelt bez;ichnet. Aber es sei geziemend, daß ein Mensch sein Leben dazu verwe.nde, so viele zugleich leben zu lehren, daß die Aufopferung semes elgenen dagegen nicht zu achten sei, also als Lehrer einer Aber um solche Schulen der echten Lebenskunst zu gründen, m.ußte man Ern i l e erziehen. Daher hätte Rousseau zeigen sollen, w.le Schulen entspringen können. Er selber schlägt vor, daß Predlger auf dem Lande mit ihren eigenen Kindern und denen ihrer. Nachbarn damit machen. Außerdem stellt er gelegenthch noch emen wlchtlgen Unterschied zwischen der Methode Rousseaus seiner eigenen fest in der Bestimmung dessen, was zum Wesenthchen der menschlichen Natur gehört: "Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an" (14 5) ein Unter _den er in einer anderen Bemerkung begründet: weil es schwer auszumachen sei, ob uns für dieses und jenes die Natur. eingeartete Triebe gegeben habe oder ob sie bloß zufällig seieIne .Methode nach der meist Rousseau vorgehe, während es lelcht sel, das festzustellen, was sich in offenbarem Widerspruch zu dem in der Natur Liegenden befinde (47,13 f.). Diese:- Kritik an Rousseau, die alles in allem genommen 1St, steht andererseits eine weitgehende ausdruckllche Anerkennung gegenüber: vor allem das sehr per-

176 sönliche Bekenntnis, daß Rousseau ihn zur e c h t g e b r ach t , nämlich abgebracht von der ausschließlichen Einschätzung der Menschen nach der Vollkommenheit ihrer wissenschaftlichen Bildung und ihrer theoretischen Einsichten und der entsprechenden Verachtung des Pöbels der von nichts weiß, und dahin gebracht, die Menschen um des ureigen'en Menschenwertes willen zu ehren; und so tief ist di:se innere Wandlung seiner Einstellung, daß er sich als akademlscher Lehrer für unnützer halten würde als einen gemeinen Arbeiter, wenn er nicht glaubte, durch seinen Beruf eine für die heit wichtige Aufgabe zu erfüllen: nämlich den Menschen, hier türlich vor allem den ungebildeten, ihren Wert zu offenbaren und dle Rechte der Menschheit herzustellen (44,8-16). Weiterhin bedeutet es eine ho h e An e r k e n nun g , wenn er in einer anderen Reflexion sagt, die Erziehung des Rousseau sei einzige Mittel, dem der bürgerlichen Gesellschaft, deren e.r m schwarz malt, wieder aufzuhelfen. Diese Ubel, dle slch mlt zunehmender Üppigkeit einstellen, sind Not, Unterdrückung und Verachtung der Stände und die Kriege, wogegen die Gesetze nichts mehr ausrichten könnten (175,5). Auch was er sonst über das Ziel der Rousseauschen Erziehung sagt, ist durchaus pos i ti v gemeint: "Die Hauptabsicht des Rousseau ist, daß die Erziehung frei sei und auch einen freien Menschen mache" (167,3). "Von Rousseaus Anschlag durch die Liebe die besten Talente zu bewegen" (50,12). Auch rechtfertigt er den Genfer gegen das dem auch SC;Ulpp noch verfällt: als habe er mit seinem Ruf 'Zuruck zur Natur den Menschen zu einem ku I t u rIo sen W i I den machen wollen: "Wenn man die Glückseligkeit des Wilden erwägt, so ist es nicht um in die Wälder zu kehren, sondern nur um zu sehen, was man verloren habe indem man andererseits gewinnet. Damit man in dem Genusse und Gebrauch der geselligen Üppigkeit nicht mit unglücklichen und unnatürlichen Neigungen daran klebe und ein gesitteter Mensch der Natur bleibe. Jene Betrachtung dienet zum Richtmaße. Denn niemals schafft die Natur einen Menschen zum Bürger und seine Neigungen, seine Bestrebungen sind bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abgezielt (31,17 -24) oder an anderer Stelle: "Rousseaus Buch dient die Alten zu bessern" (9,14)35. Um nun aus den 'Bemerkungen' eine konkrete Vorstellung zu gewinnen in welchem Sinne und in welchem Umfang das Studium der Werke Rousseaus Kant beeinflußt hat, müssen wir uns zunächst über die Gestalt und den Inhalt dieser Quelle im allgemeinen bzw. über die Faktoren durch die sie im wesentlichen bestimmt sind, klar werden. Um diesem letzteren zu beginnen: es ist dies einmal die eigene Abhandlung über das Gefühl des Schönen Er?abenen, in die Kant die Bemerkungen hineinschrieb; denn dlese smd doch irgendwie als erläuternde Ergänzungen zur letzteren gedacht, Er35) Rousseau I. 585; u. bes. 1l.46.

177 gänzungen, zu denen er durch die Lektüre der Rousseauschen Schriften angeregt worden war. Daher bewegen sie sich auch im großen und ganzen um jene Grundthemen, die ihn dort beschäftigt hatten: wir haben eine Anzahl von Reflexionen, die sich mit der Empfindung des Schönen und Edlen und überhaupt mit den Fragen des Ges c h mac k e s befassen: ferner eine allerdings verhältnismäßig kleine Gruppe, die sich auf die psychologischen und moralischen Eigenschaften der verschiedenen Völker oder auch der Temperamente bezieht, sowie andererseits die außerordentlich umfangreiche über die Eigenart der beiden Geschlechter im Verhältnis zueinander und schließlich die für uns entscheidende, ebenfalls sehr umfangreiche über ausgesprochen moralphilosophische Gegenstände. Dabei unterscheiden sich die beiden letztgenannten nicht nur durch ihren Umfan g von den übrigen, sondern vor allem dadurch, daß bei ihnen der Zusammenhang mit der ursprünglichen Thems.tik der Beobachtungen, die den äst h e t i s c h e n Aspekt der echten Tugendgesinnung und der tugendähnlichen Handlungen bzw. der Geschlechtscharaktere herausarbeiten sollte, praktisch ganz fallen gelassen ist. Die moralphilosophischen Aussagen im besonderen erfolgen durchwegs ohne Rücksicht auf diese Thematik aus einer rein ethischen Problemsicht. wobei das Verhältnis zwischen Moralität und Religion eine wichtige Rolle spielt, das in den Beobachtungen gar nicht erwähnt wurde. In der Bestimmung des Verhältnisses der Geschlechter aber dreht sich alles um die spezifische Eigenart des w e i bl i c h e n. das nun in einem merklich anderen Licht erscheint als in der Abhandlung. Diese beiden zuletzt angeführten Gruppen sind nun gerade jene, bei den end e r Ein f I u ß R 0 u s s e aus am 0 f fe nb ars te n ist. Dazu kommen aber noch andere klar ausgeprägte Komplexe von Reflexionen, die in den Beobachtungen keinerlei Entsprechung haben, nicht einmal dem allgemeinen Thema nach: es sind zunächst die verhältnismäßig zahlreichen und bedeutsamen Ausführungen über die wahre und bleibende Natur des Menschen und seinen wesentlichen Posten in der Ordnung der Dinge, über den ursprünglichen Zustand dieser menschlichen Natur und ihren Zustand in der gesellschaftlichen Üppigkeit, ein Thema, das wir als das anthropologische bzw. das kulturphilosophische bez.eichnen möchten und dessen Rousseauscher Ursprung indiskutabel ist; ferner die zunächst in diesem ganzen Zusammenhang völlig fremd anmutende Gruppe von Bemerkungen über physikalische Probleme, die sich vor allem um die Natur und die Eigenschaften des Fe u er s drehen. Der Umstand, daß Kant in seinen Notizen, wo er material über die gleichen Gegenstände handelt wie in den Beobachtungen, diese zum Teil nach ganz anderen Aspekten betrachtet, nach Aspekten, die offenbar in der Lektüre Rousseaus ihren Ursprung haben, sowie daß er sich mit ganz neuen Problemen befaßt, die jenseits des Gesichtskreises der Beobachtungen liegen, aber offenbar von Rousseau an-

176 sönliche Bekenntnis, daß Rousseau ihn zur e c h t g e b r ach t , nämlich abgebracht von der ausschließlichen Einschätzung der Menschen nach der Vollkommenheit ihrer wissenschaftlichen Bildung und ihrer theoretischen Einsichten und der entsprechenden Verachtung des Pöbels der von nichts weiß, und dahin gebracht, die Menschen um des ureigen'en Menschenwertes willen zu ehren; und so tief ist di:se innere Wandlung seiner Einstellung, daß er sich als akademlscher Lehrer für unnützer halten würde als einen gemeinen Arbeiter, wenn er nicht glaubte, durch seinen Beruf eine für die heit wichtige Aufgabe zu erfüllen: nämlich den Menschen, hier türlich vor allem den ungebildeten, ihren Wert zu offenbaren und dle Rechte der Menschheit herzustellen (44,8-16). Weiterhin bedeutet es eine ho h e An e r k e n nun g , wenn er in einer anderen Reflexion sagt, die Erziehung des Rousseau sei einzige Mittel, dem der bürgerlichen Gesellschaft, deren e.r m schwarz malt, wieder aufzuhelfen. Diese Ubel, dle slch mlt zunehmender Üppigkeit einstellen, sind Not, Unterdrückung und Verachtung der Stände und die Kriege, wogegen die Gesetze nichts mehr ausrichten könnten (175,5). Auch was er sonst über das Ziel der Rousseauschen Erziehung sagt, ist durchaus pos i ti v gemeint: "Die Hauptabsicht des Rousseau ist, daß die Erziehung frei sei und auch einen freien Menschen mache" (167,3). "Von Rousseaus Anschlag durch die Liebe die besten Talente zu bewegen" (50,12). Auch rechtfertigt er den Genfer gegen das dem auch SC;Ulpp noch verfällt: als habe er mit seinem Ruf 'Zuruck zur Natur den Menschen zu einem ku I t u rIo sen W i I den machen wollen: "Wenn man die Glückseligkeit des Wilden erwägt, so ist es nicht um in die Wälder zu kehren, sondern nur um zu sehen, was man verloren habe indem man andererseits gewinnet. Damit man in dem Genusse und Gebrauch der geselligen Üppigkeit nicht mit unglücklichen und unnatürlichen Neigungen daran klebe und ein gesitteter Mensch der Natur bleibe. Jene Betrachtung dienet zum Richtmaße. Denn niemals schafft die Natur einen Menschen zum Bürger und seine Neigungen, seine Bestrebungen sind bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abgezielt (31,17 -24) oder an anderer Stelle: "Rousseaus Buch dient die Alten zu bessern" (9,14)35. Um nun aus den 'Bemerkungen' eine konkrete Vorstellung zu gewinnen in welchem Sinne und in welchem Umfang das Studium der Werke Rousseaus Kant beeinflußt hat, müssen wir uns zunächst über die Gestalt und den Inhalt dieser Quelle im allgemeinen bzw. über die Faktoren durch die sie im wesentlichen bestimmt sind, klar werden. Um diesem letzteren zu beginnen: es ist dies einmal die eigene Abhandlung über das Gefühl des Schönen Er?abenen, in die Kant die Bemerkungen hineinschrieb; denn dlese smd doch irgendwie als erläuternde Ergänzungen zur letzteren gedacht, Er35) Rousseau I. 585; u. bes. 1l.46.

177 gänzungen, zu denen er durch die Lektüre der Rousseauschen Schriften angeregt worden war. Daher bewegen sie sich auch im großen und ganzen um jene Grundthemen, die ihn dort beschäftigt hatten: wir haben eine Anzahl von Reflexionen, die sich mit der Empfindung des Schönen und Edlen und überhaupt mit den Fragen des Ges c h mac k e s befassen: ferner eine allerdings verhältnismäßig kleine Gruppe, die sich auf die psychologischen und moralischen Eigenschaften der verschiedenen Völker oder auch der Temperamente bezieht, sowie andererseits die außerordentlich umfangreiche über die Eigenart der beiden Geschlechter im Verhältnis zueinander und schließlich die für uns entscheidende, ebenfalls sehr umfangreiche über ausgesprochen moralphilosophische Gegenstände. Dabei unterscheiden sich die beiden letztgenannten nicht nur durch ihren Umfan g von den übrigen, sondern vor allem dadurch, daß bei ihnen der Zusammenhang mit der ursprünglichen Thems.tik der Beobachtungen, die den äst h e t i s c h e n Aspekt der echten Tugendgesinnung und der tugendähnlichen Handlungen bzw. der Geschlechtscharaktere herausarbeiten sollte, praktisch ganz fallen gelassen ist. Die moralphilosophischen Aussagen im besonderen erfolgen durchwegs ohne Rücksicht auf diese Thematik aus einer rein ethischen Problemsicht. wobei das Verhältnis zwischen Moralität und Religion eine wichtige Rolle spielt, das in den Beobachtungen gar nicht erwähnt wurde. In der Bestimmung des Verhältnisses der Geschlechter aber dreht sich alles um die spezifische Eigenart des w e i bl i c h e n. das nun in einem merklich anderen Licht erscheint als in der Abhandlung. Diese beiden zuletzt angeführten Gruppen sind nun gerade jene, bei den end e r Ein f I u ß R 0 u s s e aus am 0 f fe nb ars te n ist. Dazu kommen aber noch andere klar ausgeprägte Komplexe von Reflexionen, die in den Beobachtungen keinerlei Entsprechung haben, nicht einmal dem allgemeinen Thema nach: es sind zunächst die verhältnismäßig zahlreichen und bedeutsamen Ausführungen über die wahre und bleibende Natur des Menschen und seinen wesentlichen Posten in der Ordnung der Dinge, über den ursprünglichen Zustand dieser menschlichen Natur und ihren Zustand in der gesellschaftlichen Üppigkeit, ein Thema, das wir als das anthropologische bzw. das kulturphilosophische bez.eichnen möchten und dessen Rousseauscher Ursprung indiskutabel ist; ferner die zunächst in diesem ganzen Zusammenhang völlig fremd anmutende Gruppe von Bemerkungen über physikalische Probleme, die sich vor allem um die Natur und die Eigenschaften des Fe u er s drehen. Der Umstand, daß Kant in seinen Notizen, wo er material über die gleichen Gegenstände handelt wie in den Beobachtungen, diese zum Teil nach ganz anderen Aspekten betrachtet, nach Aspekten, die offenbar in der Lektüre Rousseaus ihren Ursprung haben, sowie daß er sich mit ganz neuen Problemen befaßt, die jenseits des Gesichtskreises der Beobachtungen liegen, aber offenbar von Rousseau an-

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geregt sind, beweist, daß der Inhalt der Bemerkungen mehr noch als durch die eigene Abhandlung durch die Sc h r i ft e n R 0 u s s e aus bestimmt ist: m. a. W. daß sie als Ganzes gesehen nicht so sehr Notizen und Ergänzungen zum Text der Beobachtungen als vielmehr Notizen und Reflexionen zu Rousseaus Schriften, vor allem dessen Emile, darstellen, daß es sich also bei ihnen in der Tat primär um die erste und unmittelbarste Auseinandersetzung mit dem letzteren handelt. In dieser Auffassung erklärt sich dann auch ziemlich natürlich jener eigenartige Zug der Bemerkungen: daß in ihrem Rahmen wiederholt Reflexionen p h Y s i k a 1 i s c h e n Inhalts auftauchen, von denen man sich zunächst nicht erklären kann, was sie in diesem Zusammenhang zu suchen haben. A d i c k es hat die Auffassung vertreten, die Bemerkungen seien ursprünglich vielleicht wirklich als Nachträge zu den Beobachtungen gedacht gewesen, die in einer weiteren Auflage verarbeitet werden sollten, allmählich aber sei das Handexemplar zu einer all g e m e ine n M at e r i als a m m 1 u n g geworden, wie die Reflexionen physikalischen und naturrp.chtlichen Inhalts bewiesen. Wenn wir aber in ihnen primär die Auseinandersetzung mit Rousseaus Emile zu erblicken haben, erklärt sich nicht nur die Anwesenheit der letzteren ungezwungen, sondern auch die der ersteren, und zwar deswegen, weil im Emile, vor allem im Glaubensbekenntnis des Vicaire Savoyard, auch na t ur p h il 0 so P hi s c h e und na tu r w iss e n sc haft 1 ich e Fragen berührt werden. Es ist nämlich auffallend, daß sich diese naturwissenschaftlichen Reflexionen vor allem um die Natur und Wirkweise des Feuers bzw. des Feuerelementes und die damit verbundenen Erscheinungen des Lichtes, der Wärme und Kälte bewegen, so die auf Seite 80-83,110-111,121, während nur gegen Ende (169 f. , 171 f.) auch einige Betrachtungen über die elektrischen und magnetischen Kräfte eingeführt werden. Nun spielt das Fe u e r in dem grundlegenden Gottesbeweis des Vikars, der aus der Bewegtheit der Materie auf eine frei sich selbst bestimmende Ursache ihrer Bewegung schließt, eine nicht unbeträchtliche Rolle. Die Materie ist nach ihm nicht schon ihrem Wesen nach bewegt und kann es nicht sein: sie muß sich also, wenn nicht von außen eine Kraft auf sie einwirkt, in Ruhe befinden. Da sie aber tatsächlich in Bewegung ist, setzt sie ein letztlich sich selbst bewegendes, jenseitiges Prinzip voraus. Nun aber scheint das Feuerelement seiner Natur nach bewegt, was naturgemäß die Voraussetzung der ganzen Beweisführung hinfällig machen würde. Rousseau zerstreut das Bedenken durch den Vergleich mit der gespannten Feder, die eine Uhr in Gang hält: auch ihr und dem durch sie bewegten Räderwerk kommt nicht eine echte Selbstbewegung zu, sondern nur eine mitgeteilte, da eine fremde äußere Kraft die Feder spannen muß. Ebenso wenig komme auch dem flüssigen Element oder selbst dem des Feuers, das den eigentlichen Grund der Beweglichkeit des flüssigen darstellt,

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Selbstbewegung zu, und er fügt eine Anmerkung über das Feuerelement, das 'Phlogisticon' der Chemisten, an: "Die Chemisten sehen das Phlogisticon oder das Element des Feuers in den vermischten Dingen, wovon es einen Teil ausmacht, solange als z.erstreut, unbeweglich und stillstehend an, bis fremde Ursachen es losmachen vereinigen und in Bewegung setzen und in Feuer verkehren". DaI3 Kant mit besonderer Eindringlichkeit das Problem aufgreift und es in wiederholten Anläufen zu klären versucht, läßt sich leicht daraus verstehen, daß er selbst in den fünfziger Jahren eine kleine Abhandlung über die Natur des Feuers geschrieben und ihn als naturwissenschaftlich sehr versierten Gelehrten der damals noch ungelöste Problemkomplex Feuer, Wärme, Licht sehr interessieren mußte. Die Reflexionen über die magnetischen und elektrischen Kräfte gegen Ende der Bemerkungen könnten als zufällig den Reflexionen über das Feuer hinzugefügte Notizen betrachtet werden, wenn nicht auch sie in irgendeinem Zusammenhang stehen mit den naturphilosophischen Gedankengängen des Vikars, die der Tatsache der mit dem Wesen der Materie notwendig verbundenen Naturkräfte, wie der Trägheit und Gravitation, des Magnetismus und der Elektrizität nicht genügend Rechnung tragen. Wenn wir aber die Bemerkungen als die ursprünglichste Auseinandersetzung mit Rousseau auffassen dürfen, gewinnen sie unter den Quellen der sechziger Jahre eine hervorragende Bedeutung: denn dann geben sie uns die Möglichkeit, bis ins Detail hinein den Einfluß des auf Kant, vor allem auf dessen ethische Entwicklung zu beshmmen und diese vielleicht gerade dadurch in einer ihrer entPhasen aufzuhellen. Aber um die Bemerkungen in diesem SInn fruchtbar zu machen, müssen sie sozusagen als Quelle erst erschlossen werden. Es liegt in der Natur einer solchen Kollektion von lose aneinander gereihten Reflexionen daß jeder Interpret sich jene Stücke heraussuchen bzw. jenen entscheidende Gewicht geben kann, die seine Auffassung vom damaligen Entwicklun.gsstadium Ethik Kants zu bestätigen scheinen, und das um so leIchter, als Infolge des Mangels eines durchgehenden geschlossenen Gedankenganges nicht wenige Stellen in verschiedenem Sinn gedeutet werden können, je nachdem man die Akzente verteilt. Eine Quelle von dieser Art kann u. E. nur dann für die Interpretation der vorkritischen Ethik wirklich fruchtbar werden wenn die g roß e n T h e m e n, um die es in ihr geht, als Ganzes gearbeitet und die einzelnen Stellen in diese Ganzheit, zu der sie organisch gehören, hineingestellt werden, wodurch auch hier so etwas wie ein durchgehender gedanklicher Zusammenhang entspringt. Auf diese Weise wird nicht nur die Einwirkung Rousseaus auf Kant in jenem Zeitpunkt wirklich greifbar, sondern auch im Rahmen des Möglichen einer willkürlichen Auswahl und einer willkürli c h e n In t e r p r eta ti 0 n der einzelnen Reflexionen ein Riegel

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geregt sind, beweist, daß der Inhalt der Bemerkungen mehr noch als durch die eigene Abhandlung durch die Sc h r i ft e n R 0 u s s e aus bestimmt ist: m. a. W. daß sie als Ganzes gesehen nicht so sehr Notizen und Ergänzungen zum Text der Beobachtungen als vielmehr Notizen und Reflexionen zu Rousseaus Schriften, vor allem dessen Emile, darstellen, daß es sich also bei ihnen in der Tat primär um die erste und unmittelbarste Auseinandersetzung mit dem letzteren handelt. In dieser Auffassung erklärt sich dann auch ziemlich natürlich jener eigenartige Zug der Bemerkungen: daß in ihrem Rahmen wiederholt Reflexionen p h Y s i k a 1 i s c h e n Inhalts auftauchen, von denen man sich zunächst nicht erklären kann, was sie in diesem Zusammenhang zu suchen haben. A d i c k es hat die Auffassung vertreten, die Bemerkungen seien ursprünglich vielleicht wirklich als Nachträge zu den Beobachtungen gedacht gewesen, die in einer weiteren Auflage verarbeitet werden sollten, allmählich aber sei das Handexemplar zu einer all g e m e ine n M at e r i als a m m 1 u n g geworden, wie die Reflexionen physikalischen und naturrp.chtlichen Inhalts bewiesen. Wenn wir aber in ihnen primär die Auseinandersetzung mit Rousseaus Emile zu erblicken haben, erklärt sich nicht nur die Anwesenheit der letzteren ungezwungen, sondern auch die der ersteren, und zwar deswegen, weil im Emile, vor allem im Glaubensbekenntnis des Vicaire Savoyard, auch na t ur p h il 0 so P hi s c h e und na tu r w iss e n sc haft 1 ich e Fragen berührt werden. Es ist nämlich auffallend, daß sich diese naturwissenschaftlichen Reflexionen vor allem um die Natur und Wirkweise des Feuers bzw. des Feuerelementes und die damit verbundenen Erscheinungen des Lichtes, der Wärme und Kälte bewegen, so die auf Seite 80-83,110-111,121, während nur gegen Ende (169 f. , 171 f.) auch einige Betrachtungen über die elektrischen und magnetischen Kräfte eingeführt werden. Nun spielt das Fe u e r in dem grundlegenden Gottesbeweis des Vikars, der aus der Bewegtheit der Materie auf eine frei sich selbst bestimmende Ursache ihrer Bewegung schließt, eine nicht unbeträchtliche Rolle. Die Materie ist nach ihm nicht schon ihrem Wesen nach bewegt und kann es nicht sein: sie muß sich also, wenn nicht von außen eine Kraft auf sie einwirkt, in Ruhe befinden. Da sie aber tatsächlich in Bewegung ist, setzt sie ein letztlich sich selbst bewegendes, jenseitiges Prinzip voraus. Nun aber scheint das Feuerelement seiner Natur nach bewegt, was naturgemäß die Voraussetzung der ganzen Beweisführung hinfällig machen würde. Rousseau zerstreut das Bedenken durch den Vergleich mit der gespannten Feder, die eine Uhr in Gang hält: auch ihr und dem durch sie bewegten Räderwerk kommt nicht eine echte Selbstbewegung zu, sondern nur eine mitgeteilte, da eine fremde äußere Kraft die Feder spannen muß. Ebenso wenig komme auch dem flüssigen Element oder selbst dem des Feuers, das den eigentlichen Grund der Beweglichkeit des flüssigen darstellt,

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Selbstbewegung zu, und er fügt eine Anmerkung über das Feuerelement, das 'Phlogisticon' der Chemisten, an: "Die Chemisten sehen das Phlogisticon oder das Element des Feuers in den vermischten Dingen, wovon es einen Teil ausmacht, solange als z.erstreut, unbeweglich und stillstehend an, bis fremde Ursachen es losmachen vereinigen und in Bewegung setzen und in Feuer verkehren". DaI3 Kant mit besonderer Eindringlichkeit das Problem aufgreift und es in wiederholten Anläufen zu klären versucht, läßt sich leicht daraus verstehen, daß er selbst in den fünfziger Jahren eine kleine Abhandlung über die Natur des Feuers geschrieben und ihn als naturwissenschaftlich sehr versierten Gelehrten der damals noch ungelöste Problemkomplex Feuer, Wärme, Licht sehr interessieren mußte. Die Reflexionen über die magnetischen und elektrischen Kräfte gegen Ende der Bemerkungen könnten als zufällig den Reflexionen über das Feuer hinzugefügte Notizen betrachtet werden, wenn nicht auch sie in irgendeinem Zusammenhang stehen mit den naturphilosophischen Gedankengängen des Vikars, die der Tatsache der mit dem Wesen der Materie notwendig verbundenen Naturkräfte, wie der Trägheit und Gravitation, des Magnetismus und der Elektrizität nicht genügend Rechnung tragen. Wenn wir aber die Bemerkungen als die ursprünglichste Auseinandersetzung mit Rousseau auffassen dürfen, gewinnen sie unter den Quellen der sechziger Jahre eine hervorragende Bedeutung: denn dann geben sie uns die Möglichkeit, bis ins Detail hinein den Einfluß des auf Kant, vor allem auf dessen ethische Entwicklung zu beshmmen und diese vielleicht gerade dadurch in einer ihrer entPhasen aufzuhellen. Aber um die Bemerkungen in diesem SInn fruchtbar zu machen, müssen sie sozusagen als Quelle erst erschlossen werden. Es liegt in der Natur einer solchen Kollektion von lose aneinander gereihten Reflexionen daß jeder Interpret sich jene Stücke heraussuchen bzw. jenen entscheidende Gewicht geben kann, die seine Auffassung vom damaligen Entwicklun.gsstadium Ethik Kants zu bestätigen scheinen, und das um so leIchter, als Infolge des Mangels eines durchgehenden geschlossenen Gedankenganges nicht wenige Stellen in verschiedenem Sinn gedeutet werden können, je nachdem man die Akzente verteilt. Eine Quelle von dieser Art kann u. E. nur dann für die Interpretation der vorkritischen Ethik wirklich fruchtbar werden wenn die g roß e n T h e m e n, um die es in ihr geht, als Ganzes gearbeitet und die einzelnen Stellen in diese Ganzheit, zu der sie organisch gehören, hineingestellt werden, wodurch auch hier so etwas wie ein durchgehender gedanklicher Zusammenhang entspringt. Auf diese Weise wird nicht nur die Einwirkung Rousseaus auf Kant in jenem Zeitpunkt wirklich greifbar, sondern auch im Rahmen des Möglichen einer willkürlichen Auswahl und einer willkürli c h e n In t e r p r eta ti 0 n der einzelnen Reflexionen ein Riegel

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vorgeschoben, weil beide in eiem Gesamtzusammenhang der betreffenden Themengruppe ihr Korrektiv haben. Wir können den umfangreichen Komplex der Bemerkungen zu diesem Zweck ungezwungen in 9 solche Themengruppen aufteilen, von denen die ersten 4 den Grundthemen der 'Beobachtungen' entsprechen, während die übrigen 5 den Bemerkungen ausschließlich eigentümlich sind. Sie lassen sich folgendermaßen bezeichnen: 1) Das Thema des ästhetischen Gefühls und überhaupt des Geschmakkes; 2) Das Thema des moralischen Gefühls und des moralischen Geschmackes; 3) das der moralischen Eigenschaften der Tempera'mente und der verschiedenen Völker; 4) das des Charakters der beiden Geschlechter, insbesondere des weiblichen. Das sind jene Themen, die in der Kantischen Abhandlung eine Entsprechung haben und der dortigen Fragestellung parallel sind. Dazu kommen als neue Themen: 5) Das Problem des eigentlichen und unverlierbaren Wesens des Menschen und seiner wesentlichen Stellung in der Rangordnung der Dinge; 6) Das Problem der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit im Zustande der Natur und der gesellschaftlichen Kultur; 7) das Problem des Wesens der Moralität bzw. der ethischen Grundprinzipien; 8) das Verhältnis zwischen Moralität und Religion; 9) das Problem des Feuers und ande:r:er physikalischer Phänomene. Wir wollen nun, um das Verhältnis Kants zu Rousseau im einzelnen deutlich zu machen, jede dieser Themengruppen, besonders aber jene, die für unseren Zweck grundlegend sind, mehr oder weniger nach folgenden Gesichtspunkten sondieren: 1) welche Gedanken hat hier Kant ohne wesentliche Veränderung von Rousseau übernommen llnd insbesondere wo ist der Rousseausche Ursprung in der Phraseologie selber faßbar? 2) welche Gedanken haben in den Rousseauschen Werken keine Parallele, so daß sie entweder aus der ureigenen Substanz des Kantischen Denkens selbst oder aus anderen Quellen stammen? Und endlich 3) welche Gedanken gehen auf eine selbständige kritische Stellungnahme Kants zu Rousseauschen Ideen zurück, so daß sie zwar durch Rousseau angeregt, aber in ihrer konkreten Gestalt auf eine eigene Verarbeitung dieser Anregungen zurückzuführen sind? Natürlich müssen wir uns hierbei im Rahmen dieser Arbeit auf das Wichtigste beschränken. a)

Über das ästhetische Gefühl und den Geschmack

Zunächst lassen sich aus diesen 9 Themen einige aus sc he i den, die sowohl an Umfang wie an Inhalt von untergeordneter Bedeutung sind, weil sie gegenüber der Abhandlung kaum etwas Neues bringen. Es ist das vor allem außer der physikalischen Gruppe jene, über die moralischen Eigenschaften der Temperamente und der ver- ' schiedenen Völker, wenn auch hier an manchen Stellen ein Rousseauscher Einfluß festgestellt werden kann (cf. 62,22; 63,15; 115,

21). Bedeutsamer aber ist bereits die Gruppe über das ästhetische Gefühl und den Geschmack. Hier werden vielfach die Gedanken des I. Abschnittes der Abhandlung wieder aufgenommen. Dabei ist die Lehre Kants in diesem Punkt wesentlich differenzierter und reicher als etwa die Rousseaus im Emile, wenigstens was die prinzipiellen Fragen angeht; das ist nicht zu verwundern, wenn man bedenkt, daß die Beobachtungen den Beweis dafür erbringen, daß er sich schon damals selbständig mit ästhetischen Problemen befaßt hattee Als Beispiel mögen folgende Definitionen dienen, für die wir bei Rousseau keine Parallele finden, weder formell noch der Sache nach: "Die Fähigkeit der Lust und Unlust ist überhaupt das Gefühl. Fühllosigkeit •• Die Fähigkeit der Lust und Unlust in Dingen, die nicht zu Bedürfnissen gehören, Geschmack. Dieser ist der derbe Geschmack, in so fern er den Bedürfnissen nahe ist, der feine ist der wahre Geschmack: in demjenigen, was weit von den Bedürfnissen entfernt ist. In so fern die Kräfte der Seele nicht bloß leidend, sondern tätig und dichtend sein müssen, so heißt der Geschmack geistig und idealisch (wenn das vornehmste Gefühl nicht durch die äußere Empfindung, sondern dasjenige was man dazu dichtet gerührt wird)" (117,3-12). (Vgl. dazu 65,13 ff.; 124,16 ff.; 18,12 ff. ," wo die Art des i d e a I i s c h e n Gefühls besonders schön illustriert wird. ) Unmittelbar an Rousseau dagegen gemahnen Reflexionen wie 'Geschmack wählt in Kleinigkeiten' (12,12; cf. 30,1), ferner jene, in der er das Muster der Alten als das schlechthin große Vorbild des ästhetischen Geschmackes in der Bildhauerkunst, Poesie, Malerei, Beredsamkeit, den Sitten, der Staatsverfassung hinstellt und zwar deswegen, weil sie der Natur näher geblieben seien als wir, die wir 'zwischen uns und der Natur viel tändelhafte oder üppige oder knechtische Verderbnis' hätten (71,16-22) 36, sowie die Betonung der Unabhängigkeit des Schönen (des Gegenstandes des Geschmackes) vom Nützlichen bzw. von den Bedürfnissen (133,10-14), der engen Verbindung des Geschmackes mit dem Schein (140,1-6) und schließlich die Schilderung, wie der Mann von Geschmack sein Leben einrichtet (29,16-30,9; 132,13 ff.)37. b)

Über den Charakter der beiden Geschlechter, insbesondere des weiblichen

Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang jene Gruppe von Reflexionen, die über den Charakter der beiden Geschlechter in ihrem Verhältnis zueinander und vor allem über die Eigenart des weiblichen handelt, und zwar aus zwei Gründen: einmal weil sie unter all den genannten Themengruppen der Bemerkungen die weitaus um fan g re ich s te darstellt - sie dürfte, wenn man 36) Cf. ibid. Il. 137 f:; 136. 37) Cf. ibid. Il. 138 ff.

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vorgeschoben, weil beide in eiem Gesamtzusammenhang der betreffenden Themengruppe ihr Korrektiv haben. Wir können den umfangreichen Komplex der Bemerkungen zu diesem Zweck ungezwungen in 9 solche Themengruppen aufteilen, von denen die ersten 4 den Grundthemen der 'Beobachtungen' entsprechen, während die übrigen 5 den Bemerkungen ausschließlich eigentümlich sind. Sie lassen sich folgendermaßen bezeichnen: 1) Das Thema des ästhetischen Gefühls und überhaupt des Geschmakkes; 2) Das Thema des moralischen Gefühls und des moralischen Geschmackes; 3) das der moralischen Eigenschaften der Tempera'mente und der verschiedenen Völker; 4) das des Charakters der beiden Geschlechter, insbesondere des weiblichen. Das sind jene Themen, die in der Kantischen Abhandlung eine Entsprechung haben und der dortigen Fragestellung parallel sind. Dazu kommen als neue Themen: 5) Das Problem des eigentlichen und unverlierbaren Wesens des Menschen und seiner wesentlichen Stellung in der Rangordnung der Dinge; 6) Das Problem der menschlichen Vollkommenheit und Glückseligkeit im Zustande der Natur und der gesellschaftlichen Kultur; 7) das Problem des Wesens der Moralität bzw. der ethischen Grundprinzipien; 8) das Verhältnis zwischen Moralität und Religion; 9) das Problem des Feuers und ande:r:er physikalischer Phänomene. Wir wollen nun, um das Verhältnis Kants zu Rousseau im einzelnen deutlich zu machen, jede dieser Themengruppen, besonders aber jene, die für unseren Zweck grundlegend sind, mehr oder weniger nach folgenden Gesichtspunkten sondieren: 1) welche Gedanken hat hier Kant ohne wesentliche Veränderung von Rousseau übernommen llnd insbesondere wo ist der Rousseausche Ursprung in der Phraseologie selber faßbar? 2) welche Gedanken haben in den Rousseauschen Werken keine Parallele, so daß sie entweder aus der ureigenen Substanz des Kantischen Denkens selbst oder aus anderen Quellen stammen? Und endlich 3) welche Gedanken gehen auf eine selbständige kritische Stellungnahme Kants zu Rousseauschen Ideen zurück, so daß sie zwar durch Rousseau angeregt, aber in ihrer konkreten Gestalt auf eine eigene Verarbeitung dieser Anregungen zurückzuführen sind? Natürlich müssen wir uns hierbei im Rahmen dieser Arbeit auf das Wichtigste beschränken. a)

Über das ästhetische Gefühl und den Geschmack

Zunächst lassen sich aus diesen 9 Themen einige aus sc he i den, die sowohl an Umfang wie an Inhalt von untergeordneter Bedeutung sind, weil sie gegenüber der Abhandlung kaum etwas Neues bringen. Es ist das vor allem außer der physikalischen Gruppe jene, über die moralischen Eigenschaften der Temperamente und der ver- ' schiedenen Völker, wenn auch hier an manchen Stellen ein Rousseauscher Einfluß festgestellt werden kann (cf. 62,22; 63,15; 115,

21). Bedeutsamer aber ist bereits die Gruppe über das ästhetische Gefühl und den Geschmack. Hier werden vielfach die Gedanken des I. Abschnittes der Abhandlung wieder aufgenommen. Dabei ist die Lehre Kants in diesem Punkt wesentlich differenzierter und reicher als etwa die Rousseaus im Emile, wenigstens was die prinzipiellen Fragen angeht; das ist nicht zu verwundern, wenn man bedenkt, daß die Beobachtungen den Beweis dafür erbringen, daß er sich schon damals selbständig mit ästhetischen Problemen befaßt hattee Als Beispiel mögen folgende Definitionen dienen, für die wir bei Rousseau keine Parallele finden, weder formell noch der Sache nach: "Die Fähigkeit der Lust und Unlust ist überhaupt das Gefühl. Fühllosigkeit •• Die Fähigkeit der Lust und Unlust in Dingen, die nicht zu Bedürfnissen gehören, Geschmack. Dieser ist der derbe Geschmack, in so fern er den Bedürfnissen nahe ist, der feine ist der wahre Geschmack: in demjenigen, was weit von den Bedürfnissen entfernt ist. In so fern die Kräfte der Seele nicht bloß leidend, sondern tätig und dichtend sein müssen, so heißt der Geschmack geistig und idealisch (wenn das vornehmste Gefühl nicht durch die äußere Empfindung, sondern dasjenige was man dazu dichtet gerührt wird)" (117,3-12). (Vgl. dazu 65,13 ff.; 124,16 ff.; 18,12 ff. ," wo die Art des i d e a I i s c h e n Gefühls besonders schön illustriert wird. ) Unmittelbar an Rousseau dagegen gemahnen Reflexionen wie 'Geschmack wählt in Kleinigkeiten' (12,12; cf. 30,1), ferner jene, in der er das Muster der Alten als das schlechthin große Vorbild des ästhetischen Geschmackes in der Bildhauerkunst, Poesie, Malerei, Beredsamkeit, den Sitten, der Staatsverfassung hinstellt und zwar deswegen, weil sie der Natur näher geblieben seien als wir, die wir 'zwischen uns und der Natur viel tändelhafte oder üppige oder knechtische Verderbnis' hätten (71,16-22) 36, sowie die Betonung der Unabhängigkeit des Schönen (des Gegenstandes des Geschmackes) vom Nützlichen bzw. von den Bedürfnissen (133,10-14), der engen Verbindung des Geschmackes mit dem Schein (140,1-6) und schließlich die Schilderung, wie der Mann von Geschmack sein Leben einrichtet (29,16-30,9; 132,13 ff.)37. b)

Über den Charakter der beiden Geschlechter, insbesondere des weiblichen

Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang jene Gruppe von Reflexionen, die über den Charakter der beiden Geschlechter in ihrem Verhältnis zueinander und vor allem über die Eigenart des weiblichen handelt, und zwar aus zwei Gründen: einmal weil sie unter all den genannten Themengruppen der Bemerkungen die weitaus um fan g re ich s te darstellt - sie dürfte, wenn man 36) Cf. ibid. Il. 137 f:; 136. 37) Cf. ibid. Il. 138 ff.

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die 'Losen Blätter zu den Bemerkungen' mit einbezieht, ein Drittel des gesamten Komplexes ausmachen -, ferner weil sich gerade in dieser Gruppe der Einfluß Rousseaus sehr u n mit t e 16 a r und in seiner ganzen M ä c h ti g k ei t offenbart. Denn in der Zeichnung des Verhältnisses der beiden Geschlechter folgt Kant hier durchaus den von Rousseau im V. Buch des Emile aufgestellten Grundthesen, wenn er auch in der Durchführung der einzelnen Punkte gelegentlich ziemlich selbständig verfährt. Aber alle grundlegenden Ideen bleiben Rousseauisch: so, daß das männliche Geschlecht als das s ta r k e dem weiblichen an Kraft und tätigem Vermögen überlegen und auch stärker ist in Grundsätzen und in der Standhaftigkeit, etwas zu ertragen (74,23; 137,11), aber so, daß sich diese Standhaftigkeit nicht äußert in dem geduldigen Ertragen zugefügter Ungerechtigkeiten, sondern in dem Aufsichnehmen 'des schweren Joches der Notwendigkeit' (eines der wichtigsten Erzi'ehungsziele des Emile) , desgleichen Beraubungen auszustehen für die Fr ei h ei t (des höchsten Wertes nach Rousseau) und dessen, was man sonstens liebt (60,12; 13,5); seine Ehre liegt in seinem eigenen Urteil (über sich selbst) und besteht in seiner Unabhängigkeit vom Wahn und von der Meinung anderer (86,13; 54,6). Demgegenüber ist die Frau nicht so sehr das schöne als vielmehr das s c h w ach e Geschlecht: sie ist nicht nur schwächer an Kraft und tätigem Vermögen (137,11; 176,11), auch weniger der Tugend fähig, hat aber das, was diese entbehrlich macht (98,7). Während der Mann Schmerz und Wehmut in seiner Brust zusammendrücken und in seinem Bezeigen die Bemühung hervorleuchten muß, ihn standhaft zu ertragen, kann das Frauenzimmer mit Anständigkeit ihre Betrübnis in Klagen auslassen und so ihre Empfindung erleichtern (99,10); ihr Mut aber besteht in dem geduldigen Ertragen der Übel um ihrer Ehre oder um der Liebe willen (8,23), sie bedient sich ihrer rührenden Waffen der Tränen und Klagen, aber die äußersten Waffen des Zornes, das Schelten und die Gegenvorwürfe, sind ihr dem Mann gegenüber verwehrt (13,2): ganz im Sinne Rousseaus, nach welchem die erste und wichtigste Eigenschaft der Frau die Sanftmut ist, die sie befähigt, selbst Ungerechtigkeiten von seiten des Mannes zu ertragen, wobei er ausdrücklich betont, daß es gegen ihre weibliche Natur sei, sich in Zorn zu entrüsten und Schmähworte (gegen den Mann) auszustoßen: "Sie haben oft Grund sich zu beklagen, aber sie haben stets unrecht zu schmälen" 38. Wiederum ganz im Sinne Rousseaus liegt nach den Bemerkungen die Ehre des Weibes nicht so sehr im eigenen Urteil (über sich) als in dein anderer (86,13), und ebenso ist sie auch in Sachen der Religion und des Glaubens der Meinung, d. h. dem Urteil anderer unterworfen (116, 3; 50,6) 39 und zwar letztlich deswegen, weil ihr Verstand, der in man-

40) Cf. ibid. H, 1; 169.

38) CL ibid. H, 161, 39) Cf. ibid, H, 152; 155 f.; 168 f,

41) Cf. ibid. H, 149; 150; 154 ete. 42) Cf. ibid. H, 155.

cher dem der Kinder ähnlich ist, zu wenig gründlich ist, um hierm d1e Wahrheitsfrage im Ernst zu stellen (115 1 f . 137 18,21)40.

'

.,

.,

.Was der überlegenen Kraft des Mannes auf seiten der Frau das Gle1chgewicht hält, sind wie bei Rousseau ihre Re i z e und ihre Gewalt, für sich einzunehmen (187 , 18' 98 21, 88 13)41 A uc h h den Mann . nac slnd Mann und Weib für einander gemacht, auf einander angew1esen von einander ab: der Mann hängt von der Frau ab durch seme Ne1gungen, die Frau aber vom Mann durch ihre Neigungen und ihre Bedürfnisse; durch ihre Bedürfnisse, weil es ihr Mann am Notwendigsten gebricht und sie ohne ihn eigenthch mcht bestehen kann, durch ihre Neigungen, weil sie dieselben uneingeschränkten Affekte hat wie der Mann; der Mann aber hängt von der .Frau ab nur durch seine Neigungen, weil es für ihn ohne die Frau ke1nen wahren Lebensgenuß gibt (53 ' 16', 28 , l'J 4 , 13'J 68 " 9' 116 , 1 ; 10,22; 73,7)42. Dieses Abhängigkeitsverhältnis scheint auf diese einseiUg zu Gunsten des Mannes zu sein, da die Frau, durch ihre g.r? ß e r e Abhängigkeit seiner Willkür ausgeliefert, von ihm tyranms1ert werden könnte. Das ist in der Tat nach Kant auch dort wo die Weiber nicht schön sind wie bei den Wilden, der Fall, der Schwache muß Neigung einflößen, sonst wird er unterdrückt" (70,.13). Hier ist nun der Punkt, wo sich das Verhältnis umzukehren Der Mann ist, so führt Rousseau aus, von der Frau abhändurch seine Neigungen, aber in dem Verhältnis der gegenseitigen ist die Frau in einer naturhaften Übe r 1 e gen he i t: obwohl die Schwächere überwältigt zu werden (subjugue"e), 1hr doch d1e Natur mit der Bestimmung, zu gefallen, durch die Ube::macht ihrer Reize Gewalt über den Mann gegeben: "Das Stärkste 1st nu: dem Anschein nach Herr, in Wirklichkeit aber hängt es vom Schwacheren ab, und das vermöge eines unwandelbaren Naturgesetzes, welches, da es der Frau mehr Leichtigkeit gibt, Begierden zu als dem Mann sie zu befriedigen, diesen, er mag wollen oder mcht, vom Belieben des Weibes abhängen läßt und ihn zwingt seinerseits auch zu gefallen zu suchen damit er ihre Einerhalte, daß sie ihn den Stärkeren s;in lasse". Bei Kant hab:n W1r der Sache nach das gleiche Verhältnis: die Schwäche des We1bes muß ausgeglichen werden durch die Schwäche des Mannes gegenüber ihren Reizen: "Denn der, so allein Macht hat muß notwendig abhängig von derjenigen sein, die nichts wie hat und diese muß sich des Wertes ihrer Reize bewußt sein sonst wäre keine Gleichkeit, sondern Sklaverei" (187,18; 88,13): Dem entspricht der naturhafte Trieb der Frau zu gefallen, Anwerbungen zu reizen, das ganze (andere) Geschlecht für sich einzunehmen (98 , 21', 88 , 13)', I

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die 'Losen Blätter zu den Bemerkungen' mit einbezieht, ein Drittel des gesamten Komplexes ausmachen -, ferner weil sich gerade in dieser Gruppe der Einfluß Rousseaus sehr u n mit t e 16 a r und in seiner ganzen M ä c h ti g k ei t offenbart. Denn in der Zeichnung des Verhältnisses der beiden Geschlechter folgt Kant hier durchaus den von Rousseau im V. Buch des Emile aufgestellten Grundthesen, wenn er auch in der Durchführung der einzelnen Punkte gelegentlich ziemlich selbständig verfährt. Aber alle grundlegenden Ideen bleiben Rousseauisch: so, daß das männliche Geschlecht als das s ta r k e dem weiblichen an Kraft und tätigem Vermögen überlegen und auch stärker ist in Grundsätzen und in der Standhaftigkeit, etwas zu ertragen (74,23; 137,11), aber so, daß sich diese Standhaftigkeit nicht äußert in dem geduldigen Ertragen zugefügter Ungerechtigkeiten, sondern in dem Aufsichnehmen 'des schweren Joches der Notwendigkeit' (eines der wichtigsten Erzi'ehungsziele des Emile) , desgleichen Beraubungen auszustehen für die Fr ei h ei t (des höchsten Wertes nach Rousseau) und dessen, was man sonstens liebt (60,12; 13,5); seine Ehre liegt in seinem eigenen Urteil (über sich selbst) und besteht in seiner Unabhängigkeit vom Wahn und von der Meinung anderer (86,13; 54,6). Demgegenüber ist die Frau nicht so sehr das schöne als vielmehr das s c h w ach e Geschlecht: sie ist nicht nur schwächer an Kraft und tätigem Vermögen (137,11; 176,11), auch weniger der Tugend fähig, hat aber das, was diese entbehrlich macht (98,7). Während der Mann Schmerz und Wehmut in seiner Brust zusammendrücken und in seinem Bezeigen die Bemühung hervorleuchten muß, ihn standhaft zu ertragen, kann das Frauenzimmer mit Anständigkeit ihre Betrübnis in Klagen auslassen und so ihre Empfindung erleichtern (99,10); ihr Mut aber besteht in dem geduldigen Ertragen der Übel um ihrer Ehre oder um der Liebe willen (8,23), sie bedient sich ihrer rührenden Waffen der Tränen und Klagen, aber die äußersten Waffen des Zornes, das Schelten und die Gegenvorwürfe, sind ihr dem Mann gegenüber verwehrt (13,2): ganz im Sinne Rousseaus, nach welchem die erste und wichtigste Eigenschaft der Frau die Sanftmut ist, die sie befähigt, selbst Ungerechtigkeiten von seiten des Mannes zu ertragen, wobei er ausdrücklich betont, daß es gegen ihre weibliche Natur sei, sich in Zorn zu entrüsten und Schmähworte (gegen den Mann) auszustoßen: "Sie haben oft Grund sich zu beklagen, aber sie haben stets unrecht zu schmälen" 38. Wiederum ganz im Sinne Rousseaus liegt nach den Bemerkungen die Ehre des Weibes nicht so sehr im eigenen Urteil (über sich) als in dein anderer (86,13), und ebenso ist sie auch in Sachen der Religion und des Glaubens der Meinung, d. h. dem Urteil anderer unterworfen (116, 3; 50,6) 39 und zwar letztlich deswegen, weil ihr Verstand, der in man-

40) Cf. ibid. H, 1; 169.

38) CL ibid. H, 161, 39) Cf. ibid, H, 152; 155 f.; 168 f,

41) Cf. ibid. H, 149; 150; 154 ete. 42) Cf. ibid. H, 155.

cher dem der Kinder ähnlich ist, zu wenig gründlich ist, um hierm d1e Wahrheitsfrage im Ernst zu stellen (115 1 f . 137 18,21)40.

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.Was der überlegenen Kraft des Mannes auf seiten der Frau das Gle1chgewicht hält, sind wie bei Rousseau ihre Re i z e und ihre Gewalt, für sich einzunehmen (187 , 18' 98 21, 88 13)41 A uc h h den Mann . nac slnd Mann und Weib für einander gemacht, auf einander angew1esen von einander ab: der Mann hängt von der Frau ab durch seme Ne1gungen, die Frau aber vom Mann durch ihre Neigungen und ihre Bedürfnisse; durch ihre Bedürfnisse, weil es ihr Mann am Notwendigsten gebricht und sie ohne ihn eigenthch mcht bestehen kann, durch ihre Neigungen, weil sie dieselben uneingeschränkten Affekte hat wie der Mann; der Mann aber hängt von der .Frau ab nur durch seine Neigungen, weil es für ihn ohne die Frau ke1nen wahren Lebensgenuß gibt (53 ' 16', 28 , l'J 4 , 13'J 68 " 9' 116 , 1 ; 10,22; 73,7)42. Dieses Abhängigkeitsverhältnis scheint auf diese einseiUg zu Gunsten des Mannes zu sein, da die Frau, durch ihre g.r? ß e r e Abhängigkeit seiner Willkür ausgeliefert, von ihm tyranms1ert werden könnte. Das ist in der Tat nach Kant auch dort wo die Weiber nicht schön sind wie bei den Wilden, der Fall, der Schwache muß Neigung einflößen, sonst wird er unterdrückt" (70,.13). Hier ist nun der Punkt, wo sich das Verhältnis umzukehren Der Mann ist, so führt Rousseau aus, von der Frau abhändurch seine Neigungen, aber in dem Verhältnis der gegenseitigen ist die Frau in einer naturhaften Übe r 1 e gen he i t: obwohl die Schwächere überwältigt zu werden (subjugue"e), 1hr doch d1e Natur mit der Bestimmung, zu gefallen, durch die Ube::macht ihrer Reize Gewalt über den Mann gegeben: "Das Stärkste 1st nu: dem Anschein nach Herr, in Wirklichkeit aber hängt es vom Schwacheren ab, und das vermöge eines unwandelbaren Naturgesetzes, welches, da es der Frau mehr Leichtigkeit gibt, Begierden zu als dem Mann sie zu befriedigen, diesen, er mag wollen oder mcht, vom Belieben des Weibes abhängen läßt und ihn zwingt seinerseits auch zu gefallen zu suchen damit er ihre Einerhalte, daß sie ihn den Stärkeren s;in lasse". Bei Kant hab:n W1r der Sache nach das gleiche Verhältnis: die Schwäche des We1bes muß ausgeglichen werden durch die Schwäche des Mannes gegenüber ihren Reizen: "Denn der, so allein Macht hat muß notwendig abhängig von derjenigen sein, die nichts wie hat und diese muß sich des Wertes ihrer Reize bewußt sein sonst wäre keine Gleichkeit, sondern Sklaverei" (187,18; 88,13): Dem entspricht der naturhafte Trieb der Frau zu gefallen, Anwerbungen zu reizen, das ganze (andere) Geschlecht für sich einzunehmen (98 , 21', 88 , 13)', I

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184 Kant vertritt also der Sache nach durchaus die Rousseausche These, daß das Weib seiner Natur und Bestimmung nach kokett ist 43 • Aber das ist nicht das einzige, wodurch die Schwäche des Weibes kompensiert wird. Die Macht, die es durch seine Reize über den Mann besitzt, erhält erst ihre eigentümliche Stärke dadurch, sie infolge der ihr in besonderer Weise S h a m h a f.tl g k e i t unwillkürlich den Schein annimmt, hmslchthch der Nelgung 'nicht zu bedürfen, sondern nur zu erteilen. Scheinen sie dessen bedürftig zu sein, weil sie sonst schon in Ansehung Stükke des Mannes bedürftig sind, so wird eine Unglelchhelt daraus entspringen' (139,10; 189,3; 184,11; 68,14). Diese naturhafte Sittsamkeit die sich auf die Offenbarung des geschlechtlichen Begehrens als bezieht und folglich auch in der Ehe gilt, und der auf seiten des Mannes die Schwäche entspricht, sich diesem Schein sehr zu ergeben und sich durch ihn täuschen (184,11;,.176,11) ist es, waf'l der Frau nach Kant die eigenthche Ubermacht uber den Mann in der Geschlechterbeziehung gibt, ein Gedanke, der einschlußweise auch im Emile enthalten ist 44. Kant führt nun diesen Rousseauschen Grundgedanken in origineller Weise noch weiter aus: der Mann ist auf Grund seiner Schwäche gegenüber dem weiblichen Schein geneigt, sich phantastische Begriffe zu machen von der Tugend und den Vorzügen der Frau, ist dieser voll und demütig und faßt leicht eine z ä r t 11 c heLlebe, während die Frau sich keine phantastischen Vorstellungen vom Manne macht. weniger zärtlich ist, sich stets dem Mann vorzieht und im Geschlechtlichen eher von derbem Geschmacke ist. "Wenn man bloß der Geschlechter Absicht nimmt, so regiert offenbar die Frau und ist klüger. Der Großmütige glaubt leichter als der Eigennüt.zige und Schwache; (176,11; 71,8; 69,10; 75,3; 80,70; etc). Wie die Frau mehr befähigt ist, zärtlich zu machen als es selber zu sein (75,3), so hat sie auch die Fähigkeit, den Mann tugendhafter und keuscher zu machen als sie selber ist (109,9; 116,6), wobei er über die tatsächliche Keuschheit der Frau reichlich pessimistisch urteilt und in immer neuen Wendungen den im Emile angedeuteten Gedanken variiert, daß die Frauen sich gern verführen lassen, wenn sie auf Wohlanständigkeit nicht Rücksicht zu nehmen brauchen (160,1; 79, 12; 89,9; 71,4; 116,10)45. Aber noch ein zweites Hilfsmittel hat die Natur nach Rousseau dem Weibe gegeben, um seine Unterlegenheit an?tärke chen: die ihr eigentümliche Li s tun d Ver s chI a gen e l,t das was er anderswo den Geist ihres Standes nennt, namhch dle instinktive Hellsichtigkeit, die Gedanken und Bewegungen im Herzen des Mannes zu erfassen, und die Kunst, seine Schwächen und Ge43) Cf. ibid, H, 149; 156. 44) Cf. ibid, H, 149 f. ; 151 f. ; 176 f. 45) Cf. ibid, H, 151; 180.

mütsbewegungen in ihrem eigenen Sinn zu lenken und auszunützen. Auch in diesem Punkt stimmt Kant vollkommen mit ihm überein : "Weil der Weiber Grundeigenschaften darauf ausgehen, den Mann zu erforschen und seinen Neigungen auch leicht ein Blendwerk zu machen, so sind sie gemacht zu regieren und regieren in allen Nationen. die Geschmack haben" (15.23). Die Frauen sind weit geschickter in der Beurteilung der männlichen Verdienste und ihrer Schwächen, deren man sich bedienen kann, als die Männer untereinander •• Daher herrschen die Frauen über die Männer und betrügen sie leichter als diese umgekehrt" (85,15 cf. 5,12; 8,1) 46. So ist das Weib durch diese Gaben der Natur befähigt über den Mann zu herrschen, eine Fähigkeit, die sie allerdings nur zu leicht zu den verführerischen Künsten einer buhlerischen Koketterie mißbraucht, die die Quelle aller weiblichen Laster ist, die sie aber auch in den Dienst ihrer eigentlichen Bestimmung stellen kann, nämlich durch ihre Tu gen d • vornehmlich ihre Keuschheit, über den Mann von Wert zu herrschen, wie es die Spartanerinnen getan 47. Nimmt man hinzu, daß Kant in den Bemerkungen den idealen Mann und die ideale Frau (und ebenso den entarteten und die entartete) ganz ähnlich zeichnet wie Rousseau im Emile (132,13; 54,6-12; 87,22,25; 64,15; 8,20; - 107,7; 190.1); daß er die Rousseausche Ansicht vertritt, die 'idealischen Vergnügen' könnten auch in der Ehe erhalten werden, wenn der Mann der Frau die Herrschaft einräume (128,12), daß in den Bemerkungen wiederholt das von Rousseau verwandte Beispiel Herkules und Omphale aus der griechischen Mythologie auftaucht (9,1; 71, 4) etc. 48, so können diese skizzenhaften Andeutungen genügen. um die tiefe Abhängigkeit Kants von Rousseau in diesem Problemkomplex, der in den Bemerkungen am ausführlichsten behandelt wird, darzutun 48 •• c)

Über das moralische Gefühl und den moralischen Geschmack

Liegt die Bedeutung des Vorausgehenden mehr darin, die I Be merkungen' im allgemeinen als Auseinandersetzung mit Rousseau zu erweisen, so ist das letzte der Themen, die denen der Abhandlung parallel sind, nämlich das über das moralische Gefühl und den moralischen Geschmack bereits von unmittelbarem Interesse für die Frage nach dem Stand der damaligen ethischen Entwicklung Kants. Ähnlich wie beim Problem des ästheti46) Cf. Rousseau II, 162; 163; 175 ff.; 178 ff. 47) Cf. ibid. H, 156; 157 f.; 175 f. ; 182 f. 48) Cf. ibid. H, 143; 175; 269 f.; 151. 48 a) Wie sehr diese von Rousseau angeregte Auffassung des Charakters der Geschlechter in ihrem wechselseitigen Verhältnis auch für Kants spätere Anthropologie bestimmend blieb, geht eindeutig aus seinen RR zur Anthropologie 1260-1342 und 1502 (er) hervor, sowie aus seiner Anthropologie in pr. H. vom Jahre 1797 (Il, B) KGS VII, 303-311.

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184 Kant vertritt also der Sache nach durchaus die Rousseausche These, daß das Weib seiner Natur und Bestimmung nach kokett ist 43 • Aber das ist nicht das einzige, wodurch die Schwäche des Weibes kompensiert wird. Die Macht, die es durch seine Reize über den Mann besitzt, erhält erst ihre eigentümliche Stärke dadurch, sie infolge der ihr in besonderer Weise S h a m h a f.tl g k e i t unwillkürlich den Schein annimmt, hmslchthch der Nelgung 'nicht zu bedürfen, sondern nur zu erteilen. Scheinen sie dessen bedürftig zu sein, weil sie sonst schon in Ansehung Stükke des Mannes bedürftig sind, so wird eine Unglelchhelt daraus entspringen' (139,10; 189,3; 184,11; 68,14). Diese naturhafte Sittsamkeit die sich auf die Offenbarung des geschlechtlichen Begehrens als bezieht und folglich auch in der Ehe gilt, und der auf seiten des Mannes die Schwäche entspricht, sich diesem Schein sehr zu ergeben und sich durch ihn täuschen (184,11;,.176,11) ist es, waf'l der Frau nach Kant die eigenthche Ubermacht uber den Mann in der Geschlechterbeziehung gibt, ein Gedanke, der einschlußweise auch im Emile enthalten ist 44. Kant führt nun diesen Rousseauschen Grundgedanken in origineller Weise noch weiter aus: der Mann ist auf Grund seiner Schwäche gegenüber dem weiblichen Schein geneigt, sich phantastische Begriffe zu machen von der Tugend und den Vorzügen der Frau, ist dieser voll und demütig und faßt leicht eine z ä r t 11 c heLlebe, während die Frau sich keine phantastischen Vorstellungen vom Manne macht. weniger zärtlich ist, sich stets dem Mann vorzieht und im Geschlechtlichen eher von derbem Geschmacke ist. "Wenn man bloß der Geschlechter Absicht nimmt, so regiert offenbar die Frau und ist klüger. Der Großmütige glaubt leichter als der Eigennüt.zige und Schwache; (176,11; 71,8; 69,10; 75,3; 80,70; etc). Wie die Frau mehr befähigt ist, zärtlich zu machen als es selber zu sein (75,3), so hat sie auch die Fähigkeit, den Mann tugendhafter und keuscher zu machen als sie selber ist (109,9; 116,6), wobei er über die tatsächliche Keuschheit der Frau reichlich pessimistisch urteilt und in immer neuen Wendungen den im Emile angedeuteten Gedanken variiert, daß die Frauen sich gern verführen lassen, wenn sie auf Wohlanständigkeit nicht Rücksicht zu nehmen brauchen (160,1; 79, 12; 89,9; 71,4; 116,10)45. Aber noch ein zweites Hilfsmittel hat die Natur nach Rousseau dem Weibe gegeben, um seine Unterlegenheit an?tärke chen: die ihr eigentümliche Li s tun d Ver s chI a gen e l,t das was er anderswo den Geist ihres Standes nennt, namhch dle instinktive Hellsichtigkeit, die Gedanken und Bewegungen im Herzen des Mannes zu erfassen, und die Kunst, seine Schwächen und Ge43) Cf. ibid, H, 149; 156. 44) Cf. ibid, H, 149 f. ; 151 f. ; 176 f. 45) Cf. ibid, H, 151; 180.

mütsbewegungen in ihrem eigenen Sinn zu lenken und auszunützen. Auch in diesem Punkt stimmt Kant vollkommen mit ihm überein : "Weil der Weiber Grundeigenschaften darauf ausgehen, den Mann zu erforschen und seinen Neigungen auch leicht ein Blendwerk zu machen, so sind sie gemacht zu regieren und regieren in allen Nationen. die Geschmack haben" (15.23). Die Frauen sind weit geschickter in der Beurteilung der männlichen Verdienste und ihrer Schwächen, deren man sich bedienen kann, als die Männer untereinander •• Daher herrschen die Frauen über die Männer und betrügen sie leichter als diese umgekehrt" (85,15 cf. 5,12; 8,1) 46. So ist das Weib durch diese Gaben der Natur befähigt über den Mann zu herrschen, eine Fähigkeit, die sie allerdings nur zu leicht zu den verführerischen Künsten einer buhlerischen Koketterie mißbraucht, die die Quelle aller weiblichen Laster ist, die sie aber auch in den Dienst ihrer eigentlichen Bestimmung stellen kann, nämlich durch ihre Tu gen d • vornehmlich ihre Keuschheit, über den Mann von Wert zu herrschen, wie es die Spartanerinnen getan 47. Nimmt man hinzu, daß Kant in den Bemerkungen den idealen Mann und die ideale Frau (und ebenso den entarteten und die entartete) ganz ähnlich zeichnet wie Rousseau im Emile (132,13; 54,6-12; 87,22,25; 64,15; 8,20; - 107,7; 190.1); daß er die Rousseausche Ansicht vertritt, die 'idealischen Vergnügen' könnten auch in der Ehe erhalten werden, wenn der Mann der Frau die Herrschaft einräume (128,12), daß in den Bemerkungen wiederholt das von Rousseau verwandte Beispiel Herkules und Omphale aus der griechischen Mythologie auftaucht (9,1; 71, 4) etc. 48, so können diese skizzenhaften Andeutungen genügen. um die tiefe Abhängigkeit Kants von Rousseau in diesem Problemkomplex, der in den Bemerkungen am ausführlichsten behandelt wird, darzutun 48 •• c)

Über das moralische Gefühl und den moralischen Geschmack

Liegt die Bedeutung des Vorausgehenden mehr darin, die I Be merkungen' im allgemeinen als Auseinandersetzung mit Rousseau zu erweisen, so ist das letzte der Themen, die denen der Abhandlung parallel sind, nämlich das über das moralische Gefühl und den moralischen Geschmack bereits von unmittelbarem Interesse für die Frage nach dem Stand der damaligen ethischen Entwicklung Kants. Ähnlich wie beim Problem des ästheti46) Cf. Rousseau II, 162; 163; 175 ff.; 178 ff. 47) Cf. ibid. H, 156; 157 f.; 175 f. ; 182 f. 48) Cf. ibid. H, 143; 175; 269 f.; 151. 48 a) Wie sehr diese von Rousseau angeregte Auffassung des Charakters der Geschlechter in ihrem wechselseitigen Verhältnis auch für Kants spätere Anthropologie bestimmend blieb, geht eindeutig aus seinen RR zur Anthropologie 1260-1342 und 1502 (er) hervor, sowie aus seiner Anthropologie in pr. H. vom Jahre 1797 (Il, B) KGS VII, 303-311.

186 sehen Geschmackes hatte dieser auch hier schon eine ganz bestimmte, vor allem durch den Einfluß Hutchesons geformte Auffassung vom sittlichen Gefühl, die in seiner bisherigen moralphilosophischen Konzeption eine entscheidende Rolle gespielt hatte. So ist von vornherein zu erwarten, daß er in diesem Punkt weniger radikal von Rousseau abhängen wird als etwa in dem eben behandelten Fragenkomplex. Verschiedene Interpreten der vorkritischen Ethik glaubten in den Bemerkungen eine veränderte Einstellung Kants zum moralischen Gefühl feststellen zu können. So u. a. Menzer und Schilpp 49. Diese Auffassung hat in einem Doppelten ihren Grund: einmal in der Unvollständigkeit und der zum Teil entstellten Gestalt des ihnen zu Gebote stehenden Textes der Bemerkungen, dann aber auch in ihrer ungenügenden Erfassung des moralphilosophischen Standpunktes Kants zu Beginn der sechziger Jahre; denn die von diesen Autoren festgestellten angeblichen Zweifel im Hinblick auf das moralische Gefühl erklären sich größtenteils aus der Nichtbeachtung des Unte r s chi e des zwischen den moralischen Instinkten (wie z. B. Mitleid) und dem eigentlichen moralischen Gefühl, den Kant jedoch schon in den Beobachtungen se h r k I a r herausgearbeitet hat. Für uns aber, die wir die Gesamtheit der Reflexionen der 'Bemerkungen' in einer kritisch gesicherten Textgestalt überblicken, ist es von großer Bedeutung, zunächst festzustellen, wie weit sich ihr Standpunkt in dieser Frage mit dem der vorausgehenden Entwicklung deckt, dann auch die auftauchenden neuen Gesichtspunkte aufzuzeigen, von denen zu vermuten ist, daß sie auf den Einfluß Rousseaus zurückgehen. Kant anerkennt vor allem die Un iv e r s al it ä t des moralischen Gefühls in der Menschheit als solcher sowohl wie im Gewissen des einzelnen hinsichtlich aller vorkommenden Pflichten: In der Reflexion, in der er die für ihn grundlegende The se aufstellt, daß die natürliche Sittlichkeit der Probierstein aller Religionen sein müsse, begründet er dies damit, daß es durch das sittliche Gefühl gewiß sei, daß ich die Anhänger einer fremden Religion nicht verfolgen darf, und folgert dann, daß die s unmöglich wäre, wenn nicht die natürliche Empfindung zureichend wäre zu aller Pflichtausübung dieses Lebens (19.21). Daß letzteres nicht so zu verstehen ist, als ob diese natürliche Empfindung jederzeit hinreichte, um uns zur Aus ü b u n g aller unserer Pflichten zu bewegen, wird aus dem Zusammenhang mit dem unmittelbar Vorausgehenden (wo es um die Erkenntnis des pflichtmäßigen Verhaltens geht) wie aus dem Vergleich mit anderen Stellen und überhaupt der bisherigen Auffassung Kants hinreichend klar. Der Ausdruck kann also nur bedeuten. daß uns die natürliche Empfindung Ge w i ß h e i t gibt hinsichtlich aller Pflichten dieses Lebens, diejenigen nicht ausgenommen, die sich auf die Religion selber beziehen. Ebenso aber anerkennt der Philosoph ohne 49) Entwicklungsgang. K-St m. S.45. Schilpp. o. c. S.63 ff.

187 Einschränkung das Vorhandensein dieses moralischen Empfindens bei a 11 e n Menschen. Nicht nur behauptet er ganz allgemein, daß es keine unmittelbare Neigung zu moralisch bösen Handlungen gibt, wohl aber eine unmittelbare zu guten (18,10). sondern er betont in einer früher auf Grund des verstümmelten Schubertschen Textes oft falsch interpretierten Reflexion ausdrücklich das Vorhandensein des moralischen Gefühls i!, allen Menschen, wobei er dessen Allgemeinheit mit der eines guten und richtigen Verstandes auf die gleiche Stufe stellt: Wie ich einen anderen niemals überzeugen kann als durch seine eigenen Gedanken und ich daher voraussetzen muß. daß er einen ge sunden und richtigen Ver stand habe. ebenso kann ich einen anderen moralisch nur rühren durch seine eigene Empfindung und muß folglich voraussetzen, daß er eine gewisse Bonität des Herzens habe, sonst wird er bei meiner Schilderung des Lasters keinen Abscheu und bei meiner Anpreisung der Tugend keine Antriebe zu ihr in sich fühlen. "Weil es aber unmöglich wäre, daß einige moralische richtige Empfindung in ihm wäre oder er vermuten könnte, daß seine Empfindung mit der des ganzen menschlichen Geschlechts einstimmig sei, wenn sein Böses ganz und gar böse wäre, so muß ich ihm das partiale Gute darin zugestehen und die schlüpfrigen Ahnlichkeiten der Unschuld und des Verbrechens als an sich betrüglich abmalen •• " (32,13-33,11). Der Grundgedanke dieser Ausführungen (der übrigens in einer anderen Reflexion (35,8) nochmals kurz zusammengefaßt wird) ist völlig klar: daß ich, wie ich bei jedem Menschen einen gesunden und richtigen Verstand, so auch in jedem eine gewisse Bonität des Herzens voraussetzen kann, und folglich auch im bösen noch eine gewisse moralisch richtige Empfindung, durch die er mit dem ganzen Menschengeschlecht übereinstimmt, daß also das Böse im Menschen nie so weit gehen kann, daß er ganz und gar böse ist. An einer anderen Stelle aber hebt er die Ge w i ß h e i t hervor, die uns dieses Gefühl für die moralischen Urteile gibt: "Die Gewißheit in den sittlichen Urteilen vermittelst der Vergleichung mit dem sittlichen Gefühl ist ebenso groß als die mit der logischen Empfindung, und ich werde durch Zergliederung einem Menscheh ebenso gewiß machen, daß Lügen häßlich sei als daß eine Empfindung denkender Körper ungereimt sei", wobei er bemerkt, daß der Betrug, d. h. die Täuschung in beiden Fällen auf ähnliche Weise erfolge, daß er aber im Fall der logischen Urteile häufiger sei (49. 6-11). Damit aber stehen wir durchaus auf dem Standpunkt der Pr eis schrift und der Beobachtungen.; das gilt aber auch noch für die folgende Bemerkung, aus der hervorgeht, daß das moralische Gefühl keineswegs immer stark genug ist, um die böse Handlung zu verhindern: "Alle böse Handlung, wenn sie das moralische Gefühl mit so viel Abscheu empfunden würde als sie wert ist, würde gar nicht geschehen. Wird sie aber ausgeübt, so ist es ein Beweis,

186 sehen Geschmackes hatte dieser auch hier schon eine ganz bestimmte, vor allem durch den Einfluß Hutchesons geformte Auffassung vom sittlichen Gefühl, die in seiner bisherigen moralphilosophischen Konzeption eine entscheidende Rolle gespielt hatte. So ist von vornherein zu erwarten, daß er in diesem Punkt weniger radikal von Rousseau abhängen wird als etwa in dem eben behandelten Fragenkomplex. Verschiedene Interpreten der vorkritischen Ethik glaubten in den Bemerkungen eine veränderte Einstellung Kants zum moralischen Gefühl feststellen zu können. So u. a. Menzer und Schilpp 49. Diese Auffassung hat in einem Doppelten ihren Grund: einmal in der Unvollständigkeit und der zum Teil entstellten Gestalt des ihnen zu Gebote stehenden Textes der Bemerkungen, dann aber auch in ihrer ungenügenden Erfassung des moralphilosophischen Standpunktes Kants zu Beginn der sechziger Jahre; denn die von diesen Autoren festgestellten angeblichen Zweifel im Hinblick auf das moralische Gefühl erklären sich größtenteils aus der Nichtbeachtung des Unte r s chi e des zwischen den moralischen Instinkten (wie z. B. Mitleid) und dem eigentlichen moralischen Gefühl, den Kant jedoch schon in den Beobachtungen se h r k I a r herausgearbeitet hat. Für uns aber, die wir die Gesamtheit der Reflexionen der 'Bemerkungen' in einer kritisch gesicherten Textgestalt überblicken, ist es von großer Bedeutung, zunächst festzustellen, wie weit sich ihr Standpunkt in dieser Frage mit dem der vorausgehenden Entwicklung deckt, dann auch die auftauchenden neuen Gesichtspunkte aufzuzeigen, von denen zu vermuten ist, daß sie auf den Einfluß Rousseaus zurückgehen. Kant anerkennt vor allem die Un iv e r s al it ä t des moralischen Gefühls in der Menschheit als solcher sowohl wie im Gewissen des einzelnen hinsichtlich aller vorkommenden Pflichten: In der Reflexion, in der er die für ihn grundlegende The se aufstellt, daß die natürliche Sittlichkeit der Probierstein aller Religionen sein müsse, begründet er dies damit, daß es durch das sittliche Gefühl gewiß sei, daß ich die Anhänger einer fremden Religion nicht verfolgen darf, und folgert dann, daß die s unmöglich wäre, wenn nicht die natürliche Empfindung zureichend wäre zu aller Pflichtausübung dieses Lebens (19.21). Daß letzteres nicht so zu verstehen ist, als ob diese natürliche Empfindung jederzeit hinreichte, um uns zur Aus ü b u n g aller unserer Pflichten zu bewegen, wird aus dem Zusammenhang mit dem unmittelbar Vorausgehenden (wo es um die Erkenntnis des pflichtmäßigen Verhaltens geht) wie aus dem Vergleich mit anderen Stellen und überhaupt der bisherigen Auffassung Kants hinreichend klar. Der Ausdruck kann also nur bedeuten. daß uns die natürliche Empfindung Ge w i ß h e i t gibt hinsichtlich aller Pflichten dieses Lebens, diejenigen nicht ausgenommen, die sich auf die Religion selber beziehen. Ebenso aber anerkennt der Philosoph ohne 49) Entwicklungsgang. K-St m. S.45. Schilpp. o. c. S.63 ff.

187 Einschränkung das Vorhandensein dieses moralischen Empfindens bei a 11 e n Menschen. Nicht nur behauptet er ganz allgemein, daß es keine unmittelbare Neigung zu moralisch bösen Handlungen gibt, wohl aber eine unmittelbare zu guten (18,10). sondern er betont in einer früher auf Grund des verstümmelten Schubertschen Textes oft falsch interpretierten Reflexion ausdrücklich das Vorhandensein des moralischen Gefühls i!, allen Menschen, wobei er dessen Allgemeinheit mit der eines guten und richtigen Verstandes auf die gleiche Stufe stellt: Wie ich einen anderen niemals überzeugen kann als durch seine eigenen Gedanken und ich daher voraussetzen muß. daß er einen ge sunden und richtigen Ver stand habe. ebenso kann ich einen anderen moralisch nur rühren durch seine eigene Empfindung und muß folglich voraussetzen, daß er eine gewisse Bonität des Herzens habe, sonst wird er bei meiner Schilderung des Lasters keinen Abscheu und bei meiner Anpreisung der Tugend keine Antriebe zu ihr in sich fühlen. "Weil es aber unmöglich wäre, daß einige moralische richtige Empfindung in ihm wäre oder er vermuten könnte, daß seine Empfindung mit der des ganzen menschlichen Geschlechts einstimmig sei, wenn sein Böses ganz und gar böse wäre, so muß ich ihm das partiale Gute darin zugestehen und die schlüpfrigen Ahnlichkeiten der Unschuld und des Verbrechens als an sich betrüglich abmalen •• " (32,13-33,11). Der Grundgedanke dieser Ausführungen (der übrigens in einer anderen Reflexion (35,8) nochmals kurz zusammengefaßt wird) ist völlig klar: daß ich, wie ich bei jedem Menschen einen gesunden und richtigen Verstand, so auch in jedem eine gewisse Bonität des Herzens voraussetzen kann, und folglich auch im bösen noch eine gewisse moralisch richtige Empfindung, durch die er mit dem ganzen Menschengeschlecht übereinstimmt, daß also das Böse im Menschen nie so weit gehen kann, daß er ganz und gar böse ist. An einer anderen Stelle aber hebt er die Ge w i ß h e i t hervor, die uns dieses Gefühl für die moralischen Urteile gibt: "Die Gewißheit in den sittlichen Urteilen vermittelst der Vergleichung mit dem sittlichen Gefühl ist ebenso groß als die mit der logischen Empfindung, und ich werde durch Zergliederung einem Menscheh ebenso gewiß machen, daß Lügen häßlich sei als daß eine Empfindung denkender Körper ungereimt sei", wobei er bemerkt, daß der Betrug, d. h. die Täuschung in beiden Fällen auf ähnliche Weise erfolge, daß er aber im Fall der logischen Urteile häufiger sei (49. 6-11). Damit aber stehen wir durchaus auf dem Standpunkt der Pr eis schrift und der Beobachtungen.; das gilt aber auch noch für die folgende Bemerkung, aus der hervorgeht, daß das moralische Gefühl keineswegs immer stark genug ist, um die böse Handlung zu verhindern: "Alle böse Handlung, wenn sie das moralische Gefühl mit so viel Abscheu empfunden würde als sie wert ist, würde gar nicht geschehen. Wird sie aber ausgeübt, so ist es ein Beweis,

189

188 daß die physische Reizung sie versüßt habe und die Handlung gut geschienen hat; nun ist es aber widersinnisch und häßlich, daß, was moralisch böse ist, im ganzen doch gut sei .. " (85,11). Hier wird nicht nur die physische Reizung oder Lust und der physische Widerwille der moralischen Lust und dem moralischen Abscheu als w e sensverschieden gegenübergestellt, sondern auch vorausgesetzt, daß immer dort, wo eine böse Handlung geschieht, das moralische Gefühl von der physischen Lust überwogen wurde. Was aber ist das anderes als die in den Beobachtungen ausdrücklich aufgestellte These, daß das moralische Gefühl, wie es im Menschen als Anlage gegeben ist, in den seltensten Fällen ausreicht, um ihn zum Aufschwung zu den Grundsätzen der Tugend zu bewegen, und daß deshalb eine wesentliche Aufgabe der Erziehung darin besteht, "das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer tätigen Empfindung zu erhöhen", und daß andererseits in vielen Menschen die tugendähnlichen Affekte des Mitleides und der Gefälligkeit das moralische Gefühl entweder ersetzen oder doch unterstützen müssen, wenn gute Handlungen zustande kommen sollen? Wenn Kant ferner das Gewissen definiert als das moralische Gefühl, insofern es auf die eigenen Handlungen angewandt wird (168, 10), so läßt sich darin noch kein spezifisch Rousseauscher Einfluß erkennen, wohl aber erinnert die Reflexion: "Das Gefühl, wovon ich handle, ist so bewandt, daß ich nicht brauche gelehrt zu sein, um es zu empfinden lt (4,1) unwillkürlich an die Sätze, die der Genfer in seinem Emile unmittelbar auf die berühmte Apostrophe an das Gewissen folgen läßt 50. Aber der Einfluß des letzteren reicht auch in dem zum moralischen Gefühl gehörenden Problemkomplex wesentlich weiter: er äußert sich vor allem in einem Doppelten: einmal darin, daß die moralische Gefühlsanlage im weiteren Sinn, zu der ja auch die hilfeleistenden moralischen Sympathien gehören, in die Problematik des Gegensatzes von Natur- und Kulturzustand einbezogen wird; ferner in den immer wiederkehrenden Analysen des Mit 1 eid es, das ja bei Rousseau das Grundprinzip aller altruistischen moralischen Gesinnung ist und das nun auch bei Kant mehr oder weniger mit dem Prinzip der allgemeinen Menschenliebe gleichgesetzt wird, sowie in anderen Einzelzügen. Beginnen wir mit dem zweiten Punkt, weil dieser wiederholt zu einer falschen Interpretation der Bemerkungen geführt hat! Schon zu Beginn derselben stoßen wir auf die kurze, aber bedeutsame These: "Der Mächtige ist gütig" (4,15), die einen Grundgedanken Rousseaus ausspricht: nämlich den, daß die Gütigkeit und überhaupt die altruistischen Triebe entspringen durch eine Ausdehnung der Selbstliebe auf andere Menschen, mit denen man sich identifiziere, was aber nur dort möglich sei, wo die Kräfte größer sind als die 50) Rousseau II, 82.

Be d ü r fn iss e, so daß sie spontan zu dieser Erweiterung des eigenen Ich drängen. Folgerichtig leitet Rousseau auch die Güte und Barmherzigkeit Gottes von seiner unendlichen Macht ab und hält es für richtiger, in Umkehrung der alten römischen Formel Gott als Maximus Optimus zu bezeichnen 51. Kant konnte diese Erklärung des Mitleides und der übrigen moralischen Sympathien ohne weiteres akzeptieren, ohne seine bisherige Auffassung aufgeben zu müssen, weil für ihn ein solches naturalistisches Prinzip wie die Selbstliebe niemals da seige ntli ch e mo rali s che Gefühl zu begründen vermochte, wohl aber die moralischen Instinkte. Allerdings kann durch diese Unterscheidung zwischen moralischen Sympathien und dem moralischen Gefühl nicht die Schwierigkeit gelöst werden, die sich aus der ganz verschiedenen Bewertung der all g e m ein e n M e n s c h e n 1 i e bein den Beobachtungen und in den Bemerkungen ergibt; denn darin scheint sich eine wesentlich andere Auffassung des moralischen Gefühls selber anzukündigen: In der Abhandlung hatte er gelehrt, daß Mitleid und Gefälligkeit an sich jederzeit schwach und blind sind, wenn sie nicht dem Grundsatz der allgemeinen Wohlgewogenheit gegen das Menschengeschlecht untergeordnet und dadurch in das richtige Verhältnis zur Gesamtpflicht gebracht werden. Durch diese Unterordnung werde das Gefühl erhabener, aber auch kälter; denn es sei nicht möglich, "daß unser Busen für jedes Menschen Anteil von Zärtlichkeit aufschwelle und bei jeder fremden Not in Wehmut schwimme, sonst würde der Tugendhafte, unaufhörlich in mitleidigen Tränen wie Heraklit schmelzend, bei aller dieser Gutherzigkeit gleichwohl nichts weiter als ein weichmütiger Müßiggänger werden "52. Die Verallgemeinerung des Gefühls wurde dort also geradezu als die Überwindung der weichmütigen Untätigkeit des Mitleides hingestellt. In den Bemerkungen aber heißt es: "Die allgemeine Menschenliebe hat etwas Hohes und Edles an sich, beim Menschen aber ist sie chimärisch. Wenn man darauf führet, so gewöhnet man mit Sehnsuchten und müßigen Wünschen, sich selbst zu täuschen" (25, 11). Wir wollen diesen Gegensatz zunächst einmal stehen lassen und versuchen, den neuen Standpunkt Kants etwas mehr im einzelnen zu präzisieren. Wenn wir alle in Frage kommenden Texte vergleichen, so wird deutlich, daß das oben angeführte Prinzip Rousseaus es war, das diese Wandlung seiner Auffassung herbeiführte: nur der Mächtige ist gütig, die ursprünglich aus der Selbstliebe stammende Güte ist ihrer Natur nach tätig, wenn die Kräfte größer sind als das eigene Bedürfnis. Von diesem Grundsatz her werden fast alle Stellen der Bemerkungen über das Mitleid bzw. die Menschenliebe verständlich. Schon die soeben angeführte Reflexion beweist den chimärischen Charakter der allgemeinen Menschenliebe in diesem Sinn. "Solange man so 51) lbid. II, 73. 52) KGS II, 216.

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188 daß die physische Reizung sie versüßt habe und die Handlung gut geschienen hat; nun ist es aber widersinnisch und häßlich, daß, was moralisch böse ist, im ganzen doch gut sei .. " (85,11). Hier wird nicht nur die physische Reizung oder Lust und der physische Widerwille der moralischen Lust und dem moralischen Abscheu als w e sensverschieden gegenübergestellt, sondern auch vorausgesetzt, daß immer dort, wo eine böse Handlung geschieht, das moralische Gefühl von der physischen Lust überwogen wurde. Was aber ist das anderes als die in den Beobachtungen ausdrücklich aufgestellte These, daß das moralische Gefühl, wie es im Menschen als Anlage gegeben ist, in den seltensten Fällen ausreicht, um ihn zum Aufschwung zu den Grundsätzen der Tugend zu bewegen, und daß deshalb eine wesentliche Aufgabe der Erziehung darin besteht, "das sittliche Gefühl frühzeitig in dem Busen eines jeden jungen Weltbürgers zu einer tätigen Empfindung zu erhöhen", und daß andererseits in vielen Menschen die tugendähnlichen Affekte des Mitleides und der Gefälligkeit das moralische Gefühl entweder ersetzen oder doch unterstützen müssen, wenn gute Handlungen zustande kommen sollen? Wenn Kant ferner das Gewissen definiert als das moralische Gefühl, insofern es auf die eigenen Handlungen angewandt wird (168, 10), so läßt sich darin noch kein spezifisch Rousseauscher Einfluß erkennen, wohl aber erinnert die Reflexion: "Das Gefühl, wovon ich handle, ist so bewandt, daß ich nicht brauche gelehrt zu sein, um es zu empfinden lt (4,1) unwillkürlich an die Sätze, die der Genfer in seinem Emile unmittelbar auf die berühmte Apostrophe an das Gewissen folgen läßt 50. Aber der Einfluß des letzteren reicht auch in dem zum moralischen Gefühl gehörenden Problemkomplex wesentlich weiter: er äußert sich vor allem in einem Doppelten: einmal darin, daß die moralische Gefühlsanlage im weiteren Sinn, zu der ja auch die hilfeleistenden moralischen Sympathien gehören, in die Problematik des Gegensatzes von Natur- und Kulturzustand einbezogen wird; ferner in den immer wiederkehrenden Analysen des Mit 1 eid es, das ja bei Rousseau das Grundprinzip aller altruistischen moralischen Gesinnung ist und das nun auch bei Kant mehr oder weniger mit dem Prinzip der allgemeinen Menschenliebe gleichgesetzt wird, sowie in anderen Einzelzügen. Beginnen wir mit dem zweiten Punkt, weil dieser wiederholt zu einer falschen Interpretation der Bemerkungen geführt hat! Schon zu Beginn derselben stoßen wir auf die kurze, aber bedeutsame These: "Der Mächtige ist gütig" (4,15), die einen Grundgedanken Rousseaus ausspricht: nämlich den, daß die Gütigkeit und überhaupt die altruistischen Triebe entspringen durch eine Ausdehnung der Selbstliebe auf andere Menschen, mit denen man sich identifiziere, was aber nur dort möglich sei, wo die Kräfte größer sind als die 50) Rousseau II, 82.

Be d ü r fn iss e, so daß sie spontan zu dieser Erweiterung des eigenen Ich drängen. Folgerichtig leitet Rousseau auch die Güte und Barmherzigkeit Gottes von seiner unendlichen Macht ab und hält es für richtiger, in Umkehrung der alten römischen Formel Gott als Maximus Optimus zu bezeichnen 51. Kant konnte diese Erklärung des Mitleides und der übrigen moralischen Sympathien ohne weiteres akzeptieren, ohne seine bisherige Auffassung aufgeben zu müssen, weil für ihn ein solches naturalistisches Prinzip wie die Selbstliebe niemals da seige ntli ch e mo rali s che Gefühl zu begründen vermochte, wohl aber die moralischen Instinkte. Allerdings kann durch diese Unterscheidung zwischen moralischen Sympathien und dem moralischen Gefühl nicht die Schwierigkeit gelöst werden, die sich aus der ganz verschiedenen Bewertung der all g e m ein e n M e n s c h e n 1 i e bein den Beobachtungen und in den Bemerkungen ergibt; denn darin scheint sich eine wesentlich andere Auffassung des moralischen Gefühls selber anzukündigen: In der Abhandlung hatte er gelehrt, daß Mitleid und Gefälligkeit an sich jederzeit schwach und blind sind, wenn sie nicht dem Grundsatz der allgemeinen Wohlgewogenheit gegen das Menschengeschlecht untergeordnet und dadurch in das richtige Verhältnis zur Gesamtpflicht gebracht werden. Durch diese Unterordnung werde das Gefühl erhabener, aber auch kälter; denn es sei nicht möglich, "daß unser Busen für jedes Menschen Anteil von Zärtlichkeit aufschwelle und bei jeder fremden Not in Wehmut schwimme, sonst würde der Tugendhafte, unaufhörlich in mitleidigen Tränen wie Heraklit schmelzend, bei aller dieser Gutherzigkeit gleichwohl nichts weiter als ein weichmütiger Müßiggänger werden "52. Die Verallgemeinerung des Gefühls wurde dort also geradezu als die Überwindung der weichmütigen Untätigkeit des Mitleides hingestellt. In den Bemerkungen aber heißt es: "Die allgemeine Menschenliebe hat etwas Hohes und Edles an sich, beim Menschen aber ist sie chimärisch. Wenn man darauf führet, so gewöhnet man mit Sehnsuchten und müßigen Wünschen, sich selbst zu täuschen" (25, 11). Wir wollen diesen Gegensatz zunächst einmal stehen lassen und versuchen, den neuen Standpunkt Kants etwas mehr im einzelnen zu präzisieren. Wenn wir alle in Frage kommenden Texte vergleichen, so wird deutlich, daß das oben angeführte Prinzip Rousseaus es war, das diese Wandlung seiner Auffassung herbeiführte: nur der Mächtige ist gütig, die ursprünglich aus der Selbstliebe stammende Güte ist ihrer Natur nach tätig, wenn die Kräfte größer sind als das eigene Bedürfnis. Von diesem Grundsatz her werden fast alle Stellen der Bemerkungen über das Mitleid bzw. die Menschenliebe verständlich. Schon die soeben angeführte Reflexion beweist den chimärischen Charakter der allgemeinen Menschenliebe in diesem Sinn. "Solange man so 51) lbid. II, 73. 52) KGS II, 216.

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191

sehr selbst von Sachen abhängig ist, kann man nicht an anderer Glück teilnehmen" d. h. solange die eigene Bedürftigkeit unerfüllt bleibt, ist eine t ä t i g e u TI d wir k sam e Anteilnahme an fremdem Glück und Leid unmöglich. Die allgemeine Menschenliebe kann in diesem Fall nur eine solche sein, die sich in untätigen Wünschen und Vorstellungen erschöpft, also chimärisch ist. Daraus folgert Kant ganz im Sinne Rousseaus: "Machet also, daß er (der Mensch) mit wenigem zufrieden sei, so werdet ihr gütige Menschen machen, sonst ist es umsonst" (25,8). Denn nach dem letzteren bedeutet die Einschränkung der Bedürfnisse eo ipso Steigerung der Macht und des Tätigkeitsvermögens und damit der Fähigkeit, seine tätige Selbstliebe auf andere auszudehnen. Hier wird man unwillkürlich an den Naturzustand erinnert, in welchem ja nach Rousseau die Bedürfnisse des Menschen ä'.lßerst gering sind. In der Tat schreibt dieser dem Wilden auch das tätige Mitleid in einem ausgezeichneten Maße zu: das Mitleiden ist die einzige angeborene Tugend, es ist umso allgemeiner und dem Menschen umso nützlicher, als es jeder Reflexion vorangeht, und hat eine solche Stärke, daß die verdorbensten Sitten Mühe haben, es zu zerstören. Es ist eine Empfindung, die uns an die Stelle des Leidenden versetzt, ein dunkles, aber lebhaftes Gefühl, beim Wilden voll entwickelt, aber geschwächt beim Bürger, da das Ineinsverschmelzen unendlich viel inniger sein mußte in dem natürlichen Zustand als in dem des Vernunftgebrauches, der den Menschen auf sich selbst zurückwirft und in sich verschließt. Das Mitleiden vertritt im ersteren Zustand die Stelle der Gesetze, der Sitte und der Tugend, jedoch mit dem Vorzug, daß niemand versucht, seiner süßen Stimme den Gehorsam zu versagen. Es gibt an Stelle der erhabenen Vernunftgerechtigkeit: Tue anderen was du willst, daß sie es dir tun sollen, jedem Menschen die andere, zwar weniger vollkommene, aber vielleicht mehr anwendbare Vorschrift der natürlichen Güte ein: Besorge dein Wohl mit so wenig Nachteil für andere als möglich. In diesem natürlichen Gefühl muß man weit mehr als in künstlichen Schlußreihen die Ursache des Widerwillens suchen, den jedermann gegen schlechte Handlungen empfindet 53 • Auf diese Lehre Rousseaus dürfte sich die sonst rätselhaft anmutende Reflexion beziehen: "Die Süßigkeit, die wir darin finden, das Wohltun gegen Menschen zu achten, ist eine Wirkung von dem Gefühl des allgemeinen Wohls, was im Zustand der Freiheit stattfinden würde" (89,11), wobei er mit dem Zustand der Freiheit eben den Na tu r zu s ta n d bezeichnen will. Nun gibt es im menschlichen Leben eine Phase der Entwicklung. in der nach Rousseau jenes Urwohlwollen der menschlichen Natur in fast ungebrochener Kraft lebendig wird, vorausgesetzt, daß die ursprüngliche Naturanlage durch die Erziehung entfaltet und nicht verdorben wurde: es ist das Jüngling s al te r. "Die JÜng-.

lingsjahre sind das Alter weder der Rache noch des Hasses, sie sind das Alter des Erbarmens, der Milde, der Großmut. Ja ich behaupte es und fürchte nicht, von der Erfahrung widerlegt zu werden: ein Kind nicht bösartiger Naturanlage, das bis zum zwanzigsten Jahre seme Unschuld erhalten hat, ist in diesem Alter der großmütigste, der beste, der liebendste und der liebenswürdigste Mensch" 54. Kant schließt sich dieser Auffassung an: "Das Jünglingsalter 1st zur Freundschaft auferlegter, weil es uneigennutzlicher, teilnehmender, wohlwollender und aufrichtiger ist als das spätere" (146 12). ' Während aber dieser Affekt des Mitleides im Naturzustand und in dem in einer gewissen Annäherung an diesen erzogenen, unverdorbenen Jüngling unmittelbar tätig ist, wird er im Zustand der gesellschaftlichen Kultur weithin zu einer bloßen WunSChvorstellung: "Das Wohlwollen ist eine ruhige Neigung, anderer Glückseligkeit als Gegenstand seiner Freude und auch als einen Bewegungsgrund semer Handlungen anzusehen. Das Mitleiden ist ein Affekt des Wohlwollens gegen den Notleidenden, nach welchem wir uns vorstell e n, daß wir, was in der Gewalt ist, tun würden, ihm zu helfen; es ist also mehrenteils eine Chi m ä r e , weil es weder jederzeit in unserer Gewalt noch in unserem Willen ist ,.. Mit der Üppigkeit sich die P h a n ta sie der Menschenliebe und verringert slch das Vermögen und die Lust. Der einfältige Mensch nimmt sich keines andren an als dem er helfen kann (134,22-135,9). Besonders deutlich werden diese Gedanken in folgender Reflexion ausgesprochen: "Wir haben selbstnützliche und gemeinnützige Empfindungen. Jene sind älter als diese und die letzteren erzeugen sich allererst in der Geschlechterneigung. Der Mensch ist bedürftig. aber auch über die Bedürfnisse mächtig. Der im Stande der Natur ist mehrer gemeinnützigen und tätigen Empfindungen fähig, der in der Üppigkeit hat eingebildete Bedürfnisse und ist eigennützig, Man nimmt mehr Ante.il an dem Übel, vornehmlich der Ungerechtigkeit, die andere erlelden. als an der Wohlfahrt. Die teilnehmende Empfindung ist wahr. wenn sie den gemeinnützigen Kräften gleich ist, sonst ist sie chimärisch. Sie ist allgemein auf unbestimmte Art, so fern auf einen von allen, denen ich helfen kann, sie gerichtet ist, oder auf bestimmte Art, einem jeden Leidenden zu helfen, die letztere ist chimärisch. Die Gutherzigkeit entspringt durch die Kultur der moralischen' aber untätigen Empfindungen und ist ein moralischer Wahn. Von der privativen Gutherzigkeit kein Böses zu tun und der Gerechtigkeit. seine Schuldigkeit zu tun. Die Moral ist chimärisch, die lauter Uneigennützigkeit will, diejenige auch, die gegen eingebildete teilnehmend ist. Die Moral ist grob. die den Eigennutz allem behauptet" (172.27 -173,15). "Man ist nicht mitleidig über den Gram und die Verzweiflung eines anderen, sondern über dieselben,

53) Rousseau I. 100.

54) Ibid. II. 10 f.

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sehr selbst von Sachen abhängig ist, kann man nicht an anderer Glück teilnehmen" d. h. solange die eigene Bedürftigkeit unerfüllt bleibt, ist eine t ä t i g e u TI d wir k sam e Anteilnahme an fremdem Glück und Leid unmöglich. Die allgemeine Menschenliebe kann in diesem Fall nur eine solche sein, die sich in untätigen Wünschen und Vorstellungen erschöpft, also chimärisch ist. Daraus folgert Kant ganz im Sinne Rousseaus: "Machet also, daß er (der Mensch) mit wenigem zufrieden sei, so werdet ihr gütige Menschen machen, sonst ist es umsonst" (25,8). Denn nach dem letzteren bedeutet die Einschränkung der Bedürfnisse eo ipso Steigerung der Macht und des Tätigkeitsvermögens und damit der Fähigkeit, seine tätige Selbstliebe auf andere auszudehnen. Hier wird man unwillkürlich an den Naturzustand erinnert, in welchem ja nach Rousseau die Bedürfnisse des Menschen ä'.lßerst gering sind. In der Tat schreibt dieser dem Wilden auch das tätige Mitleid in einem ausgezeichneten Maße zu: das Mitleiden ist die einzige angeborene Tugend, es ist umso allgemeiner und dem Menschen umso nützlicher, als es jeder Reflexion vorangeht, und hat eine solche Stärke, daß die verdorbensten Sitten Mühe haben, es zu zerstören. Es ist eine Empfindung, die uns an die Stelle des Leidenden versetzt, ein dunkles, aber lebhaftes Gefühl, beim Wilden voll entwickelt, aber geschwächt beim Bürger, da das Ineinsverschmelzen unendlich viel inniger sein mußte in dem natürlichen Zustand als in dem des Vernunftgebrauches, der den Menschen auf sich selbst zurückwirft und in sich verschließt. Das Mitleiden vertritt im ersteren Zustand die Stelle der Gesetze, der Sitte und der Tugend, jedoch mit dem Vorzug, daß niemand versucht, seiner süßen Stimme den Gehorsam zu versagen. Es gibt an Stelle der erhabenen Vernunftgerechtigkeit: Tue anderen was du willst, daß sie es dir tun sollen, jedem Menschen die andere, zwar weniger vollkommene, aber vielleicht mehr anwendbare Vorschrift der natürlichen Güte ein: Besorge dein Wohl mit so wenig Nachteil für andere als möglich. In diesem natürlichen Gefühl muß man weit mehr als in künstlichen Schlußreihen die Ursache des Widerwillens suchen, den jedermann gegen schlechte Handlungen empfindet 53 • Auf diese Lehre Rousseaus dürfte sich die sonst rätselhaft anmutende Reflexion beziehen: "Die Süßigkeit, die wir darin finden, das Wohltun gegen Menschen zu achten, ist eine Wirkung von dem Gefühl des allgemeinen Wohls, was im Zustand der Freiheit stattfinden würde" (89,11), wobei er mit dem Zustand der Freiheit eben den Na tu r zu s ta n d bezeichnen will. Nun gibt es im menschlichen Leben eine Phase der Entwicklung. in der nach Rousseau jenes Urwohlwollen der menschlichen Natur in fast ungebrochener Kraft lebendig wird, vorausgesetzt, daß die ursprüngliche Naturanlage durch die Erziehung entfaltet und nicht verdorben wurde: es ist das Jüngling s al te r. "Die JÜng-.

lingsjahre sind das Alter weder der Rache noch des Hasses, sie sind das Alter des Erbarmens, der Milde, der Großmut. Ja ich behaupte es und fürchte nicht, von der Erfahrung widerlegt zu werden: ein Kind nicht bösartiger Naturanlage, das bis zum zwanzigsten Jahre seme Unschuld erhalten hat, ist in diesem Alter der großmütigste, der beste, der liebendste und der liebenswürdigste Mensch" 54. Kant schließt sich dieser Auffassung an: "Das Jünglingsalter 1st zur Freundschaft auferlegter, weil es uneigennutzlicher, teilnehmender, wohlwollender und aufrichtiger ist als das spätere" (146 12). ' Während aber dieser Affekt des Mitleides im Naturzustand und in dem in einer gewissen Annäherung an diesen erzogenen, unverdorbenen Jüngling unmittelbar tätig ist, wird er im Zustand der gesellschaftlichen Kultur weithin zu einer bloßen WunSChvorstellung: "Das Wohlwollen ist eine ruhige Neigung, anderer Glückseligkeit als Gegenstand seiner Freude und auch als einen Bewegungsgrund semer Handlungen anzusehen. Das Mitleiden ist ein Affekt des Wohlwollens gegen den Notleidenden, nach welchem wir uns vorstell e n, daß wir, was in der Gewalt ist, tun würden, ihm zu helfen; es ist also mehrenteils eine Chi m ä r e , weil es weder jederzeit in unserer Gewalt noch in unserem Willen ist ,.. Mit der Üppigkeit sich die P h a n ta sie der Menschenliebe und verringert slch das Vermögen und die Lust. Der einfältige Mensch nimmt sich keines andren an als dem er helfen kann (134,22-135,9). Besonders deutlich werden diese Gedanken in folgender Reflexion ausgesprochen: "Wir haben selbstnützliche und gemeinnützige Empfindungen. Jene sind älter als diese und die letzteren erzeugen sich allererst in der Geschlechterneigung. Der Mensch ist bedürftig. aber auch über die Bedürfnisse mächtig. Der im Stande der Natur ist mehrer gemeinnützigen und tätigen Empfindungen fähig, der in der Üppigkeit hat eingebildete Bedürfnisse und ist eigennützig, Man nimmt mehr Ante.il an dem Übel, vornehmlich der Ungerechtigkeit, die andere erlelden. als an der Wohlfahrt. Die teilnehmende Empfindung ist wahr. wenn sie den gemeinnützigen Kräften gleich ist, sonst ist sie chimärisch. Sie ist allgemein auf unbestimmte Art, so fern auf einen von allen, denen ich helfen kann, sie gerichtet ist, oder auf bestimmte Art, einem jeden Leidenden zu helfen, die letztere ist chimärisch. Die Gutherzigkeit entspringt durch die Kultur der moralischen' aber untätigen Empfindungen und ist ein moralischer Wahn. Von der privativen Gutherzigkeit kein Böses zu tun und der Gerechtigkeit. seine Schuldigkeit zu tun. Die Moral ist chimärisch, die lauter Uneigennützigkeit will, diejenige auch, die gegen eingebildete teilnehmend ist. Die Moral ist grob. die den Eigennutz allem behauptet" (172.27 -173,15). "Man ist nicht mitleidig über den Gram und die Verzweiflung eines anderen, sondern über dieselben,

53) Rousseau I. 100.

54) Ibid. II. 10 f.

192 infern ihre Ursachen natürlich und nicht eingebildet sein. Daher hat der Handwerker kein Mitleiden mit einem banquerottirten Kaufmann, der zum Stand eines Mäcklers oder Bedienten herabgesetzt ist, weil er nicht sieht. daß ihm etwas anderes als die eingebildeten Bedürfnisse abgehen ••• Jedermann aber hat Mitleiden mit dem Übel, das den wahren Bedürfnissen entgegengesetzt ist. Daraus folgt, daß die Gutherzigkeit eines Menschen von viel Üppigkeit ein sehr ausgebreitetes Mitleiden enthalten werde, des Menschen der Einfalt aber ein sehr eingeschränktes. Man hat mit seinen Kindern ein uneingeschränktes Mitleiden. Je ausgebreiteter das Mitleiden ist, wenn die Kräfte dieselben bleiben. desto müßiger ist es; je mehr hiebei noch die eingebildeten Bedürfnisse wachsen, desto größer ist das Hindernis des noch übrigen Vermögens, Gutes zu tun. Daher wird die Wohlgewogenheit des üppigen Zustandes ein bloßer Wahn" (191,4-29). Die tätigen Instinkte des Mitleidens aber "bestehen in der Liebe zum Geschlecht und zu den Kindern, das gegen andere Menschen beruhet bloß auf Gleichheit und Einheit" (166.5). Demgegenüber setzen die Gütigkeiten des üppigen Zustandes. die darüber hinausgehen, eine Ungleichheit voraus und erweisen sich schon dadurch als unnatürlich: "Denn ich verstehe unter Gütigkeit eine Bereitwilligkeit, Gutes zu erzeigen, selbst in den Fällen, wo die allgemeine natürliche Sympathie kein genugsamer Grund dazu sein würde. Nun ist es nicht einfältig und natürlich. ebenso große Gemächlichkeit aufzuopfern als ich einem andern erzeige. weil ein Mensch so viel gilt als ein anderer. Wenn ich also dazu bereit bin, so muß ich mich stärker in Ansehung der Unbequemlichkeiten als einen anderen urteilen. Ich muß es als ein großes Übel ansehen, was ich einem anderen erspare und als ein kleines. das ich selbst erleide. Ein Mann würde einen anderen verachten, wenn er solche Gütigkeiten gegen ihn bewiese" (36.13). Von diesen Grundsätzen her erklären sich nun auch jene Stellen ganz ungezwungen. aus denen manche Interpreten auf eine Änderung der grundsätzlichen Einstellung Kants zum moralischen Gefühl geschlossen haben. Zunächst die bereits im vorausgehenden erwähnte über den chimärischen Charakter der allgemeinen Menschenliebe (25,11). Sie ist nach der oben angeführten Reflexion (173,4) chimärisch oder bloß eingebildet, wenn sie auf b e s tim m t e Weise allgemein ist. d.h. wenn sie einem jeden Notleidenden. den es gibt, helfen will. aber sie ist nicht notwendig so. wenn sie auf u n b e s tim m t e Weise allgemein ist. d. h. sich auf einen von allen, denen ich helfen k-ann, richtet. Freilich Wird sie auch in diesem Falle chimärisch. wenn die teilnehmende Empfindung die gemeinnützigen Kräfte übersteigt. Sie wird dann zum moralischen Wahn. der darin besteht, daß man die Meinung von einer möglichen moralischen Vollkommenheit für eine solche wirkliche hält (172,25). Der eigentliche Widerspruch zum Standpunkt der Beobachtungen ist damit aufgeho-'

193 ben, allerdings bleibt bestehen. daß Kant nun unter dem Einfluß Rousseauscher Ideen das Problem der allgemeinen Menschenliebe nicht nur wesentlich kom pli z i e r t ersieht als in der Abhandlung, sondern diese auch in ihrer Begründung demjenigen annähert, was e:: dort Sympathien genannt hatte und damit die enge Verbmdung ZWIschen der allgemeinen Menschenliebe und dem moralisehen Gefühl, wie sie für die Beobachtungen charakteristisch ist löst. Besonders deutlich wird das an einer Bemerkung, die das blem von einer ganz anderen Seite angeht: liEs ist sehr lächerlich zu sagen. ihr sollt andere Menschen lieben. man muß vielmehr sagen, ihr habt guten Grund. euren Nächsten zu lieben. Selbst gilt dieses bei unserem Feinde" (45.1). Kant denkt hier wohl an die radikale Angewiesenheit des Menschen auf die Hilfe und das Wohlwollen seines Nächsten, um sich als Mensch erhalten und entfalten zu können und leitet daraus ganz im Sinne der deutschen Aufklärungsethik di: ab, daß es in einem bestimmten Sinn in unserem eigenen hochsten Interesse liegt. daß wir durch unsere Gesinnung und unser Ve:-halten gegenseitige Wohlwollen und die gegenseitige HilfsbereItschaft m der menschlichen Gemeinschaft erhalten und bestärken 55. Etwas Ähnliches gilt von einer anderen Reflexion, die gleichfalls Anlaß zu Mißverständnissen gegeben hat: "Die Fähigkeit, etwas als Vollkommenheit an anderen zu erkennen. bringt noch gar nicht die Folge hervor, daß wir selbst daran Vergnügen fühlen. Wenn wir aber ein Gefühl haben, daran Vergnügen zu finden, so werden wir auch bewogen werden. es zu begehren und unsere Kräfte dazu anzuwenden. Es fragt sich also, ob wir unmittelbar an anderer Wohl Vergnügen fühlen oder eigentlich die unmittelbare Lust in der möglichen unserer Kraft liegt es zu befördern. Es ist beides möghch, welches aber ist wirklich. Die Erfahrung lehrt. daß beim einZustand ein Mensch andrer Glück mit Gleichgültigkeit ansIeht. hat er es aber befördert, so gefällt es ihm unendlich mehr Andrer Übel ist gemeiniglich ebenso gleichgültig, habe ich es abe; verursacht, so kränkt es. imgleichen. wenn es ein anderer getan hat. Und was die teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit angeht, so haben wir Ursache zu glauben, es seien bloß große Bestrebungen, anderer Übel zu lindern aus der Selbstbilligung der Seele hergenommen. welche diese hervorbringen" (144,1-16). Hier wird zunächst die Frage nach dem Ursprung der 'teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit' ziemlich deutlich unterschieden von der nach dem Ursprung unseres Wohlgefallens. an anderer Wohl oder Vollkommenheit. Obwohl die Lösung der belden Fragen in der gleichen Richtung gesucht wird, ist die letztere die entscheidende. weil es in ihr im Grunde auch um das 55) Thomasius, Einleitung der Sittenlehre, S. 88; 93. Chr. Wolff, Phil. pr. univ. I, § 220-223.

192 infern ihre Ursachen natürlich und nicht eingebildet sein. Daher hat der Handwerker kein Mitleiden mit einem banquerottirten Kaufmann, der zum Stand eines Mäcklers oder Bedienten herabgesetzt ist, weil er nicht sieht. daß ihm etwas anderes als die eingebildeten Bedürfnisse abgehen ••• Jedermann aber hat Mitleiden mit dem Übel, das den wahren Bedürfnissen entgegengesetzt ist. Daraus folgt, daß die Gutherzigkeit eines Menschen von viel Üppigkeit ein sehr ausgebreitetes Mitleiden enthalten werde, des Menschen der Einfalt aber ein sehr eingeschränktes. Man hat mit seinen Kindern ein uneingeschränktes Mitleiden. Je ausgebreiteter das Mitleiden ist, wenn die Kräfte dieselben bleiben. desto müßiger ist es; je mehr hiebei noch die eingebildeten Bedürfnisse wachsen, desto größer ist das Hindernis des noch übrigen Vermögens, Gutes zu tun. Daher wird die Wohlgewogenheit des üppigen Zustandes ein bloßer Wahn" (191,4-29). Die tätigen Instinkte des Mitleidens aber "bestehen in der Liebe zum Geschlecht und zu den Kindern, das gegen andere Menschen beruhet bloß auf Gleichheit und Einheit" (166.5). Demgegenüber setzen die Gütigkeiten des üppigen Zustandes. die darüber hinausgehen, eine Ungleichheit voraus und erweisen sich schon dadurch als unnatürlich: "Denn ich verstehe unter Gütigkeit eine Bereitwilligkeit, Gutes zu erzeigen, selbst in den Fällen, wo die allgemeine natürliche Sympathie kein genugsamer Grund dazu sein würde. Nun ist es nicht einfältig und natürlich. ebenso große Gemächlichkeit aufzuopfern als ich einem andern erzeige. weil ein Mensch so viel gilt als ein anderer. Wenn ich also dazu bereit bin, so muß ich mich stärker in Ansehung der Unbequemlichkeiten als einen anderen urteilen. Ich muß es als ein großes Übel ansehen, was ich einem anderen erspare und als ein kleines. das ich selbst erleide. Ein Mann würde einen anderen verachten, wenn er solche Gütigkeiten gegen ihn bewiese" (36.13). Von diesen Grundsätzen her erklären sich nun auch jene Stellen ganz ungezwungen. aus denen manche Interpreten auf eine Änderung der grundsätzlichen Einstellung Kants zum moralischen Gefühl geschlossen haben. Zunächst die bereits im vorausgehenden erwähnte über den chimärischen Charakter der allgemeinen Menschenliebe (25,11). Sie ist nach der oben angeführten Reflexion (173,4) chimärisch oder bloß eingebildet, wenn sie auf b e s tim m t e Weise allgemein ist. d.h. wenn sie einem jeden Notleidenden. den es gibt, helfen will. aber sie ist nicht notwendig so. wenn sie auf u n b e s tim m t e Weise allgemein ist. d. h. sich auf einen von allen, denen ich helfen k-ann, richtet. Freilich Wird sie auch in diesem Falle chimärisch. wenn die teilnehmende Empfindung die gemeinnützigen Kräfte übersteigt. Sie wird dann zum moralischen Wahn. der darin besteht, daß man die Meinung von einer möglichen moralischen Vollkommenheit für eine solche wirkliche hält (172,25). Der eigentliche Widerspruch zum Standpunkt der Beobachtungen ist damit aufgeho-'

193 ben, allerdings bleibt bestehen. daß Kant nun unter dem Einfluß Rousseauscher Ideen das Problem der allgemeinen Menschenliebe nicht nur wesentlich kom pli z i e r t ersieht als in der Abhandlung, sondern diese auch in ihrer Begründung demjenigen annähert, was e:: dort Sympathien genannt hatte und damit die enge Verbmdung ZWIschen der allgemeinen Menschenliebe und dem moralisehen Gefühl, wie sie für die Beobachtungen charakteristisch ist löst. Besonders deutlich wird das an einer Bemerkung, die das blem von einer ganz anderen Seite angeht: liEs ist sehr lächerlich zu sagen. ihr sollt andere Menschen lieben. man muß vielmehr sagen, ihr habt guten Grund. euren Nächsten zu lieben. Selbst gilt dieses bei unserem Feinde" (45.1). Kant denkt hier wohl an die radikale Angewiesenheit des Menschen auf die Hilfe und das Wohlwollen seines Nächsten, um sich als Mensch erhalten und entfalten zu können und leitet daraus ganz im Sinne der deutschen Aufklärungsethik di: ab, daß es in einem bestimmten Sinn in unserem eigenen hochsten Interesse liegt. daß wir durch unsere Gesinnung und unser Ve:-halten gegenseitige Wohlwollen und die gegenseitige HilfsbereItschaft m der menschlichen Gemeinschaft erhalten und bestärken 55. Etwas Ähnliches gilt von einer anderen Reflexion, die gleichfalls Anlaß zu Mißverständnissen gegeben hat: "Die Fähigkeit, etwas als Vollkommenheit an anderen zu erkennen. bringt noch gar nicht die Folge hervor, daß wir selbst daran Vergnügen fühlen. Wenn wir aber ein Gefühl haben, daran Vergnügen zu finden, so werden wir auch bewogen werden. es zu begehren und unsere Kräfte dazu anzuwenden. Es fragt sich also, ob wir unmittelbar an anderer Wohl Vergnügen fühlen oder eigentlich die unmittelbare Lust in der möglichen unserer Kraft liegt es zu befördern. Es ist beides möghch, welches aber ist wirklich. Die Erfahrung lehrt. daß beim einZustand ein Mensch andrer Glück mit Gleichgültigkeit ansIeht. hat er es aber befördert, so gefällt es ihm unendlich mehr Andrer Übel ist gemeiniglich ebenso gleichgültig, habe ich es abe; verursacht, so kränkt es. imgleichen. wenn es ein anderer getan hat. Und was die teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit angeht, so haben wir Ursache zu glauben, es seien bloß große Bestrebungen, anderer Übel zu lindern aus der Selbstbilligung der Seele hergenommen. welche diese hervorbringen" (144,1-16). Hier wird zunächst die Frage nach dem Ursprung der 'teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit' ziemlich deutlich unterschieden von der nach dem Ursprung unseres Wohlgefallens. an anderer Wohl oder Vollkommenheit. Obwohl die Lösung der belden Fragen in der gleichen Richtung gesucht wird, ist die letztere die entscheidende. weil es in ihr im Grunde auch um das 55) Thomasius, Einleitung der Sittenlehre, S. 88; 93. Chr. Wolff, Phil. pr. univ. I, § 220-223.

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moralische Gefühl im eigentlichen Sinne geht. Das wird schon an der Alternative. die Kant hier aufstellt. deutlich: die eine Möglichkeit. daß wir unmittelbar ein Wohlgefallen an der Vollkommenheit des anderen empfinden. entspricht ohne Zweifel dem Standpunkt der Beobachtungen. nach dem der eigentliche Gegenstand des moralischen Gefühls die Schönheit und Würde der menschlichen Natur war. Hier aber entscheidet sich Kant für die andere Erklärung: daß die Quelle unseres Interesses an der Vollkommenheit des anderen das Wohlgefallen an der eigenen Wirksamkeit. genauer an der Betätigung der eigenen Freiheit ist; denn es heißt, daß das Wohlergehen des anderen mir gefällt. wenn ich es verursacht habe. und das Unglück des anderen mir mißfällt oder mich kränkt, wenn ich es selbst verschuldet. ebenso aber auch. wenn eS ein anderer vers c h u I d e t hat. Konnte das erste noch in einem empiristisch -naturalistischen Sinn als bloßes Vergnügen an der Betätigung der eigenen Vermögen gedeutet werden. wie man in der Tat die ganze Stelle aufgefaßt hat (Schilpp). so ist das unmöglich für das zweite Glied; denn wenn ich allenfalls mein Mißvergnügen an dem Übel des anderen noch dadurch erklären könnte. daß ich es selber verursacht habe. so ist das in keiner Weise mehr möglich. wenn ein anderer es verursacht hat. Der eigentliche Gegenstand dieses Mißfallens und folglich auch des entsprechenden Gefallens kann also nicht die bloße physische Lust an der Betätigung der eigenen Vermögen sein. sondern muß in einem bestimmten Charakter der Betätigung der Freiheit als solcher. gleichviel ob der eigenen oder der eines anderen. gesucht werden. Daß wir mit dieser Interpretation dem eigentlichen Gedanken Kants gerecht werden. geht aus den folgenden Absätzen hervor. die offenbar mit dem eben behandelten aufs engste zusammenhängen: "Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Vollkommenheiten. aber weit mehr. wenn wir selbst die Ursache sein. Am allermeisten wenn wir die fr e i wir k end e Ursache sein. Der freien Willkür alles zu subordinieren. ist die größeste Vollkommenheit. Und die Vollkommenheit der freien Willkür als einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als alle anderen Ursachen des Guten. wenn sie gleich die Wirklichkeit hervorbrächten ••• Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das. wogegen wir leidend sein. oder über uns selbst als ein tätig Prinzipjum durch Freiheit vor dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl. Das vergangene physische Böse erfreut uns. aber das (vergangene) moralische betrübt uns. es ist eine ganz andere Art Freude über das Gute. das uns zufällt und das. was wir tun" (144.16-145.11). Klarer könnte das moralische Gefühl nicht von dem physischen unterschieden werden. Von dem ersteren aber werden die teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit abgehoben, von denen es heißt. daß ihre großen Bestrebungen, anderer

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Übel zu lindern, bloß aus der Selbstbilligung der Seele her genommen sind und daß sie im üppigen Zustand umso chimärischer werden, je mehr sie sich ausbreiten. bzw. was letztlich auf das gleiche hinausgeht. je mehr die eingebildeten Bedürfnisse wachsen, auf die sie sich beziehen (191.25). Diese moralischen Instinkte haben verschiedene und verschiedenartige Wurzeln (cf. 9.19), und von ihnen gilt für Kant auch in den Bemerkungen noch eben das, was er in der Abhandlung selbst bereits mit aller Deutlichkeit ausgesprochen hatte: daß sie blind sind und die Gerechtigkeit in Unordnung bringen (97,7) und folglich niemals herrschen dürfen. sondern dem Vermögen und dem vernünftigen Verlangen. Gutes zu tun. subordiniert werden müssen. ein Standpunkt. den er ebenso noch in der Kritik der praktischen Vernunft vertritt 56. So erhalten gerade die Stellen über das Mitleiden und die allgemeine Menschenliebe von den Prinzipien Rousseaus her eine ganz einfache Erklärung. die in keiner Weise den Schluß auferlegt oder auch nur zuläßt. daß der Philosoph seine grundsätzliche Einstellung zum moralischen Gefühl als solchem aufgegeben habe. Wenn die einzelnen Reflexionen nicht vollständig miteinander in Einklang gebracht werden können. so liegt das an dem Charakter solcher Notizen, die Kant für sich selbst niedergeschrieben und in denen er folglich die für ihn selbstverständlichen Einschränkungen nicht jeweils eigens auszudrücken brauchte. oder in denen er gegebenenfalls auch einen Ge dan ken versuchsweise bis zur letzten Konsequenz zu Ende dachte, ohne ihn mit den Ergebnissen anderer Gedankenreihen inEinklang zu bringen. Aber der allgemeine Sinn dieser Reflexionen und ihre innere Einheit wird, von den Prinzipien Rousseaus her durchaus einsichtig. Zugleich aber wird deutlich. daß die moralischen Instinkte des Mitleides und derMenschenliebe nach Kant noch nicht das moralische Gefühl im eigentlichen Sinn darstellen. Nach der Preisschrift und nach den Beobachtungen war es für ihn schlechterdings unmöglich. das letztere als Prinzip der Sittlichkeit mit Rousseau aus der triebhaften Selbstliebe herzuleiten; die Ablehnung einer solchen naturalistischen Begründung der Moral hatte ihn ja gerade von Wolff weggeführt. Sehr deutlich ist der Einfluß Rousseaus ferner in jener Reflexion erkennbar. in der er auch einmal auf das für diesen so zentrale p ä da g 0 gis c h e Problem eingeht: "Der einfältige Mensch hat sehr früh eine Empfindung von dem. was recht ist. aber sehr spät oder gar nicht einen Begriff davon. Jene Empfindung muß weit eher entwickelt werden als der Begriff. Lehret man ihn frühe entwickeln nach Regeln. so wird er niemals empfinden" (26.1). Der erste Satz könnte auch bei Crusius stehen. der weitere drückt das Uranliegen der Rousseauschen Pädagogik überhaupt und seine Anwendung auf die moralische Erziehung aus: das Entscheidende ist das Gefühl, die Empfindung eines Gegenstandes: das begriffliche Erkennen führt nur 56) KGS V. 118.

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moralische Gefühl im eigentlichen Sinne geht. Das wird schon an der Alternative. die Kant hier aufstellt. deutlich: die eine Möglichkeit. daß wir unmittelbar ein Wohlgefallen an der Vollkommenheit des anderen empfinden. entspricht ohne Zweifel dem Standpunkt der Beobachtungen. nach dem der eigentliche Gegenstand des moralischen Gefühls die Schönheit und Würde der menschlichen Natur war. Hier aber entscheidet sich Kant für die andere Erklärung: daß die Quelle unseres Interesses an der Vollkommenheit des anderen das Wohlgefallen an der eigenen Wirksamkeit. genauer an der Betätigung der eigenen Freiheit ist; denn es heißt, daß das Wohlergehen des anderen mir gefällt. wenn ich es verursacht habe. und das Unglück des anderen mir mißfällt oder mich kränkt, wenn ich es selbst verschuldet. ebenso aber auch. wenn eS ein anderer vers c h u I d e t hat. Konnte das erste noch in einem empiristisch -naturalistischen Sinn als bloßes Vergnügen an der Betätigung der eigenen Vermögen gedeutet werden. wie man in der Tat die ganze Stelle aufgefaßt hat (Schilpp). so ist das unmöglich für das zweite Glied; denn wenn ich allenfalls mein Mißvergnügen an dem Übel des anderen noch dadurch erklären könnte. daß ich es selber verursacht habe. so ist das in keiner Weise mehr möglich. wenn ein anderer es verursacht hat. Der eigentliche Gegenstand dieses Mißfallens und folglich auch des entsprechenden Gefallens kann also nicht die bloße physische Lust an der Betätigung der eigenen Vermögen sein. sondern muß in einem bestimmten Charakter der Betätigung der Freiheit als solcher. gleichviel ob der eigenen oder der eines anderen. gesucht werden. Daß wir mit dieser Interpretation dem eigentlichen Gedanken Kants gerecht werden. geht aus den folgenden Absätzen hervor. die offenbar mit dem eben behandelten aufs engste zusammenhängen: "Wir haben Vergnügen an gewissen von unseren Vollkommenheiten. aber weit mehr. wenn wir selbst die Ursache sein. Am allermeisten wenn wir die fr e i wir k end e Ursache sein. Der freien Willkür alles zu subordinieren. ist die größeste Vollkommenheit. Und die Vollkommenheit der freien Willkür als einer Ursache der Möglichkeit ist weit größer als alle anderen Ursachen des Guten. wenn sie gleich die Wirklichkeit hervorbrächten ••• Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das. wogegen wir leidend sein. oder über uns selbst als ein tätig Prinzipjum durch Freiheit vor dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl. Das vergangene physische Böse erfreut uns. aber das (vergangene) moralische betrübt uns. es ist eine ganz andere Art Freude über das Gute. das uns zufällt und das. was wir tun" (144.16-145.11). Klarer könnte das moralische Gefühl nicht von dem physischen unterschieden werden. Von dem ersteren aber werden die teilnehmenden Instinkte des Mitleidens und der Wohlgewogenheit abgehoben, von denen es heißt. daß ihre großen Bestrebungen, anderer

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Übel zu lindern, bloß aus der Selbstbilligung der Seele her genommen sind und daß sie im üppigen Zustand umso chimärischer werden, je mehr sie sich ausbreiten. bzw. was letztlich auf das gleiche hinausgeht. je mehr die eingebildeten Bedürfnisse wachsen, auf die sie sich beziehen (191.25). Diese moralischen Instinkte haben verschiedene und verschiedenartige Wurzeln (cf. 9.19), und von ihnen gilt für Kant auch in den Bemerkungen noch eben das, was er in der Abhandlung selbst bereits mit aller Deutlichkeit ausgesprochen hatte: daß sie blind sind und die Gerechtigkeit in Unordnung bringen (97,7) und folglich niemals herrschen dürfen. sondern dem Vermögen und dem vernünftigen Verlangen. Gutes zu tun. subordiniert werden müssen. ein Standpunkt. den er ebenso noch in der Kritik der praktischen Vernunft vertritt 56. So erhalten gerade die Stellen über das Mitleiden und die allgemeine Menschenliebe von den Prinzipien Rousseaus her eine ganz einfache Erklärung. die in keiner Weise den Schluß auferlegt oder auch nur zuläßt. daß der Philosoph seine grundsätzliche Einstellung zum moralischen Gefühl als solchem aufgegeben habe. Wenn die einzelnen Reflexionen nicht vollständig miteinander in Einklang gebracht werden können. so liegt das an dem Charakter solcher Notizen, die Kant für sich selbst niedergeschrieben und in denen er folglich die für ihn selbstverständlichen Einschränkungen nicht jeweils eigens auszudrücken brauchte. oder in denen er gegebenenfalls auch einen Ge dan ken versuchsweise bis zur letzten Konsequenz zu Ende dachte, ohne ihn mit den Ergebnissen anderer Gedankenreihen inEinklang zu bringen. Aber der allgemeine Sinn dieser Reflexionen und ihre innere Einheit wird, von den Prinzipien Rousseaus her durchaus einsichtig. Zugleich aber wird deutlich. daß die moralischen Instinkte des Mitleides und derMenschenliebe nach Kant noch nicht das moralische Gefühl im eigentlichen Sinn darstellen. Nach der Preisschrift und nach den Beobachtungen war es für ihn schlechterdings unmöglich. das letztere als Prinzip der Sittlichkeit mit Rousseau aus der triebhaften Selbstliebe herzuleiten; die Ablehnung einer solchen naturalistischen Begründung der Moral hatte ihn ja gerade von Wolff weggeführt. Sehr deutlich ist der Einfluß Rousseaus ferner in jener Reflexion erkennbar. in der er auch einmal auf das für diesen so zentrale p ä da g 0 gis c h e Problem eingeht: "Der einfältige Mensch hat sehr früh eine Empfindung von dem. was recht ist. aber sehr spät oder gar nicht einen Begriff davon. Jene Empfindung muß weit eher entwickelt werden als der Begriff. Lehret man ihn frühe entwickeln nach Regeln. so wird er niemals empfinden" (26.1). Der erste Satz könnte auch bei Crusius stehen. der weitere drückt das Uranliegen der Rousseauschen Pädagogik überhaupt und seine Anwendung auf die moralische Erziehung aus: das Entscheidende ist das Gefühl, die Empfindung eines Gegenstandes: das begriffliche Erkennen führt nur 56) KGS V. 118.

196 dort zum Ziel. wo es vom Gefühl getragen ist 57. Ebenso dürfte die andere verwandte Reflexion unmittelbar auf eine Anregung des Genfers zurückgehen: liDer Verstand macht keine Vermehrung des sittlichen Gefühls. Der Vernünftelnde hat insofern abgekühltere Mfekte und ist kaltsinniger • mithin weniger böse und weniger gut. Das moralisch Gute macht vielmehr verständig" (135.10)58. Schon in den bisher betrachteten Reflexionen über das Mitleiden usw. trat ein allgemeiner Rousseauscher Grundzug zutage, der Kants Betrachtung der moralischen Gefühlsanlage des Menschen in den Bemerkungen zutiefst beherrscht: ilire Einordnung in das kulturphilosophische Schema des Gegensatzes zwischen dem Naturzustand und dem der gesellschaftlichen Kultur. Während im ersteren das ungekünstelte moralische Gefühl herrscht, das sich an die bloßen (moralischen) Bedürfnisse hält und folglich mit einem gröberen Geschmack gepaart ist (cf. 52,3), werden die moralischen Antriebe im Zustand der Üppigkeit zu Sen t i me nt s • die unmittelbar zu dem in Beziehung stehen, was Kant den moralischen Geschmack im ausgezeichneten Sinn nennt. "Das Gefühl in Ansehung der Sittlichkeit bleibt entweder bloß an den (sittlichen) Bedürfnissen, das ist Schuldigkeit, oder gehet weiter. im letztem Falle ist es Sentiment" (117,13). Die Sentiments aber, die ohne Wirkung sind. gehören zum moralischen Luxus (9,18). Sie gehören zur feineren moralischen Kultur oder zum feineren moralischen Ge schmack, der voraussetzt, daß man die Tugend mit Torheit untermengt kosten kann (52.3). und der dem Zustand der Natur fremd. dem der Üppigkeit aber in besonderem Maße eigentümlich ist: "Der moralische Geschmack ist zur Nachahmung geneigt, die moralischen Grundsätze erheben sich über dieselbe. Wo Höfe sind und große Unterschiede der Menschen. ist alles dem Geschmacke ergeben, in Republiken ist es anders. Daher der Geschmack in den Gesellschaften dort feiner und hier gröber ist. Man kann sehr tugendhaft sein und wenig (moralischen) Geschmack haben. Wenn das gesellschaftliche Leben zunehmen soll. muß der Geschmack erweitert werden, weil die Annehmlichkeit der Gesellschaften leicht sein muß, Grundsätze aber schwer sein. Unter Frauenzimmern ist dieser Geschmack am leichtesten" (51,5). Zwei charakteristische Merkmale dieses eigentlichen moralischen Geschmackes stellt Kant heraus, die ihn von dem bloßen moralischen Gefühl, das den Grundsätzen der Tugend zugrunde liegt, wesentlich unterscheidet: Er ist zur Na c ha h m u n g geneigt, während die moralischen Grundsätze sich über dieselbe erheben (51,5) und er vereinbart sich leicht mit dem Sc h ein. während die letzteren diesen ausschließen (51.14). So heißt es an einer anderen Stelle, daß sich Schein mit dem Schönen (das dem Geschmack zugeord57) Rousseau ll, 12; 36; 81. 58) Ibid. ll. 43 f.

197 net ist) sehr wohl vertrage, insofern es auch dann noch, wenn es als Schein erkannt ist, gefalle, nicht aber mit dem Edlen, das als Schein entlarvt kein Gegenstand des Gefallens mehr sein könne, z. B. "als klug, fromm, herzhaft, redlich scheinen" (134,20). In diesem Sinn gehört zum moralischen Geschmack die Ga I an te r i e , 'eine neue Art von Schönheit der Sitten', die darin besteht, daß man allem Frauenzimmer, gleichviel ob es geistig und körperlich schön ist oder nicht, mit derjenigen Unterwürfigkeit begegnet, die der bezeigt, welcher durch seine Neigung von einem Schwächeren beherrscht wird (133,15; 134,4); ferner die Anständigkeit, die Sittsamkeit und die Politesse oder Geschliffenheit: die erstere ist die Kunst, tugendhaft zu scheinen, die zweite die Kunst, keusch zu scheinen und die letztere die, leutselig zu scheinen (177, 4), Von der Sittsamkeit im besonderen heißt es: "Der moralische Geschmack in Ansehung der Geschlechterneigung , da jedermann scheinen will, darin sehr fein oder auch rein zu sein. Die Wahrheit ist nicht die Hauptvollkommenheit des gesellschaftlichen Lebens. Der schöne Schein treibt es bier so wie in der Malerei viel weiter •• " (48,20). Dem entspricht die Auffassung, daß im Zustand der gesellschaftlichen Kultur die Mädchen keusch sind, die Frauen dagegen ausschweifend, weil das Ausschweifen der ersteren gegen die Sittsamkeit d.h. gegen den Schein der Keuschheit ist, das der letzteren aber nicht, da es durch die Ehe gedeckt wird (cf. 162,21; 143, 1). Das sind wohl die wesentlichsten Bemerkungen im Rahmen des gegenwärtigen Themas, in denen sich die kulturphilosophis ehe Konzeption Rousseaus durchsetzt, wenn .auch Kant im einzelnen hier durchaus eigene Gedanken entwickelt. In den vorausgehend behandelten Reflexionen über die allgemeine Menschenliebe zeichnete sich bereits ein grundsätzlicher Wandel in der Auffassung des moralischen Gefühls selbst ab, insofern es nun als das der Lust an der Anwendung der eigenen Kräfte bzw. der Betätigung der eigenen Freiheit erscheint. Für diese gegenüber den Beobachtungen neue Sicht finden wir bei Rousseau keine unmittelbare Parallele. Bemerkenswert ist, daß uns die Reflexionen, die das moralische Gefühl so bestimmen, fast ausschließlich in der z w e i te n Hälfte der Bemerkungen begegnen. Es sind vor allem folgende: liDer Wille ist vollkommen, so fern er nach den Gesetzen der Freiheit der größte Grund des Guten überhaupt ist. Das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Vollkommenheit des Willens" (136,16 f.; cf. 144,19 ff. ); ferner die bereits in anderem Zusammenhang angeführte Reflexion: "Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das, wogegen wir leidend sind, oder über uns selbst als ein tätig Prinzipium durch Freilieit vor dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl. Das vergangene physische Böse erfreut uns, aber das moralische betrübt uns, und es ist eine ganz. andere Art Freude über das Gute was uns zufällt und das was wir tun" (145,

196 dort zum Ziel. wo es vom Gefühl getragen ist 57. Ebenso dürfte die andere verwandte Reflexion unmittelbar auf eine Anregung des Genfers zurückgehen: liDer Verstand macht keine Vermehrung des sittlichen Gefühls. Der Vernünftelnde hat insofern abgekühltere Mfekte und ist kaltsinniger • mithin weniger böse und weniger gut. Das moralisch Gute macht vielmehr verständig" (135.10)58. Schon in den bisher betrachteten Reflexionen über das Mitleiden usw. trat ein allgemeiner Rousseauscher Grundzug zutage, der Kants Betrachtung der moralischen Gefühlsanlage des Menschen in den Bemerkungen zutiefst beherrscht: ilire Einordnung in das kulturphilosophische Schema des Gegensatzes zwischen dem Naturzustand und dem der gesellschaftlichen Kultur. Während im ersteren das ungekünstelte moralische Gefühl herrscht, das sich an die bloßen (moralischen) Bedürfnisse hält und folglich mit einem gröberen Geschmack gepaart ist (cf. 52,3), werden die moralischen Antriebe im Zustand der Üppigkeit zu Sen t i me nt s • die unmittelbar zu dem in Beziehung stehen, was Kant den moralischen Geschmack im ausgezeichneten Sinn nennt. "Das Gefühl in Ansehung der Sittlichkeit bleibt entweder bloß an den (sittlichen) Bedürfnissen, das ist Schuldigkeit, oder gehet weiter. im letztem Falle ist es Sentiment" (117,13). Die Sentiments aber, die ohne Wirkung sind. gehören zum moralischen Luxus (9,18). Sie gehören zur feineren moralischen Kultur oder zum feineren moralischen Ge schmack, der voraussetzt, daß man die Tugend mit Torheit untermengt kosten kann (52.3). und der dem Zustand der Natur fremd. dem der Üppigkeit aber in besonderem Maße eigentümlich ist: "Der moralische Geschmack ist zur Nachahmung geneigt, die moralischen Grundsätze erheben sich über dieselbe. Wo Höfe sind und große Unterschiede der Menschen. ist alles dem Geschmacke ergeben, in Republiken ist es anders. Daher der Geschmack in den Gesellschaften dort feiner und hier gröber ist. Man kann sehr tugendhaft sein und wenig (moralischen) Geschmack haben. Wenn das gesellschaftliche Leben zunehmen soll. muß der Geschmack erweitert werden, weil die Annehmlichkeit der Gesellschaften leicht sein muß, Grundsätze aber schwer sein. Unter Frauenzimmern ist dieser Geschmack am leichtesten" (51,5). Zwei charakteristische Merkmale dieses eigentlichen moralischen Geschmackes stellt Kant heraus, die ihn von dem bloßen moralischen Gefühl, das den Grundsätzen der Tugend zugrunde liegt, wesentlich unterscheidet: Er ist zur Na c ha h m u n g geneigt, während die moralischen Grundsätze sich über dieselbe erheben (51,5) und er vereinbart sich leicht mit dem Sc h ein. während die letzteren diesen ausschließen (51.14). So heißt es an einer anderen Stelle, daß sich Schein mit dem Schönen (das dem Geschmack zugeord57) Rousseau ll, 12; 36; 81. 58) Ibid. ll. 43 f.

197 net ist) sehr wohl vertrage, insofern es auch dann noch, wenn es als Schein erkannt ist, gefalle, nicht aber mit dem Edlen, das als Schein entlarvt kein Gegenstand des Gefallens mehr sein könne, z. B. "als klug, fromm, herzhaft, redlich scheinen" (134,20). In diesem Sinn gehört zum moralischen Geschmack die Ga I an te r i e , 'eine neue Art von Schönheit der Sitten', die darin besteht, daß man allem Frauenzimmer, gleichviel ob es geistig und körperlich schön ist oder nicht, mit derjenigen Unterwürfigkeit begegnet, die der bezeigt, welcher durch seine Neigung von einem Schwächeren beherrscht wird (133,15; 134,4); ferner die Anständigkeit, die Sittsamkeit und die Politesse oder Geschliffenheit: die erstere ist die Kunst, tugendhaft zu scheinen, die zweite die Kunst, keusch zu scheinen und die letztere die, leutselig zu scheinen (177, 4), Von der Sittsamkeit im besonderen heißt es: "Der moralische Geschmack in Ansehung der Geschlechterneigung , da jedermann scheinen will, darin sehr fein oder auch rein zu sein. Die Wahrheit ist nicht die Hauptvollkommenheit des gesellschaftlichen Lebens. Der schöne Schein treibt es bier so wie in der Malerei viel weiter •• " (48,20). Dem entspricht die Auffassung, daß im Zustand der gesellschaftlichen Kultur die Mädchen keusch sind, die Frauen dagegen ausschweifend, weil das Ausschweifen der ersteren gegen die Sittsamkeit d.h. gegen den Schein der Keuschheit ist, das der letzteren aber nicht, da es durch die Ehe gedeckt wird (cf. 162,21; 143, 1). Das sind wohl die wesentlichsten Bemerkungen im Rahmen des gegenwärtigen Themas, in denen sich die kulturphilosophis ehe Konzeption Rousseaus durchsetzt, wenn .auch Kant im einzelnen hier durchaus eigene Gedanken entwickelt. In den vorausgehend behandelten Reflexionen über die allgemeine Menschenliebe zeichnete sich bereits ein grundsätzlicher Wandel in der Auffassung des moralischen Gefühls selbst ab, insofern es nun als das der Lust an der Anwendung der eigenen Kräfte bzw. der Betätigung der eigenen Freiheit erscheint. Für diese gegenüber den Beobachtungen neue Sicht finden wir bei Rousseau keine unmittelbare Parallele. Bemerkenswert ist, daß uns die Reflexionen, die das moralische Gefühl so bestimmen, fast ausschließlich in der z w e i te n Hälfte der Bemerkungen begegnen. Es sind vor allem folgende: liDer Wille ist vollkommen, so fern er nach den Gesetzen der Freiheit der größte Grund des Guten überhaupt ist. Das moralische Gefühl ist das Gefühl von der Vollkommenheit des Willens" (136,16 f.; cf. 144,19 ff. ); ferner die bereits in anderem Zusammenhang angeführte Reflexion: "Das Gefühl der Lust und Unlust ist entweder über das, wogegen wir leidend sind, oder über uns selbst als ein tätig Prinzipium durch Freilieit vor dem Guten und Bösen. Das letztere ist das moralische Gefühl. Das vergangene physische Böse erfreut uns, aber das moralische betrübt uns, und es ist eine ganz. andere Art Freude über das Gute was uns zufällt und das was wir tun" (145,

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6). "Weil die größeste innere Vollkommenheit und daraus gende Vollkommenheit in der Unterordnung der gesamten Vermogen und Empfänglichkeiten unter der freien Willkür bestehet, so muß das Gefühl vor die Bonität der Willkür unmittelbar weit anders und auch größer sein als alle die guten Folgen, die dadurch könn.en aktuiert werden. Diese Willkür enthält nun sowohl den bloß e1genen als auch den allgemeinen Willen, oder es betrachtet sich der Mensch zugleich in consensu mit dem allgemeinen ':"illen ".(145,16 ff. ). Diese letzte Bemerkung läßt unwillkürlIch an dle volonte generale Rousseaus als Prinzip der bürgerlichen Verfassung denken. Aber die Lehre vom moralischen Gefühl selbst, die Kant hier - möglicherweise im Anschluß an die Rousseausche Konzeption - entwikkelt hat kein Gegenstück in den Schriften des Genfers. Für diesen ist das moralische Gefühl nur die Ausdehnung des Triebes der Selbstliebe auf andere Personen, mit denen wir uns gefühlsmäßig identifizieren. Es ist also letztlich ein naturhaft physisches Gefühl; bei Kant dagegen haben wir ein g run d sät z I ich An der es, das aber auch gegenüber seiner Auffassung in den neu ist. Dort hatte er erstmals eine Wesensbestimmung des morahschen Gefühls von seinem spezifischen Objekt her versucht und es als Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur definiert; hier aber bestimmt er es als Gefühl für die Vollkommenheit der Willkür als des höchsten Grundes des Guten. Dazu kommt ein weiterer entscheidender Zug: auf Seite 147 lesen wir in der ersten größeren lateinischen Stelle: "Sensus internus voluptatis et taedii est prior appetitione et aversatione quia tas gaudendi aut aversandi subiecto inest qua:r;nquam ob1ech huius sensus ignarus sit ut ignoti nulla est cupldo. Appehho vel est primitiva vel derivativa, prior est varia. etiam. qua , d •. es gibt qualitativ verschiedene sensus mterm et Der eine davon ist jener, von dem nun im folgenden d1e Rede 1st: IISensus internus si allegatur ut principium probandi logicum legis moralis est qualitas occulta, si ut facultas animae cuius ratio ignoratur :st phaenomenon" (147,10 ff.). Es kann kein Zweifel bestehen daß wir hier eine Parallele zu jenen bedeutsamen Ausführungen des'll. Hauptstückes des 1. Teiles der 'Träume' haben, in denen moralische Gefühl gegenüber den Beobachtungen überraschenderwelse als das Gefühl für die Abhängigkeit des individuellen Willens vom allgemeinen bzw. als Er s c he in un g dieser Abhängigkeit bezeichnet wird 59. Es zeichnet sich hier offenbar eine völlig neue Auffassung und Deutung des moralischen GefühlS ab, wobei offen bleiben muß, ob sie die der Abhandlung ausschlIeßt oder Sle nur ergänzt und erweitert. . . Noch ein anderer Gedanke tritt uns in den Bemerkungen 1m Hmblick auf das moralische Gefühl entgegen, der sich weder in Ab59) KGS n, 335,12-16.

handlung noch bei Rousseau findet, daß nämlich das moralische Gefühl der Menschen nach Geschlecht, Alter und den verschiedenen Lebensbedingungen verschieden ist: "Bei den metaphysischen Anfangs gründen der Ästhetik ist das verschiedene unmoralische Gefühl, bei den Anfangsgründen der sittlichen Welt das versr:hiedene moralische Gefühl der Menschen nach Verschiedenheit des Geschlechts, des Alters, der Erziehung und Regierung, der Rassen und Klimaten anzumerken" (49,12). Auch diese Reflexion müssen wir vorerst stehen lassen als ein N ovum gegenüber der Abhandlung, die offenbar von der Voraussetzung ausging, daß das moralische Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur in jedem menschlichen Busen das gleiche sei, um zu sehen, welche Bedeutung sie gegebenenfalls im Rahmen einer Gesamtdeutung seines damaligen Standpunktes gewinnen wird. d)

Über die wesentliche Natur und Bestimmung des Menschen

Wir kommen zu einem weiteren grundlegenden Thema der Bemerkungen, das nicht nur wesentlich über die Problemstellung der Abhandlung hinausgeht, sondern in dem sich auch der Einfluß Rousseaus wieder ganz unmittelbar und fast ohne jede Einschränkung durchsetzt: das Thema der wesentlichen Natur und Bestimmung des Menschen. Rousseau hatte sich in seinem Emile zum Ziel gesetzt, die Prinzipien einer wirklich naturgemäßen Erziehung aufzustellen, d. h. jene, die der eigentlichen, ursprünglichen (unverdorbenen) und unverlierbaren Natur des Menschen gemäß sind, um so den Menschen in erster Linie zu einem w a h ren Me n s c h e n zu erziehen: "In der Ordnung der Natur ist, daß die Menschen einander alle gleich sind, ihr gemeinschaftlicher Beruf ist der Zustand des Menschen, und wer für diesen wohl erzogen ist, kann die anderen, die in Beziehung darauf stehen, nicht übel erfüllen •• Ehe die Eltern ihn zu etwas (zu einem bestimmten Stand) berufen, beruft ihn die Natur zum Me n s c he n. Zu leben ist die Kunst, die ich lehren will •• Alles was ein Mensch sein muß, wird er im Notfall so gut zu sein wissen als irgend jemand und das Glück wird ihn vergebens seine Stelle verändern lassen, er wird an seinem Platz sein. Unser wahres Studium ist das Studium des menschlichen Zustandes 60 • "Der Mensch ist sehr stark, wenn er sich begnügt, das zu sein, was er ist, er ist sehr schwach, wenn er sich über die Menschheit erheben will. Bildet euch also nicht ein, ihr dehntet, indem ihr euer Vermögen ausbreitet, auch eure Kräfte aus, vielmehr vermindert ihr sie, falls euer Stolz einen höheren Flug als sie nimmt. Laßt uns den Radius unserer Sphäre messen und im Mittelpunkt bleiben wie die Spinne im Mittelpunkt ihres Gewebes. Wir werden uns dann immer selbst genug sein, 60) Rousseau I, 416.

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6). "Weil die größeste innere Vollkommenheit und daraus gende Vollkommenheit in der Unterordnung der gesamten Vermogen und Empfänglichkeiten unter der freien Willkür bestehet, so muß das Gefühl vor die Bonität der Willkür unmittelbar weit anders und auch größer sein als alle die guten Folgen, die dadurch könn.en aktuiert werden. Diese Willkür enthält nun sowohl den bloß e1genen als auch den allgemeinen Willen, oder es betrachtet sich der Mensch zugleich in consensu mit dem allgemeinen ':"illen ".(145,16 ff. ). Diese letzte Bemerkung läßt unwillkürlIch an dle volonte generale Rousseaus als Prinzip der bürgerlichen Verfassung denken. Aber die Lehre vom moralischen Gefühl selbst, die Kant hier - möglicherweise im Anschluß an die Rousseausche Konzeption - entwikkelt hat kein Gegenstück in den Schriften des Genfers. Für diesen ist das moralische Gefühl nur die Ausdehnung des Triebes der Selbstliebe auf andere Personen, mit denen wir uns gefühlsmäßig identifizieren. Es ist also letztlich ein naturhaft physisches Gefühl; bei Kant dagegen haben wir ein g run d sät z I ich An der es, das aber auch gegenüber seiner Auffassung in den neu ist. Dort hatte er erstmals eine Wesensbestimmung des morahschen Gefühls von seinem spezifischen Objekt her versucht und es als Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur definiert; hier aber bestimmt er es als Gefühl für die Vollkommenheit der Willkür als des höchsten Grundes des Guten. Dazu kommt ein weiterer entscheidender Zug: auf Seite 147 lesen wir in der ersten größeren lateinischen Stelle: "Sensus internus voluptatis et taedii est prior appetitione et aversatione quia tas gaudendi aut aversandi subiecto inest qua:r;nquam ob1ech huius sensus ignarus sit ut ignoti nulla est cupldo. Appehho vel est primitiva vel derivativa, prior est varia. etiam. qua , d •. es gibt qualitativ verschiedene sensus mterm et Der eine davon ist jener, von dem nun im folgenden d1e Rede 1st: IISensus internus si allegatur ut principium probandi logicum legis moralis est qualitas occulta, si ut facultas animae cuius ratio ignoratur :st phaenomenon" (147,10 ff.). Es kann kein Zweifel bestehen daß wir hier eine Parallele zu jenen bedeutsamen Ausführungen des'll. Hauptstückes des 1. Teiles der 'Träume' haben, in denen moralische Gefühl gegenüber den Beobachtungen überraschenderwelse als das Gefühl für die Abhängigkeit des individuellen Willens vom allgemeinen bzw. als Er s c he in un g dieser Abhängigkeit bezeichnet wird 59. Es zeichnet sich hier offenbar eine völlig neue Auffassung und Deutung des moralischen GefühlS ab, wobei offen bleiben muß, ob sie die der Abhandlung ausschlIeßt oder Sle nur ergänzt und erweitert. . . Noch ein anderer Gedanke tritt uns in den Bemerkungen 1m Hmblick auf das moralische Gefühl entgegen, der sich weder in Ab59) KGS n, 335,12-16.

handlung noch bei Rousseau findet, daß nämlich das moralische Gefühl der Menschen nach Geschlecht, Alter und den verschiedenen Lebensbedingungen verschieden ist: "Bei den metaphysischen Anfangs gründen der Ästhetik ist das verschiedene unmoralische Gefühl, bei den Anfangsgründen der sittlichen Welt das versr:hiedene moralische Gefühl der Menschen nach Verschiedenheit des Geschlechts, des Alters, der Erziehung und Regierung, der Rassen und Klimaten anzumerken" (49,12). Auch diese Reflexion müssen wir vorerst stehen lassen als ein N ovum gegenüber der Abhandlung, die offenbar von der Voraussetzung ausging, daß das moralische Gefühl für die Schönheit und Würde der menschlichen Natur in jedem menschlichen Busen das gleiche sei, um zu sehen, welche Bedeutung sie gegebenenfalls im Rahmen einer Gesamtdeutung seines damaligen Standpunktes gewinnen wird. d)

Über die wesentliche Natur und Bestimmung des Menschen

Wir kommen zu einem weiteren grundlegenden Thema der Bemerkungen, das nicht nur wesentlich über die Problemstellung der Abhandlung hinausgeht, sondern in dem sich auch der Einfluß Rousseaus wieder ganz unmittelbar und fast ohne jede Einschränkung durchsetzt: das Thema der wesentlichen Natur und Bestimmung des Menschen. Rousseau hatte sich in seinem Emile zum Ziel gesetzt, die Prinzipien einer wirklich naturgemäßen Erziehung aufzustellen, d. h. jene, die der eigentlichen, ursprünglichen (unverdorbenen) und unverlierbaren Natur des Menschen gemäß sind, um so den Menschen in erster Linie zu einem w a h ren Me n s c h e n zu erziehen: "In der Ordnung der Natur ist, daß die Menschen einander alle gleich sind, ihr gemeinschaftlicher Beruf ist der Zustand des Menschen, und wer für diesen wohl erzogen ist, kann die anderen, die in Beziehung darauf stehen, nicht übel erfüllen •• Ehe die Eltern ihn zu etwas (zu einem bestimmten Stand) berufen, beruft ihn die Natur zum Me n s c he n. Zu leben ist die Kunst, die ich lehren will •• Alles was ein Mensch sein muß, wird er im Notfall so gut zu sein wissen als irgend jemand und das Glück wird ihn vergebens seine Stelle verändern lassen, er wird an seinem Platz sein. Unser wahres Studium ist das Studium des menschlichen Zustandes 60 • "Der Mensch ist sehr stark, wenn er sich begnügt, das zu sein, was er ist, er ist sehr schwach, wenn er sich über die Menschheit erheben will. Bildet euch also nicht ein, ihr dehntet, indem ihr euer Vermögen ausbreitet, auch eure Kräfte aus, vielmehr vermindert ihr sie, falls euer Stolz einen höheren Flug als sie nimmt. Laßt uns den Radius unserer Sphäre messen und im Mittelpunkt bleiben wie die Spinne im Mittelpunkt ihres Gewebes. Wir werden uns dann immer selbst genug sein, 60) Rousseau I, 416.

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200 uns über unsere Schwäche nicht zu beklagen haben 61. "0 Mensch, ziehe dein Dasein in dich zusammen und du wirst nicht mehr elend sein! Bleibe an der Stelle, die die Natur dir in der Kette der Wesen anweist und nichts wird dich herausbringen können! "62. einzige, der seinen Willen ins Werk setzt, ist derjenige, der nicht erst die Arme eines anderen an seine zu knüpfen braucht. Hieraus folgt, daß das erste aller Güter nicht und Ansehen, sondern Fr e i h e i t ist. Der wahrhaft freie Mann wIll nur das, was er kann, und tut, was ihm gefällt. Das ist mein Grundgrundsatz. Es kommt nur darauf an ihn auf die Kinder anzuwenden und alle .Regeln der Erziehung werden daraus fließen ••• Solange noch dIe urteile und die menschlichen Einrichtungen unsere naturhchen NeIgungen verhindert haben, die der Kinder wie der Erwachsenen im Gebrauche ihrer Freiheit ••• Wer da tut, was er will ist glücklich, wenn er sich selbst genug ist, in dem Falle lebte d;r Mensch im Stand der Natur... Die Kinder genießen im Stande der Natur nur einer unvollkommenen Freiheit, die derJenigen gleicht, deren die Erwachsenen in dem bürgerlichen Zustand genießen. Da jeder von uns der anderen nicht mehr kann, so wird er in dieser Hinsicht wieder schwach und elend. WIr waren geboren Männer zu sein; die Gesetze aber und die Gesellschaft haben uns in die Kindheit versetzt" 63. "Es gibt zweierlei von Abhängigkeit die von den Dingen vermittelst der Natur und dIe von den vermiteist der Gesellschaft. Da die von den Dingen keine Sittlichkeit hat, so schadet sie der FreIheit nicht und erzeugt keine Laster, die· Abhängigkeit von den Menschen dagegen ist ungeordnet und erzeugt sie alle. Durch sie der Herr und der Knecht einander gegenseitig. Nur das kann em Mittel sein diesem Übel in der Gesellschaft abzuhelfen, wenn man das Gesetz dem Menschen als Zugabe gibt und den allgemeir:en mit einer die Handlung jedes einzelnen Willens in der WIrkhchkeIt übersteigenden Stärke bewaffnet"64. . .. Mit dieser kurzen Zusammenstellung haben WIr emige der Grundlehren Rousseaus angedeutet, die sich in den Reflexionen dieses Themas widerspiegeln. Kant bekennt selber in der vielleicht stem der ganzen Sammlung, daß Rousseau - und es kann sIch hIer nur um dessen Emile handeln - €ine tiefgreifende innere Wandl:ung in seiner Einstellung zum Menschen herbeigeführt hat in dem Smr:, daß er, ein Forscher von Natur. der vorher die Menschen dend nach ihren intellektuellen Fähigkeiten gewertet und damit dIe überwältigende Mehrheit des ungebildeten Volkes verachte: hatte, nunmehr durch Rousseau überzeugt wurde, daß das gerade nicht den 61) 1bid. 62) Ibid. 63) 1bid. 64) lbid.

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456. 458. 459; 460, 460 ff.

eigentlichen Wert des Menschen ausmache, daß dieser vielmehr mit seinem Menschsein selber gegeben und daß deshalb jeder Mensch in erster Linie um dieses seines Menschseins willen zu schätzen sei (cf. 44,12). Gerade die Notizen über das Verhältnis der Künste und Wissenschaften zur grundlegenden Natur des Menschen enthüllen uns im einzelnen die Mo ti v e , die in Kant diese Wandlung herbeigeführt haben mögen. So V\'enn er etwa sagt: "Wenn etwas nicht der Dauer der Lebenszeit, nicht ihren Epochen, nicht dem großen Teil der Menschen angemessen ist, endlich gar sehr dem Zufalle unterworfen und nur schwerlich möglich ist, so gehört es njcht zu der Glückseligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Geschlechts. Wie viel Jahrhunderte sind verflossen, ehe ächte Wissenschaften waren und wie viel Nationen sind in der Welt, die sie niemals haben werden" (37,11). "Alle unrichtige Schätzung desjenigen, was nicht zu den Zwecken der Natur gehört, zerstört auch die schöne Harmonie der Natur. Dadurch daß man die Künste und die Wissenschaften so sehr wichtig hält, macht man diejenigen verächtlich, die sie nicht haben und bringt uns zu Ungerechtigkeiten, die wir nicht ausüben würden, wenn wir sie mehr als uns gleich ansähen" (37,5). Ferner: "Die Meinung von der Ungleichheit macht auch die Menschen ungleich. Nur die Lehre des HE. R. kann machen, daß auch der gelehrteste Philosoph sich mit seinem Wissen aufrichtig und ohne die Religion zu Hilfe zu nehmen nicht vor besser hält als den gemeinen Mann" (176,1). Der entscheidende Wert und das letzte Ziel der Wissenschaft kann infolgedessen dann nicht mehr in der Erkenntnis der Wahrheit als solcher bzw. in der theoretischen Spekulation liegen, sondern nur darin, daß sie den Menschen seine Bestimmung als Mensch und seine dieser Bestimmung entsprechende Aufgabe besser erkennen lehre (cf. 7;9; 7,14; 43,6; 114,15; 175,16; 175,21; 175, 26). Diese Wandlung, die sich in Kant unter der Einwirkung des Genfers vollzogen hat, war allerdings, was nicht übersehen werden darf, schon bis zu einem gewissen Grad durch seine bisherige Entwicklung vorbereitet, durch seine pietistische Kindheits- und Jugenderziehung , worauf neuerdings wieder Schilpp mit gutem Recht hingewie sen hat, aber auch durch seine Auseinandersetzung mit der Morallehre des Crusius und der Engländer, vor allem Hutchesons, und in der Tat kündigt sie sich bereits in etwa in den Schriften des Jahres 1762 an, aber die eigentliche Wende wurde eben doch erst durch die Begegnung mit Rousseau herbeigeführt, dessen mit Leidenschaft vorgetragene Lehre in ihm all diese Gedanken und Anregungen zu einem mächtigen Strom anwachsen ließ. Diese neue Einstellung zum Menschen und Leben brachte natürlich für ihn zugleich auch die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit seinem Beruf mit sich. Die Lösung konnte er fertig von Rousseau selbst übernehmen. Dieser sagt am Abschluß seiner erzieherischen Tätigkeit von seinem Emile:

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200 uns über unsere Schwäche nicht zu beklagen haben 61. "0 Mensch, ziehe dein Dasein in dich zusammen und du wirst nicht mehr elend sein! Bleibe an der Stelle, die die Natur dir in der Kette der Wesen anweist und nichts wird dich herausbringen können! "62. einzige, der seinen Willen ins Werk setzt, ist derjenige, der nicht erst die Arme eines anderen an seine zu knüpfen braucht. Hieraus folgt, daß das erste aller Güter nicht und Ansehen, sondern Fr e i h e i t ist. Der wahrhaft freie Mann wIll nur das, was er kann, und tut, was ihm gefällt. Das ist mein Grundgrundsatz. Es kommt nur darauf an ihn auf die Kinder anzuwenden und alle .Regeln der Erziehung werden daraus fließen ••• Solange noch dIe urteile und die menschlichen Einrichtungen unsere naturhchen NeIgungen verhindert haben, die der Kinder wie der Erwachsenen im Gebrauche ihrer Freiheit ••• Wer da tut, was er will ist glücklich, wenn er sich selbst genug ist, in dem Falle lebte d;r Mensch im Stand der Natur... Die Kinder genießen im Stande der Natur nur einer unvollkommenen Freiheit, die derJenigen gleicht, deren die Erwachsenen in dem bürgerlichen Zustand genießen. Da jeder von uns der anderen nicht mehr kann, so wird er in dieser Hinsicht wieder schwach und elend. WIr waren geboren Männer zu sein; die Gesetze aber und die Gesellschaft haben uns in die Kindheit versetzt" 63. "Es gibt zweierlei von Abhängigkeit die von den Dingen vermittelst der Natur und dIe von den vermiteist der Gesellschaft. Da die von den Dingen keine Sittlichkeit hat, so schadet sie der FreIheit nicht und erzeugt keine Laster, die· Abhängigkeit von den Menschen dagegen ist ungeordnet und erzeugt sie alle. Durch sie der Herr und der Knecht einander gegenseitig. Nur das kann em Mittel sein diesem Übel in der Gesellschaft abzuhelfen, wenn man das Gesetz dem Menschen als Zugabe gibt und den allgemeir:en mit einer die Handlung jedes einzelnen Willens in der WIrkhchkeIt übersteigenden Stärke bewaffnet"64. . .. Mit dieser kurzen Zusammenstellung haben WIr emige der Grundlehren Rousseaus angedeutet, die sich in den Reflexionen dieses Themas widerspiegeln. Kant bekennt selber in der vielleicht stem der ganzen Sammlung, daß Rousseau - und es kann sIch hIer nur um dessen Emile handeln - €ine tiefgreifende innere Wandl:ung in seiner Einstellung zum Menschen herbeigeführt hat in dem Smr:, daß er, ein Forscher von Natur. der vorher die Menschen dend nach ihren intellektuellen Fähigkeiten gewertet und damit dIe überwältigende Mehrheit des ungebildeten Volkes verachte: hatte, nunmehr durch Rousseau überzeugt wurde, daß das gerade nicht den 61) 1bid. 62) Ibid. 63) 1bid. 64) lbid.

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eigentlichen Wert des Menschen ausmache, daß dieser vielmehr mit seinem Menschsein selber gegeben und daß deshalb jeder Mensch in erster Linie um dieses seines Menschseins willen zu schätzen sei (cf. 44,12). Gerade die Notizen über das Verhältnis der Künste und Wissenschaften zur grundlegenden Natur des Menschen enthüllen uns im einzelnen die Mo ti v e , die in Kant diese Wandlung herbeigeführt haben mögen. So V\'enn er etwa sagt: "Wenn etwas nicht der Dauer der Lebenszeit, nicht ihren Epochen, nicht dem großen Teil der Menschen angemessen ist, endlich gar sehr dem Zufalle unterworfen und nur schwerlich möglich ist, so gehört es njcht zu der Glückseligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Geschlechts. Wie viel Jahrhunderte sind verflossen, ehe ächte Wissenschaften waren und wie viel Nationen sind in der Welt, die sie niemals haben werden" (37,11). "Alle unrichtige Schätzung desjenigen, was nicht zu den Zwecken der Natur gehört, zerstört auch die schöne Harmonie der Natur. Dadurch daß man die Künste und die Wissenschaften so sehr wichtig hält, macht man diejenigen verächtlich, die sie nicht haben und bringt uns zu Ungerechtigkeiten, die wir nicht ausüben würden, wenn wir sie mehr als uns gleich ansähen" (37,5). Ferner: "Die Meinung von der Ungleichheit macht auch die Menschen ungleich. Nur die Lehre des HE. R. kann machen, daß auch der gelehrteste Philosoph sich mit seinem Wissen aufrichtig und ohne die Religion zu Hilfe zu nehmen nicht vor besser hält als den gemeinen Mann" (176,1). Der entscheidende Wert und das letzte Ziel der Wissenschaft kann infolgedessen dann nicht mehr in der Erkenntnis der Wahrheit als solcher bzw. in der theoretischen Spekulation liegen, sondern nur darin, daß sie den Menschen seine Bestimmung als Mensch und seine dieser Bestimmung entsprechende Aufgabe besser erkennen lehre (cf. 7;9; 7,14; 43,6; 114,15; 175,16; 175,21; 175, 26). Diese Wandlung, die sich in Kant unter der Einwirkung des Genfers vollzogen hat, war allerdings, was nicht übersehen werden darf, schon bis zu einem gewissen Grad durch seine bisherige Entwicklung vorbereitet, durch seine pietistische Kindheits- und Jugenderziehung , worauf neuerdings wieder Schilpp mit gutem Recht hingewie sen hat, aber auch durch seine Auseinandersetzung mit der Morallehre des Crusius und der Engländer, vor allem Hutchesons, und in der Tat kündigt sie sich bereits in etwa in den Schriften des Jahres 1762 an, aber die eigentliche Wende wurde eben doch erst durch die Begegnung mit Rousseau herbeigeführt, dessen mit Leidenschaft vorgetragene Lehre in ihm all diese Gedanken und Anregungen zu einem mächtigen Strom anwachsen ließ. Diese neue Einstellung zum Menschen und Leben brachte natürlich für ihn zugleich auch die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit seinem Beruf mit sich. Die Lösung konnte er fertig von Rousseau selbst übernehmen. Dieser sagt am Abschluß seiner erzieherischen Tätigkeit von seinem Emile:

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"Sein Augenmerk ist nicht das Bücherschreiben; und wenn er jemals solche schreibt, so wird es nicht geschehen, um den Mächtigen seine Aufwartung zu machen, s 0 n der n um die Re c h t e d e r Menschheit festzusetzen"65. So faßt nun auch Kant in Zukunft seinen Beruf als akademischer Lehrer und als Gelehrter auf: "Ich lerne die Menschen ehren und ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubete, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen" (44,13). In diesem Sinn aber ist für ihn der Stand des Gelehrten der überflüssigste, solange der Mensch im Zustand der Einfalt lebt, aber der notwendigste "im Stand der Unterdrückung durch Aberglauben und Gewalt" (10,18). Denn "wenn es irgend eine Wissenschaft gibt, deren der Mensch bedarf, so ist es die, so ihn lehret. die Stelle geziemend zu erfüllen, welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kann, was man sein muß um ein Mensch zu sein. Gesetzt, er hätte über oder unter sich täuschende Anlockungen kennen lernen (gelernt), die ihn unvermerkt aus seiner eigentümlichen Stelle gebracht haben, sowird ihn diese Unterweisung wiederum zum Stand des Menschen zurückführen, und er mag sich alsdann auch noch so klein oder mangelhaft finden. so wird er doch für seinen angewiesenen Posten recht gut sein. weil er gerade das ist. was er sein soll" (45,17). Was er aber mit diesen täuschenden Anlockungen meint, wird aus einer verwandten Reflexion deutlich, deren Rousseauscher Hintergrund ebenfalls unverkennbar ist: "Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu wissen, wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig erfülle und recht verstehe. was man sein muß, um ein Mensch zu seIn. Wenn er aber über oder unter sich Vergnügen kennen lernt, die ihm zwar schmeicheln, wozu er aber nicht organisiert ist und welche dem Zuschnitt der Einrichtung widerstreiten, welche die Natur ihm angemessen hat, wenn er sittliche Eigenschaften kennen lernt, die da schimmern, so wird er die schöne Ordnung der Natur stören, sich selbst und anderen nur das Verderben zu bereiten, denn er ist aus seinem Posten gewichen; denn da er sich nicht genügen läßt, das zu sein, wozu er bestimmt ist, da er außer dem Kreise eines Menschen herausrückt, so ist er nichts und die Lücke, die er macht, breitet sein eigen Verderben auf die benachbarten Glieder ausl! (41,19). ((Wir können andere Welten in der Entfernung sehen, aber die Schwere nötigt uns, auf der Erde zu bleiben. Wir können noch andere Vollkommenheiten der Geister über uns sehen, aber die Natur nötigt uns Menschen zu bleiben" (153,1). Welcher Art aber die Vergnügen bzw. die Eigenschaften und Tugenden sind, die ihm schmeicheln, für die er aber nach Kant nicht organisiert ist, sagen die folgenden Reflexionen aus: "Die richtige Erkenntnis des Weltbaues nach Newton ist vielleicht das schönste Produkt der vorwitzi65) Ibid. TI, 250.

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gen menschlichen Vernunft, indessen merkt Hume an, daß der Philosoph in diesem ergötzlichen Nachsinnen leichtlich durch ein kleines braunes Mägdchen kann gestört werden und daß die Regenten durch die Kleinheit der Erde gegen das Weltall nicht bewogen werden, ihre Eroberungen zu verachten. Die Ursache ist, weil es zwar schön, aber unnatürlich ist, sich außer dem Kreise. den uns der Himmel hier bestimmt hat, zu verlieren. Ebenso ist es auch mit den erhabenen Betrachtungen über den Himmel der Seligen" (120,12; cf. 30,10; 121,15). "Ich habe gar nicht den Ehrgeiz ein Seraph sein zu wollen, mein Stolz ist nur dieser, daß ich ein Mensch sei" (47,11). "Weil man sich einen Begriff von höheren Eigenschaften: Aufopferung fürs gemeine Beste, immerwährende Andacht, Erfüllung der ehelichen Absichten ohne Wollust, unmittelbare Neigung zu Wissenschaften ohne Ehre, machen kann, so bildet man sich ein. dieses alles sei dem S ta n d e ein e s lVI e n s c h e n angemessen und findet den Zustand, den man sieht, verderbt. Es sind aber dergleichen Begierden phantastisch und entwickeln sich aus eben den Quellen wie das allgemeine Verderben. Eben diese Mängel werden nicht mehr als tadelhaft in Ansehung der Menschen angesehen werden. wenn das übrige Verderben gehoben ist" (22,11). Hinsichtlich der Met ho d e der Bestimmung dessen, was zur eigentlichen und unverlierbaren Natur des Menschen gehört, stellt Kant einen gewissen Unterschied zwischen Rousseau und ihm selbst fest: "Der eine Satz ist schwer auszumachen: das liegt nicht oder es liegt in der Natur, d. i. die Natur hat dazu keine Triebe gegeben, sondern sie sind gekünstelt, keine solchen Gebrechen eingeartet , sondern sie sind zufällig erwachsen; der andere ist leichter: das stimmt nicht mit der Natur, d. h. das widerstreitet demjenigen, was wirklich in der Natur liegt; nach dem ersteren verfährt öfters Rousseau und weil die menschliche Natur jetzt eine so verödete Gestalt gewonnen hat, so werden die natürlichen Grundlagen zweifelhaft und unkenntlich (47,13). Kant will also offenbar mehr von dem ausgehen, was im gesitteten Menschen evident der Natur und dem. was in ihr liegt, w i der s pr ich t • um das der Natur Widersprechende des gesellschaftlichen Zustandes abzusondern und so die Grundzüge der ursprünglichen Einrichtung deutlich zu machen. während Rousseau von einer bestimmten Konzeption des natürlichen Menschen ausgeht und darzutun versucht, wie in dieser ursprünglich guten Natur durch die Einflüsse der Gesellschaft allmählich alles Verderben entsteht. "Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an" (14,5). Wie schwierig ihm auch dieses analytische Verfahren erscheint, sagt er in einer anderen Reflexion, die sich fast heraklitisch anhört: "Alles geht in einem Fluß vor uns vorbei und der wandelbare Geschmack und die verschiedenen Gestalten des Menschen machen das ganze Spiel ungewiß und trüglich. Wo finde ich feste Punkte der Natur, die

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"Sein Augenmerk ist nicht das Bücherschreiben; und wenn er jemals solche schreibt, so wird es nicht geschehen, um den Mächtigen seine Aufwartung zu machen, s 0 n der n um die Re c h t e d e r Menschheit festzusetzen"65. So faßt nun auch Kant in Zukunft seinen Beruf als akademischer Lehrer und als Gelehrter auf: "Ich lerne die Menschen ehren und ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubete, daß diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könne, die Rechte der Menschheit herzustellen" (44,13). In diesem Sinn aber ist für ihn der Stand des Gelehrten der überflüssigste, solange der Mensch im Zustand der Einfalt lebt, aber der notwendigste "im Stand der Unterdrückung durch Aberglauben und Gewalt" (10,18). Denn "wenn es irgend eine Wissenschaft gibt, deren der Mensch bedarf, so ist es die, so ihn lehret. die Stelle geziemend zu erfüllen, welche ihm in der Schöpfung angewiesen ist und aus der er lernen kann, was man sein muß um ein Mensch zu sein. Gesetzt, er hätte über oder unter sich täuschende Anlockungen kennen lernen (gelernt), die ihn unvermerkt aus seiner eigentümlichen Stelle gebracht haben, sowird ihn diese Unterweisung wiederum zum Stand des Menschen zurückführen, und er mag sich alsdann auch noch so klein oder mangelhaft finden. so wird er doch für seinen angewiesenen Posten recht gut sein. weil er gerade das ist. was er sein soll" (45,17). Was er aber mit diesen täuschenden Anlockungen meint, wird aus einer verwandten Reflexion deutlich, deren Rousseauscher Hintergrund ebenfalls unverkennbar ist: "Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu wissen, wie er seine Stelle in der Schöpfung gehörig erfülle und recht verstehe. was man sein muß, um ein Mensch zu seIn. Wenn er aber über oder unter sich Vergnügen kennen lernt, die ihm zwar schmeicheln, wozu er aber nicht organisiert ist und welche dem Zuschnitt der Einrichtung widerstreiten, welche die Natur ihm angemessen hat, wenn er sittliche Eigenschaften kennen lernt, die da schimmern, so wird er die schöne Ordnung der Natur stören, sich selbst und anderen nur das Verderben zu bereiten, denn er ist aus seinem Posten gewichen; denn da er sich nicht genügen läßt, das zu sein, wozu er bestimmt ist, da er außer dem Kreise eines Menschen herausrückt, so ist er nichts und die Lücke, die er macht, breitet sein eigen Verderben auf die benachbarten Glieder ausl! (41,19). ((Wir können andere Welten in der Entfernung sehen, aber die Schwere nötigt uns, auf der Erde zu bleiben. Wir können noch andere Vollkommenheiten der Geister über uns sehen, aber die Natur nötigt uns Menschen zu bleiben" (153,1). Welcher Art aber die Vergnügen bzw. die Eigenschaften und Tugenden sind, die ihm schmeicheln, für die er aber nach Kant nicht organisiert ist, sagen die folgenden Reflexionen aus: "Die richtige Erkenntnis des Weltbaues nach Newton ist vielleicht das schönste Produkt der vorwitzi65) Ibid. TI, 250.

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gen menschlichen Vernunft, indessen merkt Hume an, daß der Philosoph in diesem ergötzlichen Nachsinnen leichtlich durch ein kleines braunes Mägdchen kann gestört werden und daß die Regenten durch die Kleinheit der Erde gegen das Weltall nicht bewogen werden, ihre Eroberungen zu verachten. Die Ursache ist, weil es zwar schön, aber unnatürlich ist, sich außer dem Kreise. den uns der Himmel hier bestimmt hat, zu verlieren. Ebenso ist es auch mit den erhabenen Betrachtungen über den Himmel der Seligen" (120,12; cf. 30,10; 121,15). "Ich habe gar nicht den Ehrgeiz ein Seraph sein zu wollen, mein Stolz ist nur dieser, daß ich ein Mensch sei" (47,11). "Weil man sich einen Begriff von höheren Eigenschaften: Aufopferung fürs gemeine Beste, immerwährende Andacht, Erfüllung der ehelichen Absichten ohne Wollust, unmittelbare Neigung zu Wissenschaften ohne Ehre, machen kann, so bildet man sich ein. dieses alles sei dem S ta n d e ein e s lVI e n s c h e n angemessen und findet den Zustand, den man sieht, verderbt. Es sind aber dergleichen Begierden phantastisch und entwickeln sich aus eben den Quellen wie das allgemeine Verderben. Eben diese Mängel werden nicht mehr als tadelhaft in Ansehung der Menschen angesehen werden. wenn das übrige Verderben gehoben ist" (22,11). Hinsichtlich der Met ho d e der Bestimmung dessen, was zur eigentlichen und unverlierbaren Natur des Menschen gehört, stellt Kant einen gewissen Unterschied zwischen Rousseau und ihm selbst fest: "Der eine Satz ist schwer auszumachen: das liegt nicht oder es liegt in der Natur, d. i. die Natur hat dazu keine Triebe gegeben, sondern sie sind gekünstelt, keine solchen Gebrechen eingeartet , sondern sie sind zufällig erwachsen; der andere ist leichter: das stimmt nicht mit der Natur, d. h. das widerstreitet demjenigen, was wirklich in der Natur liegt; nach dem ersteren verfährt öfters Rousseau und weil die menschliche Natur jetzt eine so verödete Gestalt gewonnen hat, so werden die natürlichen Grundlagen zweifelhaft und unkenntlich (47,13). Kant will also offenbar mehr von dem ausgehen, was im gesitteten Menschen evident der Natur und dem. was in ihr liegt, w i der s pr ich t • um das der Natur Widersprechende des gesellschaftlichen Zustandes abzusondern und so die Grundzüge der ursprünglichen Einrichtung deutlich zu machen. während Rousseau von einer bestimmten Konzeption des natürlichen Menschen ausgeht und darzutun versucht, wie in dieser ursprünglich guten Natur durch die Einflüsse der Gesellschaft allmählich alles Verderben entsteht. "Rousseau verfährt synthetisch und fängt vom natürlichen Menschen an, ich verfahre analytisch und fange vom gesitteten an" (14,5). Wie schwierig ihm auch dieses analytische Verfahren erscheint, sagt er in einer anderen Reflexion, die sich fast heraklitisch anhört: "Alles geht in einem Fluß vor uns vorbei und der wandelbare Geschmack und die verschiedenen Gestalten des Menschen machen das ganze Spiel ungewiß und trüglich. Wo finde ich feste Punkte der Natur, die

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der Mensch niemals verrücken kann und ihm die Merkzeichen geben, an welches Ufer er sich zu halten hat? (46,11), Doch glaubt er an anderen Stellen gewisse Kr i te r i e n aufstellen zu können, nach denen man das der Natur des Menschen Wesenseigene von dem ihr zufällig (aus dem gesellschaftlichen Zustand) Anhaftenden unterscheiden kann: "Zwei Probiersteine des Unterschiedes des Natürlichen vom Unnatürlichen 1) ob es demjenigen, was man nicht verändern kann, angemessen sei; 2) ob es allen Menschen könne gemein sein oder nur wenigen mit Unterdrückung der übrigen" (35,1), Oder: "Wenn etwas nicht der Dauer der Lebenszeit, nicht ihren Epochen, nicht dem großen Teil der Menschen angemessen ist, endlich gar sehr dem Zufall unterworfen und nur schwerlich möglich ist, so gehört es nicht zur Glückseligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Geschlechtes (37,11), Und schließlich: "Was uns das Leben verächtlich oder verhaßt macht, das liegt nicht in der Natur, was das Laster leicht und die Tugend schwer macht, das liegt nicht in der Natur" (45,6; cf. 60,7), Nach diesen Regeln ergibt sich ganz im Sinne Rousseaus, daß "Kunst und Wissenschaft, Zierlichkeit und gesittete Verfassung" nicht zur Natur des Menschen als solcher gehören können, sondern ihr zufällig sein müssen (cf. 31,13). In einern weiteren Punkt stimmt er auf Grund dieser Regeln mit Rousseau überein: daß alles was der Fr e i he i t w i der s t re i te t oder sie aufhebt der Natur des Menschen entgegen sei. "Der Mensch hat seine eigenen Neigungen und vermöge seiner Willkür einen Wink der Natur, seine Handlungen diesen zu Folge zu richten. Es kann nun nichts entsetzlicher sein als daß die Handlung eines Menschen unter dem Willen eines anderen stehen soll. Daher kann kein Abscheu natürlicher sein als den ein Mensch gegen die Knechtschaft hat" (88,3), "Der Mensch hängt von vielen äußern Dingen ab, er mag sich befinden in welchem Zustand er wolle. Er hängt jederzeit durch seine Bedürfnisse an einigen, durch seine Lüsternheit an anderen Dingen, und indem er wohl der Verweser der Natur, aber nicht ihr Meister ist, so muß er sich dem Zwang derselben bequemen, weil er nicht findet, daß sie sich immer nach seinen Wünschen bequemen will. Was aber weit härter und unnatürlicher ist als dieses Joch der Notwendigkeit, das ist die Unterwürfigkeit eines Menschen unter den Willen eines anderen Menschen. Es ist kein Unglück, das demjenigen, der der Freiheit gewohnt wäre, das Gut der Freiheit genossen habe, erschrecklicher sein könnte als sich einem Geschöpfe von seiner Art überliefert zu sehen, das ihn zwingen könnte (sich seines eigenen Willens zu begeben) das zu tun was er wilL. Es gehört auch eine sehr lange Gewohnheit dazu, den schrecklichen Gedanken der Dienstbarkeit leidlicher zu machen, denn jedermann muß es in sich empfinden, daß wenn es gleich viele Ungemächlichkeit, gibt, die man nicht immer mit Gefahr des Lebens abzuwerfen Lust haben möchte, dennoch kein

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Bedenken stattfinden würde, in der Wahl zwischen Sklaverei und Tod die Gefahr des letzteren vorzuziehen.,. Allein der Wille eines jede.n Menschen ist die Wirkung seiner eigenen Triebe, Neigungen und st1mmet nur mit seiner wahren oder eingebildeten Wohlfahrt zusammen. Nichts kann aber, wenn ich vorher frei war mir einen gräßlicheren Prospekt von Gram und Verzweiflung eröffnen als daß künftighin mein Zustand nicht soll in meinem, sondern in eines anderen Willen gelegt sein ••• Es ist in der Unterwürfigkeit nicht allein etwas äußeres Gefährliches, sondern noch eine gewisse Häßlichkeit der zugleich seine Unrechtmäßigkeit anzeigt. Ern T1er 1St noch nicht ein kompletes Wesen, weil es sich seiner selbst nicht bewußt ist und seinem Triebe und Neigungen mag nun durch einen widerstanden werden oder nicht, so empfindet es wohl sein Ubel, aber es ist jeden Augenblick vor ihm verschwunden ,und es weiß nicht von seinem eigenen Dasein. Daß der Mensch selbst aber gleichsam keiner Seele bedürfen und keinen eigenen Willen haben soll und daß eine andere Seele meine Gliedmaßen bewegen das, is: ungereimt und verkehrt, Auch in unseren Verfassungen 1St uns ern Jeder Mensch verächtlich, der in einem großen Grad unterworfen ist - Liverey - Anstatt daß die Freiheit mich schiene über das Vieh zu erheben, so setzet sie mich noch unter dasselbe denn ich kann besser gezwungen werden, - Ein solcher ist vor sich nichts als ein Hausgeräte eines anderen. Ich könnte eben so wohl den Stiefeln des Herrn eine Hochachtung bezeigen als seinem Lakai. Kur z der M e n s c h, der da ab h ä n g t, ist n ich t mehr ein Mensch, er hat diesen Rang verloren er ist ni c h t sau ß e r ein Zu b e hör ein e san der e n M'e n _ sc h e n •• , Dieses Gefühl ist sehr natürlich, aber man kann es auch sehr schwächen, Die Macht anderen Übeln zu widerstehen kann so klein werden, daß die Sklaverei ein kleineres Übel scheint als die Ungemächlichkeit, Dennoch ist es gewiß, daß es in der menschlichen Natur oben anstehe (91,10-94,17), Hier begegnet uns also der Rousseausche Grundgedanke, daß di,," Sklaverei als der totale Verlust der Freiheit den Verlust des Ranges eines Menschen notwendig im Gefolge hat. Bei Rousseau .heißt es im Emile: "Jetzt kämen wir auf das Recht der Knechtschaft und untersuchen, ob ein Mensch sich rechtmäßigerweise einem deren ohne Einschränkung, ohne Vorbehalt, ohne irgendeine Art von Bedingung veräußern könne. D. h. ob er seiner Person, seinem Leben, seiner Vernunft, seinem Ich, aller Moralität in seinen Handlungen entsagen - und mit einem Wort, vor seinem Tod aufhören könn,e da zu sein: der Natur zum Trotz, die ihm seine Erhaltung als unmlttelbare Pfhcht auferlegt, seinem Gewissen und seiner Vernunft zum Trotz, die ihm vorschreiben, ,vas er tun und wovon er sich enthalten sol1"66. " "Es haben daher die Rechtsverständigen, welche 66) lbid, ll, 251 f.; cf, 581 ff.

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der Mensch niemals verrücken kann und ihm die Merkzeichen geben, an welches Ufer er sich zu halten hat? (46,11), Doch glaubt er an anderen Stellen gewisse Kr i te r i e n aufstellen zu können, nach denen man das der Natur des Menschen Wesenseigene von dem ihr zufällig (aus dem gesellschaftlichen Zustand) Anhaftenden unterscheiden kann: "Zwei Probiersteine des Unterschiedes des Natürlichen vom Unnatürlichen 1) ob es demjenigen, was man nicht verändern kann, angemessen sei; 2) ob es allen Menschen könne gemein sein oder nur wenigen mit Unterdrückung der übrigen" (35,1), Oder: "Wenn etwas nicht der Dauer der Lebenszeit, nicht ihren Epochen, nicht dem großen Teil der Menschen angemessen ist, endlich gar sehr dem Zufall unterworfen und nur schwerlich möglich ist, so gehört es nicht zur Glückseligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Geschlechtes (37,11), Und schließlich: "Was uns das Leben verächtlich oder verhaßt macht, das liegt nicht in der Natur, was das Laster leicht und die Tugend schwer macht, das liegt nicht in der Natur" (45,6; cf. 60,7), Nach diesen Regeln ergibt sich ganz im Sinne Rousseaus, daß "Kunst und Wissenschaft, Zierlichkeit und gesittete Verfassung" nicht zur Natur des Menschen als solcher gehören können, sondern ihr zufällig sein müssen (cf. 31,13). In einern weiteren Punkt stimmt er auf Grund dieser Regeln mit Rousseau überein: daß alles was der Fr e i he i t w i der s t re i te t oder sie aufhebt der Natur des Menschen entgegen sei. "Der Mensch hat seine eigenen Neigungen und vermöge seiner Willkür einen Wink der Natur, seine Handlungen diesen zu Folge zu richten. Es kann nun nichts entsetzlicher sein als daß die Handlung eines Menschen unter dem Willen eines anderen stehen soll. Daher kann kein Abscheu natürlicher sein als den ein Mensch gegen die Knechtschaft hat" (88,3), "Der Mensch hängt von vielen äußern Dingen ab, er mag sich befinden in welchem Zustand er wolle. Er hängt jederzeit durch seine Bedürfnisse an einigen, durch seine Lüsternheit an anderen Dingen, und indem er wohl der Verweser der Natur, aber nicht ihr Meister ist, so muß er sich dem Zwang derselben bequemen, weil er nicht findet, daß sie sich immer nach seinen Wünschen bequemen will. Was aber weit härter und unnatürlicher ist als dieses Joch der Notwendigkeit, das ist die Unterwürfigkeit eines Menschen unter den Willen eines anderen Menschen. Es ist kein Unglück, das demjenigen, der der Freiheit gewohnt wäre, das Gut der Freiheit genossen habe, erschrecklicher sein könnte als sich einem Geschöpfe von seiner Art überliefert zu sehen, das ihn zwingen könnte (sich seines eigenen Willens zu begeben) das zu tun was er wilL. Es gehört auch eine sehr lange Gewohnheit dazu, den schrecklichen Gedanken der Dienstbarkeit leidlicher zu machen, denn jedermann muß es in sich empfinden, daß wenn es gleich viele Ungemächlichkeit, gibt, die man nicht immer mit Gefahr des Lebens abzuwerfen Lust haben möchte, dennoch kein

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Bedenken stattfinden würde, in der Wahl zwischen Sklaverei und Tod die Gefahr des letzteren vorzuziehen.,. Allein der Wille eines jede.n Menschen ist die Wirkung seiner eigenen Triebe, Neigungen und st1mmet nur mit seiner wahren oder eingebildeten Wohlfahrt zusammen. Nichts kann aber, wenn ich vorher frei war mir einen gräßlicheren Prospekt von Gram und Verzweiflung eröffnen als daß künftighin mein Zustand nicht soll in meinem, sondern in eines anderen Willen gelegt sein ••• Es ist in der Unterwürfigkeit nicht allein etwas äußeres Gefährliches, sondern noch eine gewisse Häßlichkeit der zugleich seine Unrechtmäßigkeit anzeigt. Ern T1er 1St noch nicht ein kompletes Wesen, weil es sich seiner selbst nicht bewußt ist und seinem Triebe und Neigungen mag nun durch einen widerstanden werden oder nicht, so empfindet es wohl sein Ubel, aber es ist jeden Augenblick vor ihm verschwunden ,und es weiß nicht von seinem eigenen Dasein. Daß der Mensch selbst aber gleichsam keiner Seele bedürfen und keinen eigenen Willen haben soll und daß eine andere Seele meine Gliedmaßen bewegen das, is: ungereimt und verkehrt, Auch in unseren Verfassungen 1St uns ern Jeder Mensch verächtlich, der in einem großen Grad unterworfen ist - Liverey - Anstatt daß die Freiheit mich schiene über das Vieh zu erheben, so setzet sie mich noch unter dasselbe denn ich kann besser gezwungen werden, - Ein solcher ist vor sich nichts als ein Hausgeräte eines anderen. Ich könnte eben so wohl den Stiefeln des Herrn eine Hochachtung bezeigen als seinem Lakai. Kur z der M e n s c h, der da ab h ä n g t, ist n ich t mehr ein Mensch, er hat diesen Rang verloren er ist ni c h t sau ß e r ein Zu b e hör ein e san der e n M'e n _ sc h e n •• , Dieses Gefühl ist sehr natürlich, aber man kann es auch sehr schwächen, Die Macht anderen Übeln zu widerstehen kann so klein werden, daß die Sklaverei ein kleineres Übel scheint als die Ungemächlichkeit, Dennoch ist es gewiß, daß es in der menschlichen Natur oben anstehe (91,10-94,17), Hier begegnet uns also der Rousseausche Grundgedanke, daß di,," Sklaverei als der totale Verlust der Freiheit den Verlust des Ranges eines Menschen notwendig im Gefolge hat. Bei Rousseau .heißt es im Emile: "Jetzt kämen wir auf das Recht der Knechtschaft und untersuchen, ob ein Mensch sich rechtmäßigerweise einem deren ohne Einschränkung, ohne Vorbehalt, ohne irgendeine Art von Bedingung veräußern könne. D. h. ob er seiner Person, seinem Leben, seiner Vernunft, seinem Ich, aller Moralität in seinen Handlungen entsagen - und mit einem Wort, vor seinem Tod aufhören könn,e da zu sein: der Natur zum Trotz, die ihm seine Erhaltung als unmlttelbare Pfhcht auferlegt, seinem Gewissen und seiner Vernunft zum Trotz, die ihm vorschreiben, ,vas er tun und wovon er sich enthalten sol1"66. " "Es haben daher die Rechtsverständigen, welche 66) lbid, ll, 251 f.; cf, 581 ff.

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gar er,nstlich festsetzten, daß das Kind eines Sklaven als Sklave geboren werde, mit anderen Worten dekretiert, daß ein Me n s c h nicht als ein Mensch geboren werde"67 ••• Seiner Freiheit entsagen heißt seiner Eigenschaft als Mensch entsagen. Es ist nicht möglich eine Entschädigung für denjenigen zu finden, welcher auf alles Verzicht leistet. Eine solche Verzichtleistung ist schlechterdings unverträglich mit der menschlichen Natur; es heißt sich aller Moralität seiner Handlungen begeben, wenn man sich aller Freiheit seines Willens begibt" 68 • Ja, Rousseau denkt diesen Gedanken bereits radikal 'Zu Ende, wenn er in seiner Abhandlung über den 'Ursprung der Ungleichheit' in der Freiheit das eigentliche me ta p h Y s i sc h eWe sen des Menschen als eines geistigen Seins und das ihn spezifisch vom Tier Unterscheidende erblickt: "Jedes Tier hat Vorstellungen. weil es Sinne hat. es kombiniert sogar bis zu einem gewissen Grad seine Vorstellungen. und in dieser Hinsicht unterscheidet der Mensch sich von demselben nur durch ein Mehr oder Weniger. Manche Philosophen haben sogar behauptet, daß zwischen gewissen einzelnen Menschen ein größerer Unterschied stattfinde al.s zwischen manchem einzelnen Menschen und manchem einzelnen Tiere. Es ist also nicht sowohl der Verstand, was den Hauptunterschied zwischen Menschen und Tier begründet, sondern vielmehr dessen Eigenschaft als frei handelndes Wesen ••• Hauptsächlich in dem Bewußtsein dieser Freiheit zeigt sich das Geistige der Menschenseele. Der Mechanismus der Sinne und die Bildung der Vorstellungen können gewissermaßen physisch erklärt werden; aber in dem Vermögen zu wollen oder vielmehr zu wählen, findet man bloß geistige Akte und es findet kein einziger von ihnen aus den Gesetzen der Mechanik seine Erklärung" 69. Für Rousseau ist also die Freiheit das G run d wes e n und zugleich der G run d wer t der menschlichen Natur und darum ist sie auch das Ziel seiner Erziehung, die den Menschen zu seinem wahren Wesen führen soll: die Erziehung soll ihn frei machen von der äußeren Abhängigkeit von Menschen, wie sie die gesellschaftliche Kultur nur zu sehr fördert, vor allem aber von der Abhängigkeit vom Wahn und der Meinung der anderen wie der von den eigenen Neigungen und Leidenschaften. Kant hat dieses Ziel der Rousseauschen Erziehung klar erfaßt: "Die Hauptabsicht des Rousseau ist, daß die Erziehung frei sei und auch einen freien Menschen mache" (167,3). Auch er sieht die wesentliche Bestimmung des Menschen in der Richtung auf seine innere Freiheit vor allem von der Herrschaft der Neigungen und des Wahnes ganz im Sinne des Genfers: "Der Verlust der Frei-" heit gründet sich entweder auf der Anhänglichkeit oder der Unterwürfigkeit. Im ersten Falle wird man beherrscht vermittelst seiner 67) Ibid. I. 120. 68) 1bid. H. 582. 69) 1bid. I. 89 f.

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Neigung (entweder zu Sachen oder zu Menschen wie in der Liebe und Freundschaft Elternliebe) oder wider seine Neigung (im 2. Falle). Jene ist eine Folge der weichlichen Üppigkeit, diese aber der furchtsamen Feigheit und ist eine Folge der ersten" (164,17). Oder unmittelbar vorher: "Die Sklaverei ist entweder die der Gewalt oder der Verblendung. Die letztere beruhet entweder auf der Abhängigkeit von Sachen (Üppigkeit) oder vom Wahn anderer Menschen (Eitelkeit). Die letztere ist ungereimter und auch härter als die erstere, weil die Sachen weit eher in meiner Gewalt sind als die Meinungen anderer und es auch verächtlicher ist •• (164,12). In diesem Sinn hatte er schon an einer früheren Stelle von dem s c h wer e n J 0 c h der Meinung gesprochen. das jeder fühle und keiner abschaffe (9,6). Die Unabhängigkeit von den Leidenschaften im eigenen Inneren und von dem Wahn und der Eitelkeit des gesellschaftlichen Menschen ist nach Kant auch das, was den Menschen wahrhaft gl ü c k li c h macht; denn die Freiheit im eigentlichen Verstand, nämlich die moralische. nicht die metaphysische, ist ihm das oberste Prinzipium nicht nur aller Tugend, sondern auch aller Glückseligkeit (cf. 31,10). In diesem Sinn "ist es nicht zur Glückseligkeit zuträglich, die Neigungen bis zur Üppigkeit zu erweitern, denn weil es ungemein viele Fälle gibt, da die Umstände diesen Neigungen nicht günstig sind gegen einen erwünschten Fall, so machen sie eine Quelle von Verdruß, Gram und Sorgen, davon der einfältige Mensch nichts weiß" (45,11). Daraus folgt aber, daß der Mensch selber schuld ist an seinem Unglück, wenn er seinen Posten und seine Stelle verläßt, die ihm durch seine Natur von der Vorsehung angewiesen ist, wie es in so Umfang im Zustand der Gesittung geschieht. Damit aber ist die Vorsehung gerechtfertigt, die nun keine Schuld trifft an dem Übel und der Unordnung der Menschen: "Die Vorsehung ist darin vornehmlich zu preisen, daß sie mit der Menschen ihrem jetzigen Zustand sehr wohl zusammenstimmt, nämlich daß ihre läppischen Wünsche nicht der Direktion entsprechen, daß sie für ihre Torheiten leiden und mit dem aus der Ordnung der Natur getretenen Menschen nichts harmonieren will. Sehen wir die Bedürfnisse der Tiere, der Pflanzen an, mit diesen stimmt die Vorsehung. Es wäre sehr verkehrt, wenn die göttliche Regierung nach dem Wahne der Menschen, so wie er sich ändert, die Ordnung der Dinge ändern sollte. Es ist eben so natürlich, daß, so fern er davon abgeht, ihm nach seinen ausgearteten Neigungen alles müsse verkehrt zu sein scheinen'! (57,22 cf. 68, 17). Damit aber ist die göttliche Vorsehung durch Rousseaus Lehre von der an sich guten Menschennatur , die nur durch die eigene Schuld verderbt werden kann, ebenso gegenüber dem Vorwurf des Manes gerechtfertigt wie durch Newtons Physik gegen den Vorwurf des Alp h 0 n s u s: "Newton sahe zu allererst Ordnung und Regelmäßigkeit mit großer Einfalt verbunden, wo vor ihm Unordnung und schlimm gepaarte Mannigfaltigkeit anzutreffen war und seit dem

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gar er,nstlich festsetzten, daß das Kind eines Sklaven als Sklave geboren werde, mit anderen Worten dekretiert, daß ein Me n s c h nicht als ein Mensch geboren werde"67 ••• Seiner Freiheit entsagen heißt seiner Eigenschaft als Mensch entsagen. Es ist nicht möglich eine Entschädigung für denjenigen zu finden, welcher auf alles Verzicht leistet. Eine solche Verzichtleistung ist schlechterdings unverträglich mit der menschlichen Natur; es heißt sich aller Moralität seiner Handlungen begeben, wenn man sich aller Freiheit seines Willens begibt" 68 • Ja, Rousseau denkt diesen Gedanken bereits radikal 'Zu Ende, wenn er in seiner Abhandlung über den 'Ursprung der Ungleichheit' in der Freiheit das eigentliche me ta p h Y s i sc h eWe sen des Menschen als eines geistigen Seins und das ihn spezifisch vom Tier Unterscheidende erblickt: "Jedes Tier hat Vorstellungen. weil es Sinne hat. es kombiniert sogar bis zu einem gewissen Grad seine Vorstellungen. und in dieser Hinsicht unterscheidet der Mensch sich von demselben nur durch ein Mehr oder Weniger. Manche Philosophen haben sogar behauptet, daß zwischen gewissen einzelnen Menschen ein größerer Unterschied stattfinde al.s zwischen manchem einzelnen Menschen und manchem einzelnen Tiere. Es ist also nicht sowohl der Verstand, was den Hauptunterschied zwischen Menschen und Tier begründet, sondern vielmehr dessen Eigenschaft als frei handelndes Wesen ••• Hauptsächlich in dem Bewußtsein dieser Freiheit zeigt sich das Geistige der Menschenseele. Der Mechanismus der Sinne und die Bildung der Vorstellungen können gewissermaßen physisch erklärt werden; aber in dem Vermögen zu wollen oder vielmehr zu wählen, findet man bloß geistige Akte und es findet kein einziger von ihnen aus den Gesetzen der Mechanik seine Erklärung" 69. Für Rousseau ist also die Freiheit das G run d wes e n und zugleich der G run d wer t der menschlichen Natur und darum ist sie auch das Ziel seiner Erziehung, die den Menschen zu seinem wahren Wesen führen soll: die Erziehung soll ihn frei machen von der äußeren Abhängigkeit von Menschen, wie sie die gesellschaftliche Kultur nur zu sehr fördert, vor allem aber von der Abhängigkeit vom Wahn und der Meinung der anderen wie der von den eigenen Neigungen und Leidenschaften. Kant hat dieses Ziel der Rousseauschen Erziehung klar erfaßt: "Die Hauptabsicht des Rousseau ist, daß die Erziehung frei sei und auch einen freien Menschen mache" (167,3). Auch er sieht die wesentliche Bestimmung des Menschen in der Richtung auf seine innere Freiheit vor allem von der Herrschaft der Neigungen und des Wahnes ganz im Sinne des Genfers: "Der Verlust der Frei-" heit gründet sich entweder auf der Anhänglichkeit oder der Unterwürfigkeit. Im ersten Falle wird man beherrscht vermittelst seiner 67) Ibid. I. 120. 68) 1bid. H. 582. 69) 1bid. I. 89 f.

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Neigung (entweder zu Sachen oder zu Menschen wie in der Liebe und Freundschaft Elternliebe) oder wider seine Neigung (im 2. Falle). Jene ist eine Folge der weichlichen Üppigkeit, diese aber der furchtsamen Feigheit und ist eine Folge der ersten" (164,17). Oder unmittelbar vorher: "Die Sklaverei ist entweder die der Gewalt oder der Verblendung. Die letztere beruhet entweder auf der Abhängigkeit von Sachen (Üppigkeit) oder vom Wahn anderer Menschen (Eitelkeit). Die letztere ist ungereimter und auch härter als die erstere, weil die Sachen weit eher in meiner Gewalt sind als die Meinungen anderer und es auch verächtlicher ist •• (164,12). In diesem Sinn hatte er schon an einer früheren Stelle von dem s c h wer e n J 0 c h der Meinung gesprochen. das jeder fühle und keiner abschaffe (9,6). Die Unabhängigkeit von den Leidenschaften im eigenen Inneren und von dem Wahn und der Eitelkeit des gesellschaftlichen Menschen ist nach Kant auch das, was den Menschen wahrhaft gl ü c k li c h macht; denn die Freiheit im eigentlichen Verstand, nämlich die moralische. nicht die metaphysische, ist ihm das oberste Prinzipium nicht nur aller Tugend, sondern auch aller Glückseligkeit (cf. 31,10). In diesem Sinn "ist es nicht zur Glückseligkeit zuträglich, die Neigungen bis zur Üppigkeit zu erweitern, denn weil es ungemein viele Fälle gibt, da die Umstände diesen Neigungen nicht günstig sind gegen einen erwünschten Fall, so machen sie eine Quelle von Verdruß, Gram und Sorgen, davon der einfältige Mensch nichts weiß" (45,11). Daraus folgt aber, daß der Mensch selber schuld ist an seinem Unglück, wenn er seinen Posten und seine Stelle verläßt, die ihm durch seine Natur von der Vorsehung angewiesen ist, wie es in so Umfang im Zustand der Gesittung geschieht. Damit aber ist die Vorsehung gerechtfertigt, die nun keine Schuld trifft an dem Übel und der Unordnung der Menschen: "Die Vorsehung ist darin vornehmlich zu preisen, daß sie mit der Menschen ihrem jetzigen Zustand sehr wohl zusammenstimmt, nämlich daß ihre läppischen Wünsche nicht der Direktion entsprechen, daß sie für ihre Torheiten leiden und mit dem aus der Ordnung der Natur getretenen Menschen nichts harmonieren will. Sehen wir die Bedürfnisse der Tiere, der Pflanzen an, mit diesen stimmt die Vorsehung. Es wäre sehr verkehrt, wenn die göttliche Regierung nach dem Wahne der Menschen, so wie er sich ändert, die Ordnung der Dinge ändern sollte. Es ist eben so natürlich, daß, so fern er davon abgeht, ihm nach seinen ausgearteten Neigungen alles müsse verkehrt zu sein scheinen'! (57,22 cf. 68, 17). Damit aber ist die göttliche Vorsehung durch Rousseaus Lehre von der an sich guten Menschennatur , die nur durch die eigene Schuld verderbt werden kann, ebenso gegenüber dem Vorwurf des Manes gerechtfertigt wie durch Newtons Physik gegen den Vorwurf des Alp h 0 n s u s: "Newton sahe zu allererst Ordnung und Regelmäßigkeit mit großer Einfalt verbunden, wo vor ihm Unordnung und schlimm gepaarte Mannigfaltigkeit anzutreffen war und seit dem

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laufen Kometen in geometrischen Bahnen - Rousseau entdeckte zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur desselben und das versteckte Gesetz, nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird. Vor dem galt noch der Einwurf des Alphonsus und Manes. Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt und nunmehr ist Popens Lehrsatz wahr" (daß unsere Welt die denkbar beste ist) (58,12-59,3): das sind ganz die Gedanken, die auch der Rousseausche Vikar in seinem Glaubensbekenntnisse entwickelt 70.

e)

Die menschliche Natur im ursprünglichen Zustand und im Zustand der gesellschaftlichen Kultur

Alle von Kant in den Bemerkul'lgen behandelten Themen sind hineingestellt in die Rousseausche Grundkonzeption des Gegensatzes zwischen dem Naturzustand und dem Zustand der Gesittung, d. h. der gesellschaftlichen Kultur. Eine große Anzahl dieser Reflexionen kann nun diesem Thema direkt zugeordnet werden, insofern in ihnen die Sittlichkeit bzw. Vollkommenheit und die Glückseligk ei t der menschlichen Natur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird. Daß in dieser Themengruppe sich der Einfluß Rousseaus unmittelbar durchsetzt, liegt auf der Hand. Hierher gehören zunächst jene Notizen, die sich auf den Natu r z u s t a n d des Menschen beziehen. Als solcher wird wie bei Rousseau der von der gesellschaftlichen Kultur noch unbeeinflußte Zustand bezeichnet, in welchem die Natur den Menschen hervorbringt, der also sowohl beim Primitiven wie auch bei jedem neugeborenen Kind verwirklicht ist. "Denn niemals schafft die Natur einen Menschen zum Bürger und seine Neigungen, seine Bestrebungen sind bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abgezielt" (31, 22). Darum geht es gerade in der Bestimmung des Naturzustandes: als was die Natur den Menschen schafft. Gleich am Anfang der Bemerkungen finden wir eine Reflexion über das, was den Me n s c he n der Na tu r entscheidend kennzeichnet: "Die Begierden, welche dem Menschen durch seine Natur notwendig sind, sind natürliche Begierden. Der Mensch, der keine anderen Begierden und nicht in einem höheren Grad hat als durch die natürlichen notwendig ist,heißt der Mensch der Natur und seine Fähigkeit durch das wenige befdedigt zu werden, ist die Genugsamkeit der Natur ••• Die Menge der Erkenntnisse und andere Vollkommenheiten, die zur Befriedigung der Natur erfordert werden, ist die Einfalt der Natur. Der Mensch, an welchem sowohl Einfalt als Genugsamkeit der Natur angetroffen wird, ist der Mensch der Natur. Derjenige, so hat mehr begehren lernen als was durch die Natur notwendig ist, ist üppig" (5,21-6,11). 70) 1bid. II, 72 f. ; 69.

Nach Rousseau ist das, was die Natur schafft gut, alles sittliche und physische Verderben kommt erst durch den Einfluß der Gesellschaft, und das ganze Problem der Erziehung besteht darin, die an sich guten Anlagen des Menschen zu entwickeln, 'anzubauen' und diese Entwicklung von den schädigenden Einflüssen der Gesellschaft zu bewahren bzw. sie so stark zu machen, daß sie durch diese nicht mehr in eine falsche Richtung gelenkt werden können 71. Kant übernimmt im Prinzip durchaus diesen Standpunkt: "In der Medizin sagt man, daß der Arzt der Diener der Natur sei: in der Moral gilt eben dasselbe. Haltet nur das äußere Übel ab, die Natur wird schon die beste Richtung nehmen. - Wenn der Arzt sagete, daß die Natur an sich verderbt sei, durch welches Mittel wollte er sie bessern. Eben so der Moralist" (25,3). Dementsprechend führt er die gegenteilige Auffassung von der ursprünglichen Verderbnis der Natur darauf zurück, daß man den ursprünglichen Zustand von den Bedingungen des gesitteten aus beurteilt (15,16), wie denn der gesittete Mensch überhaupt nur sehr schwer die Vollkommenheit des Naturzustandes richtig einschätzen könne (11,14). Allerdings hat er im Unterschied zu Rousseau hinsichtlich der Güte des Naturzustandes gewisse Hemmungen wegen der Erb s ü n d e , die ja nach reformatorischer Auffassung in einer inneren Verderbtheit der natürlichen Anlagen zur Moralität und Religion besteht. "Das Herz des Menschen mag beschaffen sein wie es wolle, so ist hier nur die Frage, ob der Zustand der Natur oder der gesittete mehr wirkliche Sünde und Fertigkeit dazu entwickle. Es kann das moralische Übel so gedämpfet sein. daß sich in Handlungen lediglich ein Mangel an größerer Reinigkeit, niemals aber in merklichem Grade positives Laster zeigt, ••• dagegen kann sich dieses nachgerade so entwickeln, daß es zum Abscheu wird. Der einfältige Mensch hat wenig Versuchung lasterhaft zu werden. Lediglich die Uppigkeit macht die großen Reizungen aus und die Kultur der moralischen Empfindungen und des Verstandes kann sie niemals zurückhalten, wenn der Geschmack an Üppigkeit schon groß ist" (14,9). Kant begnügt sich also damit, dem Zustand der Natur eine re la ti v e si t t liche Guthe i t gegenüber dem der Gesittung zuzuschreiben. Das kommt noch klarer zum Ausdruck in der folgenden Reflexion, in der er auch ausdrücklich auf die Erbsünde Bezug nimmt: "Von der Methode der Moral, da man die Eigenschaften, die jetzo allen Menschen von der Geburt her gemein sind, als natürlich, nicht von Sünde angeartet ansieht und daraus die RegeIn zieht, wie sie in dem Zustande gut sein können, irret nicht, wenngleich die Supposition falsch sein könnte. Auf diese Weise kann ich sagen, der Mensch der Natur, der von Gott nicht weiß, ist nicht böse" (112,10). Kant übernimmt also von Rousseau auch die These, daß der natürliche Mensch kein wirkliches Wissen von Gott und damit auch keine wahre Religion 71) 1bid. I, 455; 468; II, 27, 162

etc.

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laufen Kometen in geometrischen Bahnen - Rousseau entdeckte zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur desselben und das versteckte Gesetz, nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtungen gerechtfertigt wird. Vor dem galt noch der Einwurf des Alphonsus und Manes. Nach Newton und Rousseau ist Gott gerechtfertigt und nunmehr ist Popens Lehrsatz wahr" (daß unsere Welt die denkbar beste ist) (58,12-59,3): das sind ganz die Gedanken, die auch der Rousseausche Vikar in seinem Glaubensbekenntnisse entwickelt 70.

e)

Die menschliche Natur im ursprünglichen Zustand und im Zustand der gesellschaftlichen Kultur

Alle von Kant in den Bemerkul'lgen behandelten Themen sind hineingestellt in die Rousseausche Grundkonzeption des Gegensatzes zwischen dem Naturzustand und dem Zustand der Gesittung, d. h. der gesellschaftlichen Kultur. Eine große Anzahl dieser Reflexionen kann nun diesem Thema direkt zugeordnet werden, insofern in ihnen die Sittlichkeit bzw. Vollkommenheit und die Glückseligk ei t der menschlichen Natur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird. Daß in dieser Themengruppe sich der Einfluß Rousseaus unmittelbar durchsetzt, liegt auf der Hand. Hierher gehören zunächst jene Notizen, die sich auf den Natu r z u s t a n d des Menschen beziehen. Als solcher wird wie bei Rousseau der von der gesellschaftlichen Kultur noch unbeeinflußte Zustand bezeichnet, in welchem die Natur den Menschen hervorbringt, der also sowohl beim Primitiven wie auch bei jedem neugeborenen Kind verwirklicht ist. "Denn niemals schafft die Natur einen Menschen zum Bürger und seine Neigungen, seine Bestrebungen sind bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abgezielt" (31, 22). Darum geht es gerade in der Bestimmung des Naturzustandes: als was die Natur den Menschen schafft. Gleich am Anfang der Bemerkungen finden wir eine Reflexion über das, was den Me n s c he n der Na tu r entscheidend kennzeichnet: "Die Begierden, welche dem Menschen durch seine Natur notwendig sind, sind natürliche Begierden. Der Mensch, der keine anderen Begierden und nicht in einem höheren Grad hat als durch die natürlichen notwendig ist,heißt der Mensch der Natur und seine Fähigkeit durch das wenige befdedigt zu werden, ist die Genugsamkeit der Natur ••• Die Menge der Erkenntnisse und andere Vollkommenheiten, die zur Befriedigung der Natur erfordert werden, ist die Einfalt der Natur. Der Mensch, an welchem sowohl Einfalt als Genugsamkeit der Natur angetroffen wird, ist der Mensch der Natur. Derjenige, so hat mehr begehren lernen als was durch die Natur notwendig ist, ist üppig" (5,21-6,11). 70) 1bid. II, 72 f. ; 69.

Nach Rousseau ist das, was die Natur schafft gut, alles sittliche und physische Verderben kommt erst durch den Einfluß der Gesellschaft, und das ganze Problem der Erziehung besteht darin, die an sich guten Anlagen des Menschen zu entwickeln, 'anzubauen' und diese Entwicklung von den schädigenden Einflüssen der Gesellschaft zu bewahren bzw. sie so stark zu machen, daß sie durch diese nicht mehr in eine falsche Richtung gelenkt werden können 71. Kant übernimmt im Prinzip durchaus diesen Standpunkt: "In der Medizin sagt man, daß der Arzt der Diener der Natur sei: in der Moral gilt eben dasselbe. Haltet nur das äußere Übel ab, die Natur wird schon die beste Richtung nehmen. - Wenn der Arzt sagete, daß die Natur an sich verderbt sei, durch welches Mittel wollte er sie bessern. Eben so der Moralist" (25,3). Dementsprechend führt er die gegenteilige Auffassung von der ursprünglichen Verderbnis der Natur darauf zurück, daß man den ursprünglichen Zustand von den Bedingungen des gesitteten aus beurteilt (15,16), wie denn der gesittete Mensch überhaupt nur sehr schwer die Vollkommenheit des Naturzustandes richtig einschätzen könne (11,14). Allerdings hat er im Unterschied zu Rousseau hinsichtlich der Güte des Naturzustandes gewisse Hemmungen wegen der Erb s ü n d e , die ja nach reformatorischer Auffassung in einer inneren Verderbtheit der natürlichen Anlagen zur Moralität und Religion besteht. "Das Herz des Menschen mag beschaffen sein wie es wolle, so ist hier nur die Frage, ob der Zustand der Natur oder der gesittete mehr wirkliche Sünde und Fertigkeit dazu entwickle. Es kann das moralische Übel so gedämpfet sein. daß sich in Handlungen lediglich ein Mangel an größerer Reinigkeit, niemals aber in merklichem Grade positives Laster zeigt, ••• dagegen kann sich dieses nachgerade so entwickeln, daß es zum Abscheu wird. Der einfältige Mensch hat wenig Versuchung lasterhaft zu werden. Lediglich die Uppigkeit macht die großen Reizungen aus und die Kultur der moralischen Empfindungen und des Verstandes kann sie niemals zurückhalten, wenn der Geschmack an Üppigkeit schon groß ist" (14,9). Kant begnügt sich also damit, dem Zustand der Natur eine re la ti v e si t t liche Guthe i t gegenüber dem der Gesittung zuzuschreiben. Das kommt noch klarer zum Ausdruck in der folgenden Reflexion, in der er auch ausdrücklich auf die Erbsünde Bezug nimmt: "Von der Methode der Moral, da man die Eigenschaften, die jetzo allen Menschen von der Geburt her gemein sind, als natürlich, nicht von Sünde angeartet ansieht und daraus die RegeIn zieht, wie sie in dem Zustande gut sein können, irret nicht, wenngleich die Supposition falsch sein könnte. Auf diese Weise kann ich sagen, der Mensch der Natur, der von Gott nicht weiß, ist nicht böse" (112,10). Kant übernimmt also von Rousseau auch die These, daß der natürliche Mensch kein wirkliches Wissen von Gott und damit auch keine wahre Religion 71) 1bid. I, 455; 468; II, 27, 162

etc.

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und Gottesverehrung haben kann 72 • "Es kann im natürlichen Zustand gar kein richtiger Begriff von Gott entspringen und der falsche, den man sich macht, ist schädlich. Folglich kann die Theorie der natürlichen Religion nur wahr sein, wo Wissenschaft ist, und kann also nicht alle Menschen verbinden" (57,6). Obwohl ohne Gotteserkenntnis und ohne Religion ist aber nach ihm der Wilde moralisch besser als der Gesittete mit der bloßen natürlichen Religion; weil er "vermittelst der Triebfedern, die Gott in sein Herz gelegt, (ihm) gehorsamt ohne sein Dasein zu wissen" (104,13; 57,1). Der natürliche Zustand des Menschen ist also nach ihm jener, in dem die inneren moralischen Gründe, ohne der Religion zu bedürfen, Macht genug haben zum moralischen Gutsein (cf. 28,3). Diesen Zustand hat er offenbar auch im Auge, wenn er den wo h 1 g e art e te n Menschen vom wo h 1 ge s i t t e t e n unterscheidet: "Der erste bedarf nicht zur Bändigung verkehrter Triebe, denn sie sind natürlich und gut, der Vorstellung von obern Wesen. Wenn er daran denkt, so sagt er. vielleicht ist er in einem anderen Leben. Man muß gut sein und das übrige erwarten". während der gesittete viel phantastische Freunde (Freuden?) habe, denen er eine Vorstellung entgegensetzen müsse, die niemals anschauend werden kann, um sich gut zu erhalten (19,12). Der Mensch der Natur aber ist nicht nur deswegen gut, weil in seinem Zustand die großen Anreizungen zum Bösen fehlen. sondern weil er infolge seiner Bedürfnislosigkeit noch Kräfte übrig hat "um anderer Bedürfnisse und Glückseligkeit zu befördern" und so "ein Gefühl von einem außer sich guttätigen Willen" hat (146.2); er ist deshalb "mehrer gemeinnütziger und tätigen Empfindungen fähig,r als der üppige. der eingebildete Bedürfnisse hat und eigennützig ist (172.27). Der sittliche Zustand des ersteren ist Ein f alt. die keinen Selbstzwang und keine Beraubung erfordert. aber auch wegen der Unkenntnis der Versuchungen leicht zu verführen ist. Sie ist deshalb (weil ohne Selbstzwang und Beraubung) ein (sittlicher) Zustand ohne Tugend: "Man kann also gut sein ohne Tugend" (cf. 77.16; 184.15). "Im Stande der Einfalt ist keine Tugend. Beim Mann starke Neigung zu schützen und Ehrlichkeit. Beim Weib treue Ergebenheit und Schmeichelei. Im üppigen Zustand muß der Mann Tugenp. die Frau Ehre haben" (64,11). Aus dem gleichen Grunde: weil seine Neigungen und Bestrebungen bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abzielen (31.22) und er die größeren ihm möglichen Vergnügen nicht kennt und auch nicht begehrt. ist der Mensch der Natur zufrieden und damit glücklich (77.16). "Die Genugsamkeit und Einfalt erfordert ein gröberes Gefühl und macht glücklich" (52.15). Wenn beim gesitteten Menschen das durch keine Erregung der Leidenschaft gestörte Gleichgewicht der Empfindungen oder 'die Seele in Ruhe' die wesentlichste Voraussetzung der Glückseligkeit ist. so ist der na72) Cf. Ibid. 1I, 47; 50.

211 türliche Mensch dieser Unruhe überhoben durch F ü h 110 s i g k ei t (149,1 ff.). Andererseits hat der Mensch der Natur bloß den' natürlichen Verstand', d.h. ein richtiges Urteil "das sich durch die Erfahrung erwirbt, die an den Bedürfnissen hängt". aber er hat nicht Vernunft oder gar feine Vernunft, die erst dort nötig wird, wo der Geschmack an viel Dingen zunimmt und sich die Mannigfaltigkeit der Angelegenheit vergrößert (184,19). "Im natürlichen Zustand kann man gut sein ohne Tugend und vernünftig ohne Wissenschaft" (11,9). Kant stellt sich ausdrücklich die Frage, "ob durch die Seele in Ruhe die ganze Sittlichkeit könnte hergeleitet werden, wohl zu verstehen beim na tü r li ch e n Me n s ch en. Die Ergötzlichkeiten und Ausschweifungen sind der Ruhe entgegen. Die Geschlechterneigung findet ihre Ruhe nur in der Ehe. Andere zu beleidigen beunruhigt selbst. Affekte überhaupt beunruhigen. Es ist schlimm, daß durch diese Moral kein anderer Mensch einen Nutzen hat, außer (wie Kant sogleich. wiederum ganz im Sinn Rousseaus. hinzufügt) daß dieses schon große Tugend ist kein Böses zu tun". Aber die Arrtnerkung führt noch weiter und mündet ganz in die bereits angedeuteten Gedankengänge ein. daß gerade durch die Bedürfnislosigkeit des Menschen der Natur Kräfte des tätigen Wohlwollens frei werden: "Bei dieser Seele in Ruhe ist die Freundschaft kein Enthusiasmus, das Mitleiden keine Weichherzigkeit, die Sanftmut nicht Zeremonie, die Begierde keine Sehnsucht. Die empfindende Seele in Ruhe ist darum nicht untätig dem Körper oder dem Verstand nach, sondern nur den Begierden und den Vergnügen nach" (154,3 mit Anmerkung). Insbesondere sind dem natürlichen Zustand gewisse Laster fremd, die durch die Eigenart des gesitteten Zustandes bedingt sind. Das sind vor allem die Rachsucht, die voraussetzt, daß Menschen, die sich hassen, sich nicht voneinander entfernen können (34,4); ferner der Haß selbst (102,13), der Trieb zur Ehre in dem Sinn. daß die Ehre nicht als Mittel des Genusses, sondern unmittelbar angestrebt wird (55,11). Dagegen ist der Zorn für den Menschen der Natur eine sehr natürliche und gutartige Eigenschaft, durch die der Mann bewogen wird, sich gegen Unrecht zu verteidigen (34,7) und ähnlich auch unter Umständen die mit tel ba r e E hrb e gi e rd e; d. h. das Streben nach Ehre als eines Mittels um die eigene Freiheit und Unabhängigkeit in der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sichern oder auch um ein vor anderen bevorzugtes Weib zu gewinnen (163,6). ,Wie nach dem Vorausgehenden zu erwarten ist, folgt Kant auch in der Auffassung und Beurteilung des Zustandes der Kul tur weitgehend Rousseau. Auch ihm ist dieser Zustand, der Zustand der Gesittung und der bürgerlichen Verfassung, die Quelle praktisch aller Übel und alles Bösen in der Menschheit, und zwar entspringen diese näherhin einer dreifachen Wurzel: die erste ist die mit diesem Zustand verbundene Ü p p i g k e i t. Während die Natur niemals einen

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und Gottesverehrung haben kann 72 • "Es kann im natürlichen Zustand gar kein richtiger Begriff von Gott entspringen und der falsche, den man sich macht, ist schädlich. Folglich kann die Theorie der natürlichen Religion nur wahr sein, wo Wissenschaft ist, und kann also nicht alle Menschen verbinden" (57,6). Obwohl ohne Gotteserkenntnis und ohne Religion ist aber nach ihm der Wilde moralisch besser als der Gesittete mit der bloßen natürlichen Religion; weil er "vermittelst der Triebfedern, die Gott in sein Herz gelegt, (ihm) gehorsamt ohne sein Dasein zu wissen" (104,13; 57,1). Der natürliche Zustand des Menschen ist also nach ihm jener, in dem die inneren moralischen Gründe, ohne der Religion zu bedürfen, Macht genug haben zum moralischen Gutsein (cf. 28,3). Diesen Zustand hat er offenbar auch im Auge, wenn er den wo h 1 g e art e te n Menschen vom wo h 1 ge s i t t e t e n unterscheidet: "Der erste bedarf nicht zur Bändigung verkehrter Triebe, denn sie sind natürlich und gut, der Vorstellung von obern Wesen. Wenn er daran denkt, so sagt er. vielleicht ist er in einem anderen Leben. Man muß gut sein und das übrige erwarten". während der gesittete viel phantastische Freunde (Freuden?) habe, denen er eine Vorstellung entgegensetzen müsse, die niemals anschauend werden kann, um sich gut zu erhalten (19,12). Der Mensch der Natur aber ist nicht nur deswegen gut, weil in seinem Zustand die großen Anreizungen zum Bösen fehlen. sondern weil er infolge seiner Bedürfnislosigkeit noch Kräfte übrig hat "um anderer Bedürfnisse und Glückseligkeit zu befördern" und so "ein Gefühl von einem außer sich guttätigen Willen" hat (146.2); er ist deshalb "mehrer gemeinnütziger und tätigen Empfindungen fähig,r als der üppige. der eingebildete Bedürfnisse hat und eigennützig ist (172.27). Der sittliche Zustand des ersteren ist Ein f alt. die keinen Selbstzwang und keine Beraubung erfordert. aber auch wegen der Unkenntnis der Versuchungen leicht zu verführen ist. Sie ist deshalb (weil ohne Selbstzwang und Beraubung) ein (sittlicher) Zustand ohne Tugend: "Man kann also gut sein ohne Tugend" (cf. 77.16; 184.15). "Im Stande der Einfalt ist keine Tugend. Beim Mann starke Neigung zu schützen und Ehrlichkeit. Beim Weib treue Ergebenheit und Schmeichelei. Im üppigen Zustand muß der Mann Tugenp. die Frau Ehre haben" (64,11). Aus dem gleichen Grunde: weil seine Neigungen und Bestrebungen bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abzielen (31.22) und er die größeren ihm möglichen Vergnügen nicht kennt und auch nicht begehrt. ist der Mensch der Natur zufrieden und damit glücklich (77.16). "Die Genugsamkeit und Einfalt erfordert ein gröberes Gefühl und macht glücklich" (52.15). Wenn beim gesitteten Menschen das durch keine Erregung der Leidenschaft gestörte Gleichgewicht der Empfindungen oder 'die Seele in Ruhe' die wesentlichste Voraussetzung der Glückseligkeit ist. so ist der na72) Cf. Ibid. 1I, 47; 50.

211 türliche Mensch dieser Unruhe überhoben durch F ü h 110 s i g k ei t (149,1 ff.). Andererseits hat der Mensch der Natur bloß den' natürlichen Verstand', d.h. ein richtiges Urteil "das sich durch die Erfahrung erwirbt, die an den Bedürfnissen hängt". aber er hat nicht Vernunft oder gar feine Vernunft, die erst dort nötig wird, wo der Geschmack an viel Dingen zunimmt und sich die Mannigfaltigkeit der Angelegenheit vergrößert (184,19). "Im natürlichen Zustand kann man gut sein ohne Tugend und vernünftig ohne Wissenschaft" (11,9). Kant stellt sich ausdrücklich die Frage, "ob durch die Seele in Ruhe die ganze Sittlichkeit könnte hergeleitet werden, wohl zu verstehen beim na tü r li ch e n Me n s ch en. Die Ergötzlichkeiten und Ausschweifungen sind der Ruhe entgegen. Die Geschlechterneigung findet ihre Ruhe nur in der Ehe. Andere zu beleidigen beunruhigt selbst. Affekte überhaupt beunruhigen. Es ist schlimm, daß durch diese Moral kein anderer Mensch einen Nutzen hat, außer (wie Kant sogleich. wiederum ganz im Sinn Rousseaus. hinzufügt) daß dieses schon große Tugend ist kein Böses zu tun". Aber die Arrtnerkung führt noch weiter und mündet ganz in die bereits angedeuteten Gedankengänge ein. daß gerade durch die Bedürfnislosigkeit des Menschen der Natur Kräfte des tätigen Wohlwollens frei werden: "Bei dieser Seele in Ruhe ist die Freundschaft kein Enthusiasmus, das Mitleiden keine Weichherzigkeit, die Sanftmut nicht Zeremonie, die Begierde keine Sehnsucht. Die empfindende Seele in Ruhe ist darum nicht untätig dem Körper oder dem Verstand nach, sondern nur den Begierden und den Vergnügen nach" (154,3 mit Anmerkung). Insbesondere sind dem natürlichen Zustand gewisse Laster fremd, die durch die Eigenart des gesitteten Zustandes bedingt sind. Das sind vor allem die Rachsucht, die voraussetzt, daß Menschen, die sich hassen, sich nicht voneinander entfernen können (34,4); ferner der Haß selbst (102,13), der Trieb zur Ehre in dem Sinn. daß die Ehre nicht als Mittel des Genusses, sondern unmittelbar angestrebt wird (55,11). Dagegen ist der Zorn für den Menschen der Natur eine sehr natürliche und gutartige Eigenschaft, durch die der Mann bewogen wird, sich gegen Unrecht zu verteidigen (34,7) und ähnlich auch unter Umständen die mit tel ba r e E hrb e gi e rd e; d. h. das Streben nach Ehre als eines Mittels um die eigene Freiheit und Unabhängigkeit in der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sichern oder auch um ein vor anderen bevorzugtes Weib zu gewinnen (163,6). ,Wie nach dem Vorausgehenden zu erwarten ist, folgt Kant auch in der Auffassung und Beurteilung des Zustandes der Kul tur weitgehend Rousseau. Auch ihm ist dieser Zustand, der Zustand der Gesittung und der bürgerlichen Verfassung, die Quelle praktisch aller Übel und alles Bösen in der Menschheit, und zwar entspringen diese näherhin einer dreifachen Wurzel: die erste ist die mit diesem Zustand verbundene Ü p p i g k e i t. Während die Natur niemals einen

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Menschen zum Bürger schafft, sondern seine Neigungen und Bestrebungen bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abzielt, erweitert das gesellschaftliche Leben die Begierde nach· Genuß und Annehmlichkeiten, indem es zugleich den Geschmack auf den verschiedensten Gebieten verfeinert. Die Üppigkeit, die mehr begehrt als was durch die Natur notwendig ist (6,10) bzw. das entbehrliche Vergnügen, die Annehmlichkeit, zum Bedürfnis macht (77,10) ist näherhin eine solche des Gen u s ses und eine solche im W iss e n (11,11); dazu gehören Vergnügungssucht und Luxus, die Zierlichkeit des geselligen Umganges, die Künste und Wissenschaften; sie bilden die Güter der weichlichen Üppigkeit und des Wahnes; "die letzteren, sagt Kant, kommen von der vergleichungsweisen Schätzung her, in Wissenschaften, in der Ehre etc" (34,17). Alle diese Arten des üppigen Lebens haben die Tendenz, die Menschen in Städte zusammenzuführen, während das Landleben dem natürlichen Zustand näher ist, weswegen Rousseau sie wieder aufs Land zurückführen will (42,8). Man darf Kants pes s im i st ische Be u rt e i l ung des höheren kulturellen Lebens, der Künste und Wissenschaften, in den Be-· merkungen nicht abschwächen, wie es zuweilen versucht wird 73: seine Abwertung ist von keiner geringeren Radikalität als sie uns etwa in Rousseaus Preisarbeit 74 entgegentritt: die Ausbildung der Künste und Wissenschaften gehört nach Kant nicht zur Glückseligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Geschlechtes, ihre hohe Einschätzung zerstört die schöne Harmonie der Natur und verführt den Menschen dazu, seinen Posten auf der Welt schlecht zu erfüllen (37, 5,13; 38,8); die Lust zu ihnen ist gekünstelt (ib.38,4), sie entspringen aus der weichlichen Üppigkeit: "Die Weichlichkeit in Sitten, der Müßiggang und die Eitelkeit bringen Wissenschaften hervor (43,1). Damit wird ebenso wenig wie bei Rousseau geleugnet. daß sie eine besondere Zierde des üppigen Zustandes darstellen (43,3): in diesem Sinn bezeichnet er als den Nutzen der Wissenschaften geradezu die Üppigkeit selbst und nennt als klassisches Beispiel dafür die Mathematik (39,24); ähnlich sieht er in der richtigen Erkenntnis des Weltbaues 'das vielleicht schönste Produkt der vorwitzigen menschlichen Vernunft' (120,12) und in der Philosophie bzw. Spekulation nicht eine Sache der Notdurft, sondern der Annehmlichkeit (131,7; 175, 16). Aber er bemerkt ausdrücklich, daß die Wahrheit an sich selbst keinen Wert habe: 'ob eine Meinung von der Bewohnung vieler Welten wahr oder falsch sei, ist einerlei', von Wert sei nur die Methode. wie man zur Wahrheit gelange, weil sie eine Auswirkung auf das Praktische habe (175,21). Daß die Künste und Wissenschaften wie alle Güter des üppigen 73) Cf. Menzer, EntWicklungsgang, K-St m, S.43 f. 74) Discours, si le retablissement des sciences et des ans a contribue res I, 1.

epurer les moeures. Oeuv- .

Lebens viel Übles anrichten, wird überall vorausgesetzt (39,26; 43, 4; 105,14). Als solches wird ausdrücklich genannt, daß der allergrößte Teil derer, die sich damit zieren wollen, gar keine Verbesserung des Verstandes, sondern nur eine Verkehrtheit desselben erwirbt, ferner daß sie den meisten nur zu Werkzeugen der Eitelkeit dienen (39,20); und außerdem, daß sie den Menschen an die Süßigkeit der Spekulation gewöhnen und ihn dadurch vom guten Handeln oder auch von dem, was dem Menschen zu wissen notwendig und nützlich ist, abhalten (43,6; 119,9), lauter Motive, die von Rousseau her vertraut sind; zuletzt aber und nicht zum wenigsten, daß sie die Menschen, die sich ihnen hingeben, zu einer ungerechtfertigten Überschätzung ihrer selbst und zu einer entsprechenden Verachtung der anderen führen (37.5; 38,11), wie Kant aus eigener Erfahrung weiß (44,10), wodurch aber alle Tugend grundsätzlich unmöglich wird; denn die Vorbedingung derselben ist, daß man "die Gemächlichkeiten, die Üppigkeit und alles was andere unterdrückt, indem es mich erhebt, abstelle, damit ich nicht einer von allen sei, die ihr Geschlecht unterdrücken" (151,8). Und ohne Zweifel gilt nach ihm auch und im besonderen von den Wissenschaften, was er allgemein so formuliert: "Was also entkräftet und unter Lüsten weichlich macht und vom Wahn abhängig macht, ist der Tugend entgegen (45, 4). Ja er geht noch weiter und fällt, ähnlich wie sein Vorbild Rousseau, ein vernichtendes Urteil über die Akademien: "Die Feinigkeit der Zeiten ist eine Geschicklichkeit zu betrügen und unsere Akademien rüsten eine Menge von Betrügern aus" (90,1). Freilich werden den Künsten und Wissenschaften auch einige nicht unbeträchtliche günstige Wirkungen bzw. Nebenwirkungen zuerkannt: "Sie halten von viel Bösem ab (43,3) und haben eine gewisse Sittsamkeit als Nebenfolge (39,25), ja wenn sie zu einer gewissen Höhe gesteigert werden, so verbessern sie die Übel, die sie selbst angerichtet haben (43,3; 39,25; 105,14). Mit letzterem meint er vermutlich in erster Linie die Metaphysik in der (neuen) Gestalt, in der sie ihm vorschwebt,nämlich als Wissenschaft von den Schranken der menschlichen Vernunft, deren Nutzen darin liegt, daß sie den Schein aufhebt, der schädlich sein könnte (181, 1,5) und jene Methode des Zweifels übt, die das Gemüt präserviert, nicht nach Spekulation, sondern nach dem gesunden Verstand und Sentiment zu handeln (175,17), jene Gestalt der Wissenschaft also, in der sie zur Begleiterin der Weisheit wird, wie es in den 'Träumen' heißt. Noch verhängnisvoller in den Folgen aber ist die mit dem höheren kulturellen Leben unzertrennlich verbundene w e ich I ich e Ü p pi g k e i t, die in dem ge steigerten und unmäßigen Genuß der Annehmlichkeiten des Lebens und des Luxus in allen seinen Formen sowie in der Verfeinerung und Geziertheit des geselligen Umganges besteht. Es sind viele läppische Bedürfnisse, die uns weichlich machen (9,2), viele unnatürliche Begierden (11,9), üppige Neigungen

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Menschen zum Bürger schafft, sondern seine Neigungen und Bestrebungen bloß auf den einfältigen Zustand des Lebens abzielt, erweitert das gesellschaftliche Leben die Begierde nach· Genuß und Annehmlichkeiten, indem es zugleich den Geschmack auf den verschiedensten Gebieten verfeinert. Die Üppigkeit, die mehr begehrt als was durch die Natur notwendig ist (6,10) bzw. das entbehrliche Vergnügen, die Annehmlichkeit, zum Bedürfnis macht (77,10) ist näherhin eine solche des Gen u s ses und eine solche im W iss e n (11,11); dazu gehören Vergnügungssucht und Luxus, die Zierlichkeit des geselligen Umganges, die Künste und Wissenschaften; sie bilden die Güter der weichlichen Üppigkeit und des Wahnes; "die letzteren, sagt Kant, kommen von der vergleichungsweisen Schätzung her, in Wissenschaften, in der Ehre etc" (34,17). Alle diese Arten des üppigen Lebens haben die Tendenz, die Menschen in Städte zusammenzuführen, während das Landleben dem natürlichen Zustand näher ist, weswegen Rousseau sie wieder aufs Land zurückführen will (42,8). Man darf Kants pes s im i st ische Be u rt e i l ung des höheren kulturellen Lebens, der Künste und Wissenschaften, in den Be-· merkungen nicht abschwächen, wie es zuweilen versucht wird 73: seine Abwertung ist von keiner geringeren Radikalität als sie uns etwa in Rousseaus Preisarbeit 74 entgegentritt: die Ausbildung der Künste und Wissenschaften gehört nach Kant nicht zur Glückseligkeit und Vollkommenheit des menschlichen Geschlechtes, ihre hohe Einschätzung zerstört die schöne Harmonie der Natur und verführt den Menschen dazu, seinen Posten auf der Welt schlecht zu erfüllen (37, 5,13; 38,8); die Lust zu ihnen ist gekünstelt (ib.38,4), sie entspringen aus der weichlichen Üppigkeit: "Die Weichlichkeit in Sitten, der Müßiggang und die Eitelkeit bringen Wissenschaften hervor (43,1). Damit wird ebenso wenig wie bei Rousseau geleugnet. daß sie eine besondere Zierde des üppigen Zustandes darstellen (43,3): in diesem Sinn bezeichnet er als den Nutzen der Wissenschaften geradezu die Üppigkeit selbst und nennt als klassisches Beispiel dafür die Mathematik (39,24); ähnlich sieht er in der richtigen Erkenntnis des Weltbaues 'das vielleicht schönste Produkt der vorwitzigen menschlichen Vernunft' (120,12) und in der Philosophie bzw. Spekulation nicht eine Sache der Notdurft, sondern der Annehmlichkeit (131,7; 175, 16). Aber er bemerkt ausdrücklich, daß die Wahrheit an sich selbst keinen Wert habe: 'ob eine Meinung von der Bewohnung vieler Welten wahr oder falsch sei, ist einerlei', von Wert sei nur die Methode. wie man zur Wahrheit gelange, weil sie eine Auswirkung auf das Praktische habe (175,21). Daß die Künste und Wissenschaften wie alle Güter des üppigen 73) Cf. Menzer, EntWicklungsgang, K-St m, S.43 f. 74) Discours, si le retablissement des sciences et des ans a contribue res I, 1.

epurer les moeures. Oeuv- .

Lebens viel Übles anrichten, wird überall vorausgesetzt (39,26; 43, 4; 105,14). Als solches wird ausdrücklich genannt, daß der allergrößte Teil derer, die sich damit zieren wollen, gar keine Verbesserung des Verstandes, sondern nur eine Verkehrtheit desselben erwirbt, ferner daß sie den meisten nur zu Werkzeugen der Eitelkeit dienen (39,20); und außerdem, daß sie den Menschen an die Süßigkeit der Spekulation gewöhnen und ihn dadurch vom guten Handeln oder auch von dem, was dem Menschen zu wissen notwendig und nützlich ist, abhalten (43,6; 119,9), lauter Motive, die von Rousseau her vertraut sind; zuletzt aber und nicht zum wenigsten, daß sie die Menschen, die sich ihnen hingeben, zu einer ungerechtfertigten Überschätzung ihrer selbst und zu einer entsprechenden Verachtung der anderen führen (37.5; 38,11), wie Kant aus eigener Erfahrung weiß (44,10), wodurch aber alle Tugend grundsätzlich unmöglich wird; denn die Vorbedingung derselben ist, daß man "die Gemächlichkeiten, die Üppigkeit und alles was andere unterdrückt, indem es mich erhebt, abstelle, damit ich nicht einer von allen sei, die ihr Geschlecht unterdrücken" (151,8). Und ohne Zweifel gilt nach ihm auch und im besonderen von den Wissenschaften, was er allgemein so formuliert: "Was also entkräftet und unter Lüsten weichlich macht und vom Wahn abhängig macht, ist der Tugend entgegen (45, 4). Ja er geht noch weiter und fällt, ähnlich wie sein Vorbild Rousseau, ein vernichtendes Urteil über die Akademien: "Die Feinigkeit der Zeiten ist eine Geschicklichkeit zu betrügen und unsere Akademien rüsten eine Menge von Betrügern aus" (90,1). Freilich werden den Künsten und Wissenschaften auch einige nicht unbeträchtliche günstige Wirkungen bzw. Nebenwirkungen zuerkannt: "Sie halten von viel Bösem ab (43,3) und haben eine gewisse Sittsamkeit als Nebenfolge (39,25), ja wenn sie zu einer gewissen Höhe gesteigert werden, so verbessern sie die Übel, die sie selbst angerichtet haben (43,3; 39,25; 105,14). Mit letzterem meint er vermutlich in erster Linie die Metaphysik in der (neuen) Gestalt, in der sie ihm vorschwebt,nämlich als Wissenschaft von den Schranken der menschlichen Vernunft, deren Nutzen darin liegt, daß sie den Schein aufhebt, der schädlich sein könnte (181, 1,5) und jene Methode des Zweifels übt, die das Gemüt präserviert, nicht nach Spekulation, sondern nach dem gesunden Verstand und Sentiment zu handeln (175,17), jene Gestalt der Wissenschaft also, in der sie zur Begleiterin der Weisheit wird, wie es in den 'Träumen' heißt. Noch verhängnisvoller in den Folgen aber ist die mit dem höheren kulturellen Leben unzertrennlich verbundene w e ich I ich e Ü p pi g k e i t, die in dem ge steigerten und unmäßigen Genuß der Annehmlichkeiten des Lebens und des Luxus in allen seinen Formen sowie in der Verfeinerung und Geziertheit des geselligen Umganges besteht. Es sind viele läppische Bedürfnisse, die uns weichlich machen (9,2), viele unnatürliche Begierden (11,9), üppige Neigungen

214 (16,8), der Zustand, in dem der Geschmack zur großen Menge erkünstelter Vergnügen und Reize bestimmend ist (184,15), wo so viel feiner Geschmack, Lüsternheit und Moden erworben worden (185,5). Das Zeitalter der Üppigkeit führt notwendig zu einer weitgehenden Verfeinerung des Geschmackes und der Manieren des gesellschaftlichen Umganges und auf dem Gebiet des Sittlichen zur Herrschaft des mo rali s che n S che ine s in der Anständigkeit, Sittsamkeit und Höflichkeit (cf. 51,5,14; 177,6; 79,5) und Galanterie, einer neuen Art der Schönheit der Sitten (133,15), sowie der allgemeinen Menschenliebe, d. h. eines ausgebreiteten Mitleidens bzw. einer ausgebreiteten Wohlgewogenheit, die sich aber weitgehend in untätigen Gefühlen und Vorstellungen erschöpft und sich überdies vorwiegend auf eingebildete Bedürfnisse bezieht und daher ein bloßer mo ra lischer Wahn ist (135,7; 191,20,25). So wird das Zeitalter der Üppigkeit mehr und mehr zu einem solchen der Anständigkeit, der Schönheit und Artigkeit, d.h. zu einem solchen, das durch die Eigenart des w e i bl ich e n Wes e n s geprägt ist, während das männliche Geschlecht und die edlen Eigenschaften nicht mehr andauern, nachdem alles in Ausputz ausgeschlagen ist (103,10). Im Verhältnis und Umgang der beiden Geschlechter aber wirkt sich das Überhandnehmen der Üppigkeit nicht nur darin aus, daß der Geschmack diesbezüglich verfeinert und differenziert wird (29,17; 53,19), sondern daß die ausschließlichen Gesellschaften der Männer, in denen man bei den Griechen und Römern von Tugend und Vaterland redete und das persönliche Verdienst nach der Redlichkeit, dem nützlichen Eifer für die Freundschaft oder fürs Gemeinwohl einschätzte, verschwinden und jetzt den mit Weibern untermengten Platz machen müssen, in denen man das Verdienst nur mehr nach Witz, Artigkeit und Zeitkürzungen schätzt, weil wir weichlich und weibisch sind und unter Weibern sein müssen (21,9; 73,14). So ist unsere Lebensart gleichsam ar k a d i d C h geworden: man hat immer Gesellschaft, und Liebe und Spiel unterhalten sie, aber die schwarze Sorge, die Zwietracht und der Überdruß herrschen zu Hause (155,13). Obwohl nun das arkadische Schäferleben und das galante Hofleben abgeschmackt und unnatürlich ist, weil es das Vergnügen und die Zeitkürzungen zur Beschäftigung macht, wodurch jedes Vergnügen schal und geschmacklos wird (55,17; 130,5), so hat doch auch dieses Treiben eine gute Nebenwirkung: "Die Eitelkeit und das Gaukelspiel des galanten Umganges dienen einigermaßen dazu, die Leidenschaft durch die veränderlichen Spiele der Zerstreuungen einzuschläfern und auf Moden und Putz und leere Eitelkeiten abzuleiten (108,8). Vom üppigen Leben im allgemeinen aber gilt, daß es auf einer gewissen Stufe der Entwicklung (in einem gewissen Grad) die Menschen vermehrt, weil die Arbeit der Weiber aufhört und sie dadurch mehr Kinder bc;,kommen können (104,6); ferner daß es infolge der vielen, unnatürlichen Begierden zur Veranlassung der Tugend'

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wird (11.9, cf. 22,22); denn wo der Geschmack zu der großen Menge erkünstelter Vergnügen und Reize erworben ist, ist der sittliche Zustand nicht mehr ohne Tugend möglich (184,15; 185,1,5,14). Aber auch hier sind die Nachteile und die schlimmen Folgen, die aus dieser weichlichen Üppigkeit entspringen, im ganzen gesehen viel größer als die guten: die Üppigkeit macht die großen Reizungen (zum Laster) aus, und zwar in einem Maße, daß die Kultur der moralischen Empfindungen und des sie niemals zurückhalten kann, wenn der Geschmack an Üppigkeit schon groß ist (15,1). Und ohne Zweifel hat Kant auch in der unmittelbar vorausgehenden Bemerkung den Zustand der Üppigkeit im Auge, wenn er sagt, daß sich das Laster nachgerade so entwickeln kann, daß es zum Abscheu wird (14,14). Und wenn die Üppigkeit in einem gewissen Grad die Menschen vermehrt, wie wir sahen, so führt sie in einem noch höheren Grad zu einem Stillstand der Vermehrung und endlich zu einer Verminderung der Menschen, woraus Armut entspringe, aber ehe diese anhebe oder wenn sie entstehe, so geschehen die größesten Laster (104,9), Ja die Üppigkeit führt schließlich gerade was den Umgang der Geschlechter angeht, zu jener Entartung, die er die schamlose Dreistigkeit (E!tourderie) nennt und die er als den höchsteil Gipfel des modischen Geschmackes der Zeit bezeichnet: "Wenn junge Mannspersonen fein frühe die abgeschmackte Dreistigkeit erwerben, das junge Frauenzimmer aber die zurückhaltende Sittsamkeit bald ablegt und das Spiel der Koketterie mit Lebhaftigkeit frühe zu treiben gelernt hat" (107,7), wenn also die Notwendigkeit des sittsamen Scheines außer der Mode gekommen ist und sich die galante Freiheit als etwas Unschuldiges gibt (185,13), Trotzdem aber ist es nach Kant möglich, diese großen Laster der Menschen im üppigen Zustand mit einer gewissen Leutseligkeit zu betrachten, "weil sie ihnen gar sehr äußerlich durch unsere verderbte Verfassung kommen" (35,11), Aber nicht nur Laster bringt die weichliche Üppigkeit hervor, sondern auch Leid, Unglück und Not: sie wird nicht nur zur Quelle vielfältigen Grams und Unglückes und vielfältiger Sorge, von denen der einfältige Mensch nichts weiß, weil es viele Fälle gibt, da die Umstände den zur Üppigkeit erweiterten Neigungen nicht günstig sind (45,11; 57,22), sondern zuletzt auch von Not, Unterdrückung, Verachtung der Stände und von Kriegen (175,5; 153,26; 152,5), Schließlich werden nach ihm aus dem Luxus die bürgerlichen Religionen und auch der Religionszwang (wenigstens bei jeder neuen Veränderung) notwendig (32,1) und entspringt aus dem Wahn des üppigen Menschen, dem nach seinen ausgearteten Neigungen alles verkehrt zu sein scheint, weil mit dem aus der Ordnung der Natur getretenen Menschen nichts harmonieren will, "eine Art von Theologie als ein Hirngespinst der Üppigkeit (denn diese ist jederzeit weichlich Und abergläubisch) und eine gewisse schlaue Klugheit, durch Unterwer-

214 (16,8), der Zustand, in dem der Geschmack zur großen Menge erkünstelter Vergnügen und Reize bestimmend ist (184,15), wo so viel feiner Geschmack, Lüsternheit und Moden erworben worden (185,5). Das Zeitalter der Üppigkeit führt notwendig zu einer weitgehenden Verfeinerung des Geschmackes und der Manieren des gesellschaftlichen Umganges und auf dem Gebiet des Sittlichen zur Herrschaft des mo rali s che n S che ine s in der Anständigkeit, Sittsamkeit und Höflichkeit (cf. 51,5,14; 177,6; 79,5) und Galanterie, einer neuen Art der Schönheit der Sitten (133,15), sowie der allgemeinen Menschenliebe, d. h. eines ausgebreiteten Mitleidens bzw. einer ausgebreiteten Wohlgewogenheit, die sich aber weitgehend in untätigen Gefühlen und Vorstellungen erschöpft und sich überdies vorwiegend auf eingebildete Bedürfnisse bezieht und daher ein bloßer mo ra lischer Wahn ist (135,7; 191,20,25). So wird das Zeitalter der Üppigkeit mehr und mehr zu einem solchen der Anständigkeit, der Schönheit und Artigkeit, d.h. zu einem solchen, das durch die Eigenart des w e i bl ich e n Wes e n s geprägt ist, während das männliche Geschlecht und die edlen Eigenschaften nicht mehr andauern, nachdem alles in Ausputz ausgeschlagen ist (103,10). Im Verhältnis und Umgang der beiden Geschlechter aber wirkt sich das Überhandnehmen der Üppigkeit nicht nur darin aus, daß der Geschmack diesbezüglich verfeinert und differenziert wird (29,17; 53,19), sondern daß die ausschließlichen Gesellschaften der Männer, in denen man bei den Griechen und Römern von Tugend und Vaterland redete und das persönliche Verdienst nach der Redlichkeit, dem nützlichen Eifer für die Freundschaft oder fürs Gemeinwohl einschätzte, verschwinden und jetzt den mit Weibern untermengten Platz machen müssen, in denen man das Verdienst nur mehr nach Witz, Artigkeit und Zeitkürzungen schätzt, weil wir weichlich und weibisch sind und unter Weibern sein müssen (21,9; 73,14). So ist unsere Lebensart gleichsam ar k a d i d C h geworden: man hat immer Gesellschaft, und Liebe und Spiel unterhalten sie, aber die schwarze Sorge, die Zwietracht und der Überdruß herrschen zu Hause (155,13). Obwohl nun das arkadische Schäferleben und das galante Hofleben abgeschmackt und unnatürlich ist, weil es das Vergnügen und die Zeitkürzungen zur Beschäftigung macht, wodurch jedes Vergnügen schal und geschmacklos wird (55,17; 130,5), so hat doch auch dieses Treiben eine gute Nebenwirkung: "Die Eitelkeit und das Gaukelspiel des galanten Umganges dienen einigermaßen dazu, die Leidenschaft durch die veränderlichen Spiele der Zerstreuungen einzuschläfern und auf Moden und Putz und leere Eitelkeiten abzuleiten (108,8). Vom üppigen Leben im allgemeinen aber gilt, daß es auf einer gewissen Stufe der Entwicklung (in einem gewissen Grad) die Menschen vermehrt, weil die Arbeit der Weiber aufhört und sie dadurch mehr Kinder bc;,kommen können (104,6); ferner daß es infolge der vielen, unnatürlichen Begierden zur Veranlassung der Tugend'

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wird (11.9, cf. 22,22); denn wo der Geschmack zu der großen Menge erkünstelter Vergnügen und Reize erworben ist, ist der sittliche Zustand nicht mehr ohne Tugend möglich (184,15; 185,1,5,14). Aber auch hier sind die Nachteile und die schlimmen Folgen, die aus dieser weichlichen Üppigkeit entspringen, im ganzen gesehen viel größer als die guten: die Üppigkeit macht die großen Reizungen (zum Laster) aus, und zwar in einem Maße, daß die Kultur der moralischen Empfindungen und des sie niemals zurückhalten kann, wenn der Geschmack an Üppigkeit schon groß ist (15,1). Und ohne Zweifel hat Kant auch in der unmittelbar vorausgehenden Bemerkung den Zustand der Üppigkeit im Auge, wenn er sagt, daß sich das Laster nachgerade so entwickeln kann, daß es zum Abscheu wird (14,14). Und wenn die Üppigkeit in einem gewissen Grad die Menschen vermehrt, wie wir sahen, so führt sie in einem noch höheren Grad zu einem Stillstand der Vermehrung und endlich zu einer Verminderung der Menschen, woraus Armut entspringe, aber ehe diese anhebe oder wenn sie entstehe, so geschehen die größesten Laster (104,9), Ja die Üppigkeit führt schließlich gerade was den Umgang der Geschlechter angeht, zu jener Entartung, die er die schamlose Dreistigkeit (E!tourderie) nennt und die er als den höchsteil Gipfel des modischen Geschmackes der Zeit bezeichnet: "Wenn junge Mannspersonen fein frühe die abgeschmackte Dreistigkeit erwerben, das junge Frauenzimmer aber die zurückhaltende Sittsamkeit bald ablegt und das Spiel der Koketterie mit Lebhaftigkeit frühe zu treiben gelernt hat" (107,7), wenn also die Notwendigkeit des sittsamen Scheines außer der Mode gekommen ist und sich die galante Freiheit als etwas Unschuldiges gibt (185,13), Trotzdem aber ist es nach Kant möglich, diese großen Laster der Menschen im üppigen Zustand mit einer gewissen Leutseligkeit zu betrachten, "weil sie ihnen gar sehr äußerlich durch unsere verderbte Verfassung kommen" (35,11), Aber nicht nur Laster bringt die weichliche Üppigkeit hervor, sondern auch Leid, Unglück und Not: sie wird nicht nur zur Quelle vielfältigen Grams und Unglückes und vielfältiger Sorge, von denen der einfältige Mensch nichts weiß, weil es viele Fälle gibt, da die Umstände den zur Üppigkeit erweiterten Neigungen nicht günstig sind (45,11; 57,22), sondern zuletzt auch von Not, Unterdrückung, Verachtung der Stände und von Kriegen (175,5; 153,26; 152,5), Schließlich werden nach ihm aus dem Luxus die bürgerlichen Religionen und auch der Religionszwang (wenigstens bei jeder neuen Veränderung) notwendig (32,1) und entspringt aus dem Wahn des üppigen Menschen, dem nach seinen ausgearteten Neigungen alles verkehrt zu sein scheint, weil mit dem aus der Ordnung der Natur getretenen Menschen nichts harmonieren will, "eine Art von Theologie als ein Hirngespinst der Üppigkeit (denn diese ist jederzeit weichlich Und abergläubisch) und eine gewisse schlaue Klugheit, durch Unterwer-

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216 fung den Höchsten in seine Geschäfte und Entwürfe einzuflechtenO (58,7; 57,22). Aber im Grunde sei all das Leid Unglück nicht tragisch zu nehmen. weil der Mensch durch seine Uppigkeit und Unmäßigkeit einzig und allein selber daran schuld ist: "Das Elend Menschen ist nicht zu bedauern, sondern zu belachen. Demokrlt (152,6). "Ich, der ich gewiß weiß. daß ich keine Übel erleide als die ich mir selbst zuziehe und es nur auf mich ankommt, durch die Güte der göttlichen Anordnung glücklich zu sein, werde niemals gegen sie murren" (68.19)75. . . Schon nach der Preisarbeit Rousseaus verhert der Mensch mlt zunehmender Genußsucht und Üppigkeit nicht nur seine innere, sondern auch seine äußere Freiheit 76. So ist die zweite Wurzel aller Übel des gesitteten Zustandes die durch die gesellschaftliche Ordnung gegebene Ungleichheit und Unfreiheit. Beide ein und dasselbe; denn es ist nach Rousseau das Charakterlstlsche der gesellschaftlichen Ungleichheit (im Unterschied zu der naturgegebenen Verschiedenheit der Menschen), daß sie den einen vom deren abhängig macht. Zwar ist die bürgerliche Verfassung ihrem Sinn nach dazu bestimmt, jedem Glied der Gesellschaft durch das Gesetz des allgemeinen Willens die Freiheit zu garantieren,aber ein wirksamer Schutz derselben wäre nur dann gegeben, wenn man dieses Gesetz mit einer die Handlung jedes einzelnen Willens übersteigenden Stärke bewaffnen könnte; denn dann würde die Abhängigkeit von den Menschen gleichsam wieder zur Abhängigkeit von den Dingen werden und man würde im Staate alle Vorteile des natürlichen Standes mit denen des bürgerlichen, d.h. mit der Freiheit, die den Menschen vor den Lastern bewahrt, die Sittlichkeit verbinden, die ihn zur Tugend erhebt7 7 • Aber die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Zustandes ist sehr weit von diesem Ideal entfernt: diese Gleichheit dem Recht nach. die die bürgerliche Verfassung garantiert, ist eitel und eingebildet, weil die zu ihrer Aufrechterhaltung bestimmten Mittel selbst zu ihrer Zerstörung dienen und die öffentliche Gewalt, welche den Stärkeren noch unterstützt um den Schwächeren zu unterdrücken. jene Art von Gleichgewicht aufhebt, welches die Natur zwischen beide gesetzt hatte. Aus diesem ersten Widerspruch fließen alle, die man in der bürgerlichen Ordnung zwischen dem Schein und der Wirklichkeit bemerkt. Immer werde die Menge der kleinen Zahl. immer das öffentliche Interesse besonderen aufgeopfert werden, stets würden in der gesellschafthchen Verfassung die gleißenden Namen der Gerechtigkeit und Subordinationder Gewalttätigkeit zu Werkzeugen und der Ungerechtigkeit zu Waffen dienen. Und zwar sei es ohne Ausnahme der Geist der Gesetze aller Länder, dem Stärkeren wider den Schwächeren und dem75) Ibid. H, 72. 76) Ibid. I, 3 f. 77) Ibid. TI, 26; I, 460.

jenigen. der hat. gegen den. der nicht hat, behilflich zu sein 78. Für Rousseau ist also der gesellschaftliche Zustand notwendig derjenige der Ungleichheit, der Unfreiheit, der Ungerechtigk e i t und der U n t erd r ü c ku n g • Auch in den Bemerkungen Kants wird diese Konzeption durchgehend vorausgesetzt. Ganz allgemein und ohne jede Einschränkung wird der Gegensatz zum natürlichen als "Zustand der Ungleichheit und Ungerechtigkeit" (9,16; 10,5) als "Stand der Unterdrückung durch Aberglauben und Gewalt" (10.18) als Stand. in dem anderer Ungerechtigkeit oder der Zwang des Wahnes dem Menschen Gewalt antut (28.5) bezeichnet oder als solcher, wo die allgemeine Ungerechtigkeit feststeht (140,12). Ebenso wird die Tatsache, daß wenige sich etwas daraus machen, ihren Fürsten zu betrügen, darin begründet, daß sie die Ungerechtigkeit der Regierung empfinden (112, 5) und die gute Wirkung der Kriege darin gesehen. daß sie den Zustand der Gleichheit hervorbringen (105.17). Die Ungleichheit und Unterdrückung ist die größte Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Zustandes, die ihren absoluten Höhepunkt in der SkI ave re i erreicht. die aber auch in allen jenen Berufen gegeben ist. die in einem hohen Maße abhängig sind wie Lakaien, Bediente, Höflinge. Berufe. die sich im gesellschaftlichen Zustand häufig finden (cf. 93. 28; 94,4). Aber nicht nur in der Sklaverei und in jenen Ständen. die in hohem Grad unterworfen sind, wirkt sich die Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Zustandes aus, sondern sie betrifft viel allgemeiner die niedrigen Stände und das gewöhnliche Volk überhaupt. das nun seine ursprünglichen Menschenrechte verliert und den Großen und Mächtigen auf Gnade und Ungnade verfallen ist: "Ein natürlicher Mensch kann gegen keinen gnädig sein, denn er hat Schuldigkeiten gegen jeden •• In unserem Zustand, wenn die allgemeine Ungerechtigkeit feststeht. so hören die natürlichen Rechtsame der Niedrigen auf; diese sind also einzig Schuldner, die Vornehmen sind ihnen nichts schuldig; daher heißen diese Vornehmen gnädige Herren. Der so nichts von ihnen als Gerechtigkeit nötig hat und sie zu ihren Schuldigkeiten anhalten kann, braucht diese Unterwerfung nicht" (140,10; cf. 176.5). Infolge dieser grundlegenden Verhältnisse des gesellschaftlichen Zustandes sind auch die Begriffe der bürgerlichen Gerechtigkeit und der natürlichen und die daraus entspringende Empfindung der Schuldigkeit sich fast entgegengesetzt, wie Kant an einem Beispiel anschaulich macht: Was im bürgerlichen Verstand als eine sehr großmütige Handlung erscheint, ist im natürlichen nur eine gemeine Schuldigkeit (40,1). Aber die Unterdrückung durch die Gewalt ist dabei noch nicht einmal das größte Unglück: dieses besteht vielmehr darin, daß der unterdrückte und abhängige lVlensch sei ne in ne reS el b s t 78) Ibid. 1I, 26 f.

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216 fung den Höchsten in seine Geschäfte und Entwürfe einzuflechtenO (58,7; 57,22). Aber im Grunde sei all das Leid Unglück nicht tragisch zu nehmen. weil der Mensch durch seine Uppigkeit und Unmäßigkeit einzig und allein selber daran schuld ist: "Das Elend Menschen ist nicht zu bedauern, sondern zu belachen. Demokrlt (152,6). "Ich, der ich gewiß weiß. daß ich keine Übel erleide als die ich mir selbst zuziehe und es nur auf mich ankommt, durch die Güte der göttlichen Anordnung glücklich zu sein, werde niemals gegen sie murren" (68.19)75. . . Schon nach der Preisarbeit Rousseaus verhert der Mensch mlt zunehmender Genußsucht und Üppigkeit nicht nur seine innere, sondern auch seine äußere Freiheit 76. So ist die zweite Wurzel aller Übel des gesitteten Zustandes die durch die gesellschaftliche Ordnung gegebene Ungleichheit und Unfreiheit. Beide ein und dasselbe; denn es ist nach Rousseau das Charakterlstlsche der gesellschaftlichen Ungleichheit (im Unterschied zu der naturgegebenen Verschiedenheit der Menschen), daß sie den einen vom deren abhängig macht. Zwar ist die bürgerliche Verfassung ihrem Sinn nach dazu bestimmt, jedem Glied der Gesellschaft durch das Gesetz des allgemeinen Willens die Freiheit zu garantieren,aber ein wirksamer Schutz derselben wäre nur dann gegeben, wenn man dieses Gesetz mit einer die Handlung jedes einzelnen Willens übersteigenden Stärke bewaffnen könnte; denn dann würde die Abhängigkeit von den Menschen gleichsam wieder zur Abhängigkeit von den Dingen werden und man würde im Staate alle Vorteile des natürlichen Standes mit denen des bürgerlichen, d.h. mit der Freiheit, die den Menschen vor den Lastern bewahrt, die Sittlichkeit verbinden, die ihn zur Tugend erhebt7 7 • Aber die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Zustandes ist sehr weit von diesem Ideal entfernt: diese Gleichheit dem Recht nach. die die bürgerliche Verfassung garantiert, ist eitel und eingebildet, weil die zu ihrer Aufrechterhaltung bestimmten Mittel selbst zu ihrer Zerstörung dienen und die öffentliche Gewalt, welche den Stärkeren noch unterstützt um den Schwächeren zu unterdrücken. jene Art von Gleichgewicht aufhebt, welches die Natur zwischen beide gesetzt hatte. Aus diesem ersten Widerspruch fließen alle, die man in der bürgerlichen Ordnung zwischen dem Schein und der Wirklichkeit bemerkt. Immer werde die Menge der kleinen Zahl. immer das öffentliche Interesse besonderen aufgeopfert werden, stets würden in der gesellschafthchen Verfassung die gleißenden Namen der Gerechtigkeit und Subordinationder Gewalttätigkeit zu Werkzeugen und der Ungerechtigkeit zu Waffen dienen. Und zwar sei es ohne Ausnahme der Geist der Gesetze aller Länder, dem Stärkeren wider den Schwächeren und dem75) Ibid. H, 72. 76) Ibid. I, 3 f. 77) Ibid. TI, 26; I, 460.

jenigen. der hat. gegen den. der nicht hat, behilflich zu sein 78. Für Rousseau ist also der gesellschaftliche Zustand notwendig derjenige der Ungleichheit, der Unfreiheit, der Ungerechtigk e i t und der U n t erd r ü c ku n g • Auch in den Bemerkungen Kants wird diese Konzeption durchgehend vorausgesetzt. Ganz allgemein und ohne jede Einschränkung wird der Gegensatz zum natürlichen als "Zustand der Ungleichheit und Ungerechtigkeit" (9,16; 10,5) als "Stand der Unterdrückung durch Aberglauben und Gewalt" (10.18) als Stand. in dem anderer Ungerechtigkeit oder der Zwang des Wahnes dem Menschen Gewalt antut (28.5) bezeichnet oder als solcher, wo die allgemeine Ungerechtigkeit feststeht (140,12). Ebenso wird die Tatsache, daß wenige sich etwas daraus machen, ihren Fürsten zu betrügen, darin begründet, daß sie die Ungerechtigkeit der Regierung empfinden (112, 5) und die gute Wirkung der Kriege darin gesehen. daß sie den Zustand der Gleichheit hervorbringen (105.17). Die Ungleichheit und Unterdrückung ist die größte Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Zustandes, die ihren absoluten Höhepunkt in der SkI ave re i erreicht. die aber auch in allen jenen Berufen gegeben ist. die in einem hohen Maße abhängig sind wie Lakaien, Bediente, Höflinge. Berufe. die sich im gesellschaftlichen Zustand häufig finden (cf. 93. 28; 94,4). Aber nicht nur in der Sklaverei und in jenen Ständen. die in hohem Grad unterworfen sind, wirkt sich die Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Zustandes aus, sondern sie betrifft viel allgemeiner die niedrigen Stände und das gewöhnliche Volk überhaupt. das nun seine ursprünglichen Menschenrechte verliert und den Großen und Mächtigen auf Gnade und Ungnade verfallen ist: "Ein natürlicher Mensch kann gegen keinen gnädig sein, denn er hat Schuldigkeiten gegen jeden •• In unserem Zustand, wenn die allgemeine Ungerechtigkeit feststeht. so hören die natürlichen Rechtsame der Niedrigen auf; diese sind also einzig Schuldner, die Vornehmen sind ihnen nichts schuldig; daher heißen diese Vornehmen gnädige Herren. Der so nichts von ihnen als Gerechtigkeit nötig hat und sie zu ihren Schuldigkeiten anhalten kann, braucht diese Unterwerfung nicht" (140,10; cf. 176.5). Infolge dieser grundlegenden Verhältnisse des gesellschaftlichen Zustandes sind auch die Begriffe der bürgerlichen Gerechtigkeit und der natürlichen und die daraus entspringende Empfindung der Schuldigkeit sich fast entgegengesetzt, wie Kant an einem Beispiel anschaulich macht: Was im bürgerlichen Verstand als eine sehr großmütige Handlung erscheint, ist im natürlichen nur eine gemeine Schuldigkeit (40,1). Aber die Unterdrückung durch die Gewalt ist dabei noch nicht einmal das größte Unglück: dieses besteht vielmehr darin, daß der unterdrückte und abhängige lVlensch sei ne in ne reS el b s t 78) Ibid. 1I, 26 f.

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schätzung verliert: "Wenn diese (die Ungleichheit). einmal angehoben hat. so ist das Übel der Unterdrü.ckun g n1cht so groß als daß die Gemüter der Unterdrückten medertrachtlg werden und sich selbst geringe schätzen. Ein Bauer ist ein viel elenderer Mensch und hat viel gröbere Laster als ein Wilder, dem es an allem fehlt und so auch ein gemeiner Arbeiter" (102,1). "Ein Freier schätzt sich selbst mehr als ein Sklavischer. Die Abhängigkeit von der Gewalt ist nicht so schimpflich als die vom Wahne" (100.19). Diese Niederträchtigkeit ist es auch, die den Wahn der Ungleichheit der Stände befestigt: "Was die Ungleichheit der Stände im e.rhält. ist unter anderm. daß die Niedrigen diese den, weswegen ein bürgerliches bel selbst dIe Niedrigkeit fühlt. sie haßt und seine Unruhe blIcken laßt. den Stolz der adeligen •• " (141.10; cf. 176,1). Dieser Wahn fuhrt de.n Adeligen zur Anmaßung zu sagen: "Er sei ein des geme1nen Gesindels; denn so muß er jederzeit den ArbeItsamen und Unterdr ückten nennen , damit man glaube, er sei geschaffen, ihn zu" ernähren (10.13); und überhaupt den Hochgestellten dazu. daß er so v.: e nig man sich in die Stelle des dienstbaren Pferdes setzt. um sICh sein elendes Futter vorzustellen, er sich in die Stelle des Elendes setzet. um dieses zu fassen" (17,12); und andererseits bewirkt er im Ni:driggestellten nicht nur. daß er sich selbst geringer schätzt. sondern daß er auch dem ersteren eine übermäßige. tun gentgegenbringt. die sich aber lediglich am: ChI a r I s c h e Vorzüge gründet. die man bei ihm ann;;mmt (138. 3; cf. 134.17; 179.8.10); denn in WirklIchkeIt kommt daß Leute nur in der Ferne schimmern und daß ein Fürst vor. Kammerdiener viel verliert. daher, weil kein Mensch groß 1st (30. 8). und nur zu oft ist es so. daß das Herauskehren der gesellschaftlichen Stellung und Würde die Leerheit an innerem "V! ert -:erdecken uß. "Die Kleider sind nur Zeichen der BequemlIchkeIt und des Übe;flusses zum Leben. Sie müssen nicht so beschaffen daß sie die Aufmerksamkeit allein auf sich ziehen. •• Eben so mIt Rang und Titel. Die selbst wenig Wert haben. sind verdammt zum goldenen Rahmen" (119,25). Deshalb sieht der wahren inneren Wert hat, "den Rang anderer an Ihnen mIt GleIchgültigkeit. obgleich. wenn er ihn auf sich referiert. mit an" (16.6) und es ist im Stand der Ungleichheit und überhaupt gut. sich mit einem gewissen Stolz oder wenIgstens Gleichgültigkeit gegen die aufgeblasenen Großen ::u setz.en um Geringere gleich zu sein (10.5); daß aber gegenuber d:eser: stelten Unterschieden der Stände die ursprüngliche GleIChheIt m der Natur des Menschen liegt. wird daraus deutlich. "daß die Neigung gegen Größere seinen Wert zu zeigen edel. gegen Gleiche .aber oder Niedrige hassenswürdig ist. und daß ein Mensch. der SIch selbst nicht schätzet. verachtet wird" (107.3).

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Mit dieser Sanktionierung der Standesunterschiede durch die Meinung und den Wahn der Menschen hängt nun ein weiterer Grundzug des gesellschaftlichen Lebens zusammen. nämlich die weitgehende Abhängigkeit des Urteilens und HandeIns von der Macht der öffentlichen Meinung. die ihrerseits maßgeblich von den gesellschaftlich herrschenden Kreisen geformt wird. Darin aber sieht Kant (mit Rousseau) mehr noch als in der Abhängigkeit von den Beg i erd e n die eigentliche Gefährdung der Freiheit und damit den Verlust des eigenen Selbst. "Kein Mensch ist. der nicht das schwere Joch der Meinung fühle und keiner schafft es ab" (9.6). "Die Sklaverei ist entweder die der Gewalt oder der Verblendung. Die letztere beruhet entweder auf der Abhängigkeit von Sachen (Üppigkeit) oder vom Wahne anderer· Menschen (Eitelkeit). Die letztere ist ungereimter und auch härter als die erstere, weil die Sachen weit eher in meiner Gewalt sind als die Meinungen andrer und es auch verächtlicher ist" (164,12). Diese Abhängigkeit ist die g r ö ß te Tor h ei t und beraubt uns in vielen Fällen unseres Glückes (cf. 113,6 ff.; 52.3). "Stufenfolge. Freiheit. Gleichheit. Ehre. (Der Wahn). Vorsicht. nunmehro verliert er sein ganzes Leben" (34.25). "Die allgemeine Eitelkeit macht. daß man nur von denjenigen sagt. sie wissen zu leben. die niemals zu leben (für sich selbst) verstehen" (45.9). "Ein Gut des Wahnes besteht darin. daß die Meinung nur allein gesucht. die Sache selbst aber entweder mit Gleichgültigkeit angesehen oder gar gehasset wird. Der erste Wahn ist der der Ehre. Der zweite des Geizes. Der letzte liebt nur die Meinung. daß er viel Güter des Lebens durch sein Geld haben könnte. ohne es gleichwohl jemals im Ernste zu wollen" (55.1). "Das Verderben unserer Zeit läßt sich darauf bringen. daß kein Mensch verlangt. für sich zufrieden oder auch gut zu sein. sondern so zu scheinen" (84.10). "Die Gesellschaft macht. daß man sich nur vergleichungsweise schätzt. Sind andere nicht besser als ich. so bin ich gut. sind alle schlechter. so bin ich vollkommen" (95.14). Zu den Gütern des Wahnes gehören also vor allem der Trieb der unmittelbaren Ehre und die Neigung zum unmittelbaren Gelderwerb. die sich erst im Zustand der Üppigkeit entwickeln und daher nicht in der ursprünglichen Natur liegen (17.5). Speziell kann die Ehre kein Grundtrieb sein; denn: "weil er auf die Meinung anderer ausgeht. würde. wenn das Saufen und Balgen (Duellieren) Mode ist. der so es tut gerechtfertigt sein" (160.20). Die Ehrsucht. die für den gesellschaftlichen Zustand kennzeichnend ist. ist jene, die das Geehrtwerden, das Ansehen um seiner selbst willen. d. h. als Ziel erstrebt, nicht aber als Mittel. um in den Genuß anderer Güter zu kommen: Sie ist die Ehr e des Wahn es, die dem Menschen der Natur fremd ist (163,2; 17.5; 55,11). "Die äußere Ehre als ein Mittel ist wahr, als der Zweck ein Wahn. Jene entweder zur Selbsterhaltung. Gleichheit, oder zur Erhaltung der Art.

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schätzung verliert: "Wenn diese (die Ungleichheit). einmal angehoben hat. so ist das Übel der Unterdrü.ckun g n1cht so groß als daß die Gemüter der Unterdrückten medertrachtlg werden und sich selbst geringe schätzen. Ein Bauer ist ein viel elenderer Mensch und hat viel gröbere Laster als ein Wilder, dem es an allem fehlt und so auch ein gemeiner Arbeiter" (102,1). "Ein Freier schätzt sich selbst mehr als ein Sklavischer. Die Abhängigkeit von der Gewalt ist nicht so schimpflich als die vom Wahne" (100.19). Diese Niederträchtigkeit ist es auch, die den Wahn der Ungleichheit der Stände befestigt: "Was die Ungleichheit der Stände im e.rhält. ist unter anderm. daß die Niedrigen diese den, weswegen ein bürgerliches bel selbst dIe Niedrigkeit fühlt. sie haßt und seine Unruhe blIcken laßt. den Stolz der adeligen •• " (141.10; cf. 176,1). Dieser Wahn fuhrt de.n Adeligen zur Anmaßung zu sagen: "Er sei ein des geme1nen Gesindels; denn so muß er jederzeit den ArbeItsamen und Unterdr ückten nennen , damit man glaube, er sei geschaffen, ihn zu" ernähren (10.13); und überhaupt den Hochgestellten dazu. daß er so v.: e nig man sich in die Stelle des dienstbaren Pferdes setzt. um sICh sein elendes Futter vorzustellen, er sich in die Stelle des Elendes setzet. um dieses zu fassen" (17,12); und andererseits bewirkt er im Ni:driggestellten nicht nur. daß er sich selbst geringer schätzt. sondern daß er auch dem ersteren eine übermäßige. tun gentgegenbringt. die sich aber lediglich am: ChI a r I s c h e Vorzüge gründet. die man bei ihm ann;;mmt (138. 3; cf. 134.17; 179.8.10); denn in WirklIchkeIt kommt daß Leute nur in der Ferne schimmern und daß ein Fürst vor. Kammerdiener viel verliert. daher, weil kein Mensch groß 1st (30. 8). und nur zu oft ist es so. daß das Herauskehren der gesellschaftlichen Stellung und Würde die Leerheit an innerem "V! ert -:erdecken uß. "Die Kleider sind nur Zeichen der BequemlIchkeIt und des Übe;flusses zum Leben. Sie müssen nicht so beschaffen daß sie die Aufmerksamkeit allein auf sich ziehen. •• Eben so mIt Rang und Titel. Die selbst wenig Wert haben. sind verdammt zum goldenen Rahmen" (119,25). Deshalb sieht der wahren inneren Wert hat, "den Rang anderer an Ihnen mIt GleIchgültigkeit. obgleich. wenn er ihn auf sich referiert. mit an" (16.6) und es ist im Stand der Ungleichheit und überhaupt gut. sich mit einem gewissen Stolz oder wenIgstens Gleichgültigkeit gegen die aufgeblasenen Großen ::u setz.en um Geringere gleich zu sein (10.5); daß aber gegenuber d:eser: stelten Unterschieden der Stände die ursprüngliche GleIChheIt m der Natur des Menschen liegt. wird daraus deutlich. "daß die Neigung gegen Größere seinen Wert zu zeigen edel. gegen Gleiche .aber oder Niedrige hassenswürdig ist. und daß ein Mensch. der SIch selbst nicht schätzet. verachtet wird" (107.3).

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Mit dieser Sanktionierung der Standesunterschiede durch die Meinung und den Wahn der Menschen hängt nun ein weiterer Grundzug des gesellschaftlichen Lebens zusammen. nämlich die weitgehende Abhängigkeit des Urteilens und HandeIns von der Macht der öffentlichen Meinung. die ihrerseits maßgeblich von den gesellschaftlich herrschenden Kreisen geformt wird. Darin aber sieht Kant (mit Rousseau) mehr noch als in der Abhängigkeit von den Beg i erd e n die eigentliche Gefährdung der Freiheit und damit den Verlust des eigenen Selbst. "Kein Mensch ist. der nicht das schwere Joch der Meinung fühle und keiner schafft es ab" (9.6). "Die Sklaverei ist entweder die der Gewalt oder der Verblendung. Die letztere beruhet entweder auf der Abhängigkeit von Sachen (Üppigkeit) oder vom Wahne anderer· Menschen (Eitelkeit). Die letztere ist ungereimter und auch härter als die erstere, weil die Sachen weit eher in meiner Gewalt sind als die Meinungen andrer und es auch verächtlicher ist" (164,12). Diese Abhängigkeit ist die g r ö ß te Tor h ei t und beraubt uns in vielen Fällen unseres Glückes (cf. 113,6 ff.; 52.3). "Stufenfolge. Freiheit. Gleichheit. Ehre. (Der Wahn). Vorsicht. nunmehro verliert er sein ganzes Leben" (34.25). "Die allgemeine Eitelkeit macht. daß man nur von denjenigen sagt. sie wissen zu leben. die niemals zu leben (für sich selbst) verstehen" (45.9). "Ein Gut des Wahnes besteht darin. daß die Meinung nur allein gesucht. die Sache selbst aber entweder mit Gleichgültigkeit angesehen oder gar gehasset wird. Der erste Wahn ist der der Ehre. Der zweite des Geizes. Der letzte liebt nur die Meinung. daß er viel Güter des Lebens durch sein Geld haben könnte. ohne es gleichwohl jemals im Ernste zu wollen" (55.1). "Das Verderben unserer Zeit läßt sich darauf bringen. daß kein Mensch verlangt. für sich zufrieden oder auch gut zu sein. sondern so zu scheinen" (84.10). "Die Gesellschaft macht. daß man sich nur vergleichungsweise schätzt. Sind andere nicht besser als ich. so bin ich gut. sind alle schlechter. so bin ich vollkommen" (95.14). Zu den Gütern des Wahnes gehören also vor allem der Trieb der unmittelbaren Ehre und die Neigung zum unmittelbaren Gelderwerb. die sich erst im Zustand der Üppigkeit entwickeln und daher nicht in der ursprünglichen Natur liegen (17.5). Speziell kann die Ehre kein Grundtrieb sein; denn: "weil er auf die Meinung anderer ausgeht. würde. wenn das Saufen und Balgen (Duellieren) Mode ist. der so es tut gerechtfertigt sein" (160.20). Die Ehrsucht. die für den gesellschaftlichen Zustand kennzeichnend ist. ist jene, die das Geehrtwerden, das Ansehen um seiner selbst willen. d. h. als Ziel erstrebt, nicht aber als Mittel. um in den Genuß anderer Güter zu kommen: Sie ist die Ehr e des Wahn es, die dem Menschen der Natur fremd ist (163,2; 17.5; 55,11). "Die äußere Ehre als ein Mittel ist wahr, als der Zweck ein Wahn. Jene entweder zur Selbsterhaltung. Gleichheit, oder zur Erhaltung der Art.

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220 gehet auf den Vorzug. Die Ehrbegierde (unmittelbar) geht entweder auf die Meinung von wichtigen Vollkommenheiten (Patriotismus) und heißt Ehrgeiz, oder in Kleinigkeiten und heißt Eitelkeit" (130,14). Sie entspringt "am meisten in Ansehung des Geschlechts, welchem zuletzt gar die Ehre, die ein Mittel des Genusses ist, aufgeopfert wird" (164,4), was sich aber verhängnisvoll auswirken muß für die Ehe und die Erreichung ihres Naturzweckes indem entweder die Ehe nur um des Ansehens willen gesucht wird oder die Rücksicht auf das Ansehen auf die Ehe verzichten läßt (cf. 165,4). Sie ist es auch, die wie ein Gift die eheliche Gemeinschaft zersetzt: "Die Ursache, warum die Ehen so kalt sinnig sind, ist diese, weil beide Teile so viel äußere chimärische Verknüpfung haben von Anstand, von Zierlichkeit, und wenn doch ein jeder Teil so stark von der Meinung abhängt, wird er gleichgültig gegen die Meinung des anderen. Daraus entspringen Geringschätzung, endlich Haß •• " (23,6). Zwar haben auch diese Güter des Wahnes, die unmittelbare Habsucht und die unmittelbare Ehrsucht, im Stande der Üppigkeit i h ren Nut zen, indem die Natur mit ihnen gleichsam Gegenmittel in ihrer Verletzung erschafft (wie sie die Schwielen bei harter Arbeit hervorbringt) (17,8): "Sehet da, die Ehre richtet viel Übel an, und dann dient sie auch zum Mittel, die größten Ausschweifungen derselben zu verhüten" (105,13); denn der Mensch wird durch die Ehrbegierde bewogen, auf vieles zu verzichten (cf. 56,1). Die üblen Folgen der Abhängigkeit von der Meinung aber, wie sie sich vor allem in der unmittelbaren Ehrbegierde auswirkt, liegen nicht nur darin, daß man die Ehre zuletzt in Laster, wie Saufen und Balgen (Duellieren) oder die galante Freiheit setzen kann (162,20; 160,20; 107,7), sondern daß der Mensch dadurch mit dem eigenen Urteil sein eigenes und wahres Leben, ja sein eigenes Selbst verliert. Darum gilt vor allem für den Mann die Forderung: "Herrsche über den Wahn und sei ein Mann; damit deine Frau dich unter allen Menschen am höchsten schätze, so sei selbst kein Knecht VOll den Meinungen anderer I " (54,6,9). Diese Unabhängigkeit vom Wahn und der Meinung war ja auch eines der wesentlichsten Ziele der Erziehungslehre Rousseaus 79. Die entscheidende Frage, auf welchem Weg der Mensch im Zustand der Gesittung zur s ittli ehe n Vollkomme nhe i t und Glückseligkeit gelange bzw. worin diese überhaupt bestehe, beantwortet Kant folgenderr.:J.aßen: "Man kann die Wohlfahrt befördern, entweder indem man die Begierden sich erweitern läßt und bestrebt ist, sie zu befriedigen. Man kann die Rechtschaffenheit befördern, wenn man die Neigungen der Üppigkeit und des Wahnes wachsen läßt und sich um moralische Antriebe bemüht, ihnen zu widerstehen. In beiden Aufgaben ist aber noch eine andere Lösung, n ä mlich diese Neigungen nicht entstehen zu lassen .. , 79) Ibid. ll, 35; 46 et passim.

Zuletzt kann man auch das Wohlverhalten befördern, indem man alle unmittelbare moralische Bonität beiseite setzet und lediglich die Befehle eines lohnenden und strafenden Oberherrn zu Grunde legt" (39, 11; cf. 16,8; 17,16). Daß Kant den zuletzt bezeichneten Weg nicht für richtig hält, geht sowohl aus der Formulierung dieser Bemerkung selber wie aus anderen zur Genüge hervor (cf. 18,6). Auch die erste Methode, der er hier offenbar die Stoiker zuordnet, "die durch Tugend bloß ein Gegengewicht gegen die Schmerzen der Üppigkeit gesucht" hätten, betrachtet er als einen Fehler (17,23). Als richtig erscheint ihm nur die zweite, die er im Altertum durch An ti s t h e ne s vertreten sieht, der "die Üppigkeit selber auszurotten suchte in der Gegenwart durch R 0 u s se au , der lehre, die Übel der Uppigkeit für keine Übel und die Versuchungen derselben für keine Versuchungen zu halten im Gegensatz zu den gewöhnlichen Moralisten, die nach Beweggründen suchten, beide Übel zu überwinden (17, 27). Denn es ist nach ihm unmöglich, daß die Kultur der moralischen Empfindungen und des Verstandes die großen Reizungen zurückhalten kann, wenn der Geschmack an Üppigkeit schon groß geworden ist (15,1), so daß hier auch das andere Wort gilt: "Die Tugend wird immer nötiger, aber auch immer unmöglicher in unserer jetzigen Verfassung" (98,9). Die wahre Tugend besteht also, so präzisiert Kant seinen Gedanken noch näher, gar nicht darin, daß man mit der erworbenen Neigung überwiege in besonderen Fällen, sondern solche Neigungen suche los zu werden, also gerne entbehren lerne. Sie besteht nicht darin, daß man mit den natürlichen Neigungen streite, sondern daß man mache, daß man keine andern als natürliche habe; denn alsdann kann man ihnen immer ein Genüge tun (77,24). Letzteres ist auf zweierlei Weise denkbar: einmal, daß man sie (die unnatürlichen Neigungen) ausrotte, d. h. mache, daß man sie verliere, was bei den Alten nötig ist, die schon solche erworben haben, oder aber mache, daß man sie niemals bekomme, was das Ziel der moralischen Erziehung der Jugend ist (cf. 24,6). Zu den Neigungen der Üppigkeit, um die es hier geht, gehören auch und vor allem die des Wahnes wie z. B. die (unmittelbare) Ehrbegierde (70,5). Kant hat seiner Auffassung über die beiden grundlegenden Wege der Moral bündig in der folgenden, von Schilpp offenbar mißdeuteten Reflexion Ausdruck gegeben: "Das ist der Unterschied der falschen und gesunden Moral, daß jene nur Hilfsmittel gegen Übel sucht, diese aber dafür sorgt, daß die Ursachen dieses Übels gar nicht da seien" (28,13; cf. 122, fI ,

7) 80.

Die wahre Methode der Moral als Weg zur wahren Glückseligkeit und wahren sittlichen Vollkommenheit besteht also in der we i sen Gen ü g sam k e i t, die die Vergnügungen der Üppigkeit zwar kennt, 80) SchUpp, o. c. S.85.

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220 gehet auf den Vorzug. Die Ehrbegierde (unmittelbar) geht entweder auf die Meinung von wichtigen Vollkommenheiten (Patriotismus) und heißt Ehrgeiz, oder in Kleinigkeiten und heißt Eitelkeit" (130,14). Sie entspringt "am meisten in Ansehung des Geschlechts, welchem zuletzt gar die Ehre, die ein Mittel des Genusses ist, aufgeopfert wird" (164,4), was sich aber verhängnisvoll auswirken muß für die Ehe und die Erreichung ihres Naturzweckes indem entweder die Ehe nur um des Ansehens willen gesucht wird oder die Rücksicht auf das Ansehen auf die Ehe verzichten läßt (cf. 165,4). Sie ist es auch, die wie ein Gift die eheliche Gemeinschaft zersetzt: "Die Ursache, warum die Ehen so kalt sinnig sind, ist diese, weil beide Teile so viel äußere chimärische Verknüpfung haben von Anstand, von Zierlichkeit, und wenn doch ein jeder Teil so stark von der Meinung abhängt, wird er gleichgültig gegen die Meinung des anderen. Daraus entspringen Geringschätzung, endlich Haß •• " (23,6). Zwar haben auch diese Güter des Wahnes, die unmittelbare Habsucht und die unmittelbare Ehrsucht, im Stande der Üppigkeit i h ren Nut zen, indem die Natur mit ihnen gleichsam Gegenmittel in ihrer Verletzung erschafft (wie sie die Schwielen bei harter Arbeit hervorbringt) (17,8): "Sehet da, die Ehre richtet viel Übel an, und dann dient sie auch zum Mittel, die größten Ausschweifungen derselben zu verhüten" (105,13); denn der Mensch wird durch die Ehrbegierde bewogen, auf vieles zu verzichten (cf. 56,1). Die üblen Folgen der Abhängigkeit von der Meinung aber, wie sie sich vor allem in der unmittelbaren Ehrbegierde auswirkt, liegen nicht nur darin, daß man die Ehre zuletzt in Laster, wie Saufen und Balgen (Duellieren) oder die galante Freiheit setzen kann (162,20; 160,20; 107,7), sondern daß der Mensch dadurch mit dem eigenen Urteil sein eigenes und wahres Leben, ja sein eigenes Selbst verliert. Darum gilt vor allem für den Mann die Forderung: "Herrsche über den Wahn und sei ein Mann; damit deine Frau dich unter allen Menschen am höchsten schätze, so sei selbst kein Knecht VOll den Meinungen anderer I " (54,6,9). Diese Unabhängigkeit vom Wahn und der Meinung war ja auch eines der wesentlichsten Ziele der Erziehungslehre Rousseaus 79. Die entscheidende Frage, auf welchem Weg der Mensch im Zustand der Gesittung zur s ittli ehe n Vollkomme nhe i t und Glückseligkeit gelange bzw. worin diese überhaupt bestehe, beantwortet Kant folgenderr.:J.aßen: "Man kann die Wohlfahrt befördern, entweder indem man die Begierden sich erweitern läßt und bestrebt ist, sie zu befriedigen. Man kann die Rechtschaffenheit befördern, wenn man die Neigungen der Üppigkeit und des Wahnes wachsen läßt und sich um moralische Antriebe bemüht, ihnen zu widerstehen. In beiden Aufgaben ist aber noch eine andere Lösung, n ä mlich diese Neigungen nicht entstehen zu lassen .. , 79) Ibid. ll, 35; 46 et passim.

Zuletzt kann man auch das Wohlverhalten befördern, indem man alle unmittelbare moralische Bonität beiseite setzet und lediglich die Befehle eines lohnenden und strafenden Oberherrn zu Grunde legt" (39, 11; cf. 16,8; 17,16). Daß Kant den zuletzt bezeichneten Weg nicht für richtig hält, geht sowohl aus der Formulierung dieser Bemerkung selber wie aus anderen zur Genüge hervor (cf. 18,6). Auch die erste Methode, der er hier offenbar die Stoiker zuordnet, "die durch Tugend bloß ein Gegengewicht gegen die Schmerzen der Üppigkeit gesucht" hätten, betrachtet er als einen Fehler (17,23). Als richtig erscheint ihm nur die zweite, die er im Altertum durch An ti s t h e ne s vertreten sieht, der "die Üppigkeit selber auszurotten suchte in der Gegenwart durch R 0 u s se au , der lehre, die Übel der Uppigkeit für keine Übel und die Versuchungen derselben für keine Versuchungen zu halten im Gegensatz zu den gewöhnlichen Moralisten, die nach Beweggründen suchten, beide Übel zu überwinden (17, 27). Denn es ist nach ihm unmöglich, daß die Kultur der moralischen Empfindungen und des Verstandes die großen Reizungen zurückhalten kann, wenn der Geschmack an Üppigkeit schon groß geworden ist (15,1), so daß hier auch das andere Wort gilt: "Die Tugend wird immer nötiger, aber auch immer unmöglicher in unserer jetzigen Verfassung" (98,9). Die wahre Tugend besteht also, so präzisiert Kant seinen Gedanken noch näher, gar nicht darin, daß man mit der erworbenen Neigung überwiege in besonderen Fällen, sondern solche Neigungen suche los zu werden, also gerne entbehren lerne. Sie besteht nicht darin, daß man mit den natürlichen Neigungen streite, sondern daß man mache, daß man keine andern als natürliche habe; denn alsdann kann man ihnen immer ein Genüge tun (77,24). Letzteres ist auf zweierlei Weise denkbar: einmal, daß man sie (die unnatürlichen Neigungen) ausrotte, d. h. mache, daß man sie verliere, was bei den Alten nötig ist, die schon solche erworben haben, oder aber mache, daß man sie niemals bekomme, was das Ziel der moralischen Erziehung der Jugend ist (cf. 24,6). Zu den Neigungen der Üppigkeit, um die es hier geht, gehören auch und vor allem die des Wahnes wie z. B. die (unmittelbare) Ehrbegierde (70,5). Kant hat seiner Auffassung über die beiden grundlegenden Wege der Moral bündig in der folgenden, von Schilpp offenbar mißdeuteten Reflexion Ausdruck gegeben: "Das ist der Unterschied der falschen und gesunden Moral, daß jene nur Hilfsmittel gegen Übel sucht, diese aber dafür sorgt, daß die Ursachen dieses Übels gar nicht da seien" (28,13; cf. 122, fI ,

7) 80.

Die wahre Methode der Moral als Weg zur wahren Glückseligkeit und wahren sittlichen Vollkommenheit besteht also in der we i sen Gen ü g sam k e i t, die die Vergnügungen der Üppigkeit zwar kennt, 80) SchUpp, o. c. S.85.

222

sie aber willkürlich entbehrt wie Sokrates, weil sie die Unruhe bzw. die Versuchungen fürchtet, die daraus entspringen. Es ist die Haltung des Menschen, der wenig bedarf, weil er viel entbehren kann. Demgegenüber gibt es auch die ein f ä 1 ti g e Genügsamkeit des Menschen der Natur, der deswegen ohne Mißvergnügen ist, weil er größere ihm mögliche Vergnügen nicht kennt und deshalb auch nicht vermißt. Es ist ein Zustand, in dem der Mensch wenig bedarf, weil ihm wenig mangelt (77,6,13,21). Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Arten der Genügsamkeit in moralischer Hinsicht besteht darin, daß die letztere infolge ihrer Unkenntnis der Gefahren und Versuchungen ständig gefährdet ist und de shalb auf unsicheren Füßen steht, während die erstere, die versucht gewesen ist, gegen künftige Versuchungen immuner ist, freilich auch niemals so unschuldig sein kann wie die einfältige des Naturzustandes (77,19; 184,26). Gerade aus dem Unterschied zwischen der einfältigen und der weisen Genügsamkeit ergibt sich auch der charakteristische Grundzug der wahren Sittlichkeit im gesitteten Zustand: die einfältige Genügsamkeit. die zufrieden. ist, weil sie die Annehmlichkeiten nicht kennt, erfordert keinen SeI b s tz w an g und keine Be r a ubung , die weise aber verlangt beides (77,19). Denn wo der Geschmack an der großen Menge der Vergnügungen der Reize der Üppigkeit bereits erworben ist, ist die Sittlichkeit nur mehr möglich als Tu gen d , d.h. durch Selbstzwang und Abbruch der Neigungen, wobei die Heldentugend sogar auf die Überwindung der natürlichen Bedürfnisse geht (184,15). Darum nennt Kant den Zustand der Tugend einen gewaltsamen Zustand, der 'nur in einem gewaltsamen Zustand des gemeinen Wesens' (der gesellschaftlichen Verfassung) angetroffen werden könne (104,3), wiederum ein grundlegender Gedanke der Rousseauschen Lehre 81 • Die Tugend setzt also Stärke der Seele voraus und ist deshalb vor allem der We ich 1 ich k ei t entgegengesetzt. Was also entkräftet und unter Lüsten weichlich macht oder vom Wahn abhängig macht, ist der Tugend entgegen (45,4). "Alles was entnervt, tötet die Tugend in ihren Quellen (103,8), ja die Weichlichkeit rottet mehr die Tugend aus als die Liederlichkeit (8,19). Darum muß sie sich besonders für kriegerische Staaten schicken, also mehr für Rom als für Karthago (98,11) und kann auch nur in kriegerischen Staaten lange dauern, wie aus dem Beispiel der Engländer hervorgehe, die noch am meisten Tugend unter allen europäischen Nationen hätten (103,4); aber nur jene Kriege seien der Tugend förderlich, die patriotisch sind, d.h. die nicht dazu dienen, Reichtum und Luxus zu erwerben, sondern sich selbst zu erhalten, also auf die Gleichheit oder das Übergewicht der Macht abzielen (76,6; 103,13). Weil die Tugend Stärke voraussetzt, das Frauenzimmer aber schwach ist, ist es auch der Tugend weniger fähig (98,7); nichtsdestoweniger ist sie ihm im Stand der Üppigkeit, 81) Cf. Rousseau ll, 587 f.; I, 460.

223

sehr nötig (184,29; 185.5); ja die Frau hat in der Ehe noch mehr Tugend als der Mann. nämlich wo die Notwendigkeit des sittsamen Schemes außer Mode gekommen und die galante Freiheit im ist und als unschuldig betrachtet wird (185,13). In diesem Kant ganz allgemein die tugendhafte Handlung als jene sltthch gute Handlung, die u n ger n geschieht oder wenigstens geschehen ist (148,5). . . Nun bleibt noch als letzte Frage dieser Themagruppe: welches 1st die g r ö ß t e Voll kom m e n h e i t, das S u m m u m Bon u m des Menschen im Zustand der Üppigkeit? Dieses kann nach dem früher Gesagten nicht darin bestehen, daß er Vollkommenheiten anstrebt, die seiner Natur und seinem Stand als Menschen nicht angemessen sind. sondern darin. "daß er die verschiedenen feinen Vergnügungen und Ergötzlichkeiten in ihren schönen Reizen (zu denen auch Künste und Wissenschaften gehören) kennt und Geschmack erwirbt". so daß er sie zu genießen vermag. aber durch frei!llhge Beschränkung seiner Bedürfnisse aus diesem Zustand der Uppigkeit in den der Einfachheit und Einfalt der Natur zurückkehrt: "Der Mensch in seiner Vollkommenheit ist nicht im Stande der (ein.?enügsamkeit.• auch nicht im Stande der Üppigkeit, sondern m der Ruckkehr aus dIesem Stande in jenen. Wunderliche Beschaffenheit der menschlichen Natur. Dieser vollkommenste Stand ruhet auf einer Haaresspitze. Der Stand der einfältigen und ursprünglichen dauert nicht lange; der Zustand der wiederhergestellten Natur 1st dauerhafter, aber niemals so unschuldig" (153,16). Ähnlich heißt es von der vollkommensten Frau im besonderen: "Die vollkommenste Frau würde die sein. die die verschiedenen feinen Ergötzlichkeiten des Lebens. die Manieren, die Galanterie in ihren schönen Reizen kennt und Geschmack hat. aber willkürlich durch vernünftige Einsicht von dessen Unnützlichkeit sich zur Häuslichkeit und Einfalt sich selbst zu zwingen weiß durch Tugend" (185,8). ES.lSt also mcht so. daß Kant (ebenso wenig übrigens wie Rouss.eau) dIe Kultur verachtet und schlechthin ablehnt bzw. als bloßes Hmdernis der sittlichen Vollkommenheit des Menschen betrachdaher denn auch manche Stellen ihre notwendige •. dIe aus dem "zusammenhang gelöst in diese Richtung zu welsen schemen. z. B.: Man kann an die Stelle der häuslichen die Bewegung der feinen moralischen Empfmdungen oder dIe Auszierung (moralische Freisassen. Neben dem Pomadenbuckschen den Gellert) setzen und diejenige, welche für ihMann ein Kleid webete, beschämt jederzeit die galante Dame. dIe an deren Stelle ein Trauerspiel liest" (64.15). Darin besteht also die wahre Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen. daß er aus dem Zustand der Üppigkeit unter Aufopferung und Selbstzwang quasi zurückkehre zur Einfalt und Einfachheit des Naturzustandes. daß er auf Grund eigener Einsicht und durch

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sie aber willkürlich entbehrt wie Sokrates, weil sie die Unruhe bzw. die Versuchungen fürchtet, die daraus entspringen. Es ist die Haltung des Menschen, der wenig bedarf, weil er viel entbehren kann. Demgegenüber gibt es auch die ein f ä 1 ti g e Genügsamkeit des Menschen der Natur, der deswegen ohne Mißvergnügen ist, weil er größere ihm mögliche Vergnügen nicht kennt und deshalb auch nicht vermißt. Es ist ein Zustand, in dem der Mensch wenig bedarf, weil ihm wenig mangelt (77,6,13,21). Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Arten der Genügsamkeit in moralischer Hinsicht besteht darin, daß die letztere infolge ihrer Unkenntnis der Gefahren und Versuchungen ständig gefährdet ist und de shalb auf unsicheren Füßen steht, während die erstere, die versucht gewesen ist, gegen künftige Versuchungen immuner ist, freilich auch niemals so unschuldig sein kann wie die einfältige des Naturzustandes (77,19; 184,26). Gerade aus dem Unterschied zwischen der einfältigen und der weisen Genügsamkeit ergibt sich auch der charakteristische Grundzug der wahren Sittlichkeit im gesitteten Zustand: die einfältige Genügsamkeit. die zufrieden. ist, weil sie die Annehmlichkeiten nicht kennt, erfordert keinen SeI b s tz w an g und keine Be r a ubung , die weise aber verlangt beides (77,19). Denn wo der Geschmack an der großen Menge der Vergnügungen der Reize der Üppigkeit bereits erworben ist, ist die Sittlichkeit nur mehr möglich als Tu gen d , d.h. durch Selbstzwang und Abbruch der Neigungen, wobei die Heldentugend sogar auf die Überwindung der natürlichen Bedürfnisse geht (184,15). Darum nennt Kant den Zustand der Tugend einen gewaltsamen Zustand, der 'nur in einem gewaltsamen Zustand des gemeinen Wesens' (der gesellschaftlichen Verfassung) angetroffen werden könne (104,3), wiederum ein grundlegender Gedanke der Rousseauschen Lehre 81 • Die Tugend setzt also Stärke der Seele voraus und ist deshalb vor allem der We ich 1 ich k ei t entgegengesetzt. Was also entkräftet und unter Lüsten weichlich macht oder vom Wahn abhängig macht, ist der Tugend entgegen (45,4). "Alles was entnervt, tötet die Tugend in ihren Quellen (103,8), ja die Weichlichkeit rottet mehr die Tugend aus als die Liederlichkeit (8,19). Darum muß sie sich besonders für kriegerische Staaten schicken, also mehr für Rom als für Karthago (98,11) und kann auch nur in kriegerischen Staaten lange dauern, wie aus dem Beispiel der Engländer hervorgehe, die noch am meisten Tugend unter allen europäischen Nationen hätten (103,4); aber nur jene Kriege seien der Tugend förderlich, die patriotisch sind, d.h. die nicht dazu dienen, Reichtum und Luxus zu erwerben, sondern sich selbst zu erhalten, also auf die Gleichheit oder das Übergewicht der Macht abzielen (76,6; 103,13). Weil die Tugend Stärke voraussetzt, das Frauenzimmer aber schwach ist, ist es auch der Tugend weniger fähig (98,7); nichtsdestoweniger ist sie ihm im Stand der Üppigkeit, 81) Cf. Rousseau ll, 587 f.; I, 460.

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sehr nötig (184,29; 185.5); ja die Frau hat in der Ehe noch mehr Tugend als der Mann. nämlich wo die Notwendigkeit des sittsamen Schemes außer Mode gekommen und die galante Freiheit im ist und als unschuldig betrachtet wird (185,13). In diesem Kant ganz allgemein die tugendhafte Handlung als jene sltthch gute Handlung, die u n ger n geschieht oder wenigstens geschehen ist (148,5). . . Nun bleibt noch als letzte Frage dieser Themagruppe: welches 1st die g r ö ß t e Voll kom m e n h e i t, das S u m m u m Bon u m des Menschen im Zustand der Üppigkeit? Dieses kann nach dem früher Gesagten nicht darin bestehen, daß er Vollkommenheiten anstrebt, die seiner Natur und seinem Stand als Menschen nicht angemessen sind. sondern darin. "daß er die verschiedenen feinen Vergnügungen und Ergötzlichkeiten in ihren schönen Reizen (zu denen auch Künste und Wissenschaften gehören) kennt und Geschmack erwirbt". so daß er sie zu genießen vermag. aber durch frei!llhge Beschränkung seiner Bedürfnisse aus diesem Zustand der Uppigkeit in den der Einfachheit und Einfalt der Natur zurückkehrt: "Der Mensch in seiner Vollkommenheit ist nicht im Stande der (ein.?enügsamkeit.• auch nicht im Stande der Üppigkeit, sondern m der Ruckkehr aus dIesem Stande in jenen. Wunderliche Beschaffenheit der menschlichen Natur. Dieser vollkommenste Stand ruhet auf einer Haaresspitze. Der Stand der einfältigen und ursprünglichen dauert nicht lange; der Zustand der wiederhergestellten Natur 1st dauerhafter, aber niemals so unschuldig" (153,16). Ähnlich heißt es von der vollkommensten Frau im besonderen: "Die vollkommenste Frau würde die sein. die die verschiedenen feinen Ergötzlichkeiten des Lebens. die Manieren, die Galanterie in ihren schönen Reizen kennt und Geschmack hat. aber willkürlich durch vernünftige Einsicht von dessen Unnützlichkeit sich zur Häuslichkeit und Einfalt sich selbst zu zwingen weiß durch Tugend" (185,8). ES.lSt also mcht so. daß Kant (ebenso wenig übrigens wie Rouss.eau) dIe Kultur verachtet und schlechthin ablehnt bzw. als bloßes Hmdernis der sittlichen Vollkommenheit des Menschen betrachdaher denn auch manche Stellen ihre notwendige •. dIe aus dem "zusammenhang gelöst in diese Richtung zu welsen schemen. z. B.: Man kann an die Stelle der häuslichen die Bewegung der feinen moralischen Empfmdungen oder dIe Auszierung (moralische Freisassen. Neben dem Pomadenbuckschen den Gellert) setzen und diejenige, welche für ihMann ein Kleid webete, beschämt jederzeit die galante Dame. dIe an deren Stelle ein Trauerspiel liest" (64.15). Darin besteht also die wahre Vollkommenheit und Glückseligkeit des Menschen. daß er aus dem Zustand der Üppigkeit unter Aufopferung und Selbstzwang quasi zurückkehre zur Einfalt und Einfachheit des Naturzustandes. daß er auf Grund eigener Einsicht und durch

224 eigene Wahl inmitten der Üppigkeit und Verweichlichung der gesellschaftlichen Kultur in etwa jenen Standpunkt der Einfalt und Genügsamkeit wiedergewinne, den die Natur dem unzivilisierten Menschen durch die Primitivität der Lebensbedingungen aufzwingt. Das war es auch, was nach Kant (und in Wirklichkeit) Rousseau anstrebte, wenn er dem Kulturmenschen das Bild des Naturzustandes vor Augen stellte: "Wenn man die Glückseligkeit des Wilden erwägt, so ist es nicht, um in die Wälder zu kehren, sondern um zu sehen, was man verloren habe, indem man andererseits gewinnet, damit man in dem Genusse und Gebrauch der geselligen Üppigkeit nicht mit unglücklichen und unnatürlichen Neigungen daran klebe und ein gesitteter Mensch der Natur bleibe. Jene Betrachtung dient zum Richtmaße" (31,17). Treffender und kürzer könnte man die Intention Rousseaus wohl kaum ausdrücken 82. Das Ziel der Tugend ist für Rousseau wie für Kant. daß der Mensch inmitten aller geselligen Üppigkeit. aller Verfeinerung und En,tfaltung des Geschmackes innerlich frei bleibe. Herr seiner selbst und sein eigener Herr, d. h. weder der Sklave seiner eigenen Neigungen noch der der allgemeinen Meinung werde. Kant hat das Ideal des sittlich vollkommenen und zugleich glückseligen Menschen in den Bemerkungen noch anders formuliert, mit einem Begriff der frühen deutschen Aufklärungsphilosophie • der schon bei Thomasius eine entscheidende Rolle spielt: 11 die gefühlvolle Seele in Ruhe". Es handelt sich also nicht einfach um die Ruhe der Seele, die durch keinerlei leidenschaftliche Erregung gestört wird; denn diese finden wir auch im Naturzustand beim Wilden. bei dem sie auf 'Fühllosigkeit' beruht (149,6). Es ist vielmehr die ge f ü h I voll e Seele in Ruhe, d. h. jene, deren Geschmack im Stand der Üppigkeit entfaltet wurde, die aller feinen Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens fähig ist, die sich aber in Ruhe befindet, weil in ihr alle Empfindungen in vollkommenem Gleichgewicht sind (149,1). Sie ist das Gegenteil von übermütiger Lustigkeit, die zerstörend wirkt und lästig wird, von fieberhaften Ergötzlichkeiten, die tödliche Mattigkeit und ein stumpfes Gefühl im Gefolge haben; denn sie macht wohlwollend und gütig (cf.6,16; 62,19). Sie ist die größte Vollkommenheit und das letzte Ziel (7 ,16) und die wahre Glückseligkeit; denn .I es ist ein Hauptgrund der Glückseligkeit nicht allein angenehm zu empfinden, sondern dessen sich auch in seinem gesamten Zustand bewußt zu sein, welches durch die starke Empfindung gehindert wird (149,2). Auch zu diesem Ideal gibt es keinen andern Weg als den der Einschränkung der üppigen Neigungen: liEs ist gar nicht zur Glückseligkeit zuträglich, die Neigungen bis zur Üppigkeit zu erweitern, denn weil es ungemein viel Fälle gibt, da die Umstände diesen Neigungen nicht günstig sind, gegen einen erwünschten Fall, so machen sie eine Quelle von Verdruß, 82) Ibid. 11, 46; I, 585.

225 Gram und Sorgen, davon der einfältige Mensch nichts weiß Es hilft auch nicht hiebei die großmütige Erduldung zu predigen" cf. 52,12), Gedanken, die wir auch wieder bei Rousseau finden 83 Von diesem Ideal des Summum Bonum her erscheint nun auch der antiken Moralsysteme, des Epikur, Zeno und Anhsthenes in etwas anderer Sicht: "Darin scheint mir der Epikurus vom Zeno unterschieden zu sein, daß jener die tugendhafte Seele in Ruhe nach überwundenen moralischen Hindernissen dieser aber im Kampfe und in der Übung zu siegen vorstellte. hatte keine so hohe Idee. Er wollte, man sollte das eitle Gepränge und die falsche Glückseligkeit nur betrachten und lieber wählen ein einfälti ger als großer Mann zu sein ll (160,14). Das Ideal de.r gefühlvollen Seele in Ruhe enthält also offenbar eine S y n t h es e dieser drei Morallehren. Denn gerade der Umstand, daß die gefühlvolle Seele in Ruhe nur in der Rückkehr vom Zustand der Üppigkeit zu dem der Natur gewonnen werden kann, scheint eine Verbindung des stoischen Weges mit dem des Antisthenes unumgänglich zu machen, insofern der reine Kynizismus durch seine radikale Verachtung der Kultur wohl kaum geeignet ist zu dem Ziel der ge f'ü h I voll e n Seele In Ruhe zu führen 83a.

(45,11;

f)

Religion und Moralität

. beiden behandelten Themengruppen zeigten uns Kant m weItestgehender Ubereinstimmung mit Rousseau. Beim Thema Religion und Moralität dagegen stehen wir vor einem ähnlichen Verhältnis wie bei dem über das moralische Gefühl: wenn er auch entGrundmotive von ihm übernimmt und verarbeitet, so geht er doch m anderen Punkten wes e nt I ich übe r ihn hin aus Die einschlägige Lehre des Genfers läßt sich in folgende Punkt; zusammenfassen: 1) daß es ohne den Glauben an Gott keine wahrhafte Tugend geben könne, weil ohne Voraussetzung des Daseins Gottes nur der Böse vernünftig, der Gute aber ein Unsinniger sei. Denn nur durch den Glauben an Gott finde der Mensch seinen wahren V 0 rte i I darin, gut zu sein, auch fern von den Blicken der Menschen und ohne den Zwang der Gesetze seine Pflicht selbst auf Unkosten .zu erfüllen •• um der dauerhaften Glückseligkeit zu gemeßen, dIe ihm die Betrachtung des höchsten Wesens in einem anderen Leben verspricht. Gehe man davon ab. so bleibe nichts als Ungerechtigkeit, Lüge und Heuchelei; 2) daß andererseits aber gerade das tugendhafte Leben eine entscheidende Stütze und Quelle des Glaubens sei: "Mein Sohn, sagt der Rousseausche Vikar, halten Sie 83) Ibid, I, 507. 83 a) Über die spätere Umformung dieser von Rousseau übernommenen Lehre vom Natur- und Kulturzustand im Rahmen seiner Konzeption einer Universalgeschichte der Menschengattung siehe (Bd. XV) RR 1389-1472; 1498-1501; 1521-1524; ferner Anthropologie i. pr. H. KGS VII, 321-333.

224 eigene Wahl inmitten der Üppigkeit und Verweichlichung der gesellschaftlichen Kultur in etwa jenen Standpunkt der Einfalt und Genügsamkeit wiedergewinne, den die Natur dem unzivilisierten Menschen durch die Primitivität der Lebensbedingungen aufzwingt. Das war es auch, was nach Kant (und in Wirklichkeit) Rousseau anstrebte, wenn er dem Kulturmenschen das Bild des Naturzustandes vor Augen stellte: "Wenn man die Glückseligkeit des Wilden erwägt, so ist es nicht, um in die Wälder zu kehren, sondern um zu sehen, was man verloren habe, indem man andererseits gewinnet, damit man in dem Genusse und Gebrauch der geselligen Üppigkeit nicht mit unglücklichen und unnatürlichen Neigungen daran klebe und ein gesitteter Mensch der Natur bleibe. Jene Betrachtung dient zum Richtmaße" (31,17). Treffender und kürzer könnte man die Intention Rousseaus wohl kaum ausdrücken 82. Das Ziel der Tugend ist für Rousseau wie für Kant. daß der Mensch inmitten aller geselligen Üppigkeit. aller Verfeinerung und En,tfaltung des Geschmackes innerlich frei bleibe. Herr seiner selbst und sein eigener Herr, d. h. weder der Sklave seiner eigenen Neigungen noch der der allgemeinen Meinung werde. Kant hat das Ideal des sittlich vollkommenen und zugleich glückseligen Menschen in den Bemerkungen noch anders formuliert, mit einem Begriff der frühen deutschen Aufklärungsphilosophie • der schon bei Thomasius eine entscheidende Rolle spielt: 11 die gefühlvolle Seele in Ruhe". Es handelt sich also nicht einfach um die Ruhe der Seele, die durch keinerlei leidenschaftliche Erregung gestört wird; denn diese finden wir auch im Naturzustand beim Wilden. bei dem sie auf 'Fühllosigkeit' beruht (149,6). Es ist vielmehr die ge f ü h I voll e Seele in Ruhe, d. h. jene, deren Geschmack im Stand der Üppigkeit entfaltet wurde, die aller feinen Vergnügungen des gesellschaftlichen Lebens fähig ist, die sich aber in Ruhe befindet, weil in ihr alle Empfindungen in vollkommenem Gleichgewicht sind (149,1). Sie ist das Gegenteil von übermütiger Lustigkeit, die zerstörend wirkt und lästig wird, von fieberhaften Ergötzlichkeiten, die tödliche Mattigkeit und ein stumpfes Gefühl im Gefolge haben; denn sie macht wohlwollend und gütig (cf.6,16; 62,19). Sie ist die größte Vollkommenheit und das letzte Ziel (7 ,16) und die wahre Glückseligkeit; denn .I es ist ein Hauptgrund der Glückseligkeit nicht allein angenehm zu empfinden, sondern dessen sich auch in seinem gesamten Zustand bewußt zu sein, welches durch die starke Empfindung gehindert wird (149,2). Auch zu diesem Ideal gibt es keinen andern Weg als den der Einschränkung der üppigen Neigungen: liEs ist gar nicht zur Glückseligkeit zuträglich, die Neigungen bis zur Üppigkeit zu erweitern, denn weil es ungemein viel Fälle gibt, da die Umstände diesen Neigungen nicht günstig sind, gegen einen erwünschten Fall, so machen sie eine Quelle von Verdruß, 82) Ibid. 11, 46; I, 585.

225 Gram und Sorgen, davon der einfältige Mensch nichts weiß Es hilft auch nicht hiebei die großmütige Erduldung zu predigen" cf. 52,12), Gedanken, die wir auch wieder bei Rousseau finden 83 Von diesem Ideal des Summum Bonum her erscheint nun auch der antiken Moralsysteme, des Epikur, Zeno und Anhsthenes in etwas anderer Sicht: "Darin scheint mir der Epikurus vom Zeno unterschieden zu sein, daß jener die tugendhafte Seele in Ruhe nach überwundenen moralischen Hindernissen dieser aber im Kampfe und in der Übung zu siegen vorstellte. hatte keine so hohe Idee. Er wollte, man sollte das eitle Gepränge und die falsche Glückseligkeit nur betrachten und lieber wählen ein einfälti ger als großer Mann zu sein ll (160,14). Das Ideal de.r gefühlvollen Seele in Ruhe enthält also offenbar eine S y n t h es e dieser drei Morallehren. Denn gerade der Umstand, daß die gefühlvolle Seele in Ruhe nur in der Rückkehr vom Zustand der Üppigkeit zu dem der Natur gewonnen werden kann, scheint eine Verbindung des stoischen Weges mit dem des Antisthenes unumgänglich zu machen, insofern der reine Kynizismus durch seine radikale Verachtung der Kultur wohl kaum geeignet ist zu dem Ziel der ge f'ü h I voll e n Seele In Ruhe zu führen 83a.

(45,11;

f)

Religion und Moralität

. beiden behandelten Themengruppen zeigten uns Kant m weItestgehender Ubereinstimmung mit Rousseau. Beim Thema Religion und Moralität dagegen stehen wir vor einem ähnlichen Verhältnis wie bei dem über das moralische Gefühl: wenn er auch entGrundmotive von ihm übernimmt und verarbeitet, so geht er doch m anderen Punkten wes e nt I ich übe r ihn hin aus Die einschlägige Lehre des Genfers läßt sich in folgende Punkt; zusammenfassen: 1) daß es ohne den Glauben an Gott keine wahrhafte Tugend geben könne, weil ohne Voraussetzung des Daseins Gottes nur der Böse vernünftig, der Gute aber ein Unsinniger sei. Denn nur durch den Glauben an Gott finde der Mensch seinen wahren V 0 rte i I darin, gut zu sein, auch fern von den Blicken der Menschen und ohne den Zwang der Gesetze seine Pflicht selbst auf Unkosten .zu erfüllen •• um der dauerhaften Glückseligkeit zu gemeßen, dIe ihm die Betrachtung des höchsten Wesens in einem anderen Leben verspricht. Gehe man davon ab. so bleibe nichts als Ungerechtigkeit, Lüge und Heuchelei; 2) daß andererseits aber gerade das tugendhafte Leben eine entscheidende Stütze und Quelle des Glaubens sei: "Mein Sohn, sagt der Rousseausche Vikar, halten Sie 83) Ibid, I, 507. 83 a) Über die spätere Umformung dieser von Rousseau übernommenen Lehre vom Natur- und Kulturzustand im Rahmen seiner Konzeption einer Universalgeschichte der Menschengattung siehe (Bd. XV) RR 1389-1472; 1498-1501; 1521-1524; ferner Anthropologie i. pr. H. KGS VII, 321-333.

226 Ihre Seele in dem Stand, allzeit nach dem Dasein Gottes zu verlangen und Sie werden dann niemals an Gott zweifeln". Was aber den Glauben an das Fortleben der Seele nach dem Tode angeht, so ist er ihm schon dadurch gewährleistet, daß einerseits die Stimme des Gewissens verkündet: sei gerecht und du wirst glücklich sein I und anderseits die Gerechten in diesem Leben sehr oft das Glück flieht, da sie unterdrückt und leidend sind, während die Ungerechten triumphieren; 3) daß der wahre Dienst Gottes in der Sittlichkeit selber bestehe; 4) daß sämtliche Offenbarungsreligionen, das Christentum nicht ausgenommen, nicht nur rein menschlich und zufällig bedingt sind durch Klima, Regierungsform, Wesensart der Völker und andere Lokalursachen, sondern daß sie auch der der Vernunft entstammenden natürlichen Religion nichts Wesentliches hinzufügen können und daher im Gl'unde überflüssig sind, wenn ihnen auch eine gewisse praktische Bedeutung nicht abgesprochen wird; endlich 5) daß der Glaube an die Dogmen der natürlichen Religion nicht nur von grundlegender Bedeutung für das sittliche Leben des einzelnen, sondern ebenso auch für das gesellschaftliche Leben des Staates seien, und daß deshalb, wer sie bestreite, als ein Störer der Ordnung und ein Feind der Gesellschaft Strafe verdiene. Diese Grunddogmen sind das Dasein Gottes als absolut heiligen Gesetzgebers und Richters, das Fortleben der Seele nach dem Tode des Leibes, die künftige Glückseligkeit der Guten und die Bestrafung der Bösen und endlich, soweit die natürliche Religion als Fundament des Staates fungiert, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze 84 • Ohne Zweifel ist nicht wenig von der Substanz dieser Lehren in das spätere System der Kantischen Ethik eingegangen. Um so interessanter ist es zu untersuchen, wie weit der Philosoph sie sich bereits hier in den Bemerkungen zu eigen macht bzw. wie weit er sie ausdrücklich oder auch einschlußweise verneint. Hier haben wir zunächst die bereits erwähnte Ablehnung der These, daß der Glaube an die Dogmen der natürlichen Religion eine notwendige Voraussetzung der staatlichen Gemeinschaft sei: nach Kant schickt sich die bloß natürliche Religion gar nicht für einen Staat, noch eher der Skeptiz i sm u s (32,4); vermutlich lehnt er sie deswegen als Staatsreligion ab, weil er sie nur dort für möglich hält, wo es Wissenschaft gibt (57,8) oder weil er schon damals der theoretischen Vernunft keine sichere und irrtumsfreie Erkenntnis des Daseins Gottes mehr zutraut (57,17), die auf der Tugend aufbauende praktische aber offensichtlich nicht zur Grundlage des staatlichen Zusammenlebens gemacht werden kann. Andererseits freilich schreibt er der Religion für das sittliche Leben eine nicht viel geringere Bedeutung zu als Rousseau, aber sein Standpunkt ist wes e nt I ich d i f f e ren z i e r te r. Nach dem letzteren ist der Glaube das unumgängliche Fundament aller Sittlichkeit: ohne Religion ist echte Sittlichkeit 84) Rousseau ll, 73; 83; 87; 101; 104; 107; 655-661, bes. 660.

227 und Tugend unmöglich, wird alles Betrug, Heuchelei, Selbstsucht ja die Hoffnung auf die jenseitige Glückseligkeit wird bei ihm, ent: sprechend seinem prinzipiellen Eudämonismus, zum entscheidenden sittlichen Mo ti v des Handelns. Auch Kant betont mit Nachdruck _ und hier nähert er sich durchaus der Auffassung Rousseaus - daß die Erfüllung der schwereren sittlichen Pflichten ohne religiöse Motive unmöglich sei: "Die gemeinen PfliChten bedürfen nicht zum Bewegungsgrunde der Hoffnung eines anderen Lebens, aber die größeren. Aufopferung und Selbstverleugnung hat wohl eine innere Schönheit, aber unser Gefühl der Lust darüber kann niemals an sich so s.ein, daß es den Verdruß der Ungemächlichkeit überwiege, wo nicht dIe Vorstellung eines künftigen Zustandes von der Dauer einer solchen moralischen Schönheit und der Glückseligkeit, die dadurch vergrößert werden wird, daß man sich noch tüchtiger finden wird, so zu handeln, ihr zu Hilfe kommt" (12,15). "Es muß gefragt werden, wie weit können die inneren moralischen Gründe einen Menschen bringen. Sie werden ihn vielleicht dahin bringen, daß er im Stand der Freiheit ohne große Versuchungen gut ist, aber wenn anderer Ungerechtigkeit oder der Zwang des Wahnes ihm Gewalt tun, alsdann hat diese innere Moralität nicht Macht genug, er muß Religion haben und vermittelst der Belohnungen des künftigen Lebens sich aufmuntern und die menschliche Natur ist nicht fähig einer unmittelbaren moralischen Reinigkeit. Wenn aber übernatürlicherWeise in ihm Reinigkeit gewirkt wird, so haben die künftigen Belohnungen nicht mehr die Eigenschaft der Bewegungsgründe" (28,3). Im Zustand der Gesittung also, vor allem wenn es um die Erfüllung der Pflichten geht, die große Opfer verlangen, reichen die Inneren Gründe der Sittlichkeit nicht aus. Der Mensch bedarf zur Aufmunterung der Belohnungen des künftigen Lebens, wie sie die Religion in Aussicht stellt, woraus nun aber Kant, und hier trennt er sich bereits von Rousseau, folgert, daß der Mensch damit nicht mehr einer unmittelbaren moralischen Reinigkeit fähig sei. Nur unter einer Voraussetzung sei auch hier eine Erfüllung der Pflicht aus einer reinen moralischen Gesinnung möglich: wenn diese übernatürlicher Weise in uns gewirkt werde; denn dann hätten die künftigen Belohnungen nicht mehr die Eigenschaft der Be weg g I' Ü nd e • Es wäre somit gänzlich verfehlt, aus den obigen Sätzen zu schließen, daß Kant in den Bemerkungen, etwa unter dem Eindruck Rousseaus, seine Lehre von der unmittelbaren Gutheit des sittlichen Handelns bzw. von der Notwendigkeit seiner ausschließlichen Motivierung durch die inneren Gründe des Guten selbst, wie er sie in der Preisschrift , den Beobachtungen und auch in den Träumen fordert, aufgegeben oder auch nur abgeschwächt habe. lassen sich neben der bereits erwähnten Reflexion, nach der die natürliche Sittlichkeit der Probierstein aller Religion sein muß. weil die natürliche Empfindung zureichend sei zu aller Pflichtausübung

226 Ihre Seele in dem Stand, allzeit nach dem Dasein Gottes zu verlangen und Sie werden dann niemals an Gott zweifeln". Was aber den Glauben an das Fortleben der Seele nach dem Tode angeht, so ist er ihm schon dadurch gewährleistet, daß einerseits die Stimme des Gewissens verkündet: sei gerecht und du wirst glücklich sein I und anderseits die Gerechten in diesem Leben sehr oft das Glück flieht, da sie unterdrückt und leidend sind, während die Ungerechten triumphieren; 3) daß der wahre Dienst Gottes in der Sittlichkeit selber bestehe; 4) daß sämtliche Offenbarungsreligionen, das Christentum nicht ausgenommen, nicht nur rein menschlich und zufällig bedingt sind durch Klima, Regierungsform, Wesensart der Völker und andere Lokalursachen, sondern daß sie auch der der Vernunft entstammenden natürlichen Religion nichts Wesentliches hinzufügen können und daher im Gl'unde überflüssig sind, wenn ihnen auch eine gewisse praktische Bedeutung nicht abgesprochen wird; endlich 5) daß der Glaube an die Dogmen der natürlichen Religion nicht nur von grundlegender Bedeutung für das sittliche Leben des einzelnen, sondern ebenso auch für das gesellschaftliche Leben des Staates seien, und daß deshalb, wer sie bestreite, als ein Störer der Ordnung und ein Feind der Gesellschaft Strafe verdiene. Diese Grunddogmen sind das Dasein Gottes als absolut heiligen Gesetzgebers und Richters, das Fortleben der Seele nach dem Tode des Leibes, die künftige Glückseligkeit der Guten und die Bestrafung der Bösen und endlich, soweit die natürliche Religion als Fundament des Staates fungiert, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze 84 • Ohne Zweifel ist nicht wenig von der Substanz dieser Lehren in das spätere System der Kantischen Ethik eingegangen. Um so interessanter ist es zu untersuchen, wie weit der Philosoph sie sich bereits hier in den Bemerkungen zu eigen macht bzw. wie weit er sie ausdrücklich oder auch einschlußweise verneint. Hier haben wir zunächst die bereits erwähnte Ablehnung der These, daß der Glaube an die Dogmen der natürlichen Religion eine notwendige Voraussetzung der staatlichen Gemeinschaft sei: nach Kant schickt sich die bloß natürliche Religion gar nicht für einen Staat, noch eher der Skeptiz i sm u s (32,4); vermutlich lehnt er sie deswegen als Staatsreligion ab, weil er sie nur dort für möglich hält, wo es Wissenschaft gibt (57,8) oder weil er schon damals der theoretischen Vernunft keine sichere und irrtumsfreie Erkenntnis des Daseins Gottes mehr zutraut (57,17), die auf der Tugend aufbauende praktische aber offensichtlich nicht zur Grundlage des staatlichen Zusammenlebens gemacht werden kann. Andererseits freilich schreibt er der Religion für das sittliche Leben eine nicht viel geringere Bedeutung zu als Rousseau, aber sein Standpunkt ist wes e nt I ich d i f f e ren z i e r te r. Nach dem letzteren ist der Glaube das unumgängliche Fundament aller Sittlichkeit: ohne Religion ist echte Sittlichkeit 84) Rousseau ll, 73; 83; 87; 101; 104; 107; 655-661, bes. 660.

227 und Tugend unmöglich, wird alles Betrug, Heuchelei, Selbstsucht ja die Hoffnung auf die jenseitige Glückseligkeit wird bei ihm, ent: sprechend seinem prinzipiellen Eudämonismus, zum entscheidenden sittlichen Mo ti v des Handelns. Auch Kant betont mit Nachdruck _ und hier nähert er sich durchaus der Auffassung Rousseaus - daß die Erfüllung der schwereren sittlichen Pflichten ohne religiöse Motive unmöglich sei: "Die gemeinen PfliChten bedürfen nicht zum Bewegungsgrunde der Hoffnung eines anderen Lebens, aber die größeren. Aufopferung und Selbstverleugnung hat wohl eine innere Schönheit, aber unser Gefühl der Lust darüber kann niemals an sich so s.ein, daß es den Verdruß der Ungemächlichkeit überwiege, wo nicht dIe Vorstellung eines künftigen Zustandes von der Dauer einer solchen moralischen Schönheit und der Glückseligkeit, die dadurch vergrößert werden wird, daß man sich noch tüchtiger finden wird, so zu handeln, ihr zu Hilfe kommt" (12,15). "Es muß gefragt werden, wie weit können die inneren moralischen Gründe einen Menschen bringen. Sie werden ihn vielleicht dahin bringen, daß er im Stand der Freiheit ohne große Versuchungen gut ist, aber wenn anderer Ungerechtigkeit oder der Zwang des Wahnes ihm Gewalt tun, alsdann hat diese innere Moralität nicht Macht genug, er muß Religion haben und vermittelst der Belohnungen des künftigen Lebens sich aufmuntern und die menschliche Natur ist nicht fähig einer unmittelbaren moralischen Reinigkeit. Wenn aber übernatürlicherWeise in ihm Reinigkeit gewirkt wird, so haben die künftigen Belohnungen nicht mehr die Eigenschaft der Bewegungsgründe" (28,3). Im Zustand der Gesittung also, vor allem wenn es um die Erfüllung der Pflichten geht, die große Opfer verlangen, reichen die Inneren Gründe der Sittlichkeit nicht aus. Der Mensch bedarf zur Aufmunterung der Belohnungen des künftigen Lebens, wie sie die Religion in Aussicht stellt, woraus nun aber Kant, und hier trennt er sich bereits von Rousseau, folgert, daß der Mensch damit nicht mehr einer unmittelbaren moralischen Reinigkeit fähig sei. Nur unter einer Voraussetzung sei auch hier eine Erfüllung der Pflicht aus einer reinen moralischen Gesinnung möglich: wenn diese übernatürlicher Weise in uns gewirkt werde; denn dann hätten die künftigen Belohnungen nicht mehr die Eigenschaft der Be weg g I' Ü nd e • Es wäre somit gänzlich verfehlt, aus den obigen Sätzen zu schließen, daß Kant in den Bemerkungen, etwa unter dem Eindruck Rousseaus, seine Lehre von der unmittelbaren Gutheit des sittlichen Handelns bzw. von der Notwendigkeit seiner ausschließlichen Motivierung durch die inneren Gründe des Guten selbst, wie er sie in der Preisschrift , den Beobachtungen und auch in den Träumen fordert, aufgegeben oder auch nur abgeschwächt habe. lassen sich neben der bereits erwähnten Reflexion, nach der die natürliche Sittlichkeit der Probierstein aller Religion sein muß. weil die natürliche Empfindung zureichend sei zu aller Pflichtausübung

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dieses Lebens (cf. 19,21) eine Reihe weiterer anführen, die jene Interpretation völlig ausschließen: "Man muß durchaus, wenn man die Mc'"alität bilden will, keine Bewegungsgründe anführen, die die Handlung nicht moralisch gut machen würden, e. g. Strafen, Lohn. Daher muß man auch die Lüge unmittelbar häßlich schildern und wie sie es auch in der Tat ist, keiner anderen Regel der Moralität, z. E. der Pflicht gegen andere unterordnen" (24,21). "Die Drohung der ewigen Bestrafung kann nicht der unmittelbare Grund moralisch guter Handlungen sein, aber wohl ein starkes Gegengewicht gegen die Reizungen zum Bösen, damit die unmittelbare Empfindung der Moralität nicht überwogen werde" (18,6). Und an einer anderen Stelle betont er, wie wir bereits sahen, ausdrücklich, daß eine Morallehre, die, um das Wohlverhalten zu befördern, lediglich die Befehle eines lohnenden und strafenden Oberherrn zugrunde legt, alle unmittelbare (d. h. innere d. Verf. ) Moralität beiseite setzt (cf. 39,11). Das gleiche meint er mit der Frage: "Ob Gott der Urheber der Moralität sei, d. i. ob wir das Gute vom Bösen nur durch den erkannten Willen Gottes unterscheiden können" (137,3; cf. 56,3). Kant ist also in den Bemerkungen um k ein e s Ha are s B r ei te von seiner früheren Überzeugung abgewichen; denn die zuletzt angeführten Reflexionen decken sich völlig mit den entsprechenden entscheidenden Ausführungen im praktischen Schluß der Träume eines Geistersehers 85. Aber auch jene, die die Notwendigkeit der Religion und ihrer Verheißungen betonen, geben selber Zeugnis für diesen Standpunkt: Wenn er zugibt, daß wir es natürlicher Weise in der Erfüllung der schwereren Pflichten zu keiner unmittelbaren moralischen Reinigkeit mehr bringen, weil wir der Motivierung durch den künftigen Lohn dazu nötig haben, so ist das nichts anderes als die schärfste Formulierung der These, daß die echte sittliche Gesinnung unbedingt die rein moralische Motivierung unabhängig von Beweggründen der Glückseligkeit verlangt. Seine Auffassung ist also noch genau dieselbe wie in den Beobachtungen, wo den hilfeleistenden moralischen Instinkten die gleiche Rolle zugeschrieben wurde wie hier der Hoffnung auf die zukünftige Belohnung: nämlich entweder als Gegengewicht gegen die hemmenden Widerstände und Verlockungen der Sinnlichkeit (cf. 18,6) oder als Er s atz der eigentlichen moralischen Motivierung zu dienen, in welch letzterem Fall aber von einer moralischen Gesinnung im eigentlichen Sinn nicht mehr gesprochen werden kann. Der Gegen s atz zuR 0 u s s e au , der in der Begründung der Sittlichkeit einen ausgesprochenen Eu d ä mon i s mus vertritt und daher auch die Hoffnung auf die künftige Belohnung ohne Bedenken als die eigentliche sittliche Motivierung anerkennt, ist hier Aber noch in einem anderen unterscheidet sich Kant wesentllch von dem letzteren: er gibt die Möglichkeit zu, daß bei den schwe85) KGS II, 372 f.

reren Pflichten diese innere moralische Reinigkeit des Willens, für die die künftigen Belohnungen nicht mehr die Rolle der Bewegungsgründe haben können, in uns übe rn at ü r 1 ich, d. h. durch die Gnade gewirkt wird, während Rousseau eine göttliche Hilfe als dem Wesen der Freiheit widersprechend grundsätzlich ablehnt 86. Dieser Gedanke einer übernatürlichen Beihilfe zum sittlich guten Handeln begegnet uns aber auch sonst öfters in den Bemerkungen: so heißt es dort, daß es nicht nur eine vollkommenste moralische Welt nach der Ordnung der Natur gebe, sondern auch eine übernatürliche (16, 4); daß die heilige Schrift mehr auf die moralische Verbesserung wirke, wenn übernatürliche Kräfte dazu kommen, die gute moralische Erziehung dagegen mehr, wenn alles nach der Ordnung der Natur geschehen soll (16,14; cf. 22,27; bes. 190,6). Diese Hoffnung auf eine göttliche Beihilfe, um zu der für uns Menschen in vielen Situationen nicht möglichen moralischen Reinigkeit der Gesinnung zu gelangen, ist aber bei Kant nicht etwa etwas E pis 0 dis c h es, das uns nur hier in den Bemerkungen begegnen würde, sondern bleibt ein Element auch seines späteren Systems 87. Und noch in einem weiteren Punkt geht Kant wesentlich übe r R 0 u s s e au hin aus: nicht nur daß er die übernatürliche Offenbarungsreligion in der einen oder anderen Weise als einen pos i t iv e n Faktor für das sittliche Leben anerkennt, (während der letztere sie als bloßes Menschenwerk abtut, aus dem im Grunde nichts Positives für das sittliche Leben gewonnen werden sondern vor allem durch die These, daß die Moral nach der bloß natürlichen Ordnung keine Heiligkeit, die vor Gott rechtfertigend ist, hervorbringen kann. "Frömmigkeit ist das Mittel des Complementi der moralischen Bonität zur Heiligkeit. In der Relation eines Menschen zum anderen ist davon nicht die Frage. Wir können natürlicher Weise nicht heilig sein und dieses haben wir durch Erbsünde verloren, wir können aber wohl moralisch gut sein" (15,4). Der zweite Satz wird gleich näher erläutert: "Fragen wir wohl danach,ob der Mensch seine Handlungen der Redlichkeit, der Treue etc. aus der Betrachtung einer göttlichen Verbindlichkeit unternimmt, wenn er nur jene ausübt, obgleich diese Handlungen, insofern sie nicht dadurch geschehen, vor Gott verwerflich sind" (15,12). Damit ist gesagt, daß die Frömmigkeit, durch die die moralische Bonität zur Heiligkeit vervollständigt und eben dadurch in den Augen Gottes wohlgefällig wird, entscheidend darin besteht, daß der Mensch seine sittlichen Pflichten aus der Betrachtung einer g ö t t 1 ich e n Ver bin d li c h k e i t erfüllt, daß wir aber das Vermögen zu dieser Frömmigkeit bzw. Heiligkeit durch die Erbsünde verloren haben. Demgemäß heißt es in einer der folgenden Reflexionen: "Die heilige Schrift wirkt 86) Rousseau II, 85. 87) Cf. Vorl. S. 80; 103 ff. ; 115; Kr. d. pr. V. : KGS V, S.127 f. (Anmerkung) 88) Rousseau H, 87.

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dieses Lebens (cf. 19,21) eine Reihe weiterer anführen, die jene Interpretation völlig ausschließen: "Man muß durchaus, wenn man die Mc'"alität bilden will, keine Bewegungsgründe anführen, die die Handlung nicht moralisch gut machen würden, e. g. Strafen, Lohn. Daher muß man auch die Lüge unmittelbar häßlich schildern und wie sie es auch in der Tat ist, keiner anderen Regel der Moralität, z. E. der Pflicht gegen andere unterordnen" (24,21). "Die Drohung der ewigen Bestrafung kann nicht der unmittelbare Grund moralisch guter Handlungen sein, aber wohl ein starkes Gegengewicht gegen die Reizungen zum Bösen, damit die unmittelbare Empfindung der Moralität nicht überwogen werde" (18,6). Und an einer anderen Stelle betont er, wie wir bereits sahen, ausdrücklich, daß eine Morallehre, die, um das Wohlverhalten zu befördern, lediglich die Befehle eines lohnenden und strafenden Oberherrn zugrunde legt, alle unmittelbare (d. h. innere d. Verf. ) Moralität beiseite setzt (cf. 39,11). Das gleiche meint er mit der Frage: "Ob Gott der Urheber der Moralität sei, d. i. ob wir das Gute vom Bösen nur durch den erkannten Willen Gottes unterscheiden können" (137,3; cf. 56,3). Kant ist also in den Bemerkungen um k ein e s Ha are s B r ei te von seiner früheren Überzeugung abgewichen; denn die zuletzt angeführten Reflexionen decken sich völlig mit den entsprechenden entscheidenden Ausführungen im praktischen Schluß der Träume eines Geistersehers 85. Aber auch jene, die die Notwendigkeit der Religion und ihrer Verheißungen betonen, geben selber Zeugnis für diesen Standpunkt: Wenn er zugibt, daß wir es natürlicher Weise in der Erfüllung der schwereren Pflichten zu keiner unmittelbaren moralischen Reinigkeit mehr bringen, weil wir der Motivierung durch den künftigen Lohn dazu nötig haben, so ist das nichts anderes als die schärfste Formulierung der These, daß die echte sittliche Gesinnung unbedingt die rein moralische Motivierung unabhängig von Beweggründen der Glückseligkeit verlangt. Seine Auffassung ist also noch genau dieselbe wie in den Beobachtungen, wo den hilfeleistenden moralischen Instinkten die gleiche Rolle zugeschrieben wurde wie hier der Hoffnung auf die zukünftige Belohnung: nämlich entweder als Gegengewicht gegen die hemmenden Widerstände und Verlockungen der Sinnlichkeit (cf. 18,6) oder als Er s atz der eigentlichen moralischen Motivierung zu dienen, in welch letzterem Fall aber von einer moralischen Gesinnung im eigentlichen Sinn nicht mehr gesprochen werden kann. Der Gegen s atz zuR 0 u s s e au , der in der Begründung der Sittlichkeit einen ausgesprochenen Eu d ä mon i s mus vertritt und daher auch die Hoffnung auf die künftige Belohnung ohne Bedenken als die eigentliche sittliche Motivierung anerkennt, ist hier Aber noch in einem anderen unterscheidet sich Kant wesentllch von dem letzteren: er gibt die Möglichkeit zu, daß bei den schwe85) KGS II, 372 f.

reren Pflichten diese innere moralische Reinigkeit des Willens, für die die künftigen Belohnungen nicht mehr die Rolle der Bewegungsgründe haben können, in uns übe rn at ü r 1 ich, d. h. durch die Gnade gewirkt wird, während Rousseau eine göttliche Hilfe als dem Wesen der Freiheit widersprechend grundsätzlich ablehnt 86. Dieser Gedanke einer übernatürlichen Beihilfe zum sittlich guten Handeln begegnet uns aber auch sonst öfters in den Bemerkungen: so heißt es dort, daß es nicht nur eine vollkommenste moralische Welt nach der Ordnung der Natur gebe, sondern auch eine übernatürliche (16, 4); daß die heilige Schrift mehr auf die moralische Verbesserung wirke, wenn übernatürliche Kräfte dazu kommen, die gute moralische Erziehung dagegen mehr, wenn alles nach der Ordnung der Natur geschehen soll (16,14; cf. 22,27; bes. 190,6). Diese Hoffnung auf eine göttliche Beihilfe, um zu der für uns Menschen in vielen Situationen nicht möglichen moralischen Reinigkeit der Gesinnung zu gelangen, ist aber bei Kant nicht etwa etwas E pis 0 dis c h es, das uns nur hier in den Bemerkungen begegnen würde, sondern bleibt ein Element auch seines späteren Systems 87. Und noch in einem weiteren Punkt geht Kant wesentlich übe r R 0 u s s e au hin aus: nicht nur daß er die übernatürliche Offenbarungsreligion in der einen oder anderen Weise als einen pos i t iv e n Faktor für das sittliche Leben anerkennt, (während der letztere sie als bloßes Menschenwerk abtut, aus dem im Grunde nichts Positives für das sittliche Leben gewonnen werden sondern vor allem durch die These, daß die Moral nach der bloß natürlichen Ordnung keine Heiligkeit, die vor Gott rechtfertigend ist, hervorbringen kann. "Frömmigkeit ist das Mittel des Complementi der moralischen Bonität zur Heiligkeit. In der Relation eines Menschen zum anderen ist davon nicht die Frage. Wir können natürlicher Weise nicht heilig sein und dieses haben wir durch Erbsünde verloren, wir können aber wohl moralisch gut sein" (15,4). Der zweite Satz wird gleich näher erläutert: "Fragen wir wohl danach,ob der Mensch seine Handlungen der Redlichkeit, der Treue etc. aus der Betrachtung einer göttlichen Verbindlichkeit unternimmt, wenn er nur jene ausübt, obgleich diese Handlungen, insofern sie nicht dadurch geschehen, vor Gott verwerflich sind" (15,12). Damit ist gesagt, daß die Frömmigkeit, durch die die moralische Bonität zur Heiligkeit vervollständigt und eben dadurch in den Augen Gottes wohlgefällig wird, entscheidend darin besteht, daß der Mensch seine sittlichen Pflichten aus der Betrachtung einer g ö t t 1 ich e n Ver bin d li c h k e i t erfüllt, daß wir aber das Vermögen zu dieser Frömmigkeit bzw. Heiligkeit durch die Erbsünde verloren haben. Demgemäß heißt es in einer der folgenden Reflexionen: "Die heilige Schrift wirkt 86) Rousseau II, 85. 87) Cf. Vorl. S. 80; 103 ff. ; 115; Kr. d. pr. V. : KGS V, S.127 f. (Anmerkung) 88) Rousseau H, 87.

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230 mehr auf die Verbesserung, wenn übernatürliche Kräfte dazukommen die gute moralische Erziehung mehr, wenn alles bloß nach der der Natur geschehen soll. - Ich gestehe es, daß wir dur.ch die letztere keine Heiligkeit, welche rechtfertigend ist, hervorbrmgen können, aber wir können doch eine moralische foro humano hervorbringen, und diese ist jener sogar beforderhch (16,14-17,4). Im Sinn des Vorausgehenden ist der Relativsatz 'welche rechtfertigend ist' ex p l i kat i v zu verstehen, also, daß die wahre moralische He i li g k ei t in jedem Fall rechtfertigend ist. Wenn sagt, daß wir natürlicher Weise zu keiner Helhgkeit fähig sind, so heißt das allerdings noch nicht, daß durch die Kräfte der Natur auch zu keinerlei FrömmigkeIt, d.h. zu keiner Erfüllung der sittlichen Forderungen um der göttlichen Verbindlichkeit willen fähig seien, daß also jede Form der Frömmigkeit übernatürlich gewirkt werden müsse. Letzter.es scheint.:reilich nahegelegt , wenn er betont, wir könnten aus eIgenen Kraften bloß eine Bonität coram foro humano hervorbringen, also nur Handlungen, die vor Gott verwerflich sind, weil sie nicht aus Motiv der göttlichen Verbindlichkeit entspringen. Damit würde er sIch in einen radikalen Gegensatz stellen zu Wolff wie zu Shaftesbury, dIe beide darin übereinstimmen, daß die Tugend erst durch die Frömmigkeit vollendet werden kann und folglich im Namen der natürlichen Sittlichkeit deren Weiterführung zur letzteren verlangen 89. Gegen diese Deutung aber sprechen eine Reihe von in Kant offenbar voraussetzt, daß der Mensch durch seme na t ur 11 c he n Kräfte von der Sittlichkeit zur Frömmigkeit fortschrei ten kann. Es sind vor allem jene, die sich mit dem Verhältnis zwischen Theologie und Religion befassen: "Natürliche Theologie, natürliche Religion. Eine übernatürliche The?logi: kann mit einer natürlichen Religion verbunden sem. DIe so dIe chnsthche Theologie glauben, haben gleichwohl nur eine natürliche Religion, so fern die Moralität natürlich ist. Die ist in Ansehung der Lehre und auch der Kräfte SIe auszuuben ubernatürlich •• " (57,10). Ferner: "Derjenige, der Gott erkennt, aber nur durch die natürliche gute Moralität zu solchen Handlungen gebracht wird, hat Theologie, 0 der wen n erG 0 t t ums ein e r Moralität willen ehret, so ist dieses nur eine Mora l i t ä t der enG e gen s ta n der w e i te r t wo r den. Christen können eben so wenig selig werden, wenn ihr Glaube nicht lebendig ist als die gar keine Offenbarung haben, bei jenen aber ist mehr geschehen als was natürlich zugeht" (104,18). Unter Theologl: versteht er offenbar den bloßen Glauben an die Lehre von Gott, seI sie aus der bloßen Vernunft gewonnen (natürliche Theologie) oder 89) Chr. Wolff, Pnil. pr. univ. § 225; 337 ff.; Von der Menschen Tun und Lassen, § 656 ff.; Shaftesbury, Inquiry concerning Virtue (1699) (Übers. Ziertmann, Meiner, Lpz.) S.47 f.

0t'

231 aus der Offenbarung (übernatürliche Theologie), unter Religion aber die Erfüllung de ssen, was Gott will, d. h. der sittlichen Pflichten aus diesem Glauben an Gott. Wenn er nun auf die Möglichkeit hinweist, daß solche, die die christliche Theologie glauben, gleichwohl nur eine natürliche Religion haben, wenn nämlich ihre Moralität bloß natürlich ist, so bejaht er damit, daß man auch aus natürlichen Kräften Religion und damit Frömmigkeit haben, also auch natürlicher Weise die sittlichen Pflichten aus dem Motiv der göttlichen Verbindlichkeit erfüllen kann. Das wird noch deutlicher aus der zuletzt angeführten Reflexion, in der auch dem, der Gott erkennt, aber nur durch natürliche gute Moralität 'zu solchen Handlungen gebracht wird', bloße Theologie zuerkannt wird, aber zugleich auch die Möglichkeit, daß er 'um seiner Moralität willen' Gott ehrt. Was mit 'um seiner Moralität willen' präzise gemeint ist, läßt sich aus dem Ausdruck nicht ohne weiteres entscheiden, wird aber aus anderen Bemerkungen deutlicher, in denen die natürliche Andacht als F 0 I g e einer guten Moralität bezeichnet wird im Unterschied zu der durch den Geist Gottes gewirkten übernatürlichen (22,27); auf jeden Fall wird also damit zugegeben, daß der Mensch von der bloß natürlichen Moralität aus zur Verehrung Gottes und damit zur Frömmigkeit fortschreiten kann, die dann allerdings nur eine Moralität darstellen soll, deren Gegenstand erweitert worden (cf. 23,12). Damit haben wir auch nach ihm eine natürliche Religion von der spezifisch übernatürlichen, wie der christlichen, zu unterscheiden, die 'sowohl in Ansehung der Lehre wie auch der Kr ä ft e sie auszuüben übernatürlich ist'. Die Lösung des Problems, wie dieser Standpunkt, der dem Wolffs, Rousseaus und Shaftesburys, soweit er die natürliche Religion betrifft, im wesentlichen entspricht, mit jenem anderen vereinbar sei, daß wir natürlicher Weise kein Vermögen zur rechtfertigenden Heiligkeit haben, scheint mir in folgenden Reflexionen enthalten zu sein: "Der natürliche Mensch ohne Religion ist dem gesitteten mit der bloßen natürlichen Religion weit vorzuziehen; denn diese seine Sittlichkeit müßte hohe Grade haben, wenn sie ein Gegengewicht seinem Verderben leisten sollte" (57,1; cf. 104,13). NachKant reicht also die bloße natürliche Religion mit der darin implizierten Frömmigkeit nicht hin, um dem Verderben des gesitteten Zustandes ein wirksames Gegengewicht entgegenzustellen und damit zur sittlichen Vollkommenheit zu gelangen. Das scheint in der Tat der Grund zu sein, warum er dem Menschen das natürliche Vermögen zur re c h tf e rt i gen den Heiligkeit abspricht. Nur die übernatürliche Religion mit ihrer übernatürlichen Einwirkung wird als ausreichend zur Überwindung der angestammten Schwäche des erbsündigen Menschen betrachtet. Was nun die Wirkung dieser übernatürlichen Religion auf die Verbesserung der Sittlichkeit angeht, so unterscheidet er z w ei

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230 mehr auf die Verbesserung, wenn übernatürliche Kräfte dazukommen die gute moralische Erziehung mehr, wenn alles bloß nach der der Natur geschehen soll. - Ich gestehe es, daß wir dur.ch die letztere keine Heiligkeit, welche rechtfertigend ist, hervorbrmgen können, aber wir können doch eine moralische foro humano hervorbringen, und diese ist jener sogar beforderhch (16,14-17,4). Im Sinn des Vorausgehenden ist der Relativsatz 'welche rechtfertigend ist' ex p l i kat i v zu verstehen, also, daß die wahre moralische He i li g k ei t in jedem Fall rechtfertigend ist. Wenn sagt, daß wir natürlicher Weise zu keiner Helhgkeit fähig sind, so heißt das allerdings noch nicht, daß durch die Kräfte der Natur auch zu keinerlei FrömmigkeIt, d.h. zu keiner Erfüllung der sittlichen Forderungen um der göttlichen Verbindlichkeit willen fähig seien, daß also jede Form der Frömmigkeit übernatürlich gewirkt werden müsse. Letzter.es scheint.:reilich nahegelegt , wenn er betont, wir könnten aus eIgenen Kraften bloß eine Bonität coram foro humano hervorbringen, also nur Handlungen, die vor Gott verwerflich sind, weil sie nicht aus Motiv der göttlichen Verbindlichkeit entspringen. Damit würde er sIch in einen radikalen Gegensatz stellen zu Wolff wie zu Shaftesbury, dIe beide darin übereinstimmen, daß die Tugend erst durch die Frömmigkeit vollendet werden kann und folglich im Namen der natürlichen Sittlichkeit deren Weiterführung zur letzteren verlangen 89. Gegen diese Deutung aber sprechen eine Reihe von in Kant offenbar voraussetzt, daß der Mensch durch seme na t ur 11 c he n Kräfte von der Sittlichkeit zur Frömmigkeit fortschrei ten kann. Es sind vor allem jene, die sich mit dem Verhältnis zwischen Theologie und Religion befassen: "Natürliche Theologie, natürliche Religion. Eine übernatürliche The?logi: kann mit einer natürlichen Religion verbunden sem. DIe so dIe chnsthche Theologie glauben, haben gleichwohl nur eine natürliche Religion, so fern die Moralität natürlich ist. Die ist in Ansehung der Lehre und auch der Kräfte SIe auszuuben ubernatürlich •• " (57,10). Ferner: "Derjenige, der Gott erkennt, aber nur durch die natürliche gute Moralität zu solchen Handlungen gebracht wird, hat Theologie, 0 der wen n erG 0 t t ums ein e r Moralität willen ehret, so ist dieses nur eine Mora l i t ä t der enG e gen s ta n der w e i te r t wo r den. Christen können eben so wenig selig werden, wenn ihr Glaube nicht lebendig ist als die gar keine Offenbarung haben, bei jenen aber ist mehr geschehen als was natürlich zugeht" (104,18). Unter Theologl: versteht er offenbar den bloßen Glauben an die Lehre von Gott, seI sie aus der bloßen Vernunft gewonnen (natürliche Theologie) oder 89) Chr. Wolff, Pnil. pr. univ. § 225; 337 ff.; Von der Menschen Tun und Lassen, § 656 ff.; Shaftesbury, Inquiry concerning Virtue (1699) (Übers. Ziertmann, Meiner, Lpz.) S.47 f.

0t'

231 aus der Offenbarung (übernatürliche Theologie), unter Religion aber die Erfüllung de ssen, was Gott will, d. h. der sittlichen Pflichten aus diesem Glauben an Gott. Wenn er nun auf die Möglichkeit hinweist, daß solche, die die christliche Theologie glauben, gleichwohl nur eine natürliche Religion haben, wenn nämlich ihre Moralität bloß natürlich ist, so bejaht er damit, daß man auch aus natürlichen Kräften Religion und damit Frömmigkeit haben, also auch natürlicher Weise die sittlichen Pflichten aus dem Motiv der göttlichen Verbindlichkeit erfüllen kann. Das wird noch deutlicher aus der zuletzt angeführten Reflexion, in der auch dem, der Gott erkennt, aber nur durch natürliche gute Moralität 'zu solchen Handlungen gebracht wird', bloße Theologie zuerkannt wird, aber zugleich auch die Möglichkeit, daß er 'um seiner Moralität willen' Gott ehrt. Was mit 'um seiner Moralität willen' präzise gemeint ist, läßt sich aus dem Ausdruck nicht ohne weiteres entscheiden, wird aber aus anderen Bemerkungen deutlicher, in denen die natürliche Andacht als F 0 I g e einer guten Moralität bezeichnet wird im Unterschied zu der durch den Geist Gottes gewirkten übernatürlichen (22,27); auf jeden Fall wird also damit zugegeben, daß der Mensch von der bloß natürlichen Moralität aus zur Verehrung Gottes und damit zur Frömmigkeit fortschreiten kann, die dann allerdings nur eine Moralität darstellen soll, deren Gegenstand erweitert worden (cf. 23,12). Damit haben wir auch nach ihm eine natürliche Religion von der spezifisch übernatürlichen, wie der christlichen, zu unterscheiden, die 'sowohl in Ansehung der Lehre wie auch der Kr ä ft e sie auszuüben übernatürlich ist'. Die Lösung des Problems, wie dieser Standpunkt, der dem Wolffs, Rousseaus und Shaftesburys, soweit er die natürliche Religion betrifft, im wesentlichen entspricht, mit jenem anderen vereinbar sei, daß wir natürlicher Weise kein Vermögen zur rechtfertigenden Heiligkeit haben, scheint mir in folgenden Reflexionen enthalten zu sein: "Der natürliche Mensch ohne Religion ist dem gesitteten mit der bloßen natürlichen Religion weit vorzuziehen; denn diese seine Sittlichkeit müßte hohe Grade haben, wenn sie ein Gegengewicht seinem Verderben leisten sollte" (57,1; cf. 104,13). NachKant reicht also die bloße natürliche Religion mit der darin implizierten Frömmigkeit nicht hin, um dem Verderben des gesitteten Zustandes ein wirksames Gegengewicht entgegenzustellen und damit zur sittlichen Vollkommenheit zu gelangen. Das scheint in der Tat der Grund zu sein, warum er dem Menschen das natürliche Vermögen zur re c h tf e rt i gen den Heiligkeit abspricht. Nur die übernatürliche Religion mit ihrer übernatürlichen Einwirkung wird als ausreichend zur Überwindung der angestammten Schwäche des erbsündigen Menschen betrachtet. Was nun die Wirkung dieser übernatürlichen Religion auf die Verbesserung der Sittlichkeit angeht, so unterscheidet er z w ei

232 mögliche Methoden: 1) mit der Offenbarung der Geheimnisse anzufangen und von der göttlichen übernatürlichen Einwirkung eine Heiligung des Herzens zu erwarten; 2) von der Verbesserung der Moralität nach der Ordnung der Natur anzufangen und nach der größtmöglichen darauf gewandten Bemühung die übernatürliche Beihilfe nach der Ordnung der göttlichen Offenbarung zu erwarten (cf. 190 ,6). Daß er der letzteren den Vorzug gibt, wird aus gelegentlichen Bemerkungen klar, die wiederum ganz Rousseauschen Geist atmen, wie z. B.: "Kann wohl etwas verkehrter sein als den Kindern, die kaum in diese Welt treten, gleich von der anderen etwas vorzureden" (27,6). Und wenn er auch grundsätzlich einen Nutzen der Religion anerkennt, der unmittelbar auf die künftige Seli g k e i t gerichtet ist, wozu Fasten, Zeremonien und Kasteiungen dienlich sein können, so besteht nach ihm doch der natürlichste erste darin, daß sie 11 die Sitten so richtet, daß sie gut sind zur Erfüllung des Postens in der gegenwärtigen Welt, damit man dadurch würdig sei der künftigen". Soll aber dieser 'einheimische' Nutzen erreicht werden, betont er, so muß die Moralität eher wie die Religion excoliert. also ganz im Sinn des eben bezeichneten zweiten Weges verfahren werden (189.11). Wenn wir einerseits auf Reflexionen stoßen, die eine fast ablehnende Haltung der Religion gegenüber auszudrücken scheinen, wie die eben erwähnte (27,6) oder die in anderem Zusammenhang angeführten: daß sich die bloße natürliche Religion nicht für einen Staat schicke. sondern eher der Skeptizismus (32.4), daß der Mensch der Natur keine wahre Religion haben könne und ihrer auch nicht bedürfe daß die Theorie der natürlichen Religion nur wahr sein könne, Wissenschaft ist. und daher nicht alle Menschen verbinden könne (57.6). daß die bürgerlichen Religionen und auch der Religionszwang aus dem Luxus notwendig würden (32.1). so geht aus anderen doch wieder hervor, wie ernst er die Rolle der Religion für das sittliche Leben nimmt. Bedeutsam ist hier vor allem. was er im zweiten Teil der Bemerkungen über das Verhältnis der potestas legislatoria divina zum menschlichen Willen ausführt. Der Wille des Menschen sei auf Grund der Schöpfung in ähnlicher Weise dem göttlichen Willen unterworfen wie der Wille des Kindes dem seiner Eltern: wie das Kind keinen eigenen kompleten Willen hat, weil es nur durch den der Eltern leben kann und insofern eine Sache der letzteren ist, wie es deshalb moralisch gut ist. daß es von ihnen regiert werde: so gehören auch wir gleichsam zu den göttlichen Sachen, weil wir allein durch ihn und seinen Willen sind. Darum könne manches dem Willen Gottes gemäß sein. was aus inneren Bewegungsgründen gar nicht gut wäre, z. B. seinen Sohn zu schlachten, worauf die Bonität des Gehorsams beruhe. "Mein Wille nach seiner Bestimmung ist jederzeit dem Willen Gottes unterworfen, er stimmt also mit sich selbst am besten zusammen, wenn er mit dem göttlichen zusammenstimmt und

233 es ist unmöglich, daß es böse sei, dem göttlichen Willen gemäß zu sein" (67.11-68,8). Das Verhältnis zu der potestas legislatoria divina modifiziert sich aber auf den verschiedenen Stufen der göttlichen Offenbarung: "Die gesetzgebende Gewalt Gottes beim ersten Menschen gründet sich auf das Eigentum. Der Mensch war frisch in die Welt gesetzt. alle Bäume gehörten Gott und er verbat ihm einen" (90,6). IfDiese Idee hörete auf. Die gesetzgebende Gewalt Gottes über das jüdische Volk gründet sich auf den gesellschaftlichen Vert rag. Gott wollte sie aus Ägypten führen und ihnen ein ander Land geben, wenn sie ihm gehorcheten ••• Im neuen Testament hört dieser Grund auf. Es wird der allgemeine Grund der gesetzgebenden Gewalt vorausgesetzt, aber die Verbindlichkeit beruhet bloß auf einer Gü t i g k e i t • welche sich nicht aller Strenge bedienen will. Dieses ist alsdann im eigentlichen Christentum ganz dem Gesetzgeber aufgehoben und der Vater eingeführt" (90,9). Was mit letzterem gemeint ist, geht aus der unmittelbar folgenden Reflexion hervor: "paulus urteilt. daß das Gesetz nur Unwillen mache, weil es verursacht, daß man ungern tut. was befohlen ist. und so ist es auch. Deswegen sieht er das Gesetz abgeschafft durch Christum und bloß die Gnade, nämlich einem Grunde, Gott recht von Herzen zu lieben, welches nach der Natur nicht möglich ist und wodurch die Handlungen zur Moralität und nicht zur theokratischen Politik gebracht werden" (90.19). Denn weil "Gott im Alten Testament ein politischer Gesetzgeber war. so gab er auch politische Gründe an als Belohnungen und Bestrafungen. nicht aber moralische. außer in späteren Zeiten" (112.16; cf. 112.21). Doch deutet Kant auch den Alten Bund durchaus positiv: "Ein pactum ist nicht zwischen einem domino und mancipio möglich (was der Mensch eigentlich im Verhältnis zu Gott ist gemäß dem Vorhergehenden d. Verf.). Gott ging mit Menschen einen Bund ein. weil sie keinen genugsamen praktischen Begriff von seinem dominio haben und damit sie durch die Analogie mit dem pacto der Menschen geleitet werden und nicht die gebieterische Strenge abhorriren" (148.1). Aus diesen Reflexionen wird deutlich, wie sehr Kant sich hinsichtlich der Einschätzung der übernatürlichen Offenbarungsreligion in den Bemerkungen noch von Rousseau unterscheidet. Dagegen stimmt er in der Begründung der natürlichen Theologie bzw. Religion wieder weitgehend mit diesem überein. Der Genfer hatte im Glaubensbekenntnis seines savoyischen Vikars zwar auch theoretische Argumente für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele entwickelt, aber so, daß er diese seine Schlüsse des gesunden Menschenverstandes nicht als unbedingt gesichertes WIssen. sondern nur als einen vernünftigen Glauben ausgibt. Neben diese theoretische Begründung des natürlichen Religionsglaubens tritt. wie schon bei Hutcheson. deutlich die

232 mögliche Methoden: 1) mit der Offenbarung der Geheimnisse anzufangen und von der göttlichen übernatürlichen Einwirkung eine Heiligung des Herzens zu erwarten; 2) von der Verbesserung der Moralität nach der Ordnung der Natur anzufangen und nach der größtmöglichen darauf gewandten Bemühung die übernatürliche Beihilfe nach der Ordnung der göttlichen Offenbarung zu erwarten (cf. 190 ,6). Daß er der letzteren den Vorzug gibt, wird aus gelegentlichen Bemerkungen klar, die wiederum ganz Rousseauschen Geist atmen, wie z. B.: "Kann wohl etwas verkehrter sein als den Kindern, die kaum in diese Welt treten, gleich von der anderen etwas vorzureden" (27,6). Und wenn er auch grundsätzlich einen Nutzen der Religion anerkennt, der unmittelbar auf die künftige Seli g k e i t gerichtet ist, wozu Fasten, Zeremonien und Kasteiungen dienlich sein können, so besteht nach ihm doch der natürlichste erste darin, daß sie 11 die Sitten so richtet, daß sie gut sind zur Erfüllung des Postens in der gegenwärtigen Welt, damit man dadurch würdig sei der künftigen". Soll aber dieser 'einheimische' Nutzen erreicht werden, betont er, so muß die Moralität eher wie die Religion excoliert. also ganz im Sinn des eben bezeichneten zweiten Weges verfahren werden (189.11). Wenn wir einerseits auf Reflexionen stoßen, die eine fast ablehnende Haltung der Religion gegenüber auszudrücken scheinen, wie die eben erwähnte (27,6) oder die in anderem Zusammenhang angeführten: daß sich die bloße natürliche Religion nicht für einen Staat schicke. sondern eher der Skeptizismus (32.4), daß der Mensch der Natur keine wahre Religion haben könne und ihrer auch nicht bedürfe daß die Theorie der natürlichen Religion nur wahr sein könne, Wissenschaft ist. und daher nicht alle Menschen verbinden könne (57.6). daß die bürgerlichen Religionen und auch der Religionszwang aus dem Luxus notwendig würden (32.1). so geht aus anderen doch wieder hervor, wie ernst er die Rolle der Religion für das sittliche Leben nimmt. Bedeutsam ist hier vor allem. was er im zweiten Teil der Bemerkungen über das Verhältnis der potestas legislatoria divina zum menschlichen Willen ausführt. Der Wille des Menschen sei auf Grund der Schöpfung in ähnlicher Weise dem göttlichen Willen unterworfen wie der Wille des Kindes dem seiner Eltern: wie das Kind keinen eigenen kompleten Willen hat, weil es nur durch den der Eltern leben kann und insofern eine Sache der letzteren ist, wie es deshalb moralisch gut ist. daß es von ihnen regiert werde: so gehören auch wir gleichsam zu den göttlichen Sachen, weil wir allein durch ihn und seinen Willen sind. Darum könne manches dem Willen Gottes gemäß sein. was aus inneren Bewegungsgründen gar nicht gut wäre, z. B. seinen Sohn zu schlachten, worauf die Bonität des Gehorsams beruhe. "Mein Wille nach seiner Bestimmung ist jederzeit dem Willen Gottes unterworfen, er stimmt also mit sich selbst am besten zusammen, wenn er mit dem göttlichen zusammenstimmt und

233 es ist unmöglich, daß es böse sei, dem göttlichen Willen gemäß zu sein" (67.11-68,8). Das Verhältnis zu der potestas legislatoria divina modifiziert sich aber auf den verschiedenen Stufen der göttlichen Offenbarung: "Die gesetzgebende Gewalt Gottes beim ersten Menschen gründet sich auf das Eigentum. Der Mensch war frisch in die Welt gesetzt. alle Bäume gehörten Gott und er verbat ihm einen" (90,6). IfDiese Idee hörete auf. Die gesetzgebende Gewalt Gottes über das jüdische Volk gründet sich auf den gesellschaftlichen Vert rag. Gott wollte sie aus Ägypten führen und ihnen ein ander Land geben, wenn sie ihm gehorcheten ••• Im neuen Testament hört dieser Grund auf. Es wird der allgemeine Grund der gesetzgebenden Gewalt vorausgesetzt, aber die Verbindlichkeit beruhet bloß auf einer Gü t i g k e i t • welche sich nicht aller Strenge bedienen will. Dieses ist alsdann im eigentlichen Christentum ganz dem Gesetzgeber aufgehoben und der Vater eingeführt" (90,9). Was mit letzterem gemeint ist, geht aus der unmittelbar folgenden Reflexion hervor: "paulus urteilt. daß das Gesetz nur Unwillen mache, weil es verursacht, daß man ungern tut. was befohlen ist. und so ist es auch. Deswegen sieht er das Gesetz abgeschafft durch Christum und bloß die Gnade, nämlich einem Grunde, Gott recht von Herzen zu lieben, welches nach der Natur nicht möglich ist und wodurch die Handlungen zur Moralität und nicht zur theokratischen Politik gebracht werden" (90.19). Denn weil "Gott im Alten Testament ein politischer Gesetzgeber war. so gab er auch politische Gründe an als Belohnungen und Bestrafungen. nicht aber moralische. außer in späteren Zeiten" (112.16; cf. 112.21). Doch deutet Kant auch den Alten Bund durchaus positiv: "Ein pactum ist nicht zwischen einem domino und mancipio möglich (was der Mensch eigentlich im Verhältnis zu Gott ist gemäß dem Vorhergehenden d. Verf.). Gott ging mit Menschen einen Bund ein. weil sie keinen genugsamen praktischen Begriff von seinem dominio haben und damit sie durch die Analogie mit dem pacto der Menschen geleitet werden und nicht die gebieterische Strenge abhorriren" (148.1). Aus diesen Reflexionen wird deutlich, wie sehr Kant sich hinsichtlich der Einschätzung der übernatürlichen Offenbarungsreligion in den Bemerkungen noch von Rousseau unterscheidet. Dagegen stimmt er in der Begründung der natürlichen Theologie bzw. Religion wieder weitgehend mit diesem überein. Der Genfer hatte im Glaubensbekenntnis seines savoyischen Vikars zwar auch theoretische Argumente für das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele entwickelt, aber so, daß er diese seine Schlüsse des gesunden Menschenverstandes nicht als unbedingt gesichertes WIssen. sondern nur als einen vernünftigen Glauben ausgibt. Neben diese theoretische Begründung des natürlichen Religionsglaubens tritt. wie schon bei Hutcheson. deutlich die

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234 pr a kt i s c h e aus dem Bedürfnis des moralischen Bewußtseins, des Gewissens, wie wir einleitend zu dieser Themengruppe andeuteten. Kants Auffassung deckt sich im ganzen hier durchaus mit der Rousseaus und Hutchesons, nur legt er noch mehr Nachdruck auf die praktische Begründung des Glaubens aus dem Gewissen, weil sie nach seiner Überzeugung nicht nur sicherer ist, sondern auch unmittelbar die moralischen Eigenschaften in Gott bestimmt, auf die es entscheidend ankomme: "Die Erkenntnis Gottes ist entweder spekulativisch und diese ist ungewiß und gefährlichen Irrtümern unterworfen oder moralisch durch den Glauben und die denkt keine anderen Eigenschaften in Gott als die auf die Moralität abzielen. Dieser Glaube ist natürlich oder übernatürlich. Jener ist •• " (57,17). Die Parallele zu dem Schlußabsatz der 'Träume' ist offensichtlich 90. Wie dieser moralische Glaube an das Dasein Gottes aus dem sittlichen Bewußtsein entspringe, wird hier nicht weiter ausgeführt. Dagegen wird in anderen Reflexionen angedeutet, wie der mit dem Gottesglauben zusammenhängende Glaube an das F 0 r t 1 e ben der See 1 e nach dem Tode mit dem Bewußtsein der Tugend verbunden ist. Zunächst hieß es in der bereits angeführten, daß der natürlichste erste Nutzen der Religion darin bestehe, die Sitten gut zu machen zur Erfüllung des Postens in der gegenwärtigen Welt, da mit man dadurch würdig sei der künftigen (189,11). Diese Würdigkeit scheint aber im Sinne Rousseaus ihre Erfüllung gewährleisten zu müssen, wenn die sittlichen Forderungen nicht selber zweifelhaft werden sollen 91 • Einen anderen nicht spezifisch moralischen Ansatz, der uns schon in der Kosmogonie begegnet ist, enthält folgende Reflexion: "Da die Verfänglichkeit der Wissenschaften erwiesen ist, so ist viel mehr zu urteilen: wir haben eine Fähigkeit des Verstandes, die weiter reicht als die Bestimmung in diesem Leben. Es wird demnach ein ander Leben geben" (38,3). Das Motiv der Dis k re pan z zwischen sittlicher Würdigkeit und Glückseligkeit in diesem Leben, das bei Rousseau (und Hutcheson) für den Glauben an das Fortleben der Seele eine so entscheidende Rolle spielt 92, wird in den Bemerkungen nicht ausdrücklich erwähnt. Ja es scheint sogar durch die von Kant mit Nachdruck vorgetragene Lehre, daß der Mensch im gesitteten Zustand nur durch seine eigene Schuld unglücklich werde (68,19; 57,22; 152,7). förmlich ausgeschlossen zu werden. Freilich lehrt dies auch Rousseau und doch betont er bei Gelegenheit diese Diskrepanz sehr stark. Aber auch Kant selbst anerkennt sie in den Träumen eines Geistersehers. Wir haben also hier offenbar einen Fall, wo dieser einen Problemansatz versuchsweise zu Ende denkt, ohne alle Aspekte desselben berücksichtigen zu wollen. Bei der ganzen Art dieser Reflexionen ist ja 90) KGS n, 373. 91) Rousseau H, 73 ff. 92) Ibidem

immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß in einem bestimmten Moment ein Gesichtspunkt so beherrschend in das Blickfeld tritt, daß alle andern in den Hintergrund gedrängt werden, während sie sich zu einer anderen Zeit wieder überzeugend geltend machen können. g)

Über die Grundprinzipien der Moralität

Unter allen Reflexionen der Bemerkungen sind naturgemäß für unseren Zweck jene die wichtigsten, die sich auf die sittlichen Grundprinzipien beziehen, aber gerade hier läßt sich der Einfluß Rousseaus ni c h t sou nm i t tel bar fes t s tell e n wie in den vorausgegangenen Themengruppen. Es ist aber auch von vornherein nicht zu erwarten, daß Kant in der Begründung der Sittlichkeit Rousseau folgen wird, da dieser iin Grunde einen Eu d ä mon i sm u s vertritt, der von dem der Wolffschule nicht grundsätzlich verschieden ist; hatte er doch der letzteren gerade wegen dieses Mangels schon sehr früh die Gefolgschaft versagt und bereits in der Preisschrift im Anschluß an Crusius ul)d Hutcheson einen gänzlich anderen Weg der Begründung des sittlich Guten eingeschlagen. Es ist nun sehr bedeutsam, daß uns jene grundlegende Konzeption der Preisschrift von den verschiedenen Arten des Sollens. mit der wir den Ursprung der eigentlichen Kantischen Ethik angesetzt haben, in den Bemerkungen aufs neue begegnet, und zwar so, daß wir hier bereits alle wesentlichen Elemente der Lehre vorfinden, die uns dann in voll entwickelter Gestalt im Prooemium der Ethikvorlesung und im zweiten Abschnitt der 'Grundlegung' entgegentritt. Ja die inhaltliche Deckung mit den Ausführungen des Prooemiums ist geradezu frappierend, und doch sind die Bemerkungen ein gutes Jahrzehnt vor dem letzteren niedergeschrieben. Man sieht daraus. wie sehr die Interpreten der vorkritischen Ethik irrten mit der Annahme, daß Kant zur damaligen Zeit noch ganz im Bann der Gefühlsethik der Engländer und Rousseaus gestanden habe; die Quellen ergeben ein anderes Bild: daß er trotz aller Beeinflussung von dieser Seite von vornherein ein e n wes e n tl ich an der e n Weg der Begründung der Sittlichkeit gegangen ist; diesen Weg, den er mit der neuen Fassung des Begriffes der Verbindlichkeit in der Preisschrift betrat, hat er nie wie der verlassen: er führt über die hierher gehörigen Reflexionen der Bemerkungen und die Ausführungen des Prooemiums der Vorlesung in gerader Richtung zu jenen fundamentalen Analysen des II. Abschnittes der 'Grundlegung'. aus denen er die entscheidende erste Formel des kategorischen Imperativs entwickelt 93. Es erscheint uns geboten, wegen der außerordentlichen Bedeutung der Bemerkungen für die richtige Beurtei93) KGS IV, 412 ff.

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234 pr a kt i s c h e aus dem Bedürfnis des moralischen Bewußtseins, des Gewissens, wie wir einleitend zu dieser Themengruppe andeuteten. Kants Auffassung deckt sich im ganzen hier durchaus mit der Rousseaus und Hutchesons, nur legt er noch mehr Nachdruck auf die praktische Begründung des Glaubens aus dem Gewissen, weil sie nach seiner Überzeugung nicht nur sicherer ist, sondern auch unmittelbar die moralischen Eigenschaften in Gott bestimmt, auf die es entscheidend ankomme: "Die Erkenntnis Gottes ist entweder spekulativisch und diese ist ungewiß und gefährlichen Irrtümern unterworfen oder moralisch durch den Glauben und die denkt keine anderen Eigenschaften in Gott als die auf die Moralität abzielen. Dieser Glaube ist natürlich oder übernatürlich. Jener ist •• " (57,17). Die Parallele zu dem Schlußabsatz der 'Träume' ist offensichtlich 90. Wie dieser moralische Glaube an das Dasein Gottes aus dem sittlichen Bewußtsein entspringe, wird hier nicht weiter ausgeführt. Dagegen wird in anderen Reflexionen angedeutet, wie der mit dem Gottesglauben zusammenhängende Glaube an das F 0 r t 1 e ben der See 1 e nach dem Tode mit dem Bewußtsein der Tugend verbunden ist. Zunächst hieß es in der bereits angeführten, daß der natürlichste erste Nutzen der Religion darin bestehe, die Sitten gut zu machen zur Erfüllung des Postens in der gegenwärtigen Welt, da mit man dadurch würdig sei der künftigen (189,11). Diese Würdigkeit scheint aber im Sinne Rousseaus ihre Erfüllung gewährleisten zu müssen, wenn die sittlichen Forderungen nicht selber zweifelhaft werden sollen 91 • Einen anderen nicht spezifisch moralischen Ansatz, der uns schon in der Kosmogonie begegnet ist, enthält folgende Reflexion: "Da die Verfänglichkeit der Wissenschaften erwiesen ist, so ist viel mehr zu urteilen: wir haben eine Fähigkeit des Verstandes, die weiter reicht als die Bestimmung in diesem Leben. Es wird demnach ein ander Leben geben" (38,3). Das Motiv der Dis k re pan z zwischen sittlicher Würdigkeit und Glückseligkeit in diesem Leben, das bei Rousseau (und Hutcheson) für den Glauben an das Fortleben der Seele eine so entscheidende Rolle spielt 92, wird in den Bemerkungen nicht ausdrücklich erwähnt. Ja es scheint sogar durch die von Kant mit Nachdruck vorgetragene Lehre, daß der Mensch im gesitteten Zustand nur durch seine eigene Schuld unglücklich werde (68,19; 57,22; 152,7). förmlich ausgeschlossen zu werden. Freilich lehrt dies auch Rousseau und doch betont er bei Gelegenheit diese Diskrepanz sehr stark. Aber auch Kant selbst anerkennt sie in den Träumen eines Geistersehers. Wir haben also hier offenbar einen Fall, wo dieser einen Problemansatz versuchsweise zu Ende denkt, ohne alle Aspekte desselben berücksichtigen zu wollen. Bei der ganzen Art dieser Reflexionen ist ja 90) KGS n, 373. 91) Rousseau H, 73 ff. 92) Ibidem

immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß in einem bestimmten Moment ein Gesichtspunkt so beherrschend in das Blickfeld tritt, daß alle andern in den Hintergrund gedrängt werden, während sie sich zu einer anderen Zeit wieder überzeugend geltend machen können. g)

Über die Grundprinzipien der Moralität

Unter allen Reflexionen der Bemerkungen sind naturgemäß für unseren Zweck jene die wichtigsten, die sich auf die sittlichen Grundprinzipien beziehen, aber gerade hier läßt sich der Einfluß Rousseaus ni c h t sou nm i t tel bar fes t s tell e n wie in den vorausgegangenen Themengruppen. Es ist aber auch von vornherein nicht zu erwarten, daß Kant in der Begründung der Sittlichkeit Rousseau folgen wird, da dieser iin Grunde einen Eu d ä mon i sm u s vertritt, der von dem der Wolffschule nicht grundsätzlich verschieden ist; hatte er doch der letzteren gerade wegen dieses Mangels schon sehr früh die Gefolgschaft versagt und bereits in der Preisschrift im Anschluß an Crusius ul)d Hutcheson einen gänzlich anderen Weg der Begründung des sittlich Guten eingeschlagen. Es ist nun sehr bedeutsam, daß uns jene grundlegende Konzeption der Preisschrift von den verschiedenen Arten des Sollens. mit der wir den Ursprung der eigentlichen Kantischen Ethik angesetzt haben, in den Bemerkungen aufs neue begegnet, und zwar so, daß wir hier bereits alle wesentlichen Elemente der Lehre vorfinden, die uns dann in voll entwickelter Gestalt im Prooemium der Ethikvorlesung und im zweiten Abschnitt der 'Grundlegung' entgegentritt. Ja die inhaltliche Deckung mit den Ausführungen des Prooemiums ist geradezu frappierend, und doch sind die Bemerkungen ein gutes Jahrzehnt vor dem letzteren niedergeschrieben. Man sieht daraus. wie sehr die Interpreten der vorkritischen Ethik irrten mit der Annahme, daß Kant zur damaligen Zeit noch ganz im Bann der Gefühlsethik der Engländer und Rousseaus gestanden habe; die Quellen ergeben ein anderes Bild: daß er trotz aller Beeinflussung von dieser Seite von vornherein ein e n wes e n tl ich an der e n Weg der Begründung der Sittlichkeit gegangen ist; diesen Weg, den er mit der neuen Fassung des Begriffes der Verbindlichkeit in der Preisschrift betrat, hat er nie wie der verlassen: er führt über die hierher gehörigen Reflexionen der Bemerkungen und die Ausführungen des Prooemiums der Vorlesung in gerader Richtung zu jenen fundamentalen Analysen des II. Abschnittes der 'Grundlegung'. aus denen er die entscheidende erste Formel des kategorischen Imperativs entwickelt 93. Es erscheint uns geboten, wegen der außerordentlichen Bedeutung der Bemerkungen für die richtige Beurtei93) KGS IV, 412 ff.

236 lung der Kantischen Entwicklung, die grundlegenden Texte u n ver kür z tim W 0 r t lau t anzuführen: "Bonitas actioT'is liberae objectiva (in Deo simul est subjectiva) vel quod idem est necessitas objectiva est vel conditionalis vel categorica; prior est bonitas actionis tamquam medii, posterior tamquam finis, illa igitur mediata, haec immediata, illa continet necessitatem practicam problematicam, haec etc. Actio libera conditionalis bona non est ideo categoria (?) necessaria, e. g. liberalitas mea aliis egenis est utilis, ergo oportet esse liberalem. Minime. Sed si quis vult esse aliis utilis, esto liberalis. Si autem actio liberalitatis ingenuae non solum aliis, sed et in se bona sit, tum est obligatio (149,22-150,7). Omnis bonitas conditionalis actionis est vel sub conditione possibili (uti problemata) vel actuali (uti regulae prudentiae, quilibet vult sanus esse), sed in bonitate mediata vel conditionali to velle absolute non est bonum, ni si adsint vires et circumstantiae temporis loci. Et in tantum, quatenus voluntas est efficiens, est bonum, sed poterit haec bonitas etiam qua voluntatem solam spectari. Si desint vires, tamen est laudanda voluntas - in magnis voluisse sat est - et perfectio haec absoluta, quatenus aliquid inde actuatur nec, eo est indeterminatum, dicitur moralis" (148,8-16). Noch mehr im einzelnen werden diese Gedanken in der folgenden Reflexion entwickelt: Necessitas actionum objectiva (bonitatis) vel est conditionalis (sub conditione alicuius boni appetiti) vel categorica, prior est problematica et si appetitiones, quae spectantur tamquam conditiones necessariae actionis, non solum ut possibiles sed ut actuales spectantur, est necessitas prudentiae. Ad eam cognoscendam necesse erit omnes dignoscere animi humani appetitiones et instinctus, ut fieri possit computatio, quid sit pro inclinatione subiecti melius, et hoc quidem non solum pro praesenti sed et futuro statue Necessitas categorica actionis tanti non constat, sed ponit solum applicationem facti ad sensum moralem. Poterit equidem in quibusdam vitae conditionibus mendacium esse admodum utile ideoque per regulam prudentiae mentiendum, sed ad hoc requiritur vasta astutia et sagacitas consectaria; si moraliter consideratur, per simplicitatem moralem illico cognoscitur quod factu opus sit (155, 18-156,4). Bis hierher haben wir im Grund nichts weiter als eine Explizierung der prägnanten Formulierungen der Pr eis s c h r i f t. Dort hatte er auch zwei wesentlich verschiedene Arten des Sollens unterschieden: ein Sollen, das die Notwendigkeit einer Handlung als eines Mittels zu einem anderen als Zweck und damit eine necessitas problematica, und ein Sollen, das die Notwendigkeit von etwas unmittelbar als Zweck und damit eine necessitas legalis ausdrückt, und nachgewiesen, daß nur die zweite Art eine Verbindlichkeit im eigent-

237 lichen Sinn, d. h. eine unbedingte Verbindlichkeit enthält. Da nun aus theoretischen Erkenntnis eines Gegenstandes nur die Notwendigkelt der Handlung als Mit tel, wen n man jenen als Zweck will abgeleitet werden kann, niemals aber die Notwendigkeit, sich als Zweck zu setzen, so hatte er dort auf die grundsätzliche Unableitbarkeit des obersten Prinzips der Verbindlichkeit d h des sittlichen Sollens geschlossen und damit die Ethik aus mittelbaren Abhängigkeit von der theoretischen Philosophie herausgelöst. Auf diesen Gedanken geht er hier nicht mehr näher ein, sondern wendet seine ganze Aufmerksamkeit den verschiedenen Arten der praktischen Notwendigkeit zu: er unterscheidet ganz wie in der Preisschrift zwei Grundarten praktischer d.h. objektiver Notwendigkeit des freien Wollens bzw. Handeins: die necessitas objectiva conditionalis und die necessitas objectiva categorica. Die erstere ist eine bonitas und damit gemäß dem Vorausgehenden (149,23) eine necessitas actionis tamquam medii, also eine bonitas bzw. necessitas me dia ta (eine abgeleitete Gutheit bzw. Notwendigkeit). die letztere eine bonitas und damit eine necessitas tamquam finis und damit eine im m e dia ta (eine unmittelbare, d. h. durch keine Ableitung gewonnene Notwendigkeit). Jene enthält necessitatem practicam problematicam, die letztere, so müssen wir sinngemäß den abbrechenden Text ergänzen, necessitatem practicam categoricam oder legalem. Dieser Gedanke wird nun in der Reflexion 155,18 noch mehr präzisiert: hier wird die necessitas (bonitas) conditionalis oder medii, die eben in allen ihren Formen als problematica bezeichnet wurde, entsprechend der Andeutung der Preisschrift, nochmals untergeteilt: prior est problematica, et si appetitiones , quae spectantamquam conditiones necessariae actionis, non solum ut possiblles, sed ut ac t u ale s spectantur, est necessitas prudentiae. Oder wie es weiter unten heißt: Bonitas conditionalis actionis est vel sub conditione possibili uti problemata, vel actuali, ut regulae prudentae: die bedingte oder hypothetische praktische Notwendigkeit bzw. Gutheit des Wollens gibt es also in zwei Arten: die im engeren Sinn pro b 1 e m a ti s c he , die dann gegeben ist, wenn die Zwecke dem Be.lieben Wollenden anheimgestellt sind, und die der K 1 u g he i t , bel der es slch um einen Zweck handelt, der aus der subjektiven Bedürftigkeit unserer Natur tatsächlich immer und überall gewollt wird nämlich. um die Glückseligkeit, zu der z. B. die Gesundheit gehört: In dlesem Zusammenhang wird nun zunächst ein wichtiger Unterschied zwischen der hypothetischen praktischen Notwendigkeit, vor der der Klugheit, gegenüber der kategorischen herausgearbeltet: um die Notwendigkeit des Handeins im Hinblick auf die Glückseligkeit zu bestimmen, bedürfe es eines au ß e r 0 r den tl i ehe n Sc ha r f s in n es, der die Begierden und Triebe der Seele völlig adäquat durchschauen müßte t um einen Überschlag machen

236 lung der Kantischen Entwicklung, die grundlegenden Texte u n ver kür z tim W 0 r t lau t anzuführen: "Bonitas actioT'is liberae objectiva (in Deo simul est subjectiva) vel quod idem est necessitas objectiva est vel conditionalis vel categorica; prior est bonitas actionis tamquam medii, posterior tamquam finis, illa igitur mediata, haec immediata, illa continet necessitatem practicam problematicam, haec etc. Actio libera conditionalis bona non est ideo categoria (?) necessaria, e. g. liberalitas mea aliis egenis est utilis, ergo oportet esse liberalem. Minime. Sed si quis vult esse aliis utilis, esto liberalis. Si autem actio liberalitatis ingenuae non solum aliis, sed et in se bona sit, tum est obligatio (149,22-150,7). Omnis bonitas conditionalis actionis est vel sub conditione possibili (uti problemata) vel actuali (uti regulae prudentiae, quilibet vult sanus esse), sed in bonitate mediata vel conditionali to velle absolute non est bonum, ni si adsint vires et circumstantiae temporis loci. Et in tantum, quatenus voluntas est efficiens, est bonum, sed poterit haec bonitas etiam qua voluntatem solam spectari. Si desint vires, tamen est laudanda voluntas - in magnis voluisse sat est - et perfectio haec absoluta, quatenus aliquid inde actuatur nec, eo est indeterminatum, dicitur moralis" (148,8-16). Noch mehr im einzelnen werden diese Gedanken in der folgenden Reflexion entwickelt: Necessitas actionum objectiva (bonitatis) vel est conditionalis (sub conditione alicuius boni appetiti) vel categorica, prior est problematica et si appetitiones, quae spectantur tamquam conditiones necessariae actionis, non solum ut possibiles sed ut actuales spectantur, est necessitas prudentiae. Ad eam cognoscendam necesse erit omnes dignoscere animi humani appetitiones et instinctus, ut fieri possit computatio, quid sit pro inclinatione subiecti melius, et hoc quidem non solum pro praesenti sed et futuro statue Necessitas categorica actionis tanti non constat, sed ponit solum applicationem facti ad sensum moralem. Poterit equidem in quibusdam vitae conditionibus mendacium esse admodum utile ideoque per regulam prudentiae mentiendum, sed ad hoc requiritur vasta astutia et sagacitas consectaria; si moraliter consideratur, per simplicitatem moralem illico cognoscitur quod factu opus sit (155, 18-156,4). Bis hierher haben wir im Grund nichts weiter als eine Explizierung der prägnanten Formulierungen der Pr eis s c h r i f t. Dort hatte er auch zwei wesentlich verschiedene Arten des Sollens unterschieden: ein Sollen, das die Notwendigkeit einer Handlung als eines Mittels zu einem anderen als Zweck und damit eine necessitas problematica, und ein Sollen, das die Notwendigkeit von etwas unmittelbar als Zweck und damit eine necessitas legalis ausdrückt, und nachgewiesen, daß nur die zweite Art eine Verbindlichkeit im eigent-

237 lichen Sinn, d. h. eine unbedingte Verbindlichkeit enthält. Da nun aus theoretischen Erkenntnis eines Gegenstandes nur die Notwendigkelt der Handlung als Mit tel, wen n man jenen als Zweck will abgeleitet werden kann, niemals aber die Notwendigkeit, sich als Zweck zu setzen, so hatte er dort auf die grundsätzliche Unableitbarkeit des obersten Prinzips der Verbindlichkeit d h des sittlichen Sollens geschlossen und damit die Ethik aus mittelbaren Abhängigkeit von der theoretischen Philosophie herausgelöst. Auf diesen Gedanken geht er hier nicht mehr näher ein, sondern wendet seine ganze Aufmerksamkeit den verschiedenen Arten der praktischen Notwendigkeit zu: er unterscheidet ganz wie in der Preisschrift zwei Grundarten praktischer d.h. objektiver Notwendigkeit des freien Wollens bzw. Handeins: die necessitas objectiva conditionalis und die necessitas objectiva categorica. Die erstere ist eine bonitas und damit gemäß dem Vorausgehenden (149,23) eine necessitas actionis tamquam medii, also eine bonitas bzw. necessitas me dia ta (eine abgeleitete Gutheit bzw. Notwendigkeit). die letztere eine bonitas und damit eine necessitas tamquam finis und damit eine im m e dia ta (eine unmittelbare, d. h. durch keine Ableitung gewonnene Notwendigkeit). Jene enthält necessitatem practicam problematicam, die letztere, so müssen wir sinngemäß den abbrechenden Text ergänzen, necessitatem practicam categoricam oder legalem. Dieser Gedanke wird nun in der Reflexion 155,18 noch mehr präzisiert: hier wird die necessitas (bonitas) conditionalis oder medii, die eben in allen ihren Formen als problematica bezeichnet wurde, entsprechend der Andeutung der Preisschrift, nochmals untergeteilt: prior est problematica, et si appetitiones , quae spectantamquam conditiones necessariae actionis, non solum ut possiblles, sed ut ac t u ale s spectantur, est necessitas prudentiae. Oder wie es weiter unten heißt: Bonitas conditionalis actionis est vel sub conditione possibili uti problemata, vel actuali, ut regulae prudentae: die bedingte oder hypothetische praktische Notwendigkeit bzw. Gutheit des Wollens gibt es also in zwei Arten: die im engeren Sinn pro b 1 e m a ti s c he , die dann gegeben ist, wenn die Zwecke dem Be.lieben Wollenden anheimgestellt sind, und die der K 1 u g he i t , bel der es slch um einen Zweck handelt, der aus der subjektiven Bedürftigkeit unserer Natur tatsächlich immer und überall gewollt wird nämlich. um die Glückseligkeit, zu der z. B. die Gesundheit gehört: In dlesem Zusammenhang wird nun zunächst ein wichtiger Unterschied zwischen der hypothetischen praktischen Notwendigkeit, vor der der Klugheit, gegenüber der kategorischen herausgearbeltet: um die Notwendigkeit des Handeins im Hinblick auf die Glückseligkeit zu bestimmen, bedürfe es eines au ß e r 0 r den tl i ehe n Sc ha r f s in n es, der die Begierden und Triebe der Seele völlig adäquat durchschauen müßte t um einen Überschlag machen

238 zu können, was für das Streben des Subjektes jeweils das Bessere sei, und zwar nicht nur für den gegenwärtigen Augenblick, sondern auch für alle Zukunft. Aber auch um die Notwendigkeit der Handlungen zur Verwirklichung bel i e b i ger Zwecke zu bestimmen, ist oft eine tiefere theoretische Einsicht in die Natur des als Zweck erstrebten Gegenstandes erfordert, wie z. B. für die Auflösung mathematischer oder technischer Aufgaben. Denn die bedingte praktische.. Notwendigkeit des Handeins kann grundsätzlich nur abgeleitet werden aus der t h e 0 r e ti s c h e n Erkenntnis der Natur des zu verwirklichenden Zweckes, setzt also theoretische Erkenntnis notwendig voraus. Demgegenüber gilt von der kategorischen praktischen Notwendigkeit: tanti non constat, sed ponit solum applicationem facti ad sensum moralem • •• si (mendacium) moraliter consideratur, per s impli c i tat em mo r a1 e m illico quid factu opus sit. Die Beurteilung erfolgt hier mühelos: Sie ist unserem sittlichen Wertgefühl unmittelbar evident. Es ist unmöglich, bei diesen Stellen nicht an die Ausführungen der Kr. d. pr. V. I, 1. B. 1. Hptst. Anmerkung II 94 zu denken, wo Kant den Unterschied zwischen dem Prinzip der Glückseligkeit als Grund der Regeln der Klugheit und dem Prinzip der Sittlichkeit als Grund der moralischen Gesetze beleuchtet: Das erstere könne nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselben praktischen Regeln vorschreiben, wenngleich sie unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit stünden. Die Maxime der Selbstliebe oder Klugheit rate bloß an, während das Gesetz der Sittlichkeit schlechthin gebiete. Aber auch zu diesen bloßen Ratschlägen der Klugheit das zu bestimmen, was nützlich ist, sei schwer und erfordere Weltk e n n t n i s. M. A. W. , was Pflicht sei, biete sich jedermann von selbst dar was aber wahren, dauerhaften Vorteil bringe, sei allemal dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undu'rchdringliches Dunkel eingehüllt und es erfordere viel Klugheit, um die praktische Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen. Dagegen gebiete das sittliche Gesetz jedermann und zwar die pünktlichste Befolgung. Es muß also zur Beurteilung dessen, was nach ihm zu tun sei, nicht so schwer sein, daß nicht der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen wüßte. Abgesehen von diesem zuletzt angeführten Gedanken haben wir bisher keinen erwähnt, der über das in der Preis schrift Gesagte hinausginge. Was gegenüber der letzteren in den vorausgehend behandelten Reflexionen neu ist, ist die Identifizierung der (objektiven) praktischen Not wen d i g k e it mit der (objektiven) praktischen B 0 ni t ä t des Willens: bonitas actionis liberae objectiva vel quod idem est necessitas objectiva, eine Identifizierung, die auch im Prooemium der Ethikvorlesung grundlegende Bedeutung hat. Dieses für die 94) KGS V. 36 f.

239 gesamte Ethik Kants fundamentale Verhältnis kann am leichtesten zugänglich gemacht werden von der bedingten praktischen Notwendigkeit bzw. Gutheit her: denn hier ist ohne weiteres einsichtig, daß die Bonität der Handlung nur eine logische Folge ihrer objekti ven Notwendigkeit ist: die Handlung kann als Mittel zur Verwirklichung eines bestimmten Gegenstandes des Begehrens nur insofern gut sein, als sie dem objektiven Verhältnis zwischen der Handlung als Mittel und dem Gegenstand als Zweck entspricht; widerspricht sie diesem objektiven Verhältnis, dann ist sie als Mittel der Verwirklichung des Zweckes ungeeignet und in diesem Sinn schlecht (inutile). Damit wird auch die besondere Art dieser Gutheit deutlich: die Handlungsweise, z. B. das Schlagen von zwei Kreuzbögen zum Zweck der Halbierung einer Geraden, ist nicht an und für sich - absolute - betrachtet schon etwas Gutes, sondern nur im Hinblick auf das erstrebte Ziel: die Güte der Handlungsweise erschöpft sich in ihrem Nut z wer t. Die objektive Gutheit der Handlung ist also eine mediata oder relativa. Zugleich wird ein weiteres deutlich: diese Art der Gutheit (der Nützlichkeitswert) ist nur soweit gegeben, als die Handlung wirklich zum Ziel führt, so daß hier ein strenges tantum quantum gilt. Das bedeutet aber, daß das Woll e n der nützlichen Handlung a11 e in, das infolge des Mangels an physischenKräften oder infolge der Umstände unwirksam bleibt, keinerlei Gutheit von dieser Art hat: Sed in bonitate mediata vel conditionali to velle absolute non est bonum, nisi adsint vires et circumstantiae tempcris, loci. Et intantum quatenus voluntas efficiens, est bonum. Bei der si t t 1 ich e n Gutheit und der entsprechenden prakti schen Notwendigkeit aber verhält sich die Sache ganz anders. Die letztere beruht auf einem unmittelbar und an sich für den Willen notwendigen Zweck, aus dem sich auf rein analytischem Wege der Imperativ ergibt, der die Notwendigkeit der Zwecksetzung selbst ausspricht. Ein Zweck aber hat für den Willen immer die ratio boni. Wenn sich also das Wollen durch diese Art der praktischen Notwendigkeit bestimmt, dann wird es unmittelbar und an sich gut: es ist eine bonitas immediata des Wollens, die ihm als Wollen, absolute betrachtet, zukommt. Diese unmittelbare, absolute Gutheit des durch den sittlichen Imperativ bestimmten Woll e n s drückt Kant mit folgenden Worten aus: Sed potest haec bonitas etiam qua voluntatem solam spectari. Si desint vires, tamen est laudanda voluntas, in magnis voluisse sat est, et perfectio haec absoluta, quatenus utrum aliquid inde actuatur nec, eo est indeterminatum, dicitur moralis (148,13). Es ist also bereits ganz ausdrücklich die Lehre der späteren 'kritischen' Ethik, daß die sittliche Gutheit wesentlich eine Gutheit des Wollens selber ist und daß sie als solche nicht entscheidend beeinträchtigt werden kann, wenn das aus dem Wollen hervorgehende Handeln mangels physischer Kräfte oder infolge der Ungunst der Umstände nicht zum Ziele kommt Wir brauchen hier nur an den be-

238 zu können, was für das Streben des Subjektes jeweils das Bessere sei, und zwar nicht nur für den gegenwärtigen Augenblick, sondern auch für alle Zukunft. Aber auch um die Notwendigkeit der Handlungen zur Verwirklichung bel i e b i ger Zwecke zu bestimmen, ist oft eine tiefere theoretische Einsicht in die Natur des als Zweck erstrebten Gegenstandes erfordert, wie z. B. für die Auflösung mathematischer oder technischer Aufgaben. Denn die bedingte praktische.. Notwendigkeit des Handeins kann grundsätzlich nur abgeleitet werden aus der t h e 0 r e ti s c h e n Erkenntnis der Natur des zu verwirklichenden Zweckes, setzt also theoretische Erkenntnis notwendig voraus. Demgegenüber gilt von der kategorischen praktischen Notwendigkeit: tanti non constat, sed ponit solum applicationem facti ad sensum moralem • •• si (mendacium) moraliter consideratur, per s impli c i tat em mo r a1 e m illico quid factu opus sit. Die Beurteilung erfolgt hier mühelos: Sie ist unserem sittlichen Wertgefühl unmittelbar evident. Es ist unmöglich, bei diesen Stellen nicht an die Ausführungen der Kr. d. pr. V. I, 1. B. 1. Hptst. Anmerkung II 94 zu denken, wo Kant den Unterschied zwischen dem Prinzip der Glückseligkeit als Grund der Regeln der Klugheit und dem Prinzip der Sittlichkeit als Grund der moralischen Gesetze beleuchtet: Das erstere könne nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselben praktischen Regeln vorschreiben, wenngleich sie unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit stünden. Die Maxime der Selbstliebe oder Klugheit rate bloß an, während das Gesetz der Sittlichkeit schlechthin gebiete. Aber auch zu diesen bloßen Ratschlägen der Klugheit das zu bestimmen, was nützlich ist, sei schwer und erfordere Weltk e n n t n i s. M. A. W. , was Pflicht sei, biete sich jedermann von selbst dar was aber wahren, dauerhaften Vorteil bringe, sei allemal dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undu'rchdringliches Dunkel eingehüllt und es erfordere viel Klugheit, um die praktische Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen. Dagegen gebiete das sittliche Gesetz jedermann und zwar die pünktlichste Befolgung. Es muß also zur Beurteilung dessen, was nach ihm zu tun sei, nicht so schwer sein, daß nicht der gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen wüßte. Abgesehen von diesem zuletzt angeführten Gedanken haben wir bisher keinen erwähnt, der über das in der Preis schrift Gesagte hinausginge. Was gegenüber der letzteren in den vorausgehend behandelten Reflexionen neu ist, ist die Identifizierung der (objektiven) praktischen Not wen d i g k e it mit der (objektiven) praktischen B 0 ni t ä t des Willens: bonitas actionis liberae objectiva vel quod idem est necessitas objectiva, eine Identifizierung, die auch im Prooemium der Ethikvorlesung grundlegende Bedeutung hat. Dieses für die 94) KGS V. 36 f.

239 gesamte Ethik Kants fundamentale Verhältnis kann am leichtesten zugänglich gemacht werden von der bedingten praktischen Notwendigkeit bzw. Gutheit her: denn hier ist ohne weiteres einsichtig, daß die Bonität der Handlung nur eine logische Folge ihrer objekti ven Notwendigkeit ist: die Handlung kann als Mittel zur Verwirklichung eines bestimmten Gegenstandes des Begehrens nur insofern gut sein, als sie dem objektiven Verhältnis zwischen der Handlung als Mittel und dem Gegenstand als Zweck entspricht; widerspricht sie diesem objektiven Verhältnis, dann ist sie als Mittel der Verwirklichung des Zweckes ungeeignet und in diesem Sinn schlecht (inutile). Damit wird auch die besondere Art dieser Gutheit deutlich: die Handlungsweise, z. B. das Schlagen von zwei Kreuzbögen zum Zweck der Halbierung einer Geraden, ist nicht an und für sich - absolute - betrachtet schon etwas Gutes, sondern nur im Hinblick auf das erstrebte Ziel: die Güte der Handlungsweise erschöpft sich in ihrem Nut z wer t. Die objektive Gutheit der Handlung ist also eine mediata oder relativa. Zugleich wird ein weiteres deutlich: diese Art der Gutheit (der Nützlichkeitswert) ist nur soweit gegeben, als die Handlung wirklich zum Ziel führt, so daß hier ein strenges tantum quantum gilt. Das bedeutet aber, daß das Woll e n der nützlichen Handlung a11 e in, das infolge des Mangels an physischenKräften oder infolge der Umstände unwirksam bleibt, keinerlei Gutheit von dieser Art hat: Sed in bonitate mediata vel conditionali to velle absolute non est bonum, nisi adsint vires et circumstantiae tempcris, loci. Et intantum quatenus voluntas efficiens, est bonum. Bei der si t t 1 ich e n Gutheit und der entsprechenden prakti schen Notwendigkeit aber verhält sich die Sache ganz anders. Die letztere beruht auf einem unmittelbar und an sich für den Willen notwendigen Zweck, aus dem sich auf rein analytischem Wege der Imperativ ergibt, der die Notwendigkeit der Zwecksetzung selbst ausspricht. Ein Zweck aber hat für den Willen immer die ratio boni. Wenn sich also das Wollen durch diese Art der praktischen Notwendigkeit bestimmt, dann wird es unmittelbar und an sich gut: es ist eine bonitas immediata des Wollens, die ihm als Wollen, absolute betrachtet, zukommt. Diese unmittelbare, absolute Gutheit des durch den sittlichen Imperativ bestimmten Woll e n s drückt Kant mit folgenden Worten aus: Sed potest haec bonitas etiam qua voluntatem solam spectari. Si desint vires, tamen est laudanda voluntas, in magnis voluisse sat est, et perfectio haec absoluta, quatenus utrum aliquid inde actuatur nec, eo est indeterminatum, dicitur moralis (148,13). Es ist also bereits ganz ausdrücklich die Lehre der späteren 'kritischen' Ethik, daß die sittliche Gutheit wesentlich eine Gutheit des Wollens selber ist und daß sie als solche nicht entscheidend beeinträchtigt werden kann, wenn das aus dem Wollen hervorgehende Handeln mangels physischer Kräfte oder infolge der Ungunst der Umstände nicht zum Ziele kommt Wir brauchen hier nur an den be-

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rühmten einleitenden Satz der Grundlegung zu erinnern 95 und an die gleichlautende These der Kr. d. pr. V.: "Dem kategorischen Geb.ot der Sittlichkeit Folge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zelt, der empirisch bedingten Vorschrift der Glückseligkeit, nur selten und bei weitem nicht auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht für jedermann möglich. Die Ursache ist, weil es beim ersteren nur auf die Maxime (des Willens) ankommt, die echt und rein sein muß, bei der letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische Ver" 96 • . klolCh zu mach mögen, einen begehrten Gegenstan d Wlr en So haben wir hier im Prinzip durchaus den Grundansatz der Preisschrift , nur nach einer bestimmten Seite hin mehr expliziert, nämlich daß der praktischen Notwendigkeit des Handeins bzw. des Wollens genau ihre praktische Gutheit entspricht, was aber auch dort bereits einschlußweise in dem Begriff der Handlung als eines objektiv notwendigen Mittels zu einem belie?igen Zweck bzw. in dem eines an sich notwendigen Zweckes des Wlliens enthalten war. Andererseits aber deckt sich dieser explizierte Ansatz völlig mit den grundlegenden Analysen des Prooemiums der Vorlesung, die nach den chronologischen Untersuchungen Menzers in den Zeitraum zwischen 1775-1780 zu verlegen ist. Diese grundsätzliche Übereinstimmung kann u. E. in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Ethik Kants kaum überschätzt werden. Jedenfalls beweist sie, daß dieser von der Preis schrift an, auch zur Zeit der größten Beeinflussung durch die Engländer und Rousseau, in der ethischen Prinzipienlehre auf einem grundsätzlich anderen Standpunkt stand als diese. . . . In den folgenden Bemerkungen bringt er nun auch, und zwar mlt ziemlicher Ausführlichkeit, seine neue und endgültige Lösung der Frage nach dem Prinzip der Verbindlichk e i t , wie wir sie schon in den 'Träumen' angedeutet fanden. Er entwickelt sie an dem für ihn klassischen Beispiel des falsiloquium, womit er die obigen Reflexionen weiterführt: "Quantumvis falsiloquium aliis aliquando admodum sit utile, tarnen erit mendacium nisi ad illud incumbat obligatio stricta. Hinc videre est veracitatem non a philanthropia, sed a sensu iuris, quo fas ac nefas distinguimus. pendere. Hic sensus autem originem ducit a mentis humanae natura', per quam quid sit bonum categorice (non utile) judicat non ex commodo nec ex alieno, s e d e an dem a c t ion e m p 0 n end 0 1 n alEs, si oritur oppositio et contrarietas displic:t, si harmonia et consensus placet (v.Verf.gesp.). Hmc facultas stationum moralium ut medium heuristicum. Sumus enim a natura sociabiles et quod improbamus in alUs, in nobis probare sincera mente non possumus. Est enim sensus communis veri et falsi non ni si ratio humana generatim tamquam criterium veri et 95) lbid. IV, 393, 96) lbid. V, 36 f,

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falsi, et sensus boni et mali communis criterium illius. Capita sibi opposita certitudinem logicam, corda moralern tollerent. Bonitas voltintatis ab effectibus et earum immediata voluptate repetita est vel privatae vel publicae utilitatis, et prior rationem habet in indigentia, posterior in potentia boni, prior propriae utilitatis, posterior cummunis utilitatis instinctus, ambo simplicitati naturali conformes. Sed voluntatis tamquam principii liberi bonitas, non quatenus proficiscuntur illae utilitates inde. sed quatenus in se sunt possibiles, cognoscitur (156,5-157,7). Beginnen wir mit diesem letzten Absatz, der deswegen bedeutsam ist, weil sich Kant hier in der Auffassung der sittlichen Gutheit s ehr d e u t I ich von R 0 u s s e au dis t a n z i e r t. Wenn er die aus den Wirkungen des Handeins bzw. aus der Lust an ihnen hergeleitete Bonität des Willens zurückführt entweder auf die Be d ü r f ti g k ei t (indigentia) und den damit verbundenen Instinkt des eigenen Nutzens, oder aber auf die pot e n t i abo n i, die (die eigenen Bedürfnisse übersteigende) Mächtigkeit zum Guten als den Instinkt des gemeinen Nutzens, so deckt sich dieser Begriff der Gutheit des Willens vollständig mit was Rousseau unter s it tl ich er Güte verstand. Daß Kant hier tatsächlich die Rousseausche Auffassung im Auge hat, darauf deutet nicht nur der Begriff der pot e nt i a boni (die nach Rousseau gütig macht, weil sie antreibt, seine Selbstliebe auf andere auszudehnen), sondern auch die Bemerkung, daß beide (die Bedürftigkeit und die Mächtigkeit) dan n eine Quelle die ser Gutheit des Willens werden, wenn sie der naturhaften Einfalt konform sind (ambo simplicitati naturali conformes). Aber er sieht offenbar darin noch nicht die eigentliche Gutheit des freien Wollens als solchen; denn diese kann nach ihm keineswegs schon daraus bemessen werden, wie weit solche Vorteile aus ihm tatsächlich entsprillgen (was für die beiden genannten Prinzipien entscheidend ist), sondern wie weit sie i n s ich m ö gl ich sind. Damit aber kann nicht die physische Möglichkeit verstanden sein, denn diese gehört zur ersteren Art der Beurteilung - nur was unter den gegebenen Umständen physisch möglich ist, kann tatsächlich bewirkt werden erst recht nicht die logische Möglichkeit, also nur die mo r al i sc h e Möglichkeit. Diese aber erkennen wir, wie es oben hieß, durch den sensus iuris, quo fas ac nefas distinguimus; oder durch den sensus communis boni et mali, der ebenso ein Kriterium des Guten und Bösen ist wie der (theoretische) sensus communis veri et falsi ein solches für das Wahre und Falsche, wobei dieser letztere als ratio humana generatim tamquam criterium veri et falsi gedeutet wird. Was bedeutet nun dem gegenüber der sensus communis boni et mali? Kant antwortet: Es liegt in der Natur unseres Geistes, daß er das, was kategorisch gut ist, beurteilt nicht auf Grund der privaten oder fremden Nützlichkeit, sondern daraus, ob in der Voraussetzung, daß die anderen in gleicher Weise handeln, ein Gegensatz und Wider-

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rühmten einleitenden Satz der Grundlegung zu erinnern 95 und an die gleichlautende These der Kr. d. pr. V.: "Dem kategorischen Geb.ot der Sittlichkeit Folge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zelt, der empirisch bedingten Vorschrift der Glückseligkeit, nur selten und bei weitem nicht auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht für jedermann möglich. Die Ursache ist, weil es beim ersteren nur auf die Maxime (des Willens) ankommt, die echt und rein sein muß, bei der letzteren aber auch auf die Kräfte und das physische Ver" 96 • . klolCh zu mach mögen, einen begehrten Gegenstan d Wlr en So haben wir hier im Prinzip durchaus den Grundansatz der Preisschrift , nur nach einer bestimmten Seite hin mehr expliziert, nämlich daß der praktischen Notwendigkeit des Handeins bzw. des Wollens genau ihre praktische Gutheit entspricht, was aber auch dort bereits einschlußweise in dem Begriff der Handlung als eines objektiv notwendigen Mittels zu einem belie?igen Zweck bzw. in dem eines an sich notwendigen Zweckes des Wlliens enthalten war. Andererseits aber deckt sich dieser explizierte Ansatz völlig mit den grundlegenden Analysen des Prooemiums der Vorlesung, die nach den chronologischen Untersuchungen Menzers in den Zeitraum zwischen 1775-1780 zu verlegen ist. Diese grundsätzliche Übereinstimmung kann u. E. in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Ethik Kants kaum überschätzt werden. Jedenfalls beweist sie, daß dieser von der Preis schrift an, auch zur Zeit der größten Beeinflussung durch die Engländer und Rousseau, in der ethischen Prinzipienlehre auf einem grundsätzlich anderen Standpunkt stand als diese. . . . In den folgenden Bemerkungen bringt er nun auch, und zwar mlt ziemlicher Ausführlichkeit, seine neue und endgültige Lösung der Frage nach dem Prinzip der Verbindlichk e i t , wie wir sie schon in den 'Träumen' angedeutet fanden. Er entwickelt sie an dem für ihn klassischen Beispiel des falsiloquium, womit er die obigen Reflexionen weiterführt: "Quantumvis falsiloquium aliis aliquando admodum sit utile, tarnen erit mendacium nisi ad illud incumbat obligatio stricta. Hinc videre est veracitatem non a philanthropia, sed a sensu iuris, quo fas ac nefas distinguimus. pendere. Hic sensus autem originem ducit a mentis humanae natura', per quam quid sit bonum categorice (non utile) judicat non ex commodo nec ex alieno, s e d e an dem a c t ion e m p 0 n end 0 1 n alEs, si oritur oppositio et contrarietas displic:t, si harmonia et consensus placet (v.Verf.gesp.). Hmc facultas stationum moralium ut medium heuristicum. Sumus enim a natura sociabiles et quod improbamus in alUs, in nobis probare sincera mente non possumus. Est enim sensus communis veri et falsi non ni si ratio humana generatim tamquam criterium veri et 95) lbid. IV, 393, 96) lbid. V, 36 f,

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falsi, et sensus boni et mali communis criterium illius. Capita sibi opposita certitudinem logicam, corda moralern tollerent. Bonitas voltintatis ab effectibus et earum immediata voluptate repetita est vel privatae vel publicae utilitatis, et prior rationem habet in indigentia, posterior in potentia boni, prior propriae utilitatis, posterior cummunis utilitatis instinctus, ambo simplicitati naturali conformes. Sed voluntatis tamquam principii liberi bonitas, non quatenus proficiscuntur illae utilitates inde. sed quatenus in se sunt possibiles, cognoscitur (156,5-157,7). Beginnen wir mit diesem letzten Absatz, der deswegen bedeutsam ist, weil sich Kant hier in der Auffassung der sittlichen Gutheit s ehr d e u t I ich von R 0 u s s e au dis t a n z i e r t. Wenn er die aus den Wirkungen des Handeins bzw. aus der Lust an ihnen hergeleitete Bonität des Willens zurückführt entweder auf die Be d ü r f ti g k ei t (indigentia) und den damit verbundenen Instinkt des eigenen Nutzens, oder aber auf die pot e n t i abo n i, die (die eigenen Bedürfnisse übersteigende) Mächtigkeit zum Guten als den Instinkt des gemeinen Nutzens, so deckt sich dieser Begriff der Gutheit des Willens vollständig mit was Rousseau unter s it tl ich er Güte verstand. Daß Kant hier tatsächlich die Rousseausche Auffassung im Auge hat, darauf deutet nicht nur der Begriff der pot e nt i a boni (die nach Rousseau gütig macht, weil sie antreibt, seine Selbstliebe auf andere auszudehnen), sondern auch die Bemerkung, daß beide (die Bedürftigkeit und die Mächtigkeit) dan n eine Quelle die ser Gutheit des Willens werden, wenn sie der naturhaften Einfalt konform sind (ambo simplicitati naturali conformes). Aber er sieht offenbar darin noch nicht die eigentliche Gutheit des freien Wollens als solchen; denn diese kann nach ihm keineswegs schon daraus bemessen werden, wie weit solche Vorteile aus ihm tatsächlich entsprillgen (was für die beiden genannten Prinzipien entscheidend ist), sondern wie weit sie i n s ich m ö gl ich sind. Damit aber kann nicht die physische Möglichkeit verstanden sein, denn diese gehört zur ersteren Art der Beurteilung - nur was unter den gegebenen Umständen physisch möglich ist, kann tatsächlich bewirkt werden erst recht nicht die logische Möglichkeit, also nur die mo r al i sc h e Möglichkeit. Diese aber erkennen wir, wie es oben hieß, durch den sensus iuris, quo fas ac nefas distinguimus; oder durch den sensus communis boni et mali, der ebenso ein Kriterium des Guten und Bösen ist wie der (theoretische) sensus communis veri et falsi ein solches für das Wahre und Falsche, wobei dieser letztere als ratio humana generatim tamquam criterium veri et falsi gedeutet wird. Was bedeutet nun dem gegenüber der sensus communis boni et mali? Kant antwortet: Es liegt in der Natur unseres Geistes, daß er das, was kategorisch gut ist, beurteilt nicht auf Grund der privaten oder fremden Nützlichkeit, sondern daraus, ob in der Voraussetzung, daß die anderen in gleicher Weise handeln, ein Gegensatz und Wider-

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spruch entsteht oder eine Harmonie und Übereinstimmung; denn der erstere mißfällt uns als solcher ebenso notwendig, wie uns die letzte re als solche gefällt. Als Grund aber wird angegeben, daß wir von Natur aus gesellschaftlich sind, was offenbar nicht nur im politischen und äußeren, sondern im tieferen geistigen Sinn als Gemeinschaft der Willen zu verstehen ist, und deshalb können wir, was wir in anderen mißbilligen nicht mit Aufrichtigkeit in uns billigen. Die Übereinstimmung der Herzen, d. h. der Willen, ist also nicht nur das Kr i te r i u m des sittlich Guten, sondern de ssenP r in z i p . Die Parallelität zu den Gedankengängen des moralphilosophischen Exkurses der Träume ist offensichtlich: dort spricht er von dem Trieb, "vermöge dessen wir so stark und so allgemein am Urteile anderer hängen und fremde Billigung oder Beifall zur Vollendung des unsrigen von uns selbst so nötig zu sein erachten •. Welches alles vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom a11 gern ein e n me n s c h l i c h e n Ver s ta n deist und ein Mittel wird, dem Ganzen denkender Wesen eine Art Vernunfteinheit zu verschaffen". Und ähnlich erklärt er dort das Verhältnis unseres Willens zum Willen aller anderen: (Dadurch) "sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Re gel des a11g e meine n Will e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen". Wenn er aber dort das sittliche Gefühl als die in uns empfundene Nöti"gung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen nur als die Ersc he i nun g dessen bezeichnet, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursache desselben auszumachen, so wird diese hier in den merkungen näher bezeichnet: Es ist ein Wes e n s g es e tz des menschlichen Geistes bzw. der freien Willkür selbst, das uns diese Einstimmung mit dem allgemeinen Willen auferlegt. Die Bemerkungen enthüllen auf diese Weise sozusagen den doktrinären Hintergrund, von dem her die Ausführungen der Träume zu verstehen und zu interpretieren sind. Das wird noch deutlicher in der nun folgenden Reflexionsgruppe: "Officium est vel beneplaciti vel debiti, actiones priores sunt moraliter spontaneae, posteriores moraliter coactae (haec differt a coactione politica), voluntas est vel propria hominis vel communis hominum (necessarium aliquod est ex voluntate bona hominis propria vel communi) fas nefas. Actio spectata secundum voluntatem hominum communem si sibimet ipsi contradicat, est externe moraliter impossibilis (illibiturn): fac me alterius frumentum occupatum ire, tum si specto hominem neminem sub ea conditione ut sibi ipsi eripiatur quod aquisivit aquirere velle, quod alterius est idem secundum privatum volo et secundum publicum aversor. Quatenus enim aliquid a voluntate alicuius plenarie pendet ',eate-

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nus impossibile est ut sibi ipsi contradicat (objective). Contradiceret autem voluntas divina sibimet ipsi, si vellet homines esse, quorum voluntas opposita esset voluntati ipsius. Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi si vellent quod ex voluntate communi abhorrerente Est autem voluntas communis in statu collisionis praegnantior propria (160,26-161,17). Hier wird zunächst der oben entwickelte Grundsatz des Widerspruchs bzw. der Übereinstimmung der Handlung mit sich selbst wenn sie zugleich in anderen gesetzt wird, ganz im Sinne der me eines Geistersehers als Beurteilung derselben sec und um v 0 _ lunta t em homin um Comm une m bezeichnet und der daraus sich ergebende Widerspruch als das Kriterium der 'äußeren moraliUnmöglichkeit oder Unerlaubtheit der Handlung aufgestellt so':.Ie das am Beispiel der Verletzung einer Rechtspflicht erwill mir das Eigentum des andern nach meinem privaten WIllen aneIgnen, aber nach dem allgemeinen Willen muß ich diese Handlung verabscheuen; denn wenn ich die Bedingung, daß einem das ,:on jedermann entrissen werden könne, allgemein setze. dann wIrd memand etwas erwerben wollen: Die Handlung, dem anderen das Erworbene zu nehmen, widerspricht sich also, allgemein genommen, selber und hebt sich dadurch auf: Ich kann sie also nach dem Willen nicht wollen, sondern nur nach meinem privaten 1m WIderspruch zum allgemeinen. Das bedeutet aber einen Widerspruch im Wollen des Menschen selber, wie Kant nun erklärt: Ebenso wie sich der göttliche Wille selbst widersprechen würde, wenn er wollte, daß Menschen existierten, deren Wille dem seinigen entgegengesetzt ist, so widerspreche sich auch der Wille der Menschen, wenn sie das wollen, was sie nach dem gemeinsamen Willen verabscheuen; denn der gemeinsame Wille ist ein dem menschlichen Geist wesentlicher Wille, weil der Mensch als von Natur geselldas, was er in anderen mißbilligt, aufrichtigen Sinnes in selbst nicht billigen kann. Ein solcher Widerspruch im Wollen 1st also nur dadurch möglich, daß die Handlung bzw. das Wollen dernicht. voll und ganz vom Willen selbst abhängt, denn sonst ware der WIlle ein sich selbst widersprechendes Vermögen; das grundlegende Wesensgesetz des Willens ist somit, mit si c h selbst übereinzustimmen. Nun aber gibt es auch im Gegensatz zum ex te r n e moraliter impossibile ein in te rn e moraliter impossibile das nicht durch den Widerspruch zwischen dem privaten und dem 'allgemeinen Willen des Menschen bestimmt sein kann, weil sich die betreffende Handlung nur auf die eigene Person bezieht, also unmittelbar keine auf die Willkür anderer hat, z. B. Maßlosigkeit im Genießen, bel der also auch, wenn sie allgemein gedacht wird nicht notwendig ein Widerspruch unter den verschiedenen bzw. zwi-

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spruch entsteht oder eine Harmonie und Übereinstimmung; denn der erstere mißfällt uns als solcher ebenso notwendig, wie uns die letzte re als solche gefällt. Als Grund aber wird angegeben, daß wir von Natur aus gesellschaftlich sind, was offenbar nicht nur im politischen und äußeren, sondern im tieferen geistigen Sinn als Gemeinschaft der Willen zu verstehen ist, und deshalb können wir, was wir in anderen mißbilligen nicht mit Aufrichtigkeit in uns billigen. Die Übereinstimmung der Herzen, d. h. der Willen, ist also nicht nur das Kr i te r i u m des sittlich Guten, sondern de ssenP r in z i p . Die Parallelität zu den Gedankengängen des moralphilosophischen Exkurses der Träume ist offensichtlich: dort spricht er von dem Trieb, "vermöge dessen wir so stark und so allgemein am Urteile anderer hängen und fremde Billigung oder Beifall zur Vollendung des unsrigen von uns selbst so nötig zu sein erachten •. Welches alles vielleicht eine empfundene Abhängigkeit unserer eigenen Urteile vom a11 gern ein e n me n s c h l i c h e n Ver s ta n deist und ein Mittel wird, dem Ganzen denkender Wesen eine Art Vernunfteinheit zu verschaffen". Und ähnlich erklärt er dort das Verhältnis unseres Willens zum Willen aller anderen: (Dadurch) "sehen wir uns in den geheimsten Beweggründen abhängig von der Re gel des a11g e meine n Will e n s , und es entspringt daraus in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen". Wenn er aber dort das sittliche Gefühl als die in uns empfundene Nöti"gung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen nur als die Ersc he i nun g dessen bezeichnet, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursache desselben auszumachen, so wird diese hier in den merkungen näher bezeichnet: Es ist ein Wes e n s g es e tz des menschlichen Geistes bzw. der freien Willkür selbst, das uns diese Einstimmung mit dem allgemeinen Willen auferlegt. Die Bemerkungen enthüllen auf diese Weise sozusagen den doktrinären Hintergrund, von dem her die Ausführungen der Träume zu verstehen und zu interpretieren sind. Das wird noch deutlicher in der nun folgenden Reflexionsgruppe: "Officium est vel beneplaciti vel debiti, actiones priores sunt moraliter spontaneae, posteriores moraliter coactae (haec differt a coactione politica), voluntas est vel propria hominis vel communis hominum (necessarium aliquod est ex voluntate bona hominis propria vel communi) fas nefas. Actio spectata secundum voluntatem hominum communem si sibimet ipsi contradicat, est externe moraliter impossibilis (illibiturn): fac me alterius frumentum occupatum ire, tum si specto hominem neminem sub ea conditione ut sibi ipsi eripiatur quod aquisivit aquirere velle, quod alterius est idem secundum privatum volo et secundum publicum aversor. Quatenus enim aliquid a voluntate alicuius plenarie pendet ',eate-

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nus impossibile est ut sibi ipsi contradicat (objective). Contradiceret autem voluntas divina sibimet ipsi, si vellet homines esse, quorum voluntas opposita esset voluntati ipsius. Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi si vellent quod ex voluntate communi abhorrerente Est autem voluntas communis in statu collisionis praegnantior propria (160,26-161,17). Hier wird zunächst der oben entwickelte Grundsatz des Widerspruchs bzw. der Übereinstimmung der Handlung mit sich selbst wenn sie zugleich in anderen gesetzt wird, ganz im Sinne der me eines Geistersehers als Beurteilung derselben sec und um v 0 _ lunta t em homin um Comm une m bezeichnet und der daraus sich ergebende Widerspruch als das Kriterium der 'äußeren moraliUnmöglichkeit oder Unerlaubtheit der Handlung aufgestellt so':.Ie das am Beispiel der Verletzung einer Rechtspflicht erwill mir das Eigentum des andern nach meinem privaten WIllen aneIgnen, aber nach dem allgemeinen Willen muß ich diese Handlung verabscheuen; denn wenn ich die Bedingung, daß einem das ,:on jedermann entrissen werden könne, allgemein setze. dann wIrd memand etwas erwerben wollen: Die Handlung, dem anderen das Erworbene zu nehmen, widerspricht sich also, allgemein genommen, selber und hebt sich dadurch auf: Ich kann sie also nach dem Willen nicht wollen, sondern nur nach meinem privaten 1m WIderspruch zum allgemeinen. Das bedeutet aber einen Widerspruch im Wollen des Menschen selber, wie Kant nun erklärt: Ebenso wie sich der göttliche Wille selbst widersprechen würde, wenn er wollte, daß Menschen existierten, deren Wille dem seinigen entgegengesetzt ist, so widerspreche sich auch der Wille der Menschen, wenn sie das wollen, was sie nach dem gemeinsamen Willen verabscheuen; denn der gemeinsame Wille ist ein dem menschlichen Geist wesentlicher Wille, weil der Mensch als von Natur geselldas, was er in anderen mißbilligt, aufrichtigen Sinnes in selbst nicht billigen kann. Ein solcher Widerspruch im Wollen 1st also nur dadurch möglich, daß die Handlung bzw. das Wollen dernicht. voll und ganz vom Willen selbst abhängt, denn sonst ware der WIlle ein sich selbst widersprechendes Vermögen; das grundlegende Wesensgesetz des Willens ist somit, mit si c h selbst übereinzustimmen. Nun aber gibt es auch im Gegensatz zum ex te r n e moraliter impossibile ein in te rn e moraliter impossibile das nicht durch den Widerspruch zwischen dem privaten und dem 'allgemeinen Willen des Menschen bestimmt sein kann, weil sich die betreffende Handlung nur auf die eigene Person bezieht, also unmittelbar keine auf die Willkür anderer hat, z. B. Maßlosigkeit im Genießen, bel der also auch, wenn sie allgemein gedacht wird nicht notwendig ein Widerspruch unter den verschiedenen bzw. zwi-

==== 244 sehen dem privaten und dem allgemeinen Willen des Menschen entsteht. Aber in di.esem Fall entspringt ein Widerspruch im Wollen des einzelnen selber. wenn dieses als ein Ganzes betrachtet wird, insofern dann die verschiedenen Zwecksetzungen einander widerstreiten. Dieser Gedanke wird zwar hier nie h tau s d r ü c k I ich entwickelt, aber doch an g e d e u te t: Wenn von einer actio externe moraliter impossibilis die Rede ist, die unwillkürlich ihren Gegenbegriff auf den Plan ruft, vor allem aber durch die einleitende Gegenüberstellung: voluntas est vel propria hominis vel communis hominum: necessarium aliquod est ex voluntate bona hominis propr ia vel communi: dem necessarium ex voluntate hominis propria entspricht das impossibile ex voluntate hominis propria. Da dieser gut ist. wenn er sich auf das richtet. was in sich . möglich ist, diese Möglichkeit aber nach dem Ge setz der Ubereinstimmung des Willens mit sich selbst beurteilt werden muß, ergibt sich die obige Deutung. Sie wird aber auch von einer Reihe von Reflexionen wenigstens nah e gel e g t: "Das Formale aller Vollkom menheit besteht in der Mannigfaltigkeit (wozu Dauer und Stärke) und Ei nh e i t. sie kann auch allein Vergnügen geben ••• Der Wille ist vollkommen, in so fern er nach den Gesetzen der Freiheit der größte Grund des Guten überhaupt ist .• " (136,13). "Der freie Wille (eines Bedürftigen) ist für sich gut, wenn er alles will, was zu seiner Vollkommenheit (Vergnügen) beiträgt, und fürs Ganze. wenn er zugleich aller Vollkommenheit begehrt .•. " (138,10). Unsere Stelle enthält aber noch eine für die gesamte Kantische Ethik wichtige Unterscheidung, die von manchen ihrer Kritiker, wie es scheint, übersehen wird, obwohl sie uns bereits hier an ihren Ursprüngen entgegentritt: die Unterscheidung zwischen den officia beneplaciti und debiti, von denen die ersteren moralisch spontan, die letzteren dagegen moralisch genötigt sind, wobei er ausdrücklich diesen (moralischen) Zwang vom 'politisChen' abhebt, mit dem die Erfüllung der Rechtspflichten von der staatlichen Autorität erzwungen werden kann. Diese Lehre wird durch weitere Reflexionen noch mehr im einzelnen entwickelt: "Die Schuldigkeit (natürliche gegen Menschen) hat ein bestimmtes Maß, die Liebespflicht keines. Jene besteht darin, daß nichts mehr geschieht als was ich selbst einen anderen habe wollen lassen und daß ich ihm nur das Seinige gebe, folglich alles nach einer solchen Handlung gleich ist (die Sympathie ist davon ausgenommen). Wenn ich ihm etwas verspreche, so raube ich ihm etwas, denn ich habe eine Hoffnung gemacht. die ich nicht erfülle. Wenn er im Hunger ist und ich helfe ihm nicht, alsdanrihabe ich keine Schuldigkeit übertreten. Wenn ich aber auf den Fall, daß ich selbst hungern sollte, gern begehrete von einem anderen zu bekommen. selbst auf die Kondition hin es wieder zu geben, so ist es eine Schuldigkeit, ihn auch zu sättigen" (157,8). Hier wird also unter gewissen Voraussetzungen auch die Li e -

245 be s p fl ich t als eine Art der Schuldigkeit gedacht, obwohl es einleitend hieß, daß sie im Gegensatz zu der letzteren kein bestimmtes Maß habe, und abschließend, niemand in Not könne sich vorstellen, daß er, wenn er ein Reicher wäre, j e dem N otleidenden helfen würde (158,6). Die Schuldigkeit ist also hier von anderer Art. Noch an einer anderen Stelle gleicht er unter gewissen Umständen die Liebespflicht der Gerechtigkeitspflicht an: "Diese Schuldigkeit (gemäß der Idee der Gerechtigkeit) wird als so etwas erkannt, dessen Ermangelung einen anderen mich würde als meinen Feind ansehen lassen und machen, daß ich ihn hassete. Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit, alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen. •• Ich wer d e ab e rau ehe i n e n je den ha ssen, der mich in einer Grube zappeln sieht und kalt sinnig vorübergeht" (36,5). Grundsätzlich aber rechnet er offenbar die Liebespflicht zu den officia beneplaciti, die kein bestimmtes Maß haben, wie es oben hieß, und die es nach einer anderen Reflexion niemals mit sich bringen können, daß man sich seiner eigenen Bedürfnisse beraube, während die officia debiti als moralisehe Be d ü r f ni s s e die Aufopferung der eigenen physischen verlangten (173,16). Der Complex der obligationes debiti aber heiße ius (178,9) und er stelle als die Summe der Schuldigkeitspflichten nichts anderes dar als den gemeinschaftlichen Eigennutz in aequilibrio (160, 25); sie beträfen nur "die notwendige Selbsterhaltung, sofern sie mit der Erhaltung der Art besteht", alles übrige seien nur Gunsten und Gewogenheiten (36,8). Der Unterschied zwischen diesen beiden Grundarten von Pflichten ist also deutlich: die Schuldigkeits- oder Gerechtigkeitspflichten haben ein genau bestimmtes Maß, das meinem Belieben entzogen ist und das zu leisten ich moralisch gezwungen bin, und zwar auch unter Abbruch der eigenen Bedürfnisse. Die officia beneplaciti dagegen, zu denen vor allem die Liebespflicht gehört, haben kein bestimmtes Maß und lassen darum dem beneplacitum Spielraum, sie verlangen auch nicht die Erfüllung unter Aufopferung der eigenen Bedürfnisse, wobei Kant ausdrücklich bemerkt, da ß di e s chö n e n und e dlen Handlungen vornehmlich in demjenigen bestehen, wozu man keine Schuldigkeit habe. Die Schuldigkeit sei eine Art moralisches Bedürfnis; was sich auf sie beziehe,' sei einfältig (127,7). Nachdem wir die dieser Themengruppe zugehörigen wesentlichen Gedanken herausgearbeitet haben, bleiben nur noch zwei Fragen zu beantworten, die sich unwillkürlich aufdrängen, nämlich 1) zählen diese zuletzt behandelten Reflexionen wirklich zum urs p r ü n g I i ehe n Co r p u s der Bemerkungen, soweit sie den Jahren 1764/65 angehören, oder haben wir in ihnen vielleicht spätere Einschübe zu erblicken? 2) In welchem Verhältnis steht die Neue Lösung, die Kant

==== 244 sehen dem privaten und dem allgemeinen Willen des Menschen entsteht. Aber in di.esem Fall entspringt ein Widerspruch im Wollen des einzelnen selber. wenn dieses als ein Ganzes betrachtet wird, insofern dann die verschiedenen Zwecksetzungen einander widerstreiten. Dieser Gedanke wird zwar hier nie h tau s d r ü c k I ich entwickelt, aber doch an g e d e u te t: Wenn von einer actio externe moraliter impossibilis die Rede ist, die unwillkürlich ihren Gegenbegriff auf den Plan ruft, vor allem aber durch die einleitende Gegenüberstellung: voluntas est vel propria hominis vel communis hominum: necessarium aliquod est ex voluntate bona hominis propr ia vel communi: dem necessarium ex voluntate hominis propria entspricht das impossibile ex voluntate hominis propria. Da dieser gut ist. wenn er sich auf das richtet. was in sich . möglich ist, diese Möglichkeit aber nach dem Ge setz der Ubereinstimmung des Willens mit sich selbst beurteilt werden muß, ergibt sich die obige Deutung. Sie wird aber auch von einer Reihe von Reflexionen wenigstens nah e gel e g t: "Das Formale aller Vollkom menheit besteht in der Mannigfaltigkeit (wozu Dauer und Stärke) und Ei nh e i t. sie kann auch allein Vergnügen geben ••• Der Wille ist vollkommen, in so fern er nach den Gesetzen der Freiheit der größte Grund des Guten überhaupt ist .• " (136,13). "Der freie Wille (eines Bedürftigen) ist für sich gut, wenn er alles will, was zu seiner Vollkommenheit (Vergnügen) beiträgt, und fürs Ganze. wenn er zugleich aller Vollkommenheit begehrt .•. " (138,10). Unsere Stelle enthält aber noch eine für die gesamte Kantische Ethik wichtige Unterscheidung, die von manchen ihrer Kritiker, wie es scheint, übersehen wird, obwohl sie uns bereits hier an ihren Ursprüngen entgegentritt: die Unterscheidung zwischen den officia beneplaciti und debiti, von denen die ersteren moralisch spontan, die letzteren dagegen moralisch genötigt sind, wobei er ausdrücklich diesen (moralischen) Zwang vom 'politisChen' abhebt, mit dem die Erfüllung der Rechtspflichten von der staatlichen Autorität erzwungen werden kann. Diese Lehre wird durch weitere Reflexionen noch mehr im einzelnen entwickelt: "Die Schuldigkeit (natürliche gegen Menschen) hat ein bestimmtes Maß, die Liebespflicht keines. Jene besteht darin, daß nichts mehr geschieht als was ich selbst einen anderen habe wollen lassen und daß ich ihm nur das Seinige gebe, folglich alles nach einer solchen Handlung gleich ist (die Sympathie ist davon ausgenommen). Wenn ich ihm etwas verspreche, so raube ich ihm etwas, denn ich habe eine Hoffnung gemacht. die ich nicht erfülle. Wenn er im Hunger ist und ich helfe ihm nicht, alsdanrihabe ich keine Schuldigkeit übertreten. Wenn ich aber auf den Fall, daß ich selbst hungern sollte, gern begehrete von einem anderen zu bekommen. selbst auf die Kondition hin es wieder zu geben, so ist es eine Schuldigkeit, ihn auch zu sättigen" (157,8). Hier wird also unter gewissen Voraussetzungen auch die Li e -

245 be s p fl ich t als eine Art der Schuldigkeit gedacht, obwohl es einleitend hieß, daß sie im Gegensatz zu der letzteren kein bestimmtes Maß habe, und abschließend, niemand in Not könne sich vorstellen, daß er, wenn er ein Reicher wäre, j e dem N otleidenden helfen würde (158,6). Die Schuldigkeit ist also hier von anderer Art. Noch an einer anderen Stelle gleicht er unter gewissen Umständen die Liebespflicht der Gerechtigkeitspflicht an: "Diese Schuldigkeit (gemäß der Idee der Gerechtigkeit) wird als so etwas erkannt, dessen Ermangelung einen anderen mich würde als meinen Feind ansehen lassen und machen, daß ich ihn hassete. Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit, alle anderen Übel, die wir ausstehen, sind nichts dagegen. •• Ich wer d e ab e rau ehe i n e n je den ha ssen, der mich in einer Grube zappeln sieht und kalt sinnig vorübergeht" (36,5). Grundsätzlich aber rechnet er offenbar die Liebespflicht zu den officia beneplaciti, die kein bestimmtes Maß haben, wie es oben hieß, und die es nach einer anderen Reflexion niemals mit sich bringen können, daß man sich seiner eigenen Bedürfnisse beraube, während die officia debiti als moralisehe Be d ü r f ni s s e die Aufopferung der eigenen physischen verlangten (173,16). Der Complex der obligationes debiti aber heiße ius (178,9) und er stelle als die Summe der Schuldigkeitspflichten nichts anderes dar als den gemeinschaftlichen Eigennutz in aequilibrio (160, 25); sie beträfen nur "die notwendige Selbsterhaltung, sofern sie mit der Erhaltung der Art besteht", alles übrige seien nur Gunsten und Gewogenheiten (36,8). Der Unterschied zwischen diesen beiden Grundarten von Pflichten ist also deutlich: die Schuldigkeits- oder Gerechtigkeitspflichten haben ein genau bestimmtes Maß, das meinem Belieben entzogen ist und das zu leisten ich moralisch gezwungen bin, und zwar auch unter Abbruch der eigenen Bedürfnisse. Die officia beneplaciti dagegen, zu denen vor allem die Liebespflicht gehört, haben kein bestimmtes Maß und lassen darum dem beneplacitum Spielraum, sie verlangen auch nicht die Erfüllung unter Aufopferung der eigenen Bedürfnisse, wobei Kant ausdrücklich bemerkt, da ß di e s chö n e n und e dlen Handlungen vornehmlich in demjenigen bestehen, wozu man keine Schuldigkeit habe. Die Schuldigkeit sei eine Art moralisches Bedürfnis; was sich auf sie beziehe,' sei einfältig (127,7). Nachdem wir die dieser Themengruppe zugehörigen wesentlichen Gedanken herausgearbeitet haben, bleiben nur noch zwei Fragen zu beantworten, die sich unwillkürlich aufdrängen, nämlich 1) zählen diese zuletzt behandelten Reflexionen wirklich zum urs p r ü n g I i ehe n Co r p u s der Bemerkungen, soweit sie den Jahren 1764/65 angehören, oder haben wir in ihnen vielleicht spätere Einschübe zu erblicken? 2) In welchem Verhältnis steht die Neue Lösung, die Kant

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hier dem Problem der Verpflichtung bzw. der kategorischen sittlichen Imperative gibt, zu Rousseau? Die erste Frage drängt sich deswegen auf, weil die Reflexionen, die diese neue Lehre in einer so relativ vollkommenen Gestalt enthalten, auffallenderweise in la te in i s c her Sprache abgefaßt sind und sich daher in etwa von dem übrigen Corpus der 'Bemerkungen' abheben, so daß der Gedanke eines späteren Einschubes nicht von vornherein abzuweisen ist. Aber abgesehen davon, daß offenbar tex t k r i ti s c h kein Grund zu einer solchen Annahme vorliegt, ist der vermischte Gebrauch des Deutschen und Lateinischen etwas durchaus Ge w ö h n 1 ich es in den sonstigen Reflexionen Kants, unter denen wir nicht selten lateinische Texte von eben solcher Ausdehnung wie die der 'Bemerkungen' finden. Im übrigen aber haben wir diese ganze Konzeption der Begründung der sittlichen Imperative aus dem Gesetz des allgemeinen Willens auch in dem moralphilosophischen Exkurs der 'Träume', der sicher diesem Zeitraum angehört (Herbst 1765) und schließlich ist, was besonders ins Gewicht fällt, die Lehre der lateinischen Reflexionen, die sich vorwiegend gegen Ende der Kollektion finden, der Sub s t a n z na c h durchaus schon in den deutschen des ersten Teiles enthalten, wenn auch nicht in derselben formelhaften Prägnanz. So beginnt hier eine Reflexion: "Wie die Freiheit im eigentlichen Verstand (die moralische, nicht die metaphysische) das oberste Prinzipium aller Tugend sei und auch aller Glückseligkeit" (31,10). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die bereits angeführte Bemerkung über die Gerechtigkeit sowohl der genötigten als der nötigenden: "Jene ist die Schuldigkeit gegen andere, diese die empfundene Schuldigkeit anderer gegen mich. Damit diese ein Richtmaß im Verstand habe, so können wir uns in Gedanken in die Stelle anderer setzen•• Diese Schuldigkeit wird als so etwas erkannt, dessen Ermangelung einen anderen mich würde als meinen Feind ansehen lassen und machen, daß ich ihn hassete ••• Die Schuldigkeit betrifft nur die notwendige Selbsterhaltung, so fern sie mit der Erhaltung der Art besteht .. " (35,14-36,10>' Hier werden offenbar die Pflichten der Schuldigkeit im wesentlichen ebenso bestimmt wie im II. Teil, wo wiederholt zur Feststellung der Rechtmäßigkeit einer Handlung die stationes morales als heuristisches Mittel gefordert werden (162. 4; 169,1) und betont wird, daß das einzige natürliche notwendige Gut eines Menschen im Verhältnis auf den Willen der anderen die Gleichheit (Freiheit) und respektive aufs Ganze die Einheit sei (165,20). In der Tat kann dieses Mittel der stationes morales nur den Sinn habEm, die Übereinstimmung des eigenen Willens mit dem der anderen als Gleichberechtigter zu prüfen. Damit wird bereits im 1. Teil der Kollektion das externe illibitum der Ungerechtigkeit durch den Widerspruch zum allgemeinen Willen bestimmt. Noch deutlicher geschieht dies an einer anderen Stelle, in der

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die Rechtspflicht hinsichtlich des Ei g e 11 turn s in aller Form aus diesem Prinzip entwickelt wird, und zwar so, daß sich die Gedanken im wesentlichen durchaus mit den entsprechenden Partien unserer lateinischen Reflexionen decken: "Der Leib ist mein, denn er ist ein Teil meines Ichs und wird durch meine Willkür bewegt. Die ganze belebte oder unbelebte Welt, die nicht eigene Willkür hat ist mein in so fern ich sie zwingen und nach meiner Willkür kann: Die Sonne ist nicht mein. Bei einem anderen Menschen gilt dasselbe, also ist keines Eigentum eine Proprietät oder ein ausschließendes Eigentum. In so fern ich aber ausschließungsweise mir etwas zueignen will, so werde ich des anderen Willen wenigstens nicht gegen den meinigen oder nicht seine Tat wider die meinige voraussetzen. Ich werde also die Handlungen ausüben, die das mein bezeichnen, den Baum abhauen, ihn zimmern etc. Der andere Mensch sagt mir, das ist sein; denn es gehört durch die Handlungen seiner Willkür gleichsam zu seinem Selbst •• W e Ich e r Will e gut sei n soll, muß, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben (v.Verf.gesp,), um deswillen wird der andere nicht dasjenige sein nennen, was ich gearbeitet habe, denn sonst würde er voraussetzen, daß sein Wille meinen Körper bewegte, Dadurch daß ein Mensch manches sein nennt so verspricht er tacite, in ähnlichen Umständen durch seinen Wiilen nicht über dasjenige.,," (66,11-67,10). Denn nur durch diese stillschweigende Bedingung, daß er in ähnlichen Umständen durch seinen Willen nicht über dasjenige verfüge. was der andere gearbeitet hat, kann der Wille, über das zu verfügen, was man selbst gearbeitet hat, allgemein und gegenseitig genommen werden, ohne sich selbst aufzuheben, Diese Stelle 1unrt uns aber zugleich an die ei gen tl ich e Wurzel dieses Grundgesetzes des guten Willens: die Bedingung, daß der Wille, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben darf, ist nur die notwendige Voraussetzung seiner wahren Freiheit ähnlich wie es im H. Teil heißt: Quatenus enim aliquid a voluntate alicuius plenarie pendet eatenus impossibile est ut sibi ipsi contradicat " Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi, si vellent quod ex voluntate communi abhorrerent (161,11). Darum wird als das einzige natürliche notwendige Gut des Menschen die GI e i c hh e i t bezeichnet bedeutet hier nichts anderes als Fr e i he i t (165,20): DIese GleIchsetzung von Gleichheit und Freiheit ist ein Grundgedanke Rousseaus, nach welchem die Unterwerfung des Willens unter den eines anderen (die Sklaverei) der Vernichtung des Menschseins gleichkommt. Damit aber rühren wir ohne Zweifel an die 1 e t z t e n W ur z eIn der Kantischen Konzeption: Unmittelbar vor der oben angeführten Reflexion lesen wir: "Ein Wille, der eines anderen seinem unterworfen ist, ist unvollkommen und widersprechend; denn

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hier dem Problem der Verpflichtung bzw. der kategorischen sittlichen Imperative gibt, zu Rousseau? Die erste Frage drängt sich deswegen auf, weil die Reflexionen, die diese neue Lehre in einer so relativ vollkommenen Gestalt enthalten, auffallenderweise in la te in i s c her Sprache abgefaßt sind und sich daher in etwa von dem übrigen Corpus der 'Bemerkungen' abheben, so daß der Gedanke eines späteren Einschubes nicht von vornherein abzuweisen ist. Aber abgesehen davon, daß offenbar tex t k r i ti s c h kein Grund zu einer solchen Annahme vorliegt, ist der vermischte Gebrauch des Deutschen und Lateinischen etwas durchaus Ge w ö h n 1 ich es in den sonstigen Reflexionen Kants, unter denen wir nicht selten lateinische Texte von eben solcher Ausdehnung wie die der 'Bemerkungen' finden. Im übrigen aber haben wir diese ganze Konzeption der Begründung der sittlichen Imperative aus dem Gesetz des allgemeinen Willens auch in dem moralphilosophischen Exkurs der 'Träume', der sicher diesem Zeitraum angehört (Herbst 1765) und schließlich ist, was besonders ins Gewicht fällt, die Lehre der lateinischen Reflexionen, die sich vorwiegend gegen Ende der Kollektion finden, der Sub s t a n z na c h durchaus schon in den deutschen des ersten Teiles enthalten, wenn auch nicht in derselben formelhaften Prägnanz. So beginnt hier eine Reflexion: "Wie die Freiheit im eigentlichen Verstand (die moralische, nicht die metaphysische) das oberste Prinzipium aller Tugend sei und auch aller Glückseligkeit" (31,10). Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die bereits angeführte Bemerkung über die Gerechtigkeit sowohl der genötigten als der nötigenden: "Jene ist die Schuldigkeit gegen andere, diese die empfundene Schuldigkeit anderer gegen mich. Damit diese ein Richtmaß im Verstand habe, so können wir uns in Gedanken in die Stelle anderer setzen•• Diese Schuldigkeit wird als so etwas erkannt, dessen Ermangelung einen anderen mich würde als meinen Feind ansehen lassen und machen, daß ich ihn hassete ••• Die Schuldigkeit betrifft nur die notwendige Selbsterhaltung, so fern sie mit der Erhaltung der Art besteht .. " (35,14-36,10>' Hier werden offenbar die Pflichten der Schuldigkeit im wesentlichen ebenso bestimmt wie im II. Teil, wo wiederholt zur Feststellung der Rechtmäßigkeit einer Handlung die stationes morales als heuristisches Mittel gefordert werden (162. 4; 169,1) und betont wird, daß das einzige natürliche notwendige Gut eines Menschen im Verhältnis auf den Willen der anderen die Gleichheit (Freiheit) und respektive aufs Ganze die Einheit sei (165,20). In der Tat kann dieses Mittel der stationes morales nur den Sinn habEm, die Übereinstimmung des eigenen Willens mit dem der anderen als Gleichberechtigter zu prüfen. Damit wird bereits im 1. Teil der Kollektion das externe illibitum der Ungerechtigkeit durch den Widerspruch zum allgemeinen Willen bestimmt. Noch deutlicher geschieht dies an einer anderen Stelle, in der

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die Rechtspflicht hinsichtlich des Ei g e 11 turn s in aller Form aus diesem Prinzip entwickelt wird, und zwar so, daß sich die Gedanken im wesentlichen durchaus mit den entsprechenden Partien unserer lateinischen Reflexionen decken: "Der Leib ist mein, denn er ist ein Teil meines Ichs und wird durch meine Willkür bewegt. Die ganze belebte oder unbelebte Welt, die nicht eigene Willkür hat ist mein in so fern ich sie zwingen und nach meiner Willkür kann: Die Sonne ist nicht mein. Bei einem anderen Menschen gilt dasselbe, also ist keines Eigentum eine Proprietät oder ein ausschließendes Eigentum. In so fern ich aber ausschließungsweise mir etwas zueignen will, so werde ich des anderen Willen wenigstens nicht gegen den meinigen oder nicht seine Tat wider die meinige voraussetzen. Ich werde also die Handlungen ausüben, die das mein bezeichnen, den Baum abhauen, ihn zimmern etc. Der andere Mensch sagt mir, das ist sein; denn es gehört durch die Handlungen seiner Willkür gleichsam zu seinem Selbst •• W e Ich e r Will e gut sei n soll, muß, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben (v.Verf.gesp,), um deswillen wird der andere nicht dasjenige sein nennen, was ich gearbeitet habe, denn sonst würde er voraussetzen, daß sein Wille meinen Körper bewegte, Dadurch daß ein Mensch manches sein nennt so verspricht er tacite, in ähnlichen Umständen durch seinen Wiilen nicht über dasjenige.,," (66,11-67,10). Denn nur durch diese stillschweigende Bedingung, daß er in ähnlichen Umständen durch seinen Willen nicht über dasjenige verfüge. was der andere gearbeitet hat, kann der Wille, über das zu verfügen, was man selbst gearbeitet hat, allgemein und gegenseitig genommen werden, ohne sich selbst aufzuheben, Diese Stelle 1unrt uns aber zugleich an die ei gen tl ich e Wurzel dieses Grundgesetzes des guten Willens: die Bedingung, daß der Wille, wenn er allgemein und gegenseitig genommen wird, sich nicht selbst aufheben darf, ist nur die notwendige Voraussetzung seiner wahren Freiheit ähnlich wie es im H. Teil heißt: Quatenus enim aliquid a voluntate alicuius plenarie pendet eatenus impossibile est ut sibi ipsi contradicat " Contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi, si vellent quod ex voluntate communi abhorrerent (161,11). Darum wird als das einzige natürliche notwendige Gut des Menschen die GI e i c hh e i t bezeichnet bedeutet hier nichts anderes als Fr e i he i t (165,20): DIese GleIchsetzung von Gleichheit und Freiheit ist ein Grundgedanke Rousseaus, nach welchem die Unterwerfung des Willens unter den eines anderen (die Sklaverei) der Vernichtung des Menschseins gleichkommt. Damit aber rühren wir ohne Zweifel an die 1 e t z t e n W ur z eIn der Kantischen Konzeption: Unmittelbar vor der oben angeführten Reflexion lesen wir: "Ein Wille, der eines anderen seinem unterworfen ist, ist unvollkommen und widersprechend; denn

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der Mensch hat spontaneitatern; ist er dem Willen eines Menschen unterworfen (wenn er gleich selbst schon wählen kann) so ist er häßlich und verächtlich, allein ist er dem Willen Gottes unterworfen, so ist er bei der Natur" (66,3). Weiter unten aber: "Es ist in der Unterwürfigkeit nicht allein was äußeres Gefährliches, eine gewisse Häßlichkeit und ein Widerspruch, der zuglelch Unrechtmäßigkeit anzeigt •• Daß der Mensch selbst (aber) glelchsam keiner Seele bedürfen und keinen eigenen Willen haben soll und daß eine andere Seele meine Gliedmaßen bewegen soll, das ist ungereimt und verkehrt.. Kurz der Mensch, der da ist mehr ein Mensch, er hat diesen Rang verloren, er 1st nichts außer em ein Zubehör eines anderen Menschen (93,14). Diese Zusammenhänge aber führen uns nun von selbst zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis dieser Lehre vom allg.emeinen Willen als Prinzip des moralisch Guten zu Rousseau: zwelfellos ein Kardinalproblem der Entwicklungsgeschichte der Kantischen Ethik. Im ganzen gesehen ist sicher ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen dieser und der Rousseauschen Konzeption des allgemeinen Willens im Contrat und den entsprechenden Partien des Emile, wie schon Kl. Reich und Schilpp Recht betont haben 97. In der Tat ist für Rousseau der allgemewe Wille lediglich das Prinzip der rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung, deren Gründung aus dem Mo t iv der SeI b s te rh a I tung und Selbstliebe erfolgt und zwar durch den Gesellschaftsvertrag (contrat, pacte social): An einem bestimmten Punkt der Entwicklung des Menschen im Naturzustand werden die Hindernisse welche der Erhaltung dieses letzteren entgegenwirken, größer ais die Kräfte des einzelnen, sich in ihm zu erhalten. An diesem Punkt muß der Mensch, wenn nicht das ganze Geschlecht zugrunde gehen, d. h. sich selbst zugrunde richten soll, zu einem grundsätzlich neuen Lebenszustand übergehen: zu dem der s t a t lichen Gesellschaftsform. Diese entsteht dadurch, daß SIch die einzelnen durch die Vereinigung ihrer Willen, Kräfte und Vermögen zu einer moralischen, öffentlichen Person zusammenschließen (dem politischen Körper oder Gemeinwesen), die beseelt ist vom allgemeinen, auf das Wohl der Gemeinschaft (bonum gerichteten Willen und der die vereinigte Kraft der Gesamtheit zur Verfügung steht, um die Beschlüsse dieses Willens gegen die Widerstände der einzelnen durchzusetzen. Durch den B ü r ger ver t rag gibt jedes Glied seine natürliche Freiheit, seine natürliche:n Kräfte und seinen Besitz an Gütern rest- und vorbehaltlos an dIe Gemeinschaft hin, wird aber eben dadurch Teilhaber am allgemeinen Willen und damit ein Glied der gesetzgebenden staatlichen Autorität (des Souveräns), so daß jeder als Untertan des Staates nur jenen Gesetzen zu gehorchen hat, die er als Glied des Souveräns selber 97) Klo Reich, o. c. 5.13 f. ; Schilpp, o. c. 5.80.

beschließt. Und wenn die Freiheit dadurch vermindert scheint, daß der einzelne sich auch dem Willen der anderen Mitglieder des Souveräns unterwerfen muß, so erhält er für diesen Verlust vollwertigen Ersatz dadurch, daß er durch den allgemeinen Willen dasselbe Recht über die andern erhält, das er diesen über sich selbst einräumt. Der einzelne bleibt also durch den Gesellschaftsvertrag so frei wie er zuvor gewesen, ja seine vertragliche Freiheit ist noch größer als die ursprüngliche des Naturzustandes, weil die freie Verfügungsmacht über seine Person, seine Vermögen und seine Güter im Rahmen des allgemeinen Willens durch die vereinigte Macht des ganzen moralischen Körpers geschützt und verteidigt wird. Insbesondere verwandelt der Bürgerbund den bIo ß e n Be s i t z an Gütern in E i gen turn, d. h. verbindet mit ihm das R e c h t , jeden anderen vom Gebrauch derselben auszuschließen, und schützt dieses Recht durch die öffentliche Gewalt. Denn durch den pacte social geht der Besitz des einzelnen in den des Gemeinwesens über und der einzelne erhält ihn nunmehr als Glied und Sachwalter der Gemeinschaft zurück, so daß ihn diese radikale Veräußerung an die Gemeinschaft keineswegs des Besitzes seiner Güter beraubt 98. Durch den Gesellschaftsvertrag werden also die Freiheit und die Kräfte des einzelnen, jene ursprünglichen und ersten Werkzeuge der Selbsterhaltung, nicht zerstört oder vermindert, und der Mensch kann sie durch ihn hingeben, ohne sich selbst zu schaden oder die Sorge zu vernachlässigen, die er sich selbst schuldig ist. Im Gegenteil der Tri e b der SeI b s tl i e bemacht jenen unter bestimmten Umständen als das einzige Mittel der Selbsterhaltung geradezu notwendig. Dieser Grundtrieb der menschlichen Natur ist auch das tragende Motiv. das den allgemeinen Willen aufrecht erhält und ihm seine Richtigkeit verleiht: Pourquoi la volonte generale est elle toujours droite, et pourquoi tous veulent -Hs constamment le bonheur de cha ". qun d'eux, si ce nIest parce qu'il n'y apersonne qui ne s'approprie ce mot chaqun, et qui ne songe lui en votant pour tous? ce qui prouve que l'egalite de droit et la not ion de justice qu 'elle produit derivent de la preference que chaqun se donne, et par consequent de la nature de l'homme •• 99. Dieses Prinzip der Natur, nämlich die Selbstliebe und der Trieb der Selbsterhaltung, liegt bei Rousseau als Prinzip auch noch der mo r al i s c h e n Ordnung zugrunde, in die der Mensch mit der bürgerlichen Verfassung notwendig eintritt und durch die er eigentlich erst zum Menschen im vollen Sinne wird, weil nur die moralische Freiheit ihn in Wahrheit zum Herrn über sich selbst mache denn dem bloßen Belieben folgen heiße Sklave sein, frei sein heiße dem Gesetze folgen, das er sich selbst vorschreibe 100. 98) Rousseau ll, 588 f. 99) Ibid. H, 593 f. 100) lbid. H, 588.

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der Mensch hat spontaneitatern; ist er dem Willen eines Menschen unterworfen (wenn er gleich selbst schon wählen kann) so ist er häßlich und verächtlich, allein ist er dem Willen Gottes unterworfen, so ist er bei der Natur" (66,3). Weiter unten aber: "Es ist in der Unterwürfigkeit nicht allein was äußeres Gefährliches, eine gewisse Häßlichkeit und ein Widerspruch, der zuglelch Unrechtmäßigkeit anzeigt •• Daß der Mensch selbst (aber) glelchsam keiner Seele bedürfen und keinen eigenen Willen haben soll und daß eine andere Seele meine Gliedmaßen bewegen soll, das ist ungereimt und verkehrt.. Kurz der Mensch, der da ist mehr ein Mensch, er hat diesen Rang verloren, er 1st nichts außer em ein Zubehör eines anderen Menschen (93,14). Diese Zusammenhänge aber führen uns nun von selbst zur Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis dieser Lehre vom allg.emeinen Willen als Prinzip des moralisch Guten zu Rousseau: zwelfellos ein Kardinalproblem der Entwicklungsgeschichte der Kantischen Ethik. Im ganzen gesehen ist sicher ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen dieser und der Rousseauschen Konzeption des allgemeinen Willens im Contrat und den entsprechenden Partien des Emile, wie schon Kl. Reich und Schilpp Recht betont haben 97. In der Tat ist für Rousseau der allgemewe Wille lediglich das Prinzip der rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung, deren Gründung aus dem Mo t iv der SeI b s te rh a I tung und Selbstliebe erfolgt und zwar durch den Gesellschaftsvertrag (contrat, pacte social): An einem bestimmten Punkt der Entwicklung des Menschen im Naturzustand werden die Hindernisse welche der Erhaltung dieses letzteren entgegenwirken, größer ais die Kräfte des einzelnen, sich in ihm zu erhalten. An diesem Punkt muß der Mensch, wenn nicht das ganze Geschlecht zugrunde gehen, d. h. sich selbst zugrunde richten soll, zu einem grundsätzlich neuen Lebenszustand übergehen: zu dem der s t a t lichen Gesellschaftsform. Diese entsteht dadurch, daß SIch die einzelnen durch die Vereinigung ihrer Willen, Kräfte und Vermögen zu einer moralischen, öffentlichen Person zusammenschließen (dem politischen Körper oder Gemeinwesen), die beseelt ist vom allgemeinen, auf das Wohl der Gemeinschaft (bonum gerichteten Willen und der die vereinigte Kraft der Gesamtheit zur Verfügung steht, um die Beschlüsse dieses Willens gegen die Widerstände der einzelnen durchzusetzen. Durch den B ü r ger ver t rag gibt jedes Glied seine natürliche Freiheit, seine natürliche:n Kräfte und seinen Besitz an Gütern rest- und vorbehaltlos an dIe Gemeinschaft hin, wird aber eben dadurch Teilhaber am allgemeinen Willen und damit ein Glied der gesetzgebenden staatlichen Autorität (des Souveräns), so daß jeder als Untertan des Staates nur jenen Gesetzen zu gehorchen hat, die er als Glied des Souveräns selber 97) Klo Reich, o. c. 5.13 f. ; Schilpp, o. c. 5.80.

beschließt. Und wenn die Freiheit dadurch vermindert scheint, daß der einzelne sich auch dem Willen der anderen Mitglieder des Souveräns unterwerfen muß, so erhält er für diesen Verlust vollwertigen Ersatz dadurch, daß er durch den allgemeinen Willen dasselbe Recht über die andern erhält, das er diesen über sich selbst einräumt. Der einzelne bleibt also durch den Gesellschaftsvertrag so frei wie er zuvor gewesen, ja seine vertragliche Freiheit ist noch größer als die ursprüngliche des Naturzustandes, weil die freie Verfügungsmacht über seine Person, seine Vermögen und seine Güter im Rahmen des allgemeinen Willens durch die vereinigte Macht des ganzen moralischen Körpers geschützt und verteidigt wird. Insbesondere verwandelt der Bürgerbund den bIo ß e n Be s i t z an Gütern in E i gen turn, d. h. verbindet mit ihm das R e c h t , jeden anderen vom Gebrauch derselben auszuschließen, und schützt dieses Recht durch die öffentliche Gewalt. Denn durch den pacte social geht der Besitz des einzelnen in den des Gemeinwesens über und der einzelne erhält ihn nunmehr als Glied und Sachwalter der Gemeinschaft zurück, so daß ihn diese radikale Veräußerung an die Gemeinschaft keineswegs des Besitzes seiner Güter beraubt 98. Durch den Gesellschaftsvertrag werden also die Freiheit und die Kräfte des einzelnen, jene ursprünglichen und ersten Werkzeuge der Selbsterhaltung, nicht zerstört oder vermindert, und der Mensch kann sie durch ihn hingeben, ohne sich selbst zu schaden oder die Sorge zu vernachlässigen, die er sich selbst schuldig ist. Im Gegenteil der Tri e b der SeI b s tl i e bemacht jenen unter bestimmten Umständen als das einzige Mittel der Selbsterhaltung geradezu notwendig. Dieser Grundtrieb der menschlichen Natur ist auch das tragende Motiv. das den allgemeinen Willen aufrecht erhält und ihm seine Richtigkeit verleiht: Pourquoi la volonte generale est elle toujours droite, et pourquoi tous veulent -Hs constamment le bonheur de cha ". qun d'eux, si ce nIest parce qu'il n'y apersonne qui ne s'approprie ce mot chaqun, et qui ne songe lui en votant pour tous? ce qui prouve que l'egalite de droit et la not ion de justice qu 'elle produit derivent de la preference que chaqun se donne, et par consequent de la nature de l'homme •• 99. Dieses Prinzip der Natur, nämlich die Selbstliebe und der Trieb der Selbsterhaltung, liegt bei Rousseau als Prinzip auch noch der mo r al i s c h e n Ordnung zugrunde, in die der Mensch mit der bürgerlichen Verfassung notwendig eintritt und durch die er eigentlich erst zum Menschen im vollen Sinne wird, weil nur die moralische Freiheit ihn in Wahrheit zum Herrn über sich selbst mache denn dem bloßen Belieben folgen heiße Sklave sein, frei sein heiße dem Gesetze folgen, das er sich selbst vorschreibe 100. 98) Rousseau ll, 588 f. 99) Ibid. H, 593 f. 100) lbid. H, 588.

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Mit dieser unerwarteten Wendung scheint die spätere Lehre Kants von der SeI b s t ge set z ge b u n g der praktischen Vernunft vorweggenommen, und in der Tat hat man, wie wir schon erwähnt haben, immer wieder versucht, die fraglichen Stellen des Emile und Contrat in diesem Sinne zu deuten. Aber eine nähere Untersuchung gerade des Emile macht deutlich, daß Rousseau in der Begründung der Moral durchwegs dem naturalistischen Prinzip der SeI b s t li e be und des SeI b s te rh alt u n g s tri e b es verhaftet bleibt. Er führt dort aus, daß das Recht der Natur ein bloßes Hirngespinst bleiben müsse, wenn man es auf bloße Vernunft und nicht auf ein dem menschlichen Herzen natürliches Bedürfnis gründe. Auch das Grundgebot des Naturgesetzes: 'tut euren Mitmenschen, was ihr wollt, daß sie euch tun', kann nach Rousseau keinen anderen Grund haben als das Gewissen und die E m p f i n dun g. Denn, "wo läge der Grund, daß ich als Ich so handeln müsse als wäre ich ein anderer, vornehmlich wenn ich moralisch gewiß bin, mich nie in der Lage des anderen zu befinden? Und wer garantiert mir, daß, wenn ich mich an diese Regel halte, ich dadurch erreiche, daß auch die anderen mir gegenüber nach derselben verfahren? Der Böse zieht gerade aus der Redlichkeit des Guten und seiner eigenen Ungerechtigkeit seine Vorteile: er will, daß jedermann gerecht ist, nur er selbst ausgenommen. Der Rechtschaffene hat also den Nachteil. Wenn aber die Stärke einer expansiven Seele mich mit meinesgleichen identifiziert und ich mich sozusagen in ihm fühle, so will ich, um selbst nicht zu leiden, auch nicht, daß er leide. Ich nehme mich seiner aus Liebe zu mir selbst an: und der Grund des Gebotes liegt in der Natur selbst, die mir den Wunsch nach meinem Wohlsein einflößt, an welchem Ort ich mich auch existieren fühle. Daraus schließe ich dann, es sei nicht wahr, daß die Vorschriften des Naturgesetzes auf der Vernunft allein beruhen. Die Li e b e des Nächsten, von der Selbstliebe abgeleitet, ist das Prinzipium der menschlichen Gerechtigkeit"lOl. Aus diesen Ausführungen erhellt, daß Rousseaus Lehre vom allgemeinen Willen als Grundprinzip der bürgerlichen Verfassung und seine Begründung des allgemeinen Sittengesetzes keineswegs einen unm i t tel bare n An s atz zur späteren Kantischen Ethik der reinen praktischen Vernunft enthält. Kl. Reich hat also mit Recht darauf hingewiesen, daß mit der These, der Mensch sei nur frei, wenn er einem Gesetz gehorche, das er sich selbst vorschreibe, zwar in einem gewissen uneigentlichen Sinn eine autonome Ethik intendiert sei. aber nur in dem Sinn, wie sie auch die ganze stoische Tradition, zu der er ebenso Wolff und die Engländer rechnet, ja selbst Aristoteles schon im Sinn gehabt. Für das Kantische Prinzip der Autonomie aber sei das Entscheidende nicht, daß der Wille sich selbst an ein inneres 101) Ibid. 1I. 25.

251

Gesetz binde, denn das sei auch auf Grund eines In te res ses denkbar, von dem er dann abhängig wäre, sondern daß das Moralprinzip u n be d i n g t sei und daß ein solches unbedingtes Moralprinzip nur ein zu oberst oder ursprünglich gesetzgebender Wille sein könne. Während die Bindung an das Gesetz der liberte civile (und auch an das der inneren moralischen Freiheit. wie wir sahen) bp.i Rousseau als naturbedingt gedacht wird, bedeute Autonomie des Willens im Kantischen Sinne, daß die Tauglichkeit der Willensgesinnung , sich selbst als allgemeines Gesetz zu denken, das alleinige Gesetz sei. das der Wille sich auferlegt, unabhängig von irgendeiner Triebfeder oder irgendeinem Interesse .•. Erst mit dem reinen Rationalismus in der Ethik (und nicht schon der Rechtslehre, die vom Beweggrund abstrahiert), nach welchem eine bloße Idee im Gegensatze zu aller Neigung die Willkür bestimmt, trete der Begriff des Selbstzwanges durch die Vorstellung des Gesetzes allein auf: der Begriff der Freiheit nic:qt nur im äußeren Tun und Lassen, sondern in der Wahl der Maximen selbst. Eine solche Grundlegung aber bedeute gegenüber Rousseau ein völliges Novum •.• Unabhängig von Rousseau finde Kant das Prinzip der Autonomie des Willens im eigentlichen Sinn als des einzig möglichenPrinzips einer unbedingten Verpflichtung. Mit diesemPrinzip der Bestimmung der Willkür durch eine bloße Idee habe er sich in Gegensatz gesetzt zu Shaftesburys, Hutchesons und folglich auch zu Rousseaus Grundsatz der Moralität. Soweit Reich (S. 14 ff.). Und ohne Zweifel hat er damit im wesentlichen richtig gesehen. Aber unsere Frage geht hier zunächst nicht um das Verhältnis zwischen der Rousseauschen Lehre und der späteren 'kritischen' Ethik, sondern um das zwischen der ersteren und Kants Begründung der sittlichen Imperative in den Be m e r k u n gen. Reich schließt sich hier (was bei der Treffsicherheit seiner übrigen Analysen überrascht) ohne nähere Prüfung der traditionellen Auffassung an, daß der junge Kant ebenso wie Rousseau die Shaftesbury- und Hutchesonsche Lehre von dem obersten Grund der Sittlichkeit teile. Diese Auffassung aber ist es gerade, die von den Quellen h"er unh alt bar wird: nicht nur hat der Philosoph bereits in der Preisschrift und dann wieder in den Bemerkungen aufs klarste die Unbedingtheit der sittlichen Imperative im Gegensatz zu allen anderen Arten von Imperativen herausgearbeitet, sondern er hat auch in den 'Bemerkungen' und in den 'Träumen' dem Problem der Pr in z i pie n der unbedingten sittlichen Verpflichtung jene Lösung gegeben, die nun wirklich im Keim, ja im Entwurf bereits die spätere 'kritische' Ethik enthält. Denn was Kant hier in den entscheidenden Reflexionen ausführt, deckt sich in den Grundgedanken durchaus mit dem, was er etwa zehn bis fünfzehn Jahre später im ersten Teil seiner Ethikvorlesung lehrte, wie aus dem Vergleich der oben angeführten Reflexionen mit dem Prooemium, sowie den Vorlesungen 'Vom Principio der

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Mit dieser unerwarteten Wendung scheint die spätere Lehre Kants von der SeI b s t ge set z ge b u n g der praktischen Vernunft vorweggenommen, und in der Tat hat man, wie wir schon erwähnt haben, immer wieder versucht, die fraglichen Stellen des Emile und Contrat in diesem Sinne zu deuten. Aber eine nähere Untersuchung gerade des Emile macht deutlich, daß Rousseau in der Begründung der Moral durchwegs dem naturalistischen Prinzip der SeI b s t li e be und des SeI b s te rh alt u n g s tri e b es verhaftet bleibt. Er führt dort aus, daß das Recht der Natur ein bloßes Hirngespinst bleiben müsse, wenn man es auf bloße Vernunft und nicht auf ein dem menschlichen Herzen natürliches Bedürfnis gründe. Auch das Grundgebot des Naturgesetzes: 'tut euren Mitmenschen, was ihr wollt, daß sie euch tun', kann nach Rousseau keinen anderen Grund haben als das Gewissen und die E m p f i n dun g. Denn, "wo läge der Grund, daß ich als Ich so handeln müsse als wäre ich ein anderer, vornehmlich wenn ich moralisch gewiß bin, mich nie in der Lage des anderen zu befinden? Und wer garantiert mir, daß, wenn ich mich an diese Regel halte, ich dadurch erreiche, daß auch die anderen mir gegenüber nach derselben verfahren? Der Böse zieht gerade aus der Redlichkeit des Guten und seiner eigenen Ungerechtigkeit seine Vorteile: er will, daß jedermann gerecht ist, nur er selbst ausgenommen. Der Rechtschaffene hat also den Nachteil. Wenn aber die Stärke einer expansiven Seele mich mit meinesgleichen identifiziert und ich mich sozusagen in ihm fühle, so will ich, um selbst nicht zu leiden, auch nicht, daß er leide. Ich nehme mich seiner aus Liebe zu mir selbst an: und der Grund des Gebotes liegt in der Natur selbst, die mir den Wunsch nach meinem Wohlsein einflößt, an welchem Ort ich mich auch existieren fühle. Daraus schließe ich dann, es sei nicht wahr, daß die Vorschriften des Naturgesetzes auf der Vernunft allein beruhen. Die Li e b e des Nächsten, von der Selbstliebe abgeleitet, ist das Prinzipium der menschlichen Gerechtigkeit"lOl. Aus diesen Ausführungen erhellt, daß Rousseaus Lehre vom allgemeinen Willen als Grundprinzip der bürgerlichen Verfassung und seine Begründung des allgemeinen Sittengesetzes keineswegs einen unm i t tel bare n An s atz zur späteren Kantischen Ethik der reinen praktischen Vernunft enthält. Kl. Reich hat also mit Recht darauf hingewiesen, daß mit der These, der Mensch sei nur frei, wenn er einem Gesetz gehorche, das er sich selbst vorschreibe, zwar in einem gewissen uneigentlichen Sinn eine autonome Ethik intendiert sei. aber nur in dem Sinn, wie sie auch die ganze stoische Tradition, zu der er ebenso Wolff und die Engländer rechnet, ja selbst Aristoteles schon im Sinn gehabt. Für das Kantische Prinzip der Autonomie aber sei das Entscheidende nicht, daß der Wille sich selbst an ein inneres 101) Ibid. 1I. 25.

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Gesetz binde, denn das sei auch auf Grund eines In te res ses denkbar, von dem er dann abhängig wäre, sondern daß das Moralprinzip u n be d i n g t sei und daß ein solches unbedingtes Moralprinzip nur ein zu oberst oder ursprünglich gesetzgebender Wille sein könne. Während die Bindung an das Gesetz der liberte civile (und auch an das der inneren moralischen Freiheit. wie wir sahen) bp.i Rousseau als naturbedingt gedacht wird, bedeute Autonomie des Willens im Kantischen Sinne, daß die Tauglichkeit der Willensgesinnung , sich selbst als allgemeines Gesetz zu denken, das alleinige Gesetz sei. das der Wille sich auferlegt, unabhängig von irgendeiner Triebfeder oder irgendeinem Interesse .•. Erst mit dem reinen Rationalismus in der Ethik (und nicht schon der Rechtslehre, die vom Beweggrund abstrahiert), nach welchem eine bloße Idee im Gegensatze zu aller Neigung die Willkür bestimmt, trete der Begriff des Selbstzwanges durch die Vorstellung des Gesetzes allein auf: der Begriff der Freiheit nic:qt nur im äußeren Tun und Lassen, sondern in der Wahl der Maximen selbst. Eine solche Grundlegung aber bedeute gegenüber Rousseau ein völliges Novum •.• Unabhängig von Rousseau finde Kant das Prinzip der Autonomie des Willens im eigentlichen Sinn als des einzig möglichenPrinzips einer unbedingten Verpflichtung. Mit diesemPrinzip der Bestimmung der Willkür durch eine bloße Idee habe er sich in Gegensatz gesetzt zu Shaftesburys, Hutchesons und folglich auch zu Rousseaus Grundsatz der Moralität. Soweit Reich (S. 14 ff.). Und ohne Zweifel hat er damit im wesentlichen richtig gesehen. Aber unsere Frage geht hier zunächst nicht um das Verhältnis zwischen der Rousseauschen Lehre und der späteren 'kritischen' Ethik, sondern um das zwischen der ersteren und Kants Begründung der sittlichen Imperative in den Be m e r k u n gen. Reich schließt sich hier (was bei der Treffsicherheit seiner übrigen Analysen überrascht) ohne nähere Prüfung der traditionellen Auffassung an, daß der junge Kant ebenso wie Rousseau die Shaftesbury- und Hutchesonsche Lehre von dem obersten Grund der Sittlichkeit teile. Diese Auffassung aber ist es gerade, die von den Quellen h"er unh alt bar wird: nicht nur hat der Philosoph bereits in der Preisschrift und dann wieder in den Bemerkungen aufs klarste die Unbedingtheit der sittlichen Imperative im Gegensatz zu allen anderen Arten von Imperativen herausgearbeitet, sondern er hat auch in den 'Bemerkungen' und in den 'Träumen' dem Problem der Pr in z i pie n der unbedingten sittlichen Verpflichtung jene Lösung gegeben, die nun wirklich im Keim, ja im Entwurf bereits die spätere 'kritische' Ethik enthält. Denn was Kant hier in den entscheidenden Reflexionen ausführt, deckt sich in den Grundgedanken durchaus mit dem, was er etwa zehn bis fünfzehn Jahre später im ersten Teil seiner Ethikvorlesung lehrte, wie aus dem Vergleich der oben angeführten Reflexionen mit dem Prooemium, sowie den Vorlesungen 'Vom Principio der

252 Moralität', 'Vom obersten Principio der Moralität' und den übrigen Abschnitten des 1. Teiles erhellt; und andererseits kann kein Zweifel bestehen, daß die Grundgedanken dieser seiner 'Philosophia practica universalis' ohne wesentliche Veränderung in die ethischen Grundlegungsschriften der kritischen Epoche eingehen. Durch die Veröffentlichung des vollständigen Textes der Bemerkungen ist somit die Interpretation des moralphilosophischen Exkurses der Träume, wie sie K. Schmidt vertreten hat, vollauf bestätigt worden. Der Schritt von dem ersten Lösungsversuch der Preisschrift zu diesem neuen Ansatz einer Lösung des Problems der unbedingten Verbindlichkeit bedeutet folgerichtig den z w e i t e n e nt s c h ei denden Wendepunkt in der ethischen Entwicklung K a nt s. Im Schlußabsatz der Preisschrift hatte er auf die Frage hingewiesen, die er noch nicht zu beantworten vermochte und die ihm von grundlegender Bedeutung zu sein schien: ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl, als der innere Grund des Begehrungsvermögens , die ersten Grundsätze dazu (zum· Grundbegriff der Verbindlichkeit) entscheide. Die neue Lösung aber geht von einem Vermögen aus, das in seiner damaligen Alternative nicht einmal genannt wurde: von der Fr ei h ei t , der freien Willkür, und sie statuiert das formale Gesetz der Übereinstimmung der Willkür mit ihr selbst als jenes Prinzip, das die ersten Grundsätze der Verbindlichkeit entscheidet. Das ist nun ein Formalprinzip in einem gänzlich anderen Sinn als das der Vollkommenheit in der Preisschrift: dieses konnte nur Sinn und Bedeutung erhalten von den Inhalten des moralischen Gefühls her, das Entscheidende blieb also diese intuitive Urerfahrung der sittlichen Wertgehalte im moralischen Gefühl; das neue Formalprinzip dagegen bestimmt selber als letzte Norm den sittlichen Gehalt einer Gesinnung: es bedarf nicht mehr des moralischen Gefühls als eines k 0 n s t i tut iv e n Prinzips. Folgerichtig wird denn auch das moralische Gefühl in dieser Phase der Entwicklung seiner konstitutiven Funktion entkleidet: es wird zur Empfindung der Nötigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen und als solche lediglich zur Er sc he i nun g dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursache desselben auszumachen 102, zur facultas animae, cuius ratio ignoratur und deshalb bloß 'phaenomenon' bleibt (147,15). Wenn wir uns so von der grundlegenden Bedeutung dieser zweiten Lösung des Problems der Verbindlichkeit überzeugt haben, so bleibt uns noch die Frage zu beantworten, wie Kant zu dieser Lösung gelangte, von der wir in der Abhandlung über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen no c h k ein e S pur entdecken, deren Ursprung also in den Jahren 1764-65 liegen muß; im besonderen aber die Frage, ob Rousseau mit seiner Lehre vom allgemeinen Willen hierbei auf ihn einen entscheidenden Einfluß ausgeübt hat; denn wenn auch 102) KG5 1I, 335.

253 nach dem oben Gesagten eine direkte Übernahme der Lehre Rousseaus nicht in Frage kommt. weil er schon seit der Preis schrift in der Begründung der Ethik auf einem grundsätzlich anderen Standpunkt als dieser stand, so liegt es doch durchaus im Bereich des Möglichen, daß er durch dessen Lehre entscheidend zu seiner neuen angeregt wurde. Und im Gegensatz zu Schilpp, der ledlgllch eine äußerliche und zufällige Übereinstimmung des Ausdrucks anzunehmen scheint, sind wir der Überzeugung, daß dies in der Tat weitgehend der Fall war. An sich könnte er freilich zu dieser seiner neuen Lösung ebenso dem Moralphilosophen der deut s ch en Aufklärung, dIe er SIcher gekannt hat, angeregt worden sein. Denn wir finden beispielsweise bei T horn a s i u s die Grundforderung der vernünftigen Liebe des Nächsten weitergeführt zur Theorie des gern ein sam e n W i).l e n s als Prinzip des bürgerlichen Gemeinschaftsie _ bens: der Mensch ist dazu bestimmt, den Einzelwillen zugunsten des Gemeinwillens aufzugeben, es sei seine Bestimmung, daß "weil andere Menschen gleichen Wesens mit ihm sind, er auch sein Wesen das ist seine Seele, fürnehmlich aber seinen Willen mit dem dergestalt vereinige, daß gleichsam ein Wille daraus werde, und über den anderen sich einer Botmäßigkeit anmaße, sondern belde wechselweise aus freiem Willen dasjenige wollen was der andere :villlll03. Sittlichkeit besteht nach Thomasius demzufolge geradezu m der Umformung des Menschen zum Bürger, d. h. zu einem Wesen, das sich als Teil der Gemeinschaft fühlt und im Dienste an dieser seine höchste Erfüllung findet. Diese Konzeption steht ohne Zweifel der Kantischen Ethik näher als die Rousseausche weil sie Sich auf das Wollen als solches und nicht bloß auf den äußeren Gebrauch der Freiheit bezieht; ja Thomasius verlangt bereits ausdrücklich die selbstlose Motivierung der Nächstenliebe und des Nächstendienstes. Er macht also den guten Willen zur Voraussetzung der Tugend: der Wille ist sittlich, wenn er sich vom Taumel der Triebe befreit, zu reiner Selbstlosigkeit erhebt. Solange der seiner Begierden ist und nicht den Weg zur vernünfhgen LIebe fmdet, kann von Tugend keine Rede sein. Bei Wolff Crusius aber, die entschiedener mit einer philosophischen Ethik 1m Raum der protestantischen Aufklärung ernst gemacht haben als Thomasius, der schließlich an der Möglichkeit einer solchen irre wird, finden wir, wie wir bereits sahen, nicht nur viele Motive die in.die spätere Kantische Ethik eingehen, sondern wir stoßen bei ihnen ?ereit.s Formulierungen, die das Kantische Formalprinzip der Uberemshmmung der Willkür mit sich selbst in überraschender Weise vorwegnehmen 104. Der Philosoph hätte also durchaus von diesen Ansätzen her zu seiner Theorie des allgemeinen Willens 103) Thomasius, EinleitUng 5.161, 200 ff. 104) Siehe oben 5.44 f.; 81.

252 Moralität', 'Vom obersten Principio der Moralität' und den übrigen Abschnitten des 1. Teiles erhellt; und andererseits kann kein Zweifel bestehen, daß die Grundgedanken dieser seiner 'Philosophia practica universalis' ohne wesentliche Veränderung in die ethischen Grundlegungsschriften der kritischen Epoche eingehen. Durch die Veröffentlichung des vollständigen Textes der Bemerkungen ist somit die Interpretation des moralphilosophischen Exkurses der Träume, wie sie K. Schmidt vertreten hat, vollauf bestätigt worden. Der Schritt von dem ersten Lösungsversuch der Preisschrift zu diesem neuen Ansatz einer Lösung des Problems der unbedingten Verbindlichkeit bedeutet folgerichtig den z w e i t e n e nt s c h ei denden Wendepunkt in der ethischen Entwicklung K a nt s. Im Schlußabsatz der Preisschrift hatte er auf die Frage hingewiesen, die er noch nicht zu beantworten vermochte und die ihm von grundlegender Bedeutung zu sein schien: ob lediglich das Erkenntnisvermögen oder das Gefühl, als der innere Grund des Begehrungsvermögens , die ersten Grundsätze dazu (zum· Grundbegriff der Verbindlichkeit) entscheide. Die neue Lösung aber geht von einem Vermögen aus, das in seiner damaligen Alternative nicht einmal genannt wurde: von der Fr ei h ei t , der freien Willkür, und sie statuiert das formale Gesetz der Übereinstimmung der Willkür mit ihr selbst als jenes Prinzip, das die ersten Grundsätze der Verbindlichkeit entscheidet. Das ist nun ein Formalprinzip in einem gänzlich anderen Sinn als das der Vollkommenheit in der Preisschrift: dieses konnte nur Sinn und Bedeutung erhalten von den Inhalten des moralischen Gefühls her, das Entscheidende blieb also diese intuitive Urerfahrung der sittlichen Wertgehalte im moralischen Gefühl; das neue Formalprinzip dagegen bestimmt selber als letzte Norm den sittlichen Gehalt einer Gesinnung: es bedarf nicht mehr des moralischen Gefühls als eines k 0 n s t i tut iv e n Prinzips. Folgerichtig wird denn auch das moralische Gefühl in dieser Phase der Entwicklung seiner konstitutiven Funktion entkleidet: es wird zur Empfindung der Nötigung unseres Willens zur Einstimmung mit dem allgemeinen Willen und als solche lediglich zur Er sc he i nun g dessen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursache desselben auszumachen 102, zur facultas animae, cuius ratio ignoratur und deshalb bloß 'phaenomenon' bleibt (147,15). Wenn wir uns so von der grundlegenden Bedeutung dieser zweiten Lösung des Problems der Verbindlichkeit überzeugt haben, so bleibt uns noch die Frage zu beantworten, wie Kant zu dieser Lösung gelangte, von der wir in der Abhandlung über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen no c h k ein e S pur entdecken, deren Ursprung also in den Jahren 1764-65 liegen muß; im besonderen aber die Frage, ob Rousseau mit seiner Lehre vom allgemeinen Willen hierbei auf ihn einen entscheidenden Einfluß ausgeübt hat; denn wenn auch 102) KG5 1I, 335.

253 nach dem oben Gesagten eine direkte Übernahme der Lehre Rousseaus nicht in Frage kommt. weil er schon seit der Preis schrift in der Begründung der Ethik auf einem grundsätzlich anderen Standpunkt als dieser stand, so liegt es doch durchaus im Bereich des Möglichen, daß er durch dessen Lehre entscheidend zu seiner neuen angeregt wurde. Und im Gegensatz zu Schilpp, der ledlgllch eine äußerliche und zufällige Übereinstimmung des Ausdrucks anzunehmen scheint, sind wir der Überzeugung, daß dies in der Tat weitgehend der Fall war. An sich könnte er freilich zu dieser seiner neuen Lösung ebenso dem Moralphilosophen der deut s ch en Aufklärung, dIe er SIcher gekannt hat, angeregt worden sein. Denn wir finden beispielsweise bei T horn a s i u s die Grundforderung der vernünftigen Liebe des Nächsten weitergeführt zur Theorie des gern ein sam e n W i).l e n s als Prinzip des bürgerlichen Gemeinschaftsie _ bens: der Mensch ist dazu bestimmt, den Einzelwillen zugunsten des Gemeinwillens aufzugeben, es sei seine Bestimmung, daß "weil andere Menschen gleichen Wesens mit ihm sind, er auch sein Wesen das ist seine Seele, fürnehmlich aber seinen Willen mit dem dergestalt vereinige, daß gleichsam ein Wille daraus werde, und über den anderen sich einer Botmäßigkeit anmaße, sondern belde wechselweise aus freiem Willen dasjenige wollen was der andere :villlll03. Sittlichkeit besteht nach Thomasius demzufolge geradezu m der Umformung des Menschen zum Bürger, d. h. zu einem Wesen, das sich als Teil der Gemeinschaft fühlt und im Dienste an dieser seine höchste Erfüllung findet. Diese Konzeption steht ohne Zweifel der Kantischen Ethik näher als die Rousseausche weil sie Sich auf das Wollen als solches und nicht bloß auf den äußeren Gebrauch der Freiheit bezieht; ja Thomasius verlangt bereits ausdrücklich die selbstlose Motivierung der Nächstenliebe und des Nächstendienstes. Er macht also den guten Willen zur Voraussetzung der Tugend: der Wille ist sittlich, wenn er sich vom Taumel der Triebe befreit, zu reiner Selbstlosigkeit erhebt. Solange der seiner Begierden ist und nicht den Weg zur vernünfhgen LIebe fmdet, kann von Tugend keine Rede sein. Bei Wolff Crusius aber, die entschiedener mit einer philosophischen Ethik 1m Raum der protestantischen Aufklärung ernst gemacht haben als Thomasius, der schließlich an der Möglichkeit einer solchen irre wird, finden wir, wie wir bereits sahen, nicht nur viele Motive die in.die spätere Kantische Ethik eingehen, sondern wir stoßen bei ihnen ?ereit.s Formulierungen, die das Kantische Formalprinzip der Uberemshmmung der Willkür mit sich selbst in überraschender Weise vorwegnehmen 104. Der Philosoph hätte also durchaus von diesen Ansätzen her zu seiner Theorie des allgemeinen Willens 103) Thomasius, EinleitUng 5.161, 200 ff. 104) Siehe oben 5.44 f.; 81.

254 255 als des Grundprinzips der sittlichen Gutheit kommen können. Trotzdem sind wir überzeugt, daß tatsächlich erst von R 0 u s se au die entscheidende Anregung zu dieser neuen Entwicklung bei Kant ausging, und zwar aus folgenden Gründen: Für s e r s t e spricht dafür der Umstand, daß dieser Wandel der Auffassung sich gerade in den Jahren des stärksten Einflusses Rousseaus auf ihn vollzog, denn wir finden die neue Lösung erstmals in den Quellen der Jahre 1764-65, die am stärksten vom Geiste und von den Ideen des Genfers durchtränkt sind: in den Träumen eines Geistersehers und vor allem in den Bemerkungen, in denen wir nach dem Vorausgehenden die ursprünglichste Auseinandersetzung Kants mit Rousseau zu erblicken haben; wie stark gerade diese beiden Quellen von Rousseau beeinflußt sind, ist durch die vorausgehenden Analysen zur Genüge deutlich geworden. Dazu kommt als z w e i t erG run d, daß die Art, wie Kant das neue Lösungsprinzip entwickelt, in auffallender Weise an Rousseau erinnert. Spezifisch Rousseausche Begriffe und Gedankengänge tauchen auf und zwar geht die Übereinstimmung mit dem letzteren in wichtigen Punkten bis ir.. die Phraseologie hinein: so im Ausdruck des allgemeinen Willens, worauf schon Schilpp hingewiesen hat, wobei aber zu bedenken ist, daß dieser Ausdruck nicht nur an einer Stelle der 'Träume', sondern immer wieder in den Bemerkungen auftritt. Dazu führt Kant in diesem Zusammenhang den Instinkt des Eigennutzes auf die Bedürftigkeit (indigentia), den Instinkt de s Gemeinnutzes aber auf die 'potentia boni', auf die Mächtigkeit zum Guten zurück und bezeichnet beide als der natürlichen Einfachheit konform. Entscheidend aber ist in dieser Hinsicht erst, daß die Kantische Konzeption in ihrer systematischen Durchführung auffallend viele Ähnlichkeiten mit der Rousseauschen Lehre vom Prinzip der bürgerlichen Gesellschaftsform aufweist: so, daß der Mensch durch den allgemeinen Willen gesetzgebendes Glied einer umfassenden geistigen Gemeinschaft wird, daß er unter ihm deshalb wesentlich frei bleibt, weil er damit nur dem Gesetz gehorcht, das er sich selbst gibt, daß die Gesetze des allgemeinen Willens der Idee nach von allen Gliedern der Gemeinschaft erlassen werden müssen, endlich daß jeder dem anderen nur soviel schuldig ist, als er ihn selbst nach dem Gesetz des allgemeinen Willens hat wollen lassen etc •• Diese Übereinstimmung in der f 0 r m al enG r un d st rukt ur ist so auffallend, daß wir eine bloße Zufälligkeit für ausgeschlossen halten: die Kantische Lösung des Problems der unbedingten Verpflichtung des Sittengesetzes erscheint hier in der Tat als eine bloße T r ans po nie run g der staatsphilosophischen Konzeption Rousseaus auf die innere Welt der frei wollenden geistigen Wesen, wie denI1. auch folgerichtig daraus eine systematische Verfassung der geistigen Welt nach bloß pneumatischen Gesetzen entspringt. Aber noch ein d r i t te r G run d spricht für unsere These, der'

uns von größter Bedeutung zu sein scheint: Kant wurde offenbar, wie aus den Bemerkungen hervorgeht, mächtig beeindruckt durch die Fr e i h e it sIe h re R 0 u s se aus, wie dieser sie im Emile und Contrat, aber grundlegend bereits in der Abhandlung über den Ursprung und den Grund der Ungleichheit unter den Menschen entwikdaß nämlich die Fr e i h e i t das S p e z i fis c h e des geis tl gen Wes e n s und damit den Kern der Person ausmache und sie fclglich auch das eigentliche Prinzip der Sittlichkeit sei: daß dIese entscheidend in der Freihe'i.t einerseits von den eigenen Neigungen und Leidenschaften und andererseits von der Meinung der anderen Menschen (der Eitelkeit) bestehe und daß die Unfreiheit d h die Abhängigkeit unserer Willkür, die äußere sowohl wie vor die innere, die Würde des Menschen vermindere oder aufhebe Dieses Pathos 'der Freiheit der und Selbstseins hat offenbar auf Kant den tiefsten EIndruck gemacht, und diese Ideen sind es ohne gewesen, durch die er am nachhaltigsten fur seIne gesamte ethische Entwicklung von Rousseau angeregt wurde. Sie dürften ihn auch bestimmt haben das der sittlichen Verpflichtung in einem Wesensgeset; der Willkür zu suchen. Damit aber dürften für ihn auch jene oben bezeIchneten Ansätze des Thomasius, Wolff und Crusius zu ein:m formalen Gesetz des Willens selber erst ein entscheidendes Gebekommen haben. Wir stehen hier also vor einer ähnlichen SituatIOn wie bei dem Einfluß des Crusius: wie Kant von diesem angeregt :""ur.de zu seiner Auffassung von dem Begriff der unbedingten als des ersten und grundlegenden der gesamten Ethik und der remen Unterwerfung unter sie als des Wesens der sittlichen Gutheit" wie er dessen Grundgedanken aufnimmt und ihn selbständig verarbeItet, modifiziert und zum Ausgangspunkt seines ganzen weiteren ethischen Philosophierens macht, so nimmt er hier eine Idee auf und gestaltet sie um zu seiner endgültigen Lösung der m der Preisschrift offen gelassenen Grundfrage der Ethik: der Frage nach dem let z te n Pr i n z i p des unbedingten sittlichen Sollens oder der Verbindlichkeit. Und in beiden Fällen ist die Kantische Lehre ,so, daß das Gedankengut der großen Anreger in ihr durchaus noch SIchtbar und spürbar ist. So sind wir durch unsere Analysen zu der gelangt, daß an den entscheidenden Wendepunkten EntWICklung der spezifisch Kiantischen Ethik ein so ungleiches das ganz verschiedenartigen geistigen Welten zugehort: CruslUS und Rousseau. Ihnen gegenüber kommt sowohl der Wolffschule wie den englischen Moralphilosophen zwar auch eine doch nur eine zweitrangige Bedeutung zu, wobei allerdIngs dIe Hutchesons der der Genannten im ganzen gesehen kaum mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß jene beiden ihrerseIts wesentlich von dem letzteren beeinflußt wurden

254 255 als des Grundprinzips der sittlichen Gutheit kommen können. Trotzdem sind wir überzeugt, daß tatsächlich erst von R 0 u s se au die entscheidende Anregung zu dieser neuen Entwicklung bei Kant ausging, und zwar aus folgenden Gründen: Für s e r s t e spricht dafür der Umstand, daß dieser Wandel der Auffassung sich gerade in den Jahren des stärksten Einflusses Rousseaus auf ihn vollzog, denn wir finden die neue Lösung erstmals in den Quellen der Jahre 1764-65, die am stärksten vom Geiste und von den Ideen des Genfers durchtränkt sind: in den Träumen eines Geistersehers und vor allem in den Bemerkungen, in denen wir nach dem Vorausgehenden die ursprünglichste Auseinandersetzung Kants mit Rousseau zu erblicken haben; wie stark gerade diese beiden Quellen von Rousseau beeinflußt sind, ist durch die vorausgehenden Analysen zur Genüge deutlich geworden. Dazu kommt als z w e i t erG run d, daß die Art, wie Kant das neue Lösungsprinzip entwickelt, in auffallender Weise an Rousseau erinnert. Spezifisch Rousseausche Begriffe und Gedankengänge tauchen auf und zwar geht die Übereinstimmung mit dem letzteren in wichtigen Punkten bis ir.. die Phraseologie hinein: so im Ausdruck des allgemeinen Willens, worauf schon Schilpp hingewiesen hat, wobei aber zu bedenken ist, daß dieser Ausdruck nicht nur an einer Stelle der 'Träume', sondern immer wieder in den Bemerkungen auftritt. Dazu führt Kant in diesem Zusammenhang den Instinkt des Eigennutzes auf die Bedürftigkeit (indigentia), den Instinkt de s Gemeinnutzes aber auf die 'potentia boni', auf die Mächtigkeit zum Guten zurück und bezeichnet beide als der natürlichen Einfachheit konform. Entscheidend aber ist in dieser Hinsicht erst, daß die Kantische Konzeption in ihrer systematischen Durchführung auffallend viele Ähnlichkeiten mit der Rousseauschen Lehre vom Prinzip der bürgerlichen Gesellschaftsform aufweist: so, daß der Mensch durch den allgemeinen Willen gesetzgebendes Glied einer umfassenden geistigen Gemeinschaft wird, daß er unter ihm deshalb wesentlich frei bleibt, weil er damit nur dem Gesetz gehorcht, das er sich selbst gibt, daß die Gesetze des allgemeinen Willens der Idee nach von allen Gliedern der Gemeinschaft erlassen werden müssen, endlich daß jeder dem anderen nur soviel schuldig ist, als er ihn selbst nach dem Gesetz des allgemeinen Willens hat wollen lassen etc •• Diese Übereinstimmung in der f 0 r m al enG r un d st rukt ur ist so auffallend, daß wir eine bloße Zufälligkeit für ausgeschlossen halten: die Kantische Lösung des Problems der unbedingten Verpflichtung des Sittengesetzes erscheint hier in der Tat als eine bloße T r ans po nie run g der staatsphilosophischen Konzeption Rousseaus auf die innere Welt der frei wollenden geistigen Wesen, wie denI1. auch folgerichtig daraus eine systematische Verfassung der geistigen Welt nach bloß pneumatischen Gesetzen entspringt. Aber noch ein d r i t te r G run d spricht für unsere These, der'

uns von größter Bedeutung zu sein scheint: Kant wurde offenbar, wie aus den Bemerkungen hervorgeht, mächtig beeindruckt durch die Fr e i h e it sIe h re R 0 u s se aus, wie dieser sie im Emile und Contrat, aber grundlegend bereits in der Abhandlung über den Ursprung und den Grund der Ungleichheit unter den Menschen entwikdaß nämlich die Fr e i h e i t das S p e z i fis c h e des geis tl gen Wes e n s und damit den Kern der Person ausmache und sie fclglich auch das eigentliche Prinzip der Sittlichkeit sei: daß dIese entscheidend in der Freihe'i.t einerseits von den eigenen Neigungen und Leidenschaften und andererseits von der Meinung der anderen Menschen (der Eitelkeit) bestehe und daß die Unfreiheit d h die Abhängigkeit unserer Willkür, die äußere sowohl wie vor die innere, die Würde des Menschen vermindere oder aufhebe Dieses Pathos 'der Freiheit der und Selbstseins hat offenbar auf Kant den tiefsten EIndruck gemacht, und diese Ideen sind es ohne gewesen, durch die er am nachhaltigsten fur seIne gesamte ethische Entwicklung von Rousseau angeregt wurde. Sie dürften ihn auch bestimmt haben das der sittlichen Verpflichtung in einem Wesensgeset; der Willkür zu suchen. Damit aber dürften für ihn auch jene oben bezeIchneten Ansätze des Thomasius, Wolff und Crusius zu ein:m formalen Gesetz des Willens selber erst ein entscheidendes Gebekommen haben. Wir stehen hier also vor einer ähnlichen SituatIOn wie bei dem Einfluß des Crusius: wie Kant von diesem angeregt :""ur.de zu seiner Auffassung von dem Begriff der unbedingten als des ersten und grundlegenden der gesamten Ethik und der remen Unterwerfung unter sie als des Wesens der sittlichen Gutheit" wie er dessen Grundgedanken aufnimmt und ihn selbständig verarbeItet, modifiziert und zum Ausgangspunkt seines ganzen weiteren ethischen Philosophierens macht, so nimmt er hier eine Idee auf und gestaltet sie um zu seiner endgültigen Lösung der m der Preisschrift offen gelassenen Grundfrage der Ethik: der Frage nach dem let z te n Pr i n z i p des unbedingten sittlichen Sollens oder der Verbindlichkeit. Und in beiden Fällen ist die Kantische Lehre ,so, daß das Gedankengut der großen Anreger in ihr durchaus noch SIchtbar und spürbar ist. So sind wir durch unsere Analysen zu der gelangt, daß an den entscheidenden Wendepunkten EntWICklung der spezifisch Kiantischen Ethik ein so ungleiches das ganz verschiedenartigen geistigen Welten zugehort: CruslUS und Rousseau. Ihnen gegenüber kommt sowohl der Wolffschule wie den englischen Moralphilosophen zwar auch eine doch nur eine zweitrangige Bedeutung zu, wobei allerdIngs dIe Hutchesons der der Genannten im ganzen gesehen kaum mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß jene beiden ihrerseIts wesentlich von dem letzteren beeinflußt wurden

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256 4. Erg e b ni s s e der An a 1 y s e der Q u elle n aus den J ahren 1764/65 Damit haben wir nun im wesentlichen unsere Analyse der Quellen dieser zweiten entscheidenden Entwicklungsphase der EthikKants abgeschlossen. Es bleibt uns nur noch, die Grundzüge seines moralphilosophischen Standpunktes, den er in diesem Zeitraum gewinnt, zusammenfassend darzustellen. Aus dieser Zusammenfassung wird hinreichend deutlich werden, daß in der Tat um die Mitte der sechziger Jahre, also etwa fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen der Kr. d. r. V. und zwanzig vor dem der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die K anti s ehe E t h i k b e r e i t s in ihr enG run d zügen geprägt ist, ein bedeutsames Ergebnis, vor allem auch deswegen, weil es die traditionelle Auffassung widerlegt, daß er seine 'kritische Ethik' erst entscheidend im Anschluß und unter dem Einfluß seiner theoretischen Vernunftkritik ausgebildet habe. Wir finden in dieser Entwicklungsphase zunächst die grundlegende These der Preisschrift von dem unbedingten kat ego r i s ehe n Charakter der sittlichen Imperative im Unterschied zu dem hypothetischen der technischen und pragmatischen weiter entwickelt und zwar zu einer Vollständigkeit, die der Lehre der Ethikvorlesung und der der 'Grundlegung' und der Kr. d. pr. V. kaum nachsteht. Ausdrücldich wird hervorgehoben, daß es bei den hypothetischen Imperativen und der ihnen entsprechenden Gutheit des Willens wesentlich auf die p h Y si s ehe Möglichkeit ankomme, den intendierten Zweck zu verwirklichen (si adsint vires et circumstantiae temporis loci), und daß das Wollen hier nur insofern gut sei, als es die Verwirklichung des Zweckes tatsächlich zuwege bringt (et intantum quatenus voluntas est efficiens est bonum): daß es dagegen bei den kategorischen der Sittlichkeit entscheidend nur auf das Wollen selber ankomme, so daß der Wille gut sein könne, auch wenn die Kräfte und damit die physische Möglichkeit, das angestrebte Gute zu verwirklichen, nicht vorhanden sind, und daß es sich hierbei um eine perfectio absoluta des Willens handle und nicht, wie bei den ersteren, um eine bloße mediata , durch die das Wollen nur ein gutes Mittel zu einem außer . ihm liegenden Zweck wird; ferner, daß die hypothetischen Imperahve, . eben weil sie aus den bedingenden Zwecken abgeleitet sind und deren Realisierung zum Gegenstand haben, eine umfassende Erkenntnis der Natur der erstrebten Zwecke voraussetzen, die im Fall der Glückseligkeit praktisch gar nicht möglich ist (ad eam cognoscendam necesse erit omnes dignoscere animi humani appetitiones et instinctus), während die Erkenntnis der unbedingten moralischen Notwendigkeit kei - . neswegs solche Mühe mache, da durch die moralische Einfalt erkannt werden könne, was zu tun sei (si moraliter consideratur, per simplicitatem moralem illico cognoscitur quod factu opus sit). Ebenso haben wir hier bereits die im eben Dargelegten enthal-

tene und übrigens auch schon von Crusius vertretene Lehre. daß der Wille diese unbedingte innere Bonität nur erlangen kann, wenn er unmittelbar durch die sittlichen Imperative selbst bestimmt wird und nicht etwa durch den Nutzen und Vorteil. der in irgendeiner Form mit ihrer Befolgung verbunden ist. Er wird nicht müde, in den Bemerkungen immer wieder auf diesen letzteren Punkt hinzuweisen (z.B. 24,21), und was seine Ausführungen im Schlußteil der 'Träume' betrifft, so hätte er den Unterschied zwischen bloßer Legalität des Handelns und der eigentlichen Moralität der Gesinnung wohl kaum klarer zum Ausdruck bringen, kaum nachdrücklicher die ausschließlich sittliche Motivierung des Handeins fordern können 105. Auch jene entscheidende These. die er in der Kr. d. pr. V. als das Par a d 0 x e der moralphilosophischen Methode bezeichnet. daß nämlieh der Begriff des Guten nicht vor dem moralischen Gesetz, dem er dem Anschein nach zugrunde gelegt werden müßte, sondern nur nach demselben und durch dasselbe be stimmt werden könne 106, tritt uns schon in diesen frühen Quellen entgegen. Denn in den Bemerkungen haben wir zunächst die ausdrückliche Identifizierung von objektiver Notwendigkeit une:! praktischer Gutheit des Willens. wobei durchwegs der Gedanke zugrundeliegt • daß die bonitas objectiva des Wollens bzw. des Handeins daraus entspringt, daß sich der Wille durch die necessitas objectiva bestimmt. ein Zusammenhang. der im Fall der hypothetischen praktischen Notwendigkeit ohne weiteres evident ist. Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß bereits hier das Sollen den Begriff des Guten bestimmt und ihm infolgedessen log i s eh vorangeht. Im Grunde aber ist diese Lehre mit aller nur wünschenswerten Klarheit schon in der Preis schrift ausgesprochen. wenn dort wiederholt betont wird, daß die Verbindlichkeit oder das Sollen der er s t e Begriff der praktischen Weltweisheit, der oberste Grundbegriff der Sittlichkeit ist. Ferner wird bereits in aller Präzision die spezifisch Kantische Lösung des Problems des unbedingten sittlichen SoHens, der unbedingten sittlichen Verpflichtung durch ein f 0 r mal e s Ge set z des Will e n s . entwickelt, nämlich das Ge setz der allgemeingültigen Übereinstimmung der Willkür mit ihr selbst, wie sie mit der Möglichkeit gegeben ist, eine Intention als solche des allgemeinen Willens. d. h. als Intention aller zu denken, ohne daß sie sich dadurch selbst aufhebt. Damit aber sind alle Elemente der späteren ethischen Prinzipienlehre Kants, wie er sie etwa in den beiden Vorlesungen über das Moralprinzip in der Ethikvorlesung oder in den Grundlegungsschriften der kritischen Epoche darlegt, gegeben: es läßt sich kein einziger wesentlicher Gedanke der späteren 'Metaphysik' der Sitten ausfindig machen, der nicht bereits hier in den 'Bemerkungen' und in den 'Träumen' wenigstens im Prinzip enthal105) KGS II, 372. 106) Ibid. V, 62.

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256 4. Erg e b ni s s e der An a 1 y s e der Q u elle n aus den J ahren 1764/65 Damit haben wir nun im wesentlichen unsere Analyse der Quellen dieser zweiten entscheidenden Entwicklungsphase der EthikKants abgeschlossen. Es bleibt uns nur noch, die Grundzüge seines moralphilosophischen Standpunktes, den er in diesem Zeitraum gewinnt, zusammenfassend darzustellen. Aus dieser Zusammenfassung wird hinreichend deutlich werden, daß in der Tat um die Mitte der sechziger Jahre, also etwa fünfzehn Jahre vor dem Erscheinen der Kr. d. r. V. und zwanzig vor dem der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die K anti s ehe E t h i k b e r e i t s in ihr enG run d zügen geprägt ist, ein bedeutsames Ergebnis, vor allem auch deswegen, weil es die traditionelle Auffassung widerlegt, daß er seine 'kritische Ethik' erst entscheidend im Anschluß und unter dem Einfluß seiner theoretischen Vernunftkritik ausgebildet habe. Wir finden in dieser Entwicklungsphase zunächst die grundlegende These der Preisschrift von dem unbedingten kat ego r i s ehe n Charakter der sittlichen Imperative im Unterschied zu dem hypothetischen der technischen und pragmatischen weiter entwickelt und zwar zu einer Vollständigkeit, die der Lehre der Ethikvorlesung und der der 'Grundlegung' und der Kr. d. pr. V. kaum nachsteht. Ausdrücldich wird hervorgehoben, daß es bei den hypothetischen Imperativen und der ihnen entsprechenden Gutheit des Willens wesentlich auf die p h Y si s ehe Möglichkeit ankomme, den intendierten Zweck zu verwirklichen (si adsint vires et circumstantiae temporis loci), und daß das Wollen hier nur insofern gut sei, als es die Verwirklichung des Zweckes tatsächlich zuwege bringt (et intantum quatenus voluntas est efficiens est bonum): daß es dagegen bei den kategorischen der Sittlichkeit entscheidend nur auf das Wollen selber ankomme, so daß der Wille gut sein könne, auch wenn die Kräfte und damit die physische Möglichkeit, das angestrebte Gute zu verwirklichen, nicht vorhanden sind, und daß es sich hierbei um eine perfectio absoluta des Willens handle und nicht, wie bei den ersteren, um eine bloße mediata , durch die das Wollen nur ein gutes Mittel zu einem außer . ihm liegenden Zweck wird; ferner, daß die hypothetischen Imperahve, . eben weil sie aus den bedingenden Zwecken abgeleitet sind und deren Realisierung zum Gegenstand haben, eine umfassende Erkenntnis der Natur der erstrebten Zwecke voraussetzen, die im Fall der Glückseligkeit praktisch gar nicht möglich ist (ad eam cognoscendam necesse erit omnes dignoscere animi humani appetitiones et instinctus), während die Erkenntnis der unbedingten moralischen Notwendigkeit kei - . neswegs solche Mühe mache, da durch die moralische Einfalt erkannt werden könne, was zu tun sei (si moraliter consideratur, per simplicitatem moralem illico cognoscitur quod factu opus sit). Ebenso haben wir hier bereits die im eben Dargelegten enthal-

tene und übrigens auch schon von Crusius vertretene Lehre. daß der Wille diese unbedingte innere Bonität nur erlangen kann, wenn er unmittelbar durch die sittlichen Imperative selbst bestimmt wird und nicht etwa durch den Nutzen und Vorteil. der in irgendeiner Form mit ihrer Befolgung verbunden ist. Er wird nicht müde, in den Bemerkungen immer wieder auf diesen letzteren Punkt hinzuweisen (z.B. 24,21), und was seine Ausführungen im Schlußteil der 'Träume' betrifft, so hätte er den Unterschied zwischen bloßer Legalität des Handelns und der eigentlichen Moralität der Gesinnung wohl kaum klarer zum Ausdruck bringen, kaum nachdrücklicher die ausschließlich sittliche Motivierung des Handeins fordern können 105. Auch jene entscheidende These. die er in der Kr. d. pr. V. als das Par a d 0 x e der moralphilosophischen Methode bezeichnet. daß nämlieh der Begriff des Guten nicht vor dem moralischen Gesetz, dem er dem Anschein nach zugrunde gelegt werden müßte, sondern nur nach demselben und durch dasselbe be stimmt werden könne 106, tritt uns schon in diesen frühen Quellen entgegen. Denn in den Bemerkungen haben wir zunächst die ausdrückliche Identifizierung von objektiver Notwendigkeit une:! praktischer Gutheit des Willens. wobei durchwegs der Gedanke zugrundeliegt • daß die bonitas objectiva des Wollens bzw. des Handeins daraus entspringt, daß sich der Wille durch die necessitas objectiva bestimmt. ein Zusammenhang. der im Fall der hypothetischen praktischen Notwendigkeit ohne weiteres evident ist. Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß bereits hier das Sollen den Begriff des Guten bestimmt und ihm infolgedessen log i s eh vorangeht. Im Grunde aber ist diese Lehre mit aller nur wünschenswerten Klarheit schon in der Preis schrift ausgesprochen. wenn dort wiederholt betont wird, daß die Verbindlichkeit oder das Sollen der er s t e Begriff der praktischen Weltweisheit, der oberste Grundbegriff der Sittlichkeit ist. Ferner wird bereits in aller Präzision die spezifisch Kantische Lösung des Problems des unbedingten sittlichen SoHens, der unbedingten sittlichen Verpflichtung durch ein f 0 r mal e s Ge set z des Will e n s . entwickelt, nämlich das Ge setz der allgemeingültigen Übereinstimmung der Willkür mit ihr selbst, wie sie mit der Möglichkeit gegeben ist, eine Intention als solche des allgemeinen Willens. d. h. als Intention aller zu denken, ohne daß sie sich dadurch selbst aufhebt. Damit aber sind alle Elemente der späteren ethischen Prinzipienlehre Kants, wie er sie etwa in den beiden Vorlesungen über das Moralprinzip in der Ethikvorlesung oder in den Grundlegungsschriften der kritischen Epoche darlegt, gegeben: es läßt sich kein einziger wesentlicher Gedanke der späteren 'Metaphysik' der Sitten ausfindig machen, der nicht bereits hier in den 'Bemerkungen' und in den 'Träumen' wenigstens im Prinzip enthal105) KGS II, 372. 106) Ibid. V, 62.

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258 ten wäre. Das gilt vor allem von dem Grundsatz, daß der Wille des Menschen seiner Natur nach auch und in erster Linie ein 'allgemeiner Wille' und damit ein durch seine Intention a11 g e m ein gesetzgebender sei (eine Funktion, die vom Begriff des allgemeinen Willens schlechterdings nicht abtrennbar ist); denn nur unter dieser Voraussetzung konnte er sagen: contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi, si vellent quod ex voluntate communi abhorrere nt (161,14). Damit ist aber jene andere Lehre gegeben, die zu den tiefsten und großartigsten der Kantischen Ethik gehört: daß durch das Gesetz des allgemeinen Willens in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen entspringe, eine Konzeption, durch die der Begriff des Reiches der Zwecke vorweggenommen ist, in der aber auch unverkennbar das Rousseausche Vorbild transparent wird. Der einzige grundlegende Gedanke der späteren Metaphysik der Sitten, der hier in den Träumen und in den Bemerkungen nicht ausdrücklich formuliert wird, ist der, daß das geistige Wesen ein unbedingter Zweck an sich selbst ist, aber sicher nur aus dem formellen Grund, weil er weder in den Bemerkungen noch in den Träumen eine systematische Darlegung seiner ethischen Prinzipienlehre entwickeln wollte, wie er das etwa in der damals geplanten Abhandlung über die metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit beabsichtigte. Daß ihm dieser Begriff vertraut war, geht einerseits aus seiner Lehre in der Naturgeschichte und Theorie des Himmels hervor, in der die Würde der menschlichen bzw. der vernünftigen Natur und ihr Charakter als End z w eck der Schöpfung betont wird 107, andererseits aus der Tatsache, daß wir den Begriff des Menschen als Zweck an sich bereits sehr klar bei Crusius formuliert finden. Es ist aber nur eine logische Konsequenz dieser neuen Begründung der unbedingten sittlichen Imperative, wenn nun das moralische Gefühl eindeutig der si n nl ich e n und in einer überraschenden Wendung zugleich der p h ä n 0 m e na I e n Ordnung zugewiesen wird: der sensus internus voluptatis et taedii ist eine r e c e pt iv i t a s gaudendi et aversandi; zu ihm gehört der sensus moralis, der als principium probandi logicum legis moralis eine qualitas occulta. als facultas animae, cuius ratio ignoratur, aber ein p h a e no m e non ist, gemäß dem, was er in den 'Träumen' näherhin so ausführt: IiWill man diese in uns empfundene Nötigung unseres Willens zur Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als von einer E r s c h ein u n g de ssen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen". Diese Andeutungen sind zwar nur skizzenhaft und fragmentarisch; aber eines wird daraus völlig deutlich: daß sich mit der neuen Lö107) Ibid. I. 352; 356; 360; 368.

259 sung des Grundproblems des unbedingten sittlichen Sollens die Rolle des moralischen Gefühls gegenüber dem Standpunkt der Preis schrift grundlegend geändert hat. Diese Änderung ergab sich notwendig aus der Neufassung des Grundprinzips, das nun als formales Gesetz der freien Willkür selbst von sich aus den sittlichen Charakter einer Willensintention bestimmte, während nach der Lösung der Preisschrift dies nur durch das sittliche Gefühl geschehen konnte. Damit aber ist im Prinzip die E t h i k des re in e n Will e n s bzw. der reinen praktischen Vernunft grundgelegt. Dem (sittlichen) bleibt damit nur mehr die untergeordnete Rolle der EmpfänglIChkeit, Lust oder Unlust zu empfinden darüber, daß sich die Willkür gemäß oder entgegen ihrem Wesensgesetz bestimmt. Als passives Vermögen der Empfänglichkeit wird es damit endgültig dem Bereich des Sinnlichen zugewiesen. Es ist nun außerordentlich bemerkenswert, daß gerade in diesem Zusammenhang erstmals der Gedanke auftaucht, daß die Sinnlichkeit in diesem Bereich (des Sittlichen) nur ein P h ä n 0 m e na I es ausdrückt, das uns keinen Aufschluß über das gibt, was wirklich in uns vorgeht: cuius ratio ignoratur. Damit wird es mehr als wahrscheinlich,daß die Gleichsetzung von sinnlicher und phänomenaler Ordnung von Kant ursprünglich auf dem praktischen Gebiet vollzogen wurde, ähnlich wie die Ausführungen der Kosmogonie von 1755 darauf hindeuten, daß ihm der wesentliche Unterschied zwischen dem akt iv e n (= spontanen) Charakter des Intellektualen und dem pas s iv endes Sinnlichen erstmals am Sittlichen aufgegangen ist. Freilich war von hier aus noch ein weiter Weg, um diese Kennzeichnung des Sinnlichen und Intellektualen in einer umfassenden Abstraktion auch auf das t h e 0 r e t i s c h e Gebiet zu übertragen und den Standpunkt der Dissertation von 1770 zu gewinnen, daß die sinnliche Erkenntnis, auch in ihren apriorischen Elementen von Raum und Zeit, der p h ä n 0 m e na I e nOrdnung zugehöre. Als ein weiteres grundlegendes Strukturelement der späteren Kantischen Ethik trat uns in den zuletzt behandelten Quellen die Unterscheidung entgegen zwischen den Sc h u 1 d i g k e i t s - oder Rechtspflichten, die durch das debitum genau bemessen sind und nach der allgemeinen Regel der Willkür streng verpflichten, und den Pflichten der (der Liebespflicht), die nicht mit derselben Strenge verpflIchten ('das schwächere Gesetz der Gütigkeit') noch auch ein bestimmtes Maß der Erfüllung vorschreiben und deshalb dem freien Ermessen einen Spielraum lassen (officia beneplaciti), gerade dadurch aber der freien Initiative die Möglichkeit eröffnen, sich zu hohem Adel sittlicher Gesinnung zu erheben. Ein letztes bedeutsames Element der Quellen dieser Epoche. das für die ganze weitere Entwicklung bezeichnend bleibt, ist dIe Art und Weise, wie der Philosoph in Anlehnung an W olff, Shaftesbury, Hutcheson und Rousseau das Verhältnis zwischen Ethik und

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258 ten wäre. Das gilt vor allem von dem Grundsatz, daß der Wille des Menschen seiner Natur nach auch und in erster Linie ein 'allgemeiner Wille' und damit ein durch seine Intention a11 g e m ein gesetzgebender sei (eine Funktion, die vom Begriff des allgemeinen Willens schlechterdings nicht abtrennbar ist); denn nur unter dieser Voraussetzung konnte er sagen: contradiceret hominum voluntas sibimet ipsi, si vellent quod ex voluntate communi abhorrere nt (161,14). Damit ist aber jene andere Lehre gegeben, die zu den tiefsten und großartigsten der Kantischen Ethik gehört: daß durch das Gesetz des allgemeinen Willens in der Welt aller denkenden Naturen eine moralische Einheit und systematische Verfassung nach bloß geistigen Gesetzen entspringe, eine Konzeption, durch die der Begriff des Reiches der Zwecke vorweggenommen ist, in der aber auch unverkennbar das Rousseausche Vorbild transparent wird. Der einzige grundlegende Gedanke der späteren Metaphysik der Sitten, der hier in den Träumen und in den Bemerkungen nicht ausdrücklich formuliert wird, ist der, daß das geistige Wesen ein unbedingter Zweck an sich selbst ist, aber sicher nur aus dem formellen Grund, weil er weder in den Bemerkungen noch in den Träumen eine systematische Darlegung seiner ethischen Prinzipienlehre entwickeln wollte, wie er das etwa in der damals geplanten Abhandlung über die metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit beabsichtigte. Daß ihm dieser Begriff vertraut war, geht einerseits aus seiner Lehre in der Naturgeschichte und Theorie des Himmels hervor, in der die Würde der menschlichen bzw. der vernünftigen Natur und ihr Charakter als End z w eck der Schöpfung betont wird 107, andererseits aus der Tatsache, daß wir den Begriff des Menschen als Zweck an sich bereits sehr klar bei Crusius formuliert finden. Es ist aber nur eine logische Konsequenz dieser neuen Begründung der unbedingten sittlichen Imperative, wenn nun das moralische Gefühl eindeutig der si n nl ich e n und in einer überraschenden Wendung zugleich der p h ä n 0 m e na I e n Ordnung zugewiesen wird: der sensus internus voluptatis et taedii ist eine r e c e pt iv i t a s gaudendi et aversandi; zu ihm gehört der sensus moralis, der als principium probandi logicum legis moralis eine qualitas occulta. als facultas animae, cuius ratio ignoratur, aber ein p h a e no m e non ist, gemäß dem, was er in den 'Träumen' näherhin so ausführt: IiWill man diese in uns empfundene Nötigung unseres Willens zur Übereinstimmung mit dem allgemeinen Willen das sittliche Gefühl nennen, so redet man davon nur als von einer E r s c h ein u n g de ssen, was in uns wirklich vorgeht, ohne die Ursachen desselben auszumachen". Diese Andeutungen sind zwar nur skizzenhaft und fragmentarisch; aber eines wird daraus völlig deutlich: daß sich mit der neuen Lö107) Ibid. I. 352; 356; 360; 368.

259 sung des Grundproblems des unbedingten sittlichen Sollens die Rolle des moralischen Gefühls gegenüber dem Standpunkt der Preis schrift grundlegend geändert hat. Diese Änderung ergab sich notwendig aus der Neufassung des Grundprinzips, das nun als formales Gesetz der freien Willkür selbst von sich aus den sittlichen Charakter einer Willensintention bestimmte, während nach der Lösung der Preisschrift dies nur durch das sittliche Gefühl geschehen konnte. Damit aber ist im Prinzip die E t h i k des re in e n Will e n s bzw. der reinen praktischen Vernunft grundgelegt. Dem (sittlichen) bleibt damit nur mehr die untergeordnete Rolle der EmpfänglIChkeit, Lust oder Unlust zu empfinden darüber, daß sich die Willkür gemäß oder entgegen ihrem Wesensgesetz bestimmt. Als passives Vermögen der Empfänglichkeit wird es damit endgültig dem Bereich des Sinnlichen zugewiesen. Es ist nun außerordentlich bemerkenswert, daß gerade in diesem Zusammenhang erstmals der Gedanke auftaucht, daß die Sinnlichkeit in diesem Bereich (des Sittlichen) nur ein P h ä n 0 m e na I es ausdrückt, das uns keinen Aufschluß über das gibt, was wirklich in uns vorgeht: cuius ratio ignoratur. Damit wird es mehr als wahrscheinlich,daß die Gleichsetzung von sinnlicher und phänomenaler Ordnung von Kant ursprünglich auf dem praktischen Gebiet vollzogen wurde, ähnlich wie die Ausführungen der Kosmogonie von 1755 darauf hindeuten, daß ihm der wesentliche Unterschied zwischen dem akt iv e n (= spontanen) Charakter des Intellektualen und dem pas s iv endes Sinnlichen erstmals am Sittlichen aufgegangen ist. Freilich war von hier aus noch ein weiter Weg, um diese Kennzeichnung des Sinnlichen und Intellektualen in einer umfassenden Abstraktion auch auf das t h e 0 r e t i s c h e Gebiet zu übertragen und den Standpunkt der Dissertation von 1770 zu gewinnen, daß die sinnliche Erkenntnis, auch in ihren apriorischen Elementen von Raum und Zeit, der p h ä n 0 m e na I e nOrdnung zugehöre. Als ein weiteres grundlegendes Strukturelement der späteren Kantischen Ethik trat uns in den zuletzt behandelten Quellen die Unterscheidung entgegen zwischen den Sc h u 1 d i g k e i t s - oder Rechtspflichten, die durch das debitum genau bemessen sind und nach der allgemeinen Regel der Willkür streng verpflichten, und den Pflichten der (der Liebespflicht), die nicht mit derselben Strenge verpflIchten ('das schwächere Gesetz der Gütigkeit') noch auch ein bestimmtes Maß der Erfüllung vorschreiben und deshalb dem freien Ermessen einen Spielraum lassen (officia beneplaciti), gerade dadurch aber der freien Initiative die Möglichkeit eröffnen, sich zu hohem Adel sittlicher Gesinnung zu erheben. Ein letztes bedeutsames Element der Quellen dieser Epoche. das für die ganze weitere Entwicklung bezeichnend bleibt, ist dIe Art und Weise, wie der Philosoph in Anlehnung an W olff, Shaftesbury, Hutcheson und Rousseau das Verhältnis zwischen Ethik und

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260 Religion bestimmt: von Anfang an lehnt er mit Entschiedenheit den theologischen Moralpositivismus ab, der den Willen (=die Willkür) Gottes als Prinzip der Sittlichkeit aufstellt und damit das eigentliche Wesen des Sittlichen aufhebt; wie für Wolff, Shaftesbury und Hutcheson ist auch ihm die Sittlichkeit etwas Selbständiges, innerlich von der Religion Unabhängiges; andererseits aber führt nach ihm die Sittlichkeit aus ihren eigenen Prinzipien zur Religion und findet erst in dieser ihre Voll end u n g , weil nur sie den sittlichen Forderungen ihre bewegende Kraft auf das menschliche Gemüt verleihe. Klarer als Rousseau formuliert er in den Träumen und in den Bemerkungen die These, daß die sittliche Gesinnung die eigentliche und entscheidende Quelle des religiösen Glaubens, d. h. des Glaubens an das Fortleben der Seele nach dem Tode und des Glaubens an das Dasein Gottes sei. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß Kant in den Bemerkungen den Rousseauschen und Hutchesonschen Gedanken der Dis k r e pan z zwischen der Sittlichkeit und dem tatsächlichen Glückszustand des Menschen in diesem Leben hier nicht ausdrücklich als Motiv dieses Glaubens entwickelt. Aber seine Ausführungen in den Träumen machen deutlich, daß er sie trotzdem als g roß e Sc h wie r i gk ei t empfand und eine Lösung dieses Problems nur in einem jenseitigen Leben für möglich hielt; ferner, daß er grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten sah, wie dieser Ausgleich nach dem Tode zustande kommen könnte: entweder durch ein Gesetz der Natur, wie es sich z. B. aus der dort entwickelten Spekulation über eine reale pneumatische wechselseitige Beeinflussung der geistigen Wesen ergäbe, oder aber durch einen außerordentlichen göttlichen Willen, wie wir ihn uns nach unseren schwachen Begriffen von der göttlichen Weisheit denken müssen, eine Lösung, die aber, rein philosophisch (nach bloßen Gründen der Vernunft) betrachtet, problematisch bleiben müsse 108. Da für Kant die Voraussetzungen der ersteren noch viel problematischer waren, blieb ihm grundsätzlich nur die zweite offen: die Lösung der bezeichneten Diskrepanz durch einen allmächtigen über dem Naturverlauf stehenden göttlichen Willen. Diese Lösung fand Kant bei R 0 u s s e au und sie dürfte auch hinter seinen Ausführungen des letzten Abschnittes der Träume stehen, in denen er die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode und den Glauben an Gott auf die Tugendgesinnung des rechtschaffenen Menschen gründet. An der obigen Stelle wird aber zugleich angedeutet, warum es sich nach ihm bei diesem praktischen Wissen in den entscheidenden Weltanschauungsfragen nur um einen GI au ben handeln könne und nicht um Wissen im eigentlichen Sinn: weil wir nur nach unseren Begriffen von der göttlichen Weisheit zu urteilen vermögen, und so wahrscheinlich diese auch seien, doch immer der Verdacht bleibe, daß die schwachen Begriffe unseres Verstandes vielleicht auf den Höchsten ver108) Ibid. II, 335 ff.

kehrt übertragen wurden. Die Verwandtschaft dieser Gedanken mit jenen, durch die er in den kritischen Werken die Postulate der praktischen Vernunft als praktischen Vernunft gl a u 1;> e n begründet, liegt auf der Hand: weil wir uns nach der Art unseres Verstandes keine andere Möglichkeit denken können, jene Diskrepanz zu überwinden, als den Willen eines moralischen Weltschöpfers und Weltrichters , während die theoretisch nicht absolut widerlegbare durch das Naturgesetz für die Art unseres Verstandes keinerlei Wahrscheinlichkeit besitzt: darum kann sich unsere Hoffnung nur auf die Annahme der ersten Möglichkeit gründen und darum hat die reine praktische Vernunft selbst ein Interesse, das Dasein Gottes anzunehmen 109 • So lassen sich mittels einer sorgfältigen Analyse aus den Quellen dieses frühen Abschnittes der Entwicklung bereits die wesentlichsten Grundthesen der sogenannten kritischen Ethik Kants herausschälen und ohne Mühe zum Gesamtbild eines Systems zusammenfügen, woraus sich erklärt, daß der Philosoph schon 1765 an einem Entwurf über die 'metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit' arbeitete und daß er in den Briefen zu Beginn der siebziger Jahre die Metaphysik der Sitten, in der keine empirischen Elemente vorkommen, schon als praktisch abgeschlossene Disziplin betrachten konnte. 5. Die Rolle der Dissertation des Jahres 1770 Aus den vorausgehenden Analysen hat sich ergeben, daß die fundamentalen Prinzipien dessen, was man gemeinhin als 'kritische' Ethik Kants bezeichnet, bereits in der er s t e n H ä·lft e der sec h z i ger Ja h re grundgelegt wurden, mithin unabhängig von der großen kritischen Wende auf dem theoretischen Gebiet zu Beginn der siebziger Jahre. Tatsächlich tritt uns weder in den Briefen noch in den Reflexionen dieses Zeitraums irgendwo ein deutlich angebbarer größerer Umbruch im moralphilosophischen Denken Kants, eine wirkliche 'Umkippung' mehr entgegen: vielmehr zeigen gerade die letzteren eine langsame stetige Ausreifung und Ausgestaltung des einmal gewonnenen Standpunktes und zwar so, daß über längere Zeitabschnitte überhaupt kein deutlicher Fortschritt feststellbar ist. Wichtig sind in dieser Hinsicht aber vor allem die Briefe aus den Jahren 1765-1775, deren moralphilosophische Aussagen zwar fast nie ins Detail gehen, aber auch in ihrer Allgemeinheit sehr bedeutsam sind. Sie liegen nämlich vollkommen in der Linie dessen, was Kant in seinem Brief vom 31.12.65 an Lambert angekündigt hatte: daß er vor der Fertigstellung seines geplanten größeren Werkes über die eigentümliche Methode der Metaphysik zunächst zwei kleinere Bearbeitungen herausgeben werde, deren Material er bereits abgeschlossen vor sich liegen habe, nämlich die Metaphysischen 109) Ibid. V, 124 ff. ; 467 ff. (insb. 471 Anmerkung)

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260 Religion bestimmt: von Anfang an lehnt er mit Entschiedenheit den theologischen Moralpositivismus ab, der den Willen (=die Willkür) Gottes als Prinzip der Sittlichkeit aufstellt und damit das eigentliche Wesen des Sittlichen aufhebt; wie für Wolff, Shaftesbury und Hutcheson ist auch ihm die Sittlichkeit etwas Selbständiges, innerlich von der Religion Unabhängiges; andererseits aber führt nach ihm die Sittlichkeit aus ihren eigenen Prinzipien zur Religion und findet erst in dieser ihre Voll end u n g , weil nur sie den sittlichen Forderungen ihre bewegende Kraft auf das menschliche Gemüt verleihe. Klarer als Rousseau formuliert er in den Träumen und in den Bemerkungen die These, daß die sittliche Gesinnung die eigentliche und entscheidende Quelle des religiösen Glaubens, d. h. des Glaubens an das Fortleben der Seele nach dem Tode und des Glaubens an das Dasein Gottes sei. Wir haben oben darauf hingewiesen, daß Kant in den Bemerkungen den Rousseauschen und Hutchesonschen Gedanken der Dis k r e pan z zwischen der Sittlichkeit und dem tatsächlichen Glückszustand des Menschen in diesem Leben hier nicht ausdrücklich als Motiv dieses Glaubens entwickelt. Aber seine Ausführungen in den Träumen machen deutlich, daß er sie trotzdem als g roß e Sc h wie r i gk ei t empfand und eine Lösung dieses Problems nur in einem jenseitigen Leben für möglich hielt; ferner, daß er grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten sah, wie dieser Ausgleich nach dem Tode zustande kommen könnte: entweder durch ein Gesetz der Natur, wie es sich z. B. aus der dort entwickelten Spekulation über eine reale pneumatische wechselseitige Beeinflussung der geistigen Wesen ergäbe, oder aber durch einen außerordentlichen göttlichen Willen, wie wir ihn uns nach unseren schwachen Begriffen von der göttlichen Weisheit denken müssen, eine Lösung, die aber, rein philosophisch (nach bloßen Gründen der Vernunft) betrachtet, problematisch bleiben müsse 108. Da für Kant die Voraussetzungen der ersteren noch viel problematischer waren, blieb ihm grundsätzlich nur die zweite offen: die Lösung der bezeichneten Diskrepanz durch einen allmächtigen über dem Naturverlauf stehenden göttlichen Willen. Diese Lösung fand Kant bei R 0 u s s e au und sie dürfte auch hinter seinen Ausführungen des letzten Abschnittes der Träume stehen, in denen er die Hoffnung auf ein Fortleben nach dem Tode und den Glauben an Gott auf die Tugendgesinnung des rechtschaffenen Menschen gründet. An der obigen Stelle wird aber zugleich angedeutet, warum es sich nach ihm bei diesem praktischen Wissen in den entscheidenden Weltanschauungsfragen nur um einen GI au ben handeln könne und nicht um Wissen im eigentlichen Sinn: weil wir nur nach unseren Begriffen von der göttlichen Weisheit zu urteilen vermögen, und so wahrscheinlich diese auch seien, doch immer der Verdacht bleibe, daß die schwachen Begriffe unseres Verstandes vielleicht auf den Höchsten ver108) Ibid. II, 335 ff.

kehrt übertragen wurden. Die Verwandtschaft dieser Gedanken mit jenen, durch die er in den kritischen Werken die Postulate der praktischen Vernunft als praktischen Vernunft gl a u 1;> e n begründet, liegt auf der Hand: weil wir uns nach der Art unseres Verstandes keine andere Möglichkeit denken können, jene Diskrepanz zu überwinden, als den Willen eines moralischen Weltschöpfers und Weltrichters , während die theoretisch nicht absolut widerlegbare durch das Naturgesetz für die Art unseres Verstandes keinerlei Wahrscheinlichkeit besitzt: darum kann sich unsere Hoffnung nur auf die Annahme der ersten Möglichkeit gründen und darum hat die reine praktische Vernunft selbst ein Interesse, das Dasein Gottes anzunehmen 109 • So lassen sich mittels einer sorgfältigen Analyse aus den Quellen dieses frühen Abschnittes der Entwicklung bereits die wesentlichsten Grundthesen der sogenannten kritischen Ethik Kants herausschälen und ohne Mühe zum Gesamtbild eines Systems zusammenfügen, woraus sich erklärt, daß der Philosoph schon 1765 an einem Entwurf über die 'metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit' arbeitete und daß er in den Briefen zu Beginn der siebziger Jahre die Metaphysik der Sitten, in der keine empirischen Elemente vorkommen, schon als praktisch abgeschlossene Disziplin betrachten konnte. 5. Die Rolle der Dissertation des Jahres 1770 Aus den vorausgehenden Analysen hat sich ergeben, daß die fundamentalen Prinzipien dessen, was man gemeinhin als 'kritische' Ethik Kants bezeichnet, bereits in der er s t e n H ä·lft e der sec h z i ger Ja h re grundgelegt wurden, mithin unabhängig von der großen kritischen Wende auf dem theoretischen Gebiet zu Beginn der siebziger Jahre. Tatsächlich tritt uns weder in den Briefen noch in den Reflexionen dieses Zeitraums irgendwo ein deutlich angebbarer größerer Umbruch im moralphilosophischen Denken Kants, eine wirkliche 'Umkippung' mehr entgegen: vielmehr zeigen gerade die letzteren eine langsame stetige Ausreifung und Ausgestaltung des einmal gewonnenen Standpunktes und zwar so, daß über längere Zeitabschnitte überhaupt kein deutlicher Fortschritt feststellbar ist. Wichtig sind in dieser Hinsicht aber vor allem die Briefe aus den Jahren 1765-1775, deren moralphilosophische Aussagen zwar fast nie ins Detail gehen, aber auch in ihrer Allgemeinheit sehr bedeutsam sind. Sie liegen nämlich vollkommen in der Linie dessen, was Kant in seinem Brief vom 31.12.65 an Lambert angekündigt hatte: daß er vor der Fertigstellung seines geplanten größeren Werkes über die eigentümliche Methode der Metaphysik zunächst zwei kleinere Bearbeitungen herausgeben werde, deren Material er bereits abgeschlossen vor sich liegen habe, nämlich die Metaphysischen 109) Ibid. V, 124 ff. ; 467 ff. (insb. 471 Anmerkung)

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262 Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit und die schen Anfangsgründe der praktischen Weltwelshelt. Ganz in Übereinstimmung mit dieser Bemerkung schreibt er am 9.5. 68 an Herder: " ••• und indem mein Augenmerk vornemlich darauf gerichtet ist die eigentliche Bestimmung und die Schranken Menschlichen Fähigkeiten und Neigungen zu erkennen so glaube lch daß es mir in dem was die Sitten betrifft endlich ziemlich gelungen sey und ich arbeite ietzt an einer Metaphysik der wo einbilde die augenscheinlichen und fruchtbaren Grundsatze lmglelchen die Methode angeben zu können wornach die zwar sehr gangbare aber mehrenteils doch fruchtlose Bemühungen in dieser Art der Erkenntnis eingerichtet werden müssen wenn sie einmal Nutzen schaffen sollen. Ich hoffe in diesem Jahre damit fertig zu werden wofern meine stets wandelbare Gesundheit mir daran nicht hinderlich ist. It Der Gedanke einer Metaphysik der Sitten reicht also bei Kant schon sehr weit zurück: nämlich bis in die Mitte der sechziger Jahre obwohl er die 'Grundlegung' dazu erst nach 20 Jahren (1785) veröffentlicht hat. Es ist sicher kein Zufall, daß dieser Gedanke zum erstenmal auftaucht, nachdem er unter dem Einfluß Rousseaus das Sittengesetz als solches der allgemeingültigen Übereinstimmung der Willkür mit sich selbst erkannt hatte. Schon im Brief an Herder kommt seine Überzeugung zum Ausdruck, auf dem Gebiet der Ethik, sowohl was die Prinzipienlehre wie auch was die Methode betrifft, das wesentliche Ziel: die Metaphysik der Sitten, bereits erreicht zu haben. In dem Begleitschreiben zur Dissertation vom 2.9.1770 aber setzt er Lambert von seinem Vorhaben in Kenntnis, noch während des folgenden Winters seine Untersuchung über die re in e mo ra lische Weltweisheit, in der keine empirischen Prinzipien an'Zutreffen sind, und gleichsam die Met a p h y s i k der Si t t e n in Ordnung zu bringen und auszufertigen. Diese werde in vielen den wichtigsten Absichten bei der veränderten Form der Metaphyslk den Weg bahnen und scheine ihm außerdem bei den zur Zeit noch so schlecht entschiedenen Prinzipien der praktischen Wissenschaften ebenso nötig zu sein. Nach einem weiteren Brief, dem an Markus Herz vom 7.6.71, finden wir den Philosophen im Sommer dieses Jahres über der Ausarbeitung eines umfassenden Werkes, das unter dem Titel: 'Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft' das Ver-hältnis der für die Sinnenwelt bestimmten Grundbegriffe und Gesetze zusamt dem Entwurf dessen, was die Natur der Geschmackslehre , Metaphysik und Moral ausmacht, enthalten sollte, nachdem er den Winter hindurch alle Materialien dazu durchgegangen war, alles ge- . sichtet, gewogen und einander angepaßt hatte. In dieses Werk also offenbar als letzter Teil jene im Brief an Lambert erwahnte Bearbeitung der reinen moralischen Weltweisheit eingehen. Der Plan dieses neuen Werkes brachte ihn auch, wie aus diesem gleichen

263 Brief an Herz hervorgeht, von seinem ursprünglichen Vorhaben ab, die Dissertation von 1770 zu ergänzen und in erweiterter Form herauszugeben. Im nächsten Brief an Markus Herz vom 21.2.72 finden wir die bezeichnende Bemerkung: er hätte es in der Unterscheidung des Sinnlichen vom Intellektualen in der Moral und den daraus entspringenden Grundsätzen schon vorh erz ie m l i ch we i t ge b ra ch t und die Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der Beurteilungskraft, mit deren Wirkungen, dem Angenehmen, Schönen und Guten auch schon vor I ä n g s t z u sei n e r z i e m I ich e n B e fr i e d i gun g entworfen gehabt. Wenn er nun in dem gleichen Brief, in dem er seinem Freund und Schüler die Entdeckung eines neuen und grundlegenden Problems der theoretischen Philosophie mitteilte, so über den Stand seiner moralphilosophischen Einsichten urteilt, so wird schon daraus hinreichend klar, daß die Moralphilosophie nicht entscheidend von dieser neuen Problematik betroffen wurde. daß es sich. bei der Metaphysik der Sitten lediglich darum handelte, die rein intellektualen Prinzipien von den empirischen, die inneren Wesensgesetze des Willens von dem Phänomenalen des moralischen Gefühls abzusondern. Das geht auch schlüssig aus der Art hervor, wie Kant diese neue Problematik hier in klassischer Form entwickelt: "Und nun machte ich mir den Plan zu einem Werke, welches etwa den Titel haben könnte: die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft. Ich dachte mir darin zwei Teile. einen theoretischen und praktischen. Der erste enthielt in zwei Abschnitten: 1. Die Phänomenologie über haupt. 2. Die Metaphysik, und zwar nur nach ihrer Natur und Methode. Der zweite ebenfalls in zwei Abschnitten: 1. Allgemeine Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der sinnlichen Begierde. 2. Die ersten Gründe der Sittlichkeit. Indem ich den theoretischen T.eil in seinem ganzen Umfange und mit den wechselseitigen Beziehungen aller Teile durchdachte, so bemerkte ich, daß mir noch etwas Wesentliches mangle, welches ich bei meinen langen metaphysischen Untersuchungen, so wie andere, außer acht gelasRen hatte . und welches in der Tat den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht. Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von dem Gegenstande affiziert wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sei und wie diese Bestimmung unsres Gemüts etwas vorstellen, d. i. einen Gegenstand haben könne. Die passiven oder sinnlichen Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstär,de, und die Grundsätze, welche aus der Natur unserer Seele entlehnt werden, haben eine begreifliche Gültigkeit für alle Dinge, insofern sie Gegenstand der Sin-

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262 Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit und die schen Anfangsgründe der praktischen Weltwelshelt. Ganz in Übereinstimmung mit dieser Bemerkung schreibt er am 9.5. 68 an Herder: " ••• und indem mein Augenmerk vornemlich darauf gerichtet ist die eigentliche Bestimmung und die Schranken Menschlichen Fähigkeiten und Neigungen zu erkennen so glaube lch daß es mir in dem was die Sitten betrifft endlich ziemlich gelungen sey und ich arbeite ietzt an einer Metaphysik der wo einbilde die augenscheinlichen und fruchtbaren Grundsatze lmglelchen die Methode angeben zu können wornach die zwar sehr gangbare aber mehrenteils doch fruchtlose Bemühungen in dieser Art der Erkenntnis eingerichtet werden müssen wenn sie einmal Nutzen schaffen sollen. Ich hoffe in diesem Jahre damit fertig zu werden wofern meine stets wandelbare Gesundheit mir daran nicht hinderlich ist. It Der Gedanke einer Metaphysik der Sitten reicht also bei Kant schon sehr weit zurück: nämlich bis in die Mitte der sechziger Jahre obwohl er die 'Grundlegung' dazu erst nach 20 Jahren (1785) veröffentlicht hat. Es ist sicher kein Zufall, daß dieser Gedanke zum erstenmal auftaucht, nachdem er unter dem Einfluß Rousseaus das Sittengesetz als solches der allgemeingültigen Übereinstimmung der Willkür mit sich selbst erkannt hatte. Schon im Brief an Herder kommt seine Überzeugung zum Ausdruck, auf dem Gebiet der Ethik, sowohl was die Prinzipienlehre wie auch was die Methode betrifft, das wesentliche Ziel: die Metaphysik der Sitten, bereits erreicht zu haben. In dem Begleitschreiben zur Dissertation vom 2.9.1770 aber setzt er Lambert von seinem Vorhaben in Kenntnis, noch während des folgenden Winters seine Untersuchung über die re in e mo ra lische Weltweisheit, in der keine empirischen Prinzipien an'Zutreffen sind, und gleichsam die Met a p h y s i k der Si t t e n in Ordnung zu bringen und auszufertigen. Diese werde in vielen den wichtigsten Absichten bei der veränderten Form der Metaphyslk den Weg bahnen und scheine ihm außerdem bei den zur Zeit noch so schlecht entschiedenen Prinzipien der praktischen Wissenschaften ebenso nötig zu sein. Nach einem weiteren Brief, dem an Markus Herz vom 7.6.71, finden wir den Philosophen im Sommer dieses Jahres über der Ausarbeitung eines umfassenden Werkes, das unter dem Titel: 'Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft' das Ver-hältnis der für die Sinnenwelt bestimmten Grundbegriffe und Gesetze zusamt dem Entwurf dessen, was die Natur der Geschmackslehre , Metaphysik und Moral ausmacht, enthalten sollte, nachdem er den Winter hindurch alle Materialien dazu durchgegangen war, alles ge- . sichtet, gewogen und einander angepaßt hatte. In dieses Werk also offenbar als letzter Teil jene im Brief an Lambert erwahnte Bearbeitung der reinen moralischen Weltweisheit eingehen. Der Plan dieses neuen Werkes brachte ihn auch, wie aus diesem gleichen

263 Brief an Herz hervorgeht, von seinem ursprünglichen Vorhaben ab, die Dissertation von 1770 zu ergänzen und in erweiterter Form herauszugeben. Im nächsten Brief an Markus Herz vom 21.2.72 finden wir die bezeichnende Bemerkung: er hätte es in der Unterscheidung des Sinnlichen vom Intellektualen in der Moral und den daraus entspringenden Grundsätzen schon vorh erz ie m l i ch we i t ge b ra ch t und die Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der Beurteilungskraft, mit deren Wirkungen, dem Angenehmen, Schönen und Guten auch schon vor I ä n g s t z u sei n e r z i e m I ich e n B e fr i e d i gun g entworfen gehabt. Wenn er nun in dem gleichen Brief, in dem er seinem Freund und Schüler die Entdeckung eines neuen und grundlegenden Problems der theoretischen Philosophie mitteilte, so über den Stand seiner moralphilosophischen Einsichten urteilt, so wird schon daraus hinreichend klar, daß die Moralphilosophie nicht entscheidend von dieser neuen Problematik betroffen wurde. daß es sich. bei der Metaphysik der Sitten lediglich darum handelte, die rein intellektualen Prinzipien von den empirischen, die inneren Wesensgesetze des Willens von dem Phänomenalen des moralischen Gefühls abzusondern. Das geht auch schlüssig aus der Art hervor, wie Kant diese neue Problematik hier in klassischer Form entwickelt: "Und nun machte ich mir den Plan zu einem Werke, welches etwa den Titel haben könnte: die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft. Ich dachte mir darin zwei Teile. einen theoretischen und praktischen. Der erste enthielt in zwei Abschnitten: 1. Die Phänomenologie über haupt. 2. Die Metaphysik, und zwar nur nach ihrer Natur und Methode. Der zweite ebenfalls in zwei Abschnitten: 1. Allgemeine Prinzipien des Gefühls, des Geschmacks und der sinnlichen Begierde. 2. Die ersten Gründe der Sittlichkeit. Indem ich den theoretischen T.eil in seinem ganzen Umfange und mit den wechselseitigen Beziehungen aller Teile durchdachte, so bemerkte ich, daß mir noch etwas Wesentliches mangle, welches ich bei meinen langen metaphysischen Untersuchungen, so wie andere, außer acht gelasRen hatte . und welches in der Tat den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht. Ich frug mich nämlich selbst: auf welchem Grunde beruht die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von dem Gegenstande affiziert wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sei und wie diese Bestimmung unsres Gemüts etwas vorstellen, d. i. einen Gegenstand haben könne. Die passiven oder sinnlichen Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstär,de, und die Grundsätze, welche aus der Natur unserer Seele entlehnt werden, haben eine begreifliche Gültigkeit für alle Dinge, insofern sie Gegenstand der Sin-

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ne sein sollen. Ebenso: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des Objekts ac ti v wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die kenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellt, so wurde auch dle Konformität derselben mit den Objekten verstanden werden können. Es ist also die Möglichkeit sowohl des intellectus archetypi, aufdessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, als des ectypi, der die data seiner logischen Beha?dlung aus d:r Anschauung der Sachen schöpft, zum wemgsten verstandllch. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorst ellungen (in sensu re a li) (v. Verf. gesp.). Die reinen Verstandesbegriffe müssen nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahiert sein, noch dIe Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder insoferne sie vom Objekt gewirkt werden, noch das Objekt selbst hervorbringen. Ich habe mich in der Dissertation damit begnügt, Natur der Intellektualvorstellungen bloß negati"9" auszudrücken ... Wle aber denn sonst eine Vorstellung, die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise affiziert zu sein, möglich, überging ich mit Stillschweigen. Ich hatt.e gesagt: .die Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie Sle erschelnen, dle lntellektualen wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns affizieren, und wenn solche intellektuale Vorstellungen auf unserer innern Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht werden und die Axiomata der reinen Vernunft über dlese Gegenstande woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen -: .. im Verhältnis der Qualitäten, wie mein Verstand gänzllch a prlOrl sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von 'ihr unabhängig sind, diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Ansehung unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst komme". Das ist also das Problem, an dem Kant seit 1772 unermüdlich gearbeitet hat. und das die letzte große 'Umkipp:ung' Ringen um die Metaphysik herbeiführte: daß nämllch dle Ver- . standesbegriffe die Bedingung der Möglichkeit der selber sind, womit nun eigentlich erst die Fundamente der krItlschen Philosophie gelegt waren. Man sieht aber sofort, daß für die philosophischen Grundbegriffe die ses Pro b I emd e r a p r 1 0 r 1

gültigen Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem G e gen s t an d gar nie h tex ist i e r t; denn, wie Kant hier ausdrücklich in der Klammer hinzufügt. ist ihr Verhältnis zum Gegenstande demjenigen der Begriffe eines intellectus archetypi vergleichbar, für die aus dem angegebenen Grund dieses Problem ebenfalls nicht besteht. In der Tat enthalte:q. auch die Briefe der folgenden Jahre, in denen wir noch von seinen philosophischen Bemühungen und insbesondere von jenen um die Reform der Metaphysik erfahren. keinerlei Anzeichen. daß es in diesem Zusammenhang nochmals eine grundlegende Änderung in seiner mo r alp h i los 0 phi s ehen Lehre gegeben hätte (cf. Brief an Herz vom Jahre 1773 und vom 24.9.1776)110. Das muß freilich nicht bedeuten, daß er sich während dieses ganzen Zeitraums ausschließlich mit der theoretischen Philosophie beschäftigt habe; denn er hat sicher in der ersten Hälfte des Jahrzehnts die praktische Philosophie noch als einen Hauptteil des geplanten Gesamtwerkes betrachtet und daher auch ständig die Ergebnisse auf dem theoretischen Gebiet mit seinen ethischen Anschauungen konfrontiert. wie es überhaupt in seiner Art lag, das Ganze des Systems mit im Auge zu behalten. Sicherlich ist es nicht zufällig, daß er in den Briefen dieser Zeit wiederholt auf die günstigen Folgen seiner Neugestaltung der Metaphysik für Religion und Moral hinweist. Daß damit auch die nähere Ausgestaltung seines moralphilosophischen Systems von diesen Bemühungen um die endgültige Systematik und Methode der theoretischen Metaphysik irgendwie beeinflußt wurde. ist daher zu erwarten. zumal der Philosoph von Anfang an dazu neigte, beide Grunddisziplinen der Metaphysik nach gleichen Methoden zu behandeln lll • Das betrifft jedoch nur die Art der Systematisierung, nicht die Sub s ta n z der Lehre selbst. Denn diese lag im Prinzip bereits fest, und da sie nicht von der neuen Problematik der Metaphysik betroffen wurde, muß sie sich in der Scheidung zwischen Sinnlichem und Intellektualem und in der Begründung der ethischen Prinzipien auf reine oder apriorische Intellektualbegriffe erschöpft haben. Dieser Standpunkt Kants. auf den er in den Briefen immer wieder Bezug nimmt. ist nun sehr klar formuliert in den wenigen die Moralphilosophie betreffenden Sätzen der Dissertation des Jahres 1770 112 , wo er zum ersten Mal die für seine ganze spätere philosophische Lehre entscheidende These von dem subjektiven Charakter von Raum und Zeit aufstellt. hinter der sich aber etwas G run d legenderes verbirgt: nämlich die Erkenntnis des wesentlichen. des metaphysischen Unterschiedes zwischen der sinnlichen und der intellektualen Ordnung als solcher, durch die der Standpunkt des 110) Ibid. X, 143 ff. ; 198 ff. 111) Ibid. U, 293 ff. ; 299. 112) lbid. U, 384-419.

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ne sein sollen. Ebenso: wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des Objekts ac ti v wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sich die kenntnisse als die Urbilder der Sachen vorstellt, so wurde auch dle Konformität derselben mit den Objekten verstanden werden können. Es ist also die Möglichkeit sowohl des intellectus archetypi, aufdessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen, als des ectypi, der die data seiner logischen Beha?dlung aus d:r Anschauung der Sachen schöpft, zum wemgsten verstandllch. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorst ellungen (in sensu re a li) (v. Verf. gesp.). Die reinen Verstandesbegriffe müssen nicht von den Empfindungen der Sinne abstrahiert sein, noch dIe Empfänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quellen haben, aber doch weder insoferne sie vom Objekt gewirkt werden, noch das Objekt selbst hervorbringen. Ich habe mich in der Dissertation damit begnügt, Natur der Intellektualvorstellungen bloß negati"9" auszudrücken ... Wle aber denn sonst eine Vorstellung, die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise affiziert zu sein, möglich, überging ich mit Stillschweigen. Ich hatt.e gesagt: .die Vorstellungen stellen die Dinge vor, wie Sle erschelnen, dle lntellektualen wie sie sind. Wodurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns affizieren, und wenn solche intellektuale Vorstellungen auf unserer innern Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht werden und die Axiomata der reinen Vernunft über dlese Gegenstande woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen -: .. im Verhältnis der Qualitäten, wie mein Verstand gänzllch a prlOrl sich selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen einstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von 'ihr unabhängig sind, diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Ansehung unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst komme". Das ist also das Problem, an dem Kant seit 1772 unermüdlich gearbeitet hat. und das die letzte große 'Umkipp:ung' Ringen um die Metaphysik herbeiführte: daß nämllch dle Ver- . standesbegriffe die Bedingung der Möglichkeit der selber sind, womit nun eigentlich erst die Fundamente der krItlschen Philosophie gelegt waren. Man sieht aber sofort, daß für die philosophischen Grundbegriffe die ses Pro b I emd e r a p r 1 0 r 1

gültigen Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem G e gen s t an d gar nie h tex ist i e r t; denn, wie Kant hier ausdrücklich in der Klammer hinzufügt. ist ihr Verhältnis zum Gegenstande demjenigen der Begriffe eines intellectus archetypi vergleichbar, für die aus dem angegebenen Grund dieses Problem ebenfalls nicht besteht. In der Tat enthalte:q. auch die Briefe der folgenden Jahre, in denen wir noch von seinen philosophischen Bemühungen und insbesondere von jenen um die Reform der Metaphysik erfahren. keinerlei Anzeichen. daß es in diesem Zusammenhang nochmals eine grundlegende Änderung in seiner mo r alp h i los 0 phi s ehen Lehre gegeben hätte (cf. Brief an Herz vom Jahre 1773 und vom 24.9.1776)110. Das muß freilich nicht bedeuten, daß er sich während dieses ganzen Zeitraums ausschließlich mit der theoretischen Philosophie beschäftigt habe; denn er hat sicher in der ersten Hälfte des Jahrzehnts die praktische Philosophie noch als einen Hauptteil des geplanten Gesamtwerkes betrachtet und daher auch ständig die Ergebnisse auf dem theoretischen Gebiet mit seinen ethischen Anschauungen konfrontiert. wie es überhaupt in seiner Art lag, das Ganze des Systems mit im Auge zu behalten. Sicherlich ist es nicht zufällig, daß er in den Briefen dieser Zeit wiederholt auf die günstigen Folgen seiner Neugestaltung der Metaphysik für Religion und Moral hinweist. Daß damit auch die nähere Ausgestaltung seines moralphilosophischen Systems von diesen Bemühungen um die endgültige Systematik und Methode der theoretischen Metaphysik irgendwie beeinflußt wurde. ist daher zu erwarten. zumal der Philosoph von Anfang an dazu neigte, beide Grunddisziplinen der Metaphysik nach gleichen Methoden zu behandeln lll • Das betrifft jedoch nur die Art der Systematisierung, nicht die Sub s ta n z der Lehre selbst. Denn diese lag im Prinzip bereits fest, und da sie nicht von der neuen Problematik der Metaphysik betroffen wurde, muß sie sich in der Scheidung zwischen Sinnlichem und Intellektualem und in der Begründung der ethischen Prinzipien auf reine oder apriorische Intellektualbegriffe erschöpft haben. Dieser Standpunkt Kants. auf den er in den Briefen immer wieder Bezug nimmt. ist nun sehr klar formuliert in den wenigen die Moralphilosophie betreffenden Sätzen der Dissertation des Jahres 1770 112 , wo er zum ersten Mal die für seine ganze spätere philosophische Lehre entscheidende These von dem subjektiven Charakter von Raum und Zeit aufstellt. hinter der sich aber etwas G run d legenderes verbirgt: nämlich die Erkenntnis des wesentlichen. des metaphysischen Unterschiedes zwischen der sinnlichen und der intellektualen Ordnung als solcher, durch die der Standpunkt des 110) Ibid. X, 143 ff. ; 198 ff. 111) Ibid. U, 293 ff. ; 299. 112) lbid. U, 384-419.

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Rationalismus wie des Empirismus von der grundsätzlichen Gleichartigkeit der Vorstellungen und ihrer bloß durch den Deutlichkeitsgrad bedingten (akzidentellen) Verschiedenheit endgültig überwunden wird. Die Grundthese der Dissertation von der Wes e n sv er schiedenheit, ja Gegensätzlichkeit dieser beiden Ordnungen und die Gleichsetzung des Intellektualen mit dem Noumenalen (Wirklichkeit an sich) und des Sinnlichen mit dem Phänome na 1 e n (Erscheinung)' finden wir in dem inhaltsschweren § 7 der H. sectio (De sensibilium atque intelligibilium discrimine generatim) eindrucksvoll formuliert: "Hieraus ist zu ersehen, daß die sinnliche Erkenntnis zu Unrecht als eine ver w 0 r ren e , die Verstandeserkenntnis als eine d e u tl ich e erklärt wird. Denn das sind nur logische Unterschiede, welche das Ge g e ben e , das aller logischen Vergleichung zugrunde liegt, gar nicht berühren. Die sinnlichen Vorstellungen können sehr deutlich und die intellektuellen im höchsten Grad verworren sein. Das erstere bemerken wir an dem Urbild der sinnlichen Erkenntnisse, der Ge 0 met r i e, das letztere an dem Organon aller intellektualen Begriffe, der Metaphysik. von der es allbekannt ist, daß sie trotz der angewandten Mühe die Nebel der Verworrenheit, welche den gemeinen Verstand verdunkeln, nicht immer mit so glücklichem Erfolg wie im ersteren Fall vertreiben kann. Trotzdem wahrt jede dieser Erkenntnisse das Zeichen ihrer Abstammung, so daß die ersteren, wie deutlich sie auch immer sein mögen, auf Grund ihres Ursprungs als sinnliche zu bezeichnen sind, letztere aber, sollten sie auch noch so verworren sein, intellektuale Begriffe bleiben, wie es z. B. die moralischen sind, die nicht aus der Erfahrung, sondern durch den reinen Intellekt selber erkannt werden (v. Verf. gesp.). Ich fürchte aber, daß der berühmte W olff durch diesen Unterschied zwisehen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis, der ihm nur als ein logischer galt, jene vornehmste Gepflogenheit des Altertums, über die Natur der Erscheinungen (phaenomenorum) und der Gedankendinge (noumenorum) zu handeln, zum großen Schaden für die Philosophie vielleicht gänzlich in Vergessenheit gebracht und die Geister von deren Erforschung in zahlreichen Fällen zu logischen Spielereien abgelenkt hat" 113 • Worin besteht nun nach der Dissertation näherhin das Wesen der si n n I ich e n Erkenntnis gegenüber der intellektualen? Die sinnliche beruht auf der Empfänglichkeit des Subjektes, von einem Gegenstand in bestimmter Weise affiziert zu werden, ihr Gegenstand ist folglich das Ding, insofern es das Subjekt affiziert, also das dem Subjekt Erscheinende; deshalb geben die sinnlichen Vorstellungen die Dinge wieder, nicht wie sie in sich selber sind, sondern wie sie uns erscheinen. Die Sinnenwelt bedeutet folglich die Gesamtheit der erscheinenden Dinge in ihrem Zusammenhang und ihrer Einheit.

Die Frage nach der Form und den Prinzipien der 'Sinnlichen' Welt die in dem Titel zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als nach dem Prinzip bzw. den Prinzipien der Ein h ei t der Erscheinungen. Die Disse.ctation löst dieses Problem, indem sie in der Erscheinung apriorisch -formale und aposteriorisch -materiale Elemente unterscheidet: die letzteren sind die E m p f i n dun gen, die aus den Eindrücken der Dinge auf das Subjekt im Bewußtsein resultieren die ersten dagegen sind subjektive, apriorische Formen der An schauung selber, in denen und durch die die Empfindungen Gegenstände des Anschauens werden, nämlich die ein e umfassende homogene Rau m - und die ein e umfassende, homogene Z e i t vor stellung. Der sinnlichen Erkenntnis gegenüber steht die des Verstandes die intellektuale: im Hinblick auf diese unterscheidet Kant eine; d 0 p p e I te n G e b rau c h des Ver s t an des , den logischen und einen anderen, den er als den re ale n bezeichnet. Der erstere bezieht sich in gleicher Weise auf die Vorstellungen und Begriffe aller Gegenstände, mögen sie nun durch die sinnliche Anschauung oder durch Begriffe der Vernunft gegeben sein, mag es sich um Dinge an sich oder um Erscheinungen handeln; denn durch den logischen Gebrauch werden die Vorstellungen nur unter sich verglichen und nach ihren logischen Beziehungen, d. h. denen ihres Begriffsinhaltes und -umfanges, einander über- bzw. untergeordnet. Von diesem logischen Gebrauch ist ein anderer zu unterscheiden, durch den nun der Intellekt formal in Gegensatz zur sinnlichen Erkenntnis tritt: der reale. Durch diesen werden die Begriffe von den Dingen und ihren an sich durch die Natur des Verstandes selber gegeben: Sie smd weder von irgendwelchem Gebrauche der Sinne abstrahiert noch enthalten sie irgendeine Form der sinnlichen Erkenntnis als solcher und werden deshalb richtiger abstrahierende als abstrakte Begriffe oder Ideen genannt; sie sind nicht angeboren, sondern werden aus den dem Geiste eingepflanzten Gesetzen bei Gele .. genheit der Erfahrung abstrahiert und insofern auch er w 0 r ben. Zu di.eser Gattung von Begriffen gehören die der Möglichkeit, des Dasems, der Notwendigkeit, der Substanz, der Ursache. Diesen reinen Verstandesbegriffen wird nun gemäß der Zweiteilung des Gegenstandes der Metaphysik in den 'Träumen' 114 eine doppelte Funktion zugewiesen: eine kr i ti s c h e (usus elencticus), die dazu dient sinnliche Vorstellungen von den intelligiblen Gegenständen (noumena) fernzuhalten und dadurch die Wissenschaften von vielfachen Irrtümern zu bewahren: ihr entspriCht als wissenschaftliche Disziplin eine Propädeutik der Metaphysik, welche den Unterschied zwischen der sinnlichen und der intellektualen Erkenntnis darlegt und daraus die Prinzipien der echten metaphysischen Methode ableitet. Die zweite Funktion de:: reinen Verstandesbegriffe ist die d 0 g -

113) Ibid. II, 394 f.

114) Ibid. II, 367 f.

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Rationalismus wie des Empirismus von der grundsätzlichen Gleichartigkeit der Vorstellungen und ihrer bloß durch den Deutlichkeitsgrad bedingten (akzidentellen) Verschiedenheit endgültig überwunden wird. Die Grundthese der Dissertation von der Wes e n sv er schiedenheit, ja Gegensätzlichkeit dieser beiden Ordnungen und die Gleichsetzung des Intellektualen mit dem Noumenalen (Wirklichkeit an sich) und des Sinnlichen mit dem Phänome na 1 e n (Erscheinung)' finden wir in dem inhaltsschweren § 7 der H. sectio (De sensibilium atque intelligibilium discrimine generatim) eindrucksvoll formuliert: "Hieraus ist zu ersehen, daß die sinnliche Erkenntnis zu Unrecht als eine ver w 0 r ren e , die Verstandeserkenntnis als eine d e u tl ich e erklärt wird. Denn das sind nur logische Unterschiede, welche das Ge g e ben e , das aller logischen Vergleichung zugrunde liegt, gar nicht berühren. Die sinnlichen Vorstellungen können sehr deutlich und die intellektuellen im höchsten Grad verworren sein. Das erstere bemerken wir an dem Urbild der sinnlichen Erkenntnisse, der Ge 0 met r i e, das letztere an dem Organon aller intellektualen Begriffe, der Metaphysik. von der es allbekannt ist, daß sie trotz der angewandten Mühe die Nebel der Verworrenheit, welche den gemeinen Verstand verdunkeln, nicht immer mit so glücklichem Erfolg wie im ersteren Fall vertreiben kann. Trotzdem wahrt jede dieser Erkenntnisse das Zeichen ihrer Abstammung, so daß die ersteren, wie deutlich sie auch immer sein mögen, auf Grund ihres Ursprungs als sinnliche zu bezeichnen sind, letztere aber, sollten sie auch noch so verworren sein, intellektuale Begriffe bleiben, wie es z. B. die moralischen sind, die nicht aus der Erfahrung, sondern durch den reinen Intellekt selber erkannt werden (v. Verf. gesp.). Ich fürchte aber, daß der berühmte W olff durch diesen Unterschied zwisehen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis, der ihm nur als ein logischer galt, jene vornehmste Gepflogenheit des Altertums, über die Natur der Erscheinungen (phaenomenorum) und der Gedankendinge (noumenorum) zu handeln, zum großen Schaden für die Philosophie vielleicht gänzlich in Vergessenheit gebracht und die Geister von deren Erforschung in zahlreichen Fällen zu logischen Spielereien abgelenkt hat" 113 • Worin besteht nun nach der Dissertation näherhin das Wesen der si n n I ich e n Erkenntnis gegenüber der intellektualen? Die sinnliche beruht auf der Empfänglichkeit des Subjektes, von einem Gegenstand in bestimmter Weise affiziert zu werden, ihr Gegenstand ist folglich das Ding, insofern es das Subjekt affiziert, also das dem Subjekt Erscheinende; deshalb geben die sinnlichen Vorstellungen die Dinge wieder, nicht wie sie in sich selber sind, sondern wie sie uns erscheinen. Die Sinnenwelt bedeutet folglich die Gesamtheit der erscheinenden Dinge in ihrem Zusammenhang und ihrer Einheit.

Die Frage nach der Form und den Prinzipien der 'Sinnlichen' Welt die in dem Titel zum Ausdruck kommt, ist nichts anderes als nach dem Prinzip bzw. den Prinzipien der Ein h ei t der Erscheinungen. Die Disse.ctation löst dieses Problem, indem sie in der Erscheinung apriorisch -formale und aposteriorisch -materiale Elemente unterscheidet: die letzteren sind die E m p f i n dun gen, die aus den Eindrücken der Dinge auf das Subjekt im Bewußtsein resultieren die ersten dagegen sind subjektive, apriorische Formen der An schauung selber, in denen und durch die die Empfindungen Gegenstände des Anschauens werden, nämlich die ein e umfassende homogene Rau m - und die ein e umfassende, homogene Z e i t vor stellung. Der sinnlichen Erkenntnis gegenüber steht die des Verstandes die intellektuale: im Hinblick auf diese unterscheidet Kant eine; d 0 p p e I te n G e b rau c h des Ver s t an des , den logischen und einen anderen, den er als den re ale n bezeichnet. Der erstere bezieht sich in gleicher Weise auf die Vorstellungen und Begriffe aller Gegenstände, mögen sie nun durch die sinnliche Anschauung oder durch Begriffe der Vernunft gegeben sein, mag es sich um Dinge an sich oder um Erscheinungen handeln; denn durch den logischen Gebrauch werden die Vorstellungen nur unter sich verglichen und nach ihren logischen Beziehungen, d. h. denen ihres Begriffsinhaltes und -umfanges, einander über- bzw. untergeordnet. Von diesem logischen Gebrauch ist ein anderer zu unterscheiden, durch den nun der Intellekt formal in Gegensatz zur sinnlichen Erkenntnis tritt: der reale. Durch diesen werden die Begriffe von den Dingen und ihren an sich durch die Natur des Verstandes selber gegeben: Sie smd weder von irgendwelchem Gebrauche der Sinne abstrahiert noch enthalten sie irgendeine Form der sinnlichen Erkenntnis als solcher und werden deshalb richtiger abstrahierende als abstrakte Begriffe oder Ideen genannt; sie sind nicht angeboren, sondern werden aus den dem Geiste eingepflanzten Gesetzen bei Gele .. genheit der Erfahrung abstrahiert und insofern auch er w 0 r ben. Zu di.eser Gattung von Begriffen gehören die der Möglichkeit, des Dasems, der Notwendigkeit, der Substanz, der Ursache. Diesen reinen Verstandesbegriffen wird nun gemäß der Zweiteilung des Gegenstandes der Metaphysik in den 'Träumen' 114 eine doppelte Funktion zugewiesen: eine kr i ti s c h e (usus elencticus), die dazu dient sinnliche Vorstellungen von den intelligiblen Gegenständen (noumena) fernzuhalten und dadurch die Wissenschaften von vielfachen Irrtümern zu bewahren: ihr entspriCht als wissenschaftliche Disziplin eine Propädeutik der Metaphysik, welche den Unterschied zwischen der sinnlichen und der intellektualen Erkenntnis darlegt und daraus die Prinzipien der echten metaphysischen Methode ableitet. Die zweite Funktion de:: reinen Verstandesbegriffe ist die d 0 g -

113) Ibid. II, 394 f.

114) Ibid. II, 367 f.

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matische, nach der die allgemeinen Grundsätze des reinen Verstandes, wie sie die Ontologie und die rationale Psychologie enthält, zu einem nur mit dem Verstande erfaßbaren Urbild (exemplar oder Ideal) hinführen, welches das gemeinsame Maß aller übrigen Dinge, insofern sie Realitäten sind, darstellt: die per f e c t ion 0 u me non. Dieses Ideal der intelligiblen Vollkommenheit ist im theoretischen Verstand, d.h. sofern die Dinge als Sein betrachtet werden, das ens summum oder Gott, im praktischen aber, d. h. insofern sie nach dem betrachtet werden, was ihnen durch die Freiheit zukommen soll, die moralische Vollkommenheit. Denn, so führt Kant aus, bei jeder Art von Gegenständen, deren Größe veränderlich ist, ist das Maximum das gemeinsame Maß und das Prinzip der Erkenntnis, insofern die niedrigeren Grade einer Vollkommenheit nur durch die Begrenzungen ihres Maximums bestimmt werden können. Gott aber ist einerseits als Ideal der Vollkommenheit das Prinzip der Erkenntnis. als reale Existenz zugleich aber auch das Prinzip des Entstehens aller Vollkommenheiten der Dinge. Die Wissenschaft. welche die Prinzipien des reinen Verstandes dogmatisch gebraucht. ist die Metaphysik. Da es in ihr keine Erfahrungsprinzipien gibt. sind die in ihr vorkommenden Begriffe nicht in den Sinnen zu suchen. sondem in der Natur des reinen Verstandes selbst. Diese Verstandesbegriffe können aber im Gegensatz zu den sinnlichen Anschauungen nicht intuitiv und konkret sein. sondern bloß abstrakt oder symbolisch. weil alle Ans c hau u n g. dur c h die e t was u n mit telbar in seiner konkreten Individualität vom Geiste erfaßt wird, an die Formen unserer sinnlichen Ans c hau u n g ge b und e n ist. die als sinnliche nicht die Bedingungen einer intellektuellen Anschauung se,in können. Der reine Verstandesbegriff ist daher als solcher von allen Inhalten der Intuition entleert. Da uns nun durch den realen (dogmatischen) Gebrauch des Verstandes ein mundus intelligibilis. eine noumenale Welt gegeben wird, erhebt sich auch bei ihr die Frage nach den Prinzipien ihrer Einheit oder nach ihrer Form. Kant beantwortet sie ganz im Sinne des Prinzips der Coexistenz seiner Habilitationsschrift: daß das Prin,zip der Einheit der noumenalen Welt Go t t seI b e r ist als der gemeinsame Ursprung und das gemeinsame Maß aller Dinge, woraus sich als Form der noumenalen Welt die allgemein gegründete Harmonie der Substanzen ergibt. die eine wirkliche physische Wechselwirkung einschließt. im Unterschied zur prästabilierten Harmonie des Leibniz (und Wolff) und zum Occasio'nalismus des Malebranche. Was nun näherhin die Moralphilosophie angeht, so wird in der Dissertation erstmals der rein intellektuale aprioris ch e Charakter der moralischen Grundbegriffe ausdrücklich als These formuliert und damit auch die metaphysische Trennungslinie gezogen zwischen diesen letzteren und dem moralischen Gefühl, das

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von da an nur mehr als Empfänglichkeit oder Bewußtserden jener apriorischen Prinzipien des reinen Verstandes im empirischen Subjekt gedacht werden kann. Zwar enthält die Dissertation nur ein paar Sätze über die moralphilosophische Prinzipienlehre , aber es sind lapidäre Sätze, die sozusagen den Schlußstein einer Entwicklung darstellen, die, wie wir sahen, schon vor der Preisschrift begann. Nachdem er in dem bereits zitierten § 7 der 11. sectio gerade die moralischen als Beispiele von Intellektualbegriffen hinsichtlich ihres Urs p run g s angeführt hatte und zwar trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer Dunkelheit und Verworrenheit, lesen wir im § 9 der gleichen Abteilung die bedeutungsvollen Sätze: "p h i l 0 s 0 phi a igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellectum purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram, quique ipsius criteria ad sensum voluptatis aut taedii protraxit, summo iure reprehenditur Epicurus una cum neotericis qUibusdam, ipsum e longinquo quadamtenus secutis, uti Shaftesbury et asseclae. " Wir finden hier also klar umrissen, was Kant unter einer Metaphysik der Sitten versteht, an der er nach dem Zeugnis der Briefe damals arbeitete: Es war, wie es im Brief an Lambert von 2.9.70 heißt, eine reine moralische Weltweisheit, in der keine empirischen Prinzipien anzutreffen sind. Damit ist aber nur der grundsätzliche Standpunkt Kants in der Moralphilosophie zu diesem Zeitpunkt gekennzeichnet, die konkrete Gestalt läßt sich aus diesen Worten allein natürlich nicht rekonstruieren, aber diese ist doch weitgehend aus der bisherigen Entwicklung, aus dem Standpunkt der ersten Hälfte des Jahrzehnts zu erschließen. Wenn man allerdings diesen letzteren mißdeutet und Kant zu dieser Zeit noch im wesentlichen als einen Anhänger der Gefühlsmoral der Engländer und Rousseaus betrachtet, so kann nicht nur der Übergang von diesem Stadium zu den klaren und schroffen Formulierungen der Dissertation nicht verständlich gemacht werden, sondern es läßt sich dann auch nicht ermitteln, was Kant sich unter diesen prima principia diiudicandi näherhin vorgestellt hat, die da dem reinen Intellekt entspringen sollen. Diese Verlegenheit spiegelt sich deutlich in den Ausführungen Me n zer s wider: Innere und äußere Beweismittel zeigten, daß das Ziel Kants in dieser Zeit die Befreiung des Intellektuellen von den Bedingungen der Sinnlichkeit gewesen ist, und zwar schon in den SCllriften der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Je mehr er die Unzulänglichkeit des Gefühls ars Grundlage einer moralischen Gesetzgebung erkannte und je notwendiger ihm eine solche erschien, desto mehr habe in ihm die Überzeugung wachsen müssen, daß der eingeschlagene Weg falsch war und daß das Moralgesetz sich nur auf reine Vernunft begründen lasse. Diese Überzeugung habe ihren schärfsten Ausdruck in der Dissertation von 1770 gefun-

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matische, nach der die allgemeinen Grundsätze des reinen Verstandes, wie sie die Ontologie und die rationale Psychologie enthält, zu einem nur mit dem Verstande erfaßbaren Urbild (exemplar oder Ideal) hinführen, welches das gemeinsame Maß aller übrigen Dinge, insofern sie Realitäten sind, darstellt: die per f e c t ion 0 u me non. Dieses Ideal der intelligiblen Vollkommenheit ist im theoretischen Verstand, d.h. sofern die Dinge als Sein betrachtet werden, das ens summum oder Gott, im praktischen aber, d. h. insofern sie nach dem betrachtet werden, was ihnen durch die Freiheit zukommen soll, die moralische Vollkommenheit. Denn, so führt Kant aus, bei jeder Art von Gegenständen, deren Größe veränderlich ist, ist das Maximum das gemeinsame Maß und das Prinzip der Erkenntnis, insofern die niedrigeren Grade einer Vollkommenheit nur durch die Begrenzungen ihres Maximums bestimmt werden können. Gott aber ist einerseits als Ideal der Vollkommenheit das Prinzip der Erkenntnis. als reale Existenz zugleich aber auch das Prinzip des Entstehens aller Vollkommenheiten der Dinge. Die Wissenschaft. welche die Prinzipien des reinen Verstandes dogmatisch gebraucht. ist die Metaphysik. Da es in ihr keine Erfahrungsprinzipien gibt. sind die in ihr vorkommenden Begriffe nicht in den Sinnen zu suchen. sondem in der Natur des reinen Verstandes selbst. Diese Verstandesbegriffe können aber im Gegensatz zu den sinnlichen Anschauungen nicht intuitiv und konkret sein. sondern bloß abstrakt oder symbolisch. weil alle Ans c hau u n g. dur c h die e t was u n mit telbar in seiner konkreten Individualität vom Geiste erfaßt wird, an die Formen unserer sinnlichen Ans c hau u n g ge b und e n ist. die als sinnliche nicht die Bedingungen einer intellektuellen Anschauung se,in können. Der reine Verstandesbegriff ist daher als solcher von allen Inhalten der Intuition entleert. Da uns nun durch den realen (dogmatischen) Gebrauch des Verstandes ein mundus intelligibilis. eine noumenale Welt gegeben wird, erhebt sich auch bei ihr die Frage nach den Prinzipien ihrer Einheit oder nach ihrer Form. Kant beantwortet sie ganz im Sinne des Prinzips der Coexistenz seiner Habilitationsschrift: daß das Prin,zip der Einheit der noumenalen Welt Go t t seI b e r ist als der gemeinsame Ursprung und das gemeinsame Maß aller Dinge, woraus sich als Form der noumenalen Welt die allgemein gegründete Harmonie der Substanzen ergibt. die eine wirkliche physische Wechselwirkung einschließt. im Unterschied zur prästabilierten Harmonie des Leibniz (und Wolff) und zum Occasio'nalismus des Malebranche. Was nun näherhin die Moralphilosophie angeht, so wird in der Dissertation erstmals der rein intellektuale aprioris ch e Charakter der moralischen Grundbegriffe ausdrücklich als These formuliert und damit auch die metaphysische Trennungslinie gezogen zwischen diesen letzteren und dem moralischen Gefühl, das

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von da an nur mehr als Empfänglichkeit oder Bewußtserden jener apriorischen Prinzipien des reinen Verstandes im empirischen Subjekt gedacht werden kann. Zwar enthält die Dissertation nur ein paar Sätze über die moralphilosophische Prinzipienlehre , aber es sind lapidäre Sätze, die sozusagen den Schlußstein einer Entwicklung darstellen, die, wie wir sahen, schon vor der Preisschrift begann. Nachdem er in dem bereits zitierten § 7 der 11. sectio gerade die moralischen als Beispiele von Intellektualbegriffen hinsichtlich ihres Urs p run g s angeführt hatte und zwar trotz oder vielmehr gerade wegen ihrer Dunkelheit und Verworrenheit, lesen wir im § 9 der gleichen Abteilung die bedeutungsvollen Sätze: "p h i l 0 s 0 phi a igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellectum purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram, quique ipsius criteria ad sensum voluptatis aut taedii protraxit, summo iure reprehenditur Epicurus una cum neotericis qUibusdam, ipsum e longinquo quadamtenus secutis, uti Shaftesbury et asseclae. " Wir finden hier also klar umrissen, was Kant unter einer Metaphysik der Sitten versteht, an der er nach dem Zeugnis der Briefe damals arbeitete: Es war, wie es im Brief an Lambert von 2.9.70 heißt, eine reine moralische Weltweisheit, in der keine empirischen Prinzipien anzutreffen sind. Damit ist aber nur der grundsätzliche Standpunkt Kants in der Moralphilosophie zu diesem Zeitpunkt gekennzeichnet, die konkrete Gestalt läßt sich aus diesen Worten allein natürlich nicht rekonstruieren, aber diese ist doch weitgehend aus der bisherigen Entwicklung, aus dem Standpunkt der ersten Hälfte des Jahrzehnts zu erschließen. Wenn man allerdings diesen letzteren mißdeutet und Kant zu dieser Zeit noch im wesentlichen als einen Anhänger der Gefühlsmoral der Engländer und Rousseaus betrachtet, so kann nicht nur der Übergang von diesem Stadium zu den klaren und schroffen Formulierungen der Dissertation nicht verständlich gemacht werden, sondern es läßt sich dann auch nicht ermitteln, was Kant sich unter diesen prima principia diiudicandi näherhin vorgestellt hat, die da dem reinen Intellekt entspringen sollen. Diese Verlegenheit spiegelt sich deutlich in den Ausführungen Me n zer s wider: Innere und äußere Beweismittel zeigten, daß das Ziel Kants in dieser Zeit die Befreiung des Intellektuellen von den Bedingungen der Sinnlichkeit gewesen ist, und zwar schon in den SCllriften der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Je mehr er die Unzulänglichkeit des Gefühls ars Grundlage einer moralischen Gesetzgebung erkannte und je notwendiger ihm eine solche erschien, desto mehr habe in ihm die Überzeugung wachsen müssen, daß der eingeschlagene Weg falsch war und daß das Moralgesetz sich nur auf reine Vernunft begründen lasse. Diese Überzeugung habe ihren schärfsten Ausdruck in der Dissertation von 1770 gefun-

270 den in der er sich in aller Form von der Lehre der Engländer abhabe. Aber es sei unmöglich, auf Grund der wenigen Stellen der Dissertation auszumachen, wie er sich ein System der Moralphilosophie von seinem neugewonnenen Standpunkt aus gedacht habe. Nur soviel sei sicher, daß nun die Rolle des moralischen Gefühls beim Entstehen des sittlichen Urteils vom reinen Intellekt übernommen werde; ferner, daß der Begriff der perfectio moralis für die praktische Philosophie von ebenso großer Bedeutung wie für die theoretische Philosophie das ideale perfectionis sei, die beide aus reinen Verstandesbegriffen abgeleitet sind. Wie man sich aber diese Ableitung zu denken habe, bleibe für die praktische Philosophie ebenso unklar wie für die theoretische; es werde auch nicht gezeigt, wie die Begriffe der ersteren vom Intellekt erkannt Nur daß der Grundbegriff des Praktischen überhaupt, der Begriff der Fr e i he i t dabei eine entscheidende Rolle spielt, glaubt Menzer als dem Text und aus einigen Reflexionen dieser Zeit erschließen zu können. Die Beobachtung der Selbsttätigkeit der Vernunft führe zum Begriff der Freiheit und so habe man sich wohl auch die Entstehung der übrigen moralischen Vernunftbegriffe zu denken. Aber .das kel über den moralphilosophischen Abschauungen der Zelt bleibe. Mit dem Standpunkt der Dissertation habe Kant die bedeutsamste Wende vollzogen und in der Vernunft eine sichere Grundlage für die Allgemeingültigkeit der sittlichen Gesetze gefunden. Aber das alt e Pro ble m der se chz i ge r Jahr e , wie dieses Sittengesetz den Wille!l beeinflussen könne, bestehe weiter. Hier habe sich nichts geändert. Im ganzen gesehen lasse sich nicht einmal ein Bild dieser seiner neuen praktischen Philosophie aus der Dissertation gewinnen. Ihre Bedeutung liege eher darin, daß in ihr das für die praktische wie theoretische Philosophie gleichmäßig gegebene Problem zum ersten Mal in aller Schärfe formuliert und die endgültige Lösung zum Teil vorbereitet wurde. Die .Aufgabe folgende.n Jahre aber sei mit den Worten der DissertatlOn ausgedruckt: sol11cite cavendum ne principia sensitivae cognitionis domestica . .. intellectualia afficiant llS • Man sieht, wie sehr es sich nun rächt, daß der Verfasser die Entwicklung der sechziger Jahre zu leicht genommen: die Unmöglichkeit, den allgemeinen Formulierungen der Dissertation einen bestimmten Inhalt zu geben, ist die Folge davon. K ü e nb ur g betrachtet auch hier die Ergebnisse Menzers im wesentlichen als indiskutabel: Hier sei an das erinnert, so bemerkt er abschließend über die 'Träume', was Menzer zusammenfassend über die Schriften der sechziger Jahre sagt, daß sie mehr zu lösende Probleme als fertige Lösungen geben. Diesen Charakter teilten mit ihnen auch die spärlichen Äußerungen zur Ethik, die uns von Kant aus den sie b z i ger Ja h ren erhalten sind. Schon aus diesem Grund werde ihre Besprechung hier angeschlossen, dann aber 115) Entwicklungsgang, K-St III. S.49-51.

271 auch weil sie für das vorliegende Thema (Pflichtbegriff Kants in der vorkritischen Zeit) wenig enthalten und man sie weg e n ihr e r starken Verschiedenheit vom Standpunkt der späteren autonomen Ethik jedenfalls nicht der kritischen Periode zuzählen kann, wie etwa auf dem erkenntnistheoretischen Gebiet die Dissertation von 1770 von manchen bereits als kritische Schrift bezeichnet werde. Im Anschluß an Menzer vermutet Küenburg, daß Kant zu jenen durch den reinen Intellekt erkannten moralischen Grundbegriffen wohl den der Pflicht und Verbindlichkeit gerechnet habe, weiter merkt er als bedeutsam an, daß er in der Anmerkung zu § 9 den Zusammenhang zwischen Sollen und Freiheit ausgedrückt habe 116. Können schon Menzer und Küenburg der Bedeutung der Dissertation nicht gerecht werden, so gilt das a fortiori von dem Deutungsversuch Schilpps. Ja man kann sagen, daß dessen Interpretation, die in der Analyse der Schriften der sechziger Jahre noch zu manchen richtigen geführt hat, sich hier bei der Dissertation nun wirklich totläuft. Seine Auffassung läßt sich nämlich in die paradoxe These zusammenfassen, daß Kant hier seine eigentlichen moralphilosophischen Ansichten in jenen Texten ausgedrückt, die sich nicht auf die praktische, sondern auf die theoretische Metaphysik beziehen, daß er sich hingegen in den eigentlich die Ethik betreffenden Stellen einer Formulierung bedient habe, die seine wahre Auffassung völlig unkenntlich mache. So sagt e:r von den entscheidenden Sätzen des § 9: Philosophia igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellecturn purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram •. : "When .. Kant speaks of the 'first principles of moral judgement', one can only call attention to the fact, that this phrase cannot express his real meaning. For both from the prize-essay and fr om the Beobachtungen it has become clear that the problem is not one of judgement at all , but one of constructing objectives. Kant's terminology at this point simply betrays language-habits from which the philosopher finds it as difficult to escape as da ordinary.mortals. The same explanation will have to be applied, I think, to Kant's phrase 'moral concepts' in the only other direct reference to moral issues in the Dissertation" (S.101). Es handelt sich bei letzterem um die Stelle des § 7 der H. Sektion: (cognitiones) intellectuales, quales v. g. sunt conceptus morales, non experiundo, sed per ipsum intellectum purum cogniti; m.·a. W. gerade jene Stellen, die den ethischen Standpunkt Kants in der Dissertation am klarsten zum Ausdruck bringen und die den präzisen Grund angeben, warum er die Moralphilosophie zur Metaphysik rechnet und warum er nach den Briefen von 1765 an eine Met a phYSik der Sitten plante, wären nach Schilpp praktisch bedeutungs116) Küenburg, Diss. S.27 f.

270 den in der er sich in aller Form von der Lehre der Engländer abhabe. Aber es sei unmöglich, auf Grund der wenigen Stellen der Dissertation auszumachen, wie er sich ein System der Moralphilosophie von seinem neugewonnenen Standpunkt aus gedacht habe. Nur soviel sei sicher, daß nun die Rolle des moralischen Gefühls beim Entstehen des sittlichen Urteils vom reinen Intellekt übernommen werde; ferner, daß der Begriff der perfectio moralis für die praktische Philosophie von ebenso großer Bedeutung wie für die theoretische Philosophie das ideale perfectionis sei, die beide aus reinen Verstandesbegriffen abgeleitet sind. Wie man sich aber diese Ableitung zu denken habe, bleibe für die praktische Philosophie ebenso unklar wie für die theoretische; es werde auch nicht gezeigt, wie die Begriffe der ersteren vom Intellekt erkannt Nur daß der Grundbegriff des Praktischen überhaupt, der Begriff der Fr e i he i t dabei eine entscheidende Rolle spielt, glaubt Menzer als dem Text und aus einigen Reflexionen dieser Zeit erschließen zu können. Die Beobachtung der Selbsttätigkeit der Vernunft führe zum Begriff der Freiheit und so habe man sich wohl auch die Entstehung der übrigen moralischen Vernunftbegriffe zu denken. Aber .das kel über den moralphilosophischen Abschauungen der Zelt bleibe. Mit dem Standpunkt der Dissertation habe Kant die bedeutsamste Wende vollzogen und in der Vernunft eine sichere Grundlage für die Allgemeingültigkeit der sittlichen Gesetze gefunden. Aber das alt e Pro ble m der se chz i ge r Jahr e , wie dieses Sittengesetz den Wille!l beeinflussen könne, bestehe weiter. Hier habe sich nichts geändert. Im ganzen gesehen lasse sich nicht einmal ein Bild dieser seiner neuen praktischen Philosophie aus der Dissertation gewinnen. Ihre Bedeutung liege eher darin, daß in ihr das für die praktische wie theoretische Philosophie gleichmäßig gegebene Problem zum ersten Mal in aller Schärfe formuliert und die endgültige Lösung zum Teil vorbereitet wurde. Die .Aufgabe folgende.n Jahre aber sei mit den Worten der DissertatlOn ausgedruckt: sol11cite cavendum ne principia sensitivae cognitionis domestica . .. intellectualia afficiant llS • Man sieht, wie sehr es sich nun rächt, daß der Verfasser die Entwicklung der sechziger Jahre zu leicht genommen: die Unmöglichkeit, den allgemeinen Formulierungen der Dissertation einen bestimmten Inhalt zu geben, ist die Folge davon. K ü e nb ur g betrachtet auch hier die Ergebnisse Menzers im wesentlichen als indiskutabel: Hier sei an das erinnert, so bemerkt er abschließend über die 'Träume', was Menzer zusammenfassend über die Schriften der sechziger Jahre sagt, daß sie mehr zu lösende Probleme als fertige Lösungen geben. Diesen Charakter teilten mit ihnen auch die spärlichen Äußerungen zur Ethik, die uns von Kant aus den sie b z i ger Ja h ren erhalten sind. Schon aus diesem Grund werde ihre Besprechung hier angeschlossen, dann aber 115) Entwicklungsgang, K-St III. S.49-51.

271 auch weil sie für das vorliegende Thema (Pflichtbegriff Kants in der vorkritischen Zeit) wenig enthalten und man sie weg e n ihr e r starken Verschiedenheit vom Standpunkt der späteren autonomen Ethik jedenfalls nicht der kritischen Periode zuzählen kann, wie etwa auf dem erkenntnistheoretischen Gebiet die Dissertation von 1770 von manchen bereits als kritische Schrift bezeichnet werde. Im Anschluß an Menzer vermutet Küenburg, daß Kant zu jenen durch den reinen Intellekt erkannten moralischen Grundbegriffen wohl den der Pflicht und Verbindlichkeit gerechnet habe, weiter merkt er als bedeutsam an, daß er in der Anmerkung zu § 9 den Zusammenhang zwischen Sollen und Freiheit ausgedrückt habe 116. Können schon Menzer und Küenburg der Bedeutung der Dissertation nicht gerecht werden, so gilt das a fortiori von dem Deutungsversuch Schilpps. Ja man kann sagen, daß dessen Interpretation, die in der Analyse der Schriften der sechziger Jahre noch zu manchen richtigen geführt hat, sich hier bei der Dissertation nun wirklich totläuft. Seine Auffassung läßt sich nämlich in die paradoxe These zusammenfassen, daß Kant hier seine eigentlichen moralphilosophischen Ansichten in jenen Texten ausgedrückt, die sich nicht auf die praktische, sondern auf die theoretische Metaphysik beziehen, daß er sich hingegen in den eigentlich die Ethik betreffenden Stellen einer Formulierung bedient habe, die seine wahre Auffassung völlig unkenntlich mache. So sagt e:r von den entscheidenden Sätzen des § 9: Philosophia igitur moralis, quatenus principia diiudicandi prima suppeditat, non cognoscitur nisi per intellecturn purum et pertinet ipsa ad philosophiam puram •. : "When .. Kant speaks of the 'first principles of moral judgement', one can only call attention to the fact, that this phrase cannot express his real meaning. For both from the prize-essay and fr om the Beobachtungen it has become clear that the problem is not one of judgement at all , but one of constructing objectives. Kant's terminology at this point simply betrays language-habits from which the philosopher finds it as difficult to escape as da ordinary.mortals. The same explanation will have to be applied, I think, to Kant's phrase 'moral concepts' in the only other direct reference to moral issues in the Dissertation" (S.101). Es handelt sich bei letzterem um die Stelle des § 7 der H. Sektion: (cognitiones) intellectuales, quales v. g. sunt conceptus morales, non experiundo, sed per ipsum intellectum purum cogniti; m.·a. W. gerade jene Stellen, die den ethischen Standpunkt Kants in der Dissertation am klarsten zum Ausdruck bringen und die den präzisen Grund angeben, warum er die Moralphilosophie zur Metaphysik rechnet und warum er nach den Briefen von 1765 an eine Met a phYSik der Sitten plante, wären nach Schilpp praktisch bedeutungs116) Küenburg, Diss. S.27 f.

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los, und könnten jedenfalls nicht als der genuine Ausdruck seiner damaligen Auffassung betrachtet werden. Dagegen ist nach dem Verfasser folgende Stelle des § 9, in der Kant die kr i ti s ch e Funktion der reinen Verstandesbegriffe hervorhebt, für das Verständnis der Dissertation bedeutsam: Intellectualium (scil. conceptuum) duplex potissimum finis est: prior elencticus. per quem negative prosunt, quando nempe sensitive concepta arcent a noumenis, et, quamquam scientiam non provehant latum unguem, tarnen eandem ab errorum contagio immunem praestant. Schilpp bezieht nämlich diese kritische Funktion auch und vor allem auf die mo r al i s c h e n Intellektualbegriffe: wie die theoretischen Begriffe des reinen Verstandes verhindern, daß sinnliche Vorstellungen (wie rot, hier, dort etc. ) auf noumena angewandt werden, so auch die praktischen, den n au chi h n e n e r k e n n e K a nt den status von noumena zu. Obwohl, m.a. W., moralische Erfahrung getrennt von der der Sinne nicht denkbar sei, könnten sinnliche Begriffe, wie Lust, Wohlfahrt, Glückseligkeit, Vervollkomm nung der menschlichen Beschaffenheit unseren Zwecken nicht moralische Gültigkeit verleihen. So könne man nicht sagen, das Gute bestehe im Vergnügen, weil Lust und Ähnliches sinnliche, gut aber ein intellektualer Begriff sei, wobei Schilpp auf die Fußnote des § 24 verweist: "Nam si praedicatum sit conceptus intellectualis, respectus ad subjectum iudicii, quamvis sensitive cogitatum, denotat semper notam objecto ipsi competentem. At si praedicatum sit conceptus sensitivus, quoniam leges cognitionis sensitivae non sunt conditiones possibilitatis rerum ipsarum. de subiecto iudicii intellectualiter cogitato non valebit adeoque obiective enuntiari non poterit". Aber aus dem ganzen Kontext sowie aus dem Tenor dieser Stellen selbst und nicht zuletzt aus dem Umstand, daß es sich in der ganzen Diskussion um rau m - z e i tl ich e Prädikate (und nicht um Lust, Glückseligkeit etc.) handelt, geht zur Genüge hervor, daß der Philosoph hier ausschließlich das Verhältnis von intellektualen bzw. sinnlichen Subjekts - und Prädikatsbegriffen im t h e 0 r e ti sc h e n Urteil im Auge hat, wie überhaupt die Thematik der ganzen Abhandlung sich auf die theoretische Metaphysik bezieht, während auf die praktischen Grundbegriffe, soweit sie zur reinen Philosophie gehören, nur gelegentlich hingewiesen wird. Was aber den Grund angeht, mit dem der Verfasser seine Übertragung des hier Gesagten auf das Praktische rechtfertigen will, nämlich, daß Kant auch den moralischen Grundbegriffen den Rang von noumena zuerkannt habe und daß deshalb die Unterscheidung zwischen kritischem und dogmatischem Gebrauch sinngemäß ebenfalls auf sie anzuwenden sei, so ist fürs erste zu betonen, daß er sie zwar stets als conceptus intellectuales oder conceptus intellectus puri, aber nicht als noumena bezeichnet, denn noumenon bedeutet nach seinem Sprachgebrauch das 0 bi e c tu intelligibile, also im theo-

m

retischen Bereich die Wirklichkeit an sich, im praktischen den objektiv notwendigen Zweck des Wollens, der aber im Unterschied zum Theoretischen hier von den praktischen Intellektualbegriffen selber bestimmt und insofern auch konstituiert wird (cf. Br .. an Herz vom 21.2.72). Auf Grund der Quellen dieses Zeitraums, besonders der Briefe des Philosophen, kann man zwar mit gutem Grund annehmen, daß er auch den praktischen reinen Begriffen neben ihrer dogmatischen Funktion eine kritische zugeschrieben hat, ähnlich wie er später in der Einleitung zur Kr. d. pr. V. die reine (praktische) Vernunft zugleich als die Richtschnur zur Kritik ihres gesamten (praktischen) Gebrauches bezeichnet 1l7• Aber von da führt kein Weg zu dem, was Schilpp aus dem obigen Text und den weiteren die kritische Methode betreffenden aus § 23 und 24 schließen zu können glaubt: daß nämlich bei Kant der kritische Gebrauch der praktischen Intellektualbegriffe im Grund der entscheidende und einzig wichtige sei und außerdem. daß dieser schließlich nur als formale Methode einer prozeßhaften 'intellectuai construction' von Gegenständen der reinen praktischen Vernunft verstanden werden könne. All die Überlegungen, die SchlIpp an die Stellen der Dissertation, die von der kritischen bzw. der methodischen Funktion der reinen Verstandesbegriffe handeln, anknüpft, indem er das vom theoretischen Gebrauch Gesagte ohne jedwedes Bedenken auch auf den praktischen überträgt, gehen von der unbewiesenen und unbeweisbaren, ja leicht widerlegbaren Voraussetzung aus, daß die kritische Funktion in ihrem Verhältnis zur dogmatischen in beiden Bereichen dieselbe, ja daß für Kant in beiden nur die kritische bzw. methodische von wirklicher Bedeutung sei, während die dogmatische auf eine bereits überholte Denkgewohnheit zurückweise, wie daß die aus der kritisehen Funktion resultierende Methode nur als Konstruktion der Objekte der reinen praktischen Vernunft verstanden werden könne. Die erstere Voraussetzung ist schlechterdings falsch, denn es wird sowohl aus den moralphilosophischen Ausführungen der Dissertation. aus den Briefen Kants nach 1770 und vor allem aus einer großen Zahl von Reflexionen der siebziger Jahre. auf die wir in anderem Zusammenhang noch zu sprechen kommen werden, völlig klar, daß der grundlegende Gebrauch der reinen Vernunft im Praktischen der dogmatische, im Theoretischen dagegen der kritische ist, d. h. genau der Standpunkt der Kr. d. pr. V .• womit aber offenbar den ganzen Spekulationen des Verfassers der Boden entzogen wird. Aber ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit dieses positiven Deutungsversuches sehen wir das Grundgebrechen der Interpretation Schilpps darin. daß er wichtige Partien der Abhandlung. die sich seiner Konzeption nicht einordnen, kurzerhand mit der Bemerkung abtut, sie könnten unmöglich die wahre Meinung Kants ausdrücken und seien deshalb lediglich auf alte eingerostete Denk- und Sprech117) KGS IV, 16.

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los, und könnten jedenfalls nicht als der genuine Ausdruck seiner damaligen Auffassung betrachtet werden. Dagegen ist nach dem Verfasser folgende Stelle des § 9, in der Kant die kr i ti s ch e Funktion der reinen Verstandesbegriffe hervorhebt, für das Verständnis der Dissertation bedeutsam: Intellectualium (scil. conceptuum) duplex potissimum finis est: prior elencticus. per quem negative prosunt, quando nempe sensitive concepta arcent a noumenis, et, quamquam scientiam non provehant latum unguem, tarnen eandem ab errorum contagio immunem praestant. Schilpp bezieht nämlich diese kritische Funktion auch und vor allem auf die mo r al i s c h e n Intellektualbegriffe: wie die theoretischen Begriffe des reinen Verstandes verhindern, daß sinnliche Vorstellungen (wie rot, hier, dort etc. ) auf noumena angewandt werden, so auch die praktischen, den n au chi h n e n e r k e n n e K a nt den status von noumena zu. Obwohl, m.a. W., moralische Erfahrung getrennt von der der Sinne nicht denkbar sei, könnten sinnliche Begriffe, wie Lust, Wohlfahrt, Glückseligkeit, Vervollkomm nung der menschlichen Beschaffenheit unseren Zwecken nicht moralische Gültigkeit verleihen. So könne man nicht sagen, das Gute bestehe im Vergnügen, weil Lust und Ähnliches sinnliche, gut aber ein intellektualer Begriff sei, wobei Schilpp auf die Fußnote des § 24 verweist: "Nam si praedicatum sit conceptus intellectualis, respectus ad subjectum iudicii, quamvis sensitive cogitatum, denotat semper notam objecto ipsi competentem. At si praedicatum sit conceptus sensitivus, quoniam leges cognitionis sensitivae non sunt conditiones possibilitatis rerum ipsarum. de subiecto iudicii intellectualiter cogitato non valebit adeoque obiective enuntiari non poterit". Aber aus dem ganzen Kontext sowie aus dem Tenor dieser Stellen selbst und nicht zuletzt aus dem Umstand, daß es sich in der ganzen Diskussion um rau m - z e i tl ich e Prädikate (und nicht um Lust, Glückseligkeit etc.) handelt, geht zur Genüge hervor, daß der Philosoph hier ausschließlich das Verhältnis von intellektualen bzw. sinnlichen Subjekts - und Prädikatsbegriffen im t h e 0 r e ti sc h e n Urteil im Auge hat, wie überhaupt die Thematik der ganzen Abhandlung sich auf die theoretische Metaphysik bezieht, während auf die praktischen Grundbegriffe, soweit sie zur reinen Philosophie gehören, nur gelegentlich hingewiesen wird. Was aber den Grund angeht, mit dem der Verfasser seine Übertragung des hier Gesagten auf das Praktische rechtfertigen will, nämlich, daß Kant auch den moralischen Grundbegriffen den Rang von noumena zuerkannt habe und daß deshalb die Unterscheidung zwischen kritischem und dogmatischem Gebrauch sinngemäß ebenfalls auf sie anzuwenden sei, so ist fürs erste zu betonen, daß er sie zwar stets als conceptus intellectuales oder conceptus intellectus puri, aber nicht als noumena bezeichnet, denn noumenon bedeutet nach seinem Sprachgebrauch das 0 bi e c tu intelligibile, also im theo-

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retischen Bereich die Wirklichkeit an sich, im praktischen den objektiv notwendigen Zweck des Wollens, der aber im Unterschied zum Theoretischen hier von den praktischen Intellektualbegriffen selber bestimmt und insofern auch konstituiert wird (cf. Br .. an Herz vom 21.2.72). Auf Grund der Quellen dieses Zeitraums, besonders der Briefe des Philosophen, kann man zwar mit gutem Grund annehmen, daß er auch den praktischen reinen Begriffen neben ihrer dogmatischen Funktion eine kritische zugeschrieben hat, ähnlich wie er später in der Einleitung zur Kr. d. pr. V. die reine (praktische) Vernunft zugleich als die Richtschnur zur Kritik ihres gesamten (praktischen) Gebrauches bezeichnet 1l7• Aber von da führt kein Weg zu dem, was Schilpp aus dem obigen Text und den weiteren die kritische Methode betreffenden aus § 23 und 24 schließen zu können glaubt: daß nämlich bei Kant der kritische Gebrauch der praktischen Intellektualbegriffe im Grund der entscheidende und einzig wichtige sei und außerdem. daß dieser schließlich nur als formale Methode einer prozeßhaften 'intellectuai construction' von Gegenständen der reinen praktischen Vernunft verstanden werden könne. All die Überlegungen, die SchlIpp an die Stellen der Dissertation, die von der kritischen bzw. der methodischen Funktion der reinen Verstandesbegriffe handeln, anknüpft, indem er das vom theoretischen Gebrauch Gesagte ohne jedwedes Bedenken auch auf den praktischen überträgt, gehen von der unbewiesenen und unbeweisbaren, ja leicht widerlegbaren Voraussetzung aus, daß die kritische Funktion in ihrem Verhältnis zur dogmatischen in beiden Bereichen dieselbe, ja daß für Kant in beiden nur die kritische bzw. methodische von wirklicher Bedeutung sei, während die dogmatische auf eine bereits überholte Denkgewohnheit zurückweise, wie daß die aus der kritisehen Funktion resultierende Methode nur als Konstruktion der Objekte der reinen praktischen Vernunft verstanden werden könne. Die erstere Voraussetzung ist schlechterdings falsch, denn es wird sowohl aus den moralphilosophischen Ausführungen der Dissertation. aus den Briefen Kants nach 1770 und vor allem aus einer großen Zahl von Reflexionen der siebziger Jahre. auf die wir in anderem Zusammenhang noch zu sprechen kommen werden, völlig klar, daß der grundlegende Gebrauch der reinen Vernunft im Praktischen der dogmatische, im Theoretischen dagegen der kritische ist, d. h. genau der Standpunkt der Kr. d. pr. V .• womit aber offenbar den ganzen Spekulationen des Verfassers der Boden entzogen wird. Aber ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit dieses positiven Deutungsversuches sehen wir das Grundgebrechen der Interpretation Schilpps darin. daß er wichtige Partien der Abhandlung. die sich seiner Konzeption nicht einordnen, kurzerhand mit der Bemerkung abtut, sie könnten unmöglich die wahre Meinung Kants ausdrücken und seien deshalb lediglich auf alte eingerostete Denk- und Sprech117) KGS IV, 16.

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gewohnheiten zurückzuführen, denen der Philosoph ebenso unterworfen gewesen sei wie jeder andere Sterbliche. Dieses Vorgehen ist um so bedenklicher, als es sich bei den betreffenden Stellen offenbar um die einzigen der Dissertation handelt, in denen der Philosoph direkt auf die Moralphilosophie eingeht und in denen er seinen Standpunkt, in voller Ubereinstimmung mit den Andeutungen der Briefe dieses Zeitraums, in knappen prägnanten Formulierungen präzisiert. Nicht weniger fragwürdig ist nach unserer Uberzeugung auch die Art und Weise, wie der Verfasser seine positive Deutung aus dem Zusammenhang der ganzen Entwicklung des Philosophen plausibel zu machen versucht. Ohne Zweifel hat er darin recht, daß dieser in den sechziger Jahren sich vor allem mit dem Problem der Met h 0 d e der Metaphysik und der Moralphilosophie befaßte und daß seine Bemühungen um die Methode und das Wesen der Metaphysik gerade von der letzteren her wichtige Anregungen erhielten. Aber die Art, wie er die moralphilosophlsche Entwicklung Kants rekonstruiert, erscheint uns als völlig unhaltbar. Denn sie beruht grundlegend auf einer unrichtigen Interpretation der Pr eis s c h r i ft , näherhin der dort geforderten Une r w eis I ich k e i t des obersten Grundsatzes der Verpflichtung, sowie auf der sehr anfechtbaren Annahme, daß Kant infolge seiner kritischen Grundeinstellung , seiner Offenheit für die Gegebenheiten der Erfahrung und seines Interesses am Fortschritt ein fest umschriebenes, allgemein gültiges Prinzip, sei es rationaler oder intuitiver Natur, als 'dogmatisch' habe ablehnen müssen und daß für ihn die Alternative: entweder rationale oberste Norm oder intuitives oberstes Prinzip (=moralisches Gefühl), das eigentliche Dilemma während der sechziger Jahre gewesen sei; ferner daß er durch die Unmöglichkeit, dieses durch Widerlegung der einen von beiden Alternativen zu überwinden, auf den Gedanken gekommen sein müsse, die wahre Lösung des ethischen Grundproblems könne nur in der Richtung einer k 0 n s t ru k ti v e n Met h 0 devon praktischen Objekten liegen und nicht in der einer Deduktion aus einem angeblichen obersten praktischen Prinzip118. Nicht besser steht es mit dem Versuch des Verfassers, diesen zunächst nur konstruktiv gewonnenen Entwicklungsgang des' Philosophen auch dokumentarisch zu stützen. Hier sind es vor allem die Ausführungen der Be 0 b ach tun gen über die Rolle und Funktion der hilfe leistenden moralischen Antriebe, wie Mitleid, Gefälligkeit, Ehrgefühl, Schamgefühl und ähnliche, die ihm als Beweis dienen sollen. Dabei geht er von der Voraussetzung aus, daß die dortigen Ausführungen ohne die eben angedeutete Lösung des ethischen Grundproblems (im Sinne einer konstruktiven Methode) 'incongruous and confusing' seien, daß als bIo ß hilfe leistende Antriebe für die ethische Entscheidung einen Scheinbegriff darstellten, von dem man 118) SchUpp, o. c. S.92 ff.

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sich nicht vorstellen könne, wie er den Philosophen wirklich habe befriedigen können, daß in der dürftigen Behauptung, es sei ein Glück für den Menschen, diese hilfeleistenden Triebe zu besitzen weil sie ihm über die unerreichbaren Forderungen der Vorschriften hinweghälfen, sich die Na iv i t ä t seiner Auffassung von den hilfeleistenden Trieben offenbare. Denn er habe innerlich unbefriedigt sein müssen mit einer solchen Abhängigkeit der Moralität von zufälligen psychologischen Gegebenheiten 119. Wiederum sc h I i eßt SchlIpp, daß es für den Philosophen in dieser Situation nur einen Ausweg geben konnte: nämlich die Lösung des ethischen Problems nicht in obersten Normen oder Regeln zu suchen, sondern in 'a construcitve process temporally extended'. Er habe also nicht eine Regel, weder eine dogmatische noch eine intuitive, sondern eine k 0 n struktive Methode benötigt und deshalb müsse er auch die Lösung notwendig in dieser Richtung gesucht haben. In diesem Sinn lege denn auch Kant 'ohne Zweifel' in der Dissertation den Ton auf die Begriffe des 'Reinen'. 'Formalen', 'Methodologischen'. Zweifellos aber beruht diese ganze Argumentation auf einem MUSverständnis der Darlegungen über die hilfeleistenden moralischen Instinkte in den Beobachtungen bzw. der Funktion überhaupt, die ('liesen nach Kant im moralischen Leben des Menschen zukommt. Die frühe Erkenntnis der großen Bedeutung dieser hilfeleistenden moralischen Instinkte gehört u. E. sogar mit zu den tiefsten Einsichten der Kantischen Ethik überhaupt. Immer wieder wird von einer metaphysikfeindlichen Interpretation die entscheidende Erkenntnis übersehen, daß die Ethik des reinen Willens eigentlich den Standort des gei s t i gen Wes e n s als sol c h e n bezeichnet den der Mensch in seiner Abhängigkeit von den Begierden der Natur natürlicherweise überhaupt nicht rein erreichen kann, so daß seine Moralität immer· not wen d i gunvollkommen, 'unrein' bleiben muß. eben weil in ihm das Übergewicht der Triebe nur durch die Hilfe solcher hilfeleistender moralischer Instinkte wettgemacht werden kann und diese auch weitgehend in die sittliche Motivation selbst eingehen. Diesen Standpunkt hat Kant, wie wir, schon bei der Behandlung der Beobachtungen betont haben, nie aufgegeben: er wirkt weiter in seiner späteren Überzeugung, daß es unter Menschen vielleicht überhaupt keine einzige moralische Handlung gegeben hat und gibt, die aus vollkommen reiner Gesinnung hervorgegangen ist und daß folglich die reine Moralität für den Menschen ein Ideal ist dem er sich nur annähern kann 120. Wenn das Sittengesetz in der das Grundgesetz der Freiheit schlechthin ist und damit das einer Gemeinschaft der freien geistigen Wesen als solcher, dann ist diese Auffassung nur konsequent. Zugleich wird damit klar, daß mit jener positiven Bewertung der hilfeleistenden Triebe keineswegs eine Ab119) Ibid. S.94: 95. 120) KGS IV. 406 f.; V, 84 f.; 122 f.

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gewohnheiten zurückzuführen, denen der Philosoph ebenso unterworfen gewesen sei wie jeder andere Sterbliche. Dieses Vorgehen ist um so bedenklicher, als es sich bei den betreffenden Stellen offenbar um die einzigen der Dissertation handelt, in denen der Philosoph direkt auf die Moralphilosophie eingeht und in denen er seinen Standpunkt, in voller Ubereinstimmung mit den Andeutungen der Briefe dieses Zeitraums, in knappen prägnanten Formulierungen präzisiert. Nicht weniger fragwürdig ist nach unserer Uberzeugung auch die Art und Weise, wie der Verfasser seine positive Deutung aus dem Zusammenhang der ganzen Entwicklung des Philosophen plausibel zu machen versucht. Ohne Zweifel hat er darin recht, daß dieser in den sechziger Jahren sich vor allem mit dem Problem der Met h 0 d e der Metaphysik und der Moralphilosophie befaßte und daß seine Bemühungen um die Methode und das Wesen der Metaphysik gerade von der letzteren her wichtige Anregungen erhielten. Aber die Art, wie er die moralphilosophlsche Entwicklung Kants rekonstruiert, erscheint uns als völlig unhaltbar. Denn sie beruht grundlegend auf einer unrichtigen Interpretation der Pr eis s c h r i ft , näherhin der dort geforderten Une r w eis I ich k e i t des obersten Grundsatzes der Verpflichtung, sowie auf der sehr anfechtbaren Annahme, daß Kant infolge seiner kritischen Grundeinstellung , seiner Offenheit für die Gegebenheiten der Erfahrung und seines Interesses am Fortschritt ein fest umschriebenes, allgemein gültiges Prinzip, sei es rationaler oder intuitiver Natur, als 'dogmatisch' habe ablehnen müssen und daß für ihn die Alternative: entweder rationale oberste Norm oder intuitives oberstes Prinzip (=moralisches Gefühl), das eigentliche Dilemma während der sechziger Jahre gewesen sei; ferner daß er durch die Unmöglichkeit, dieses durch Widerlegung der einen von beiden Alternativen zu überwinden, auf den Gedanken gekommen sein müsse, die wahre Lösung des ethischen Grundproblems könne nur in der Richtung einer k 0 n s t ru k ti v e n Met h 0 devon praktischen Objekten liegen und nicht in der einer Deduktion aus einem angeblichen obersten praktischen Prinzip118. Nicht besser steht es mit dem Versuch des Verfassers, diesen zunächst nur konstruktiv gewonnenen Entwicklungsgang des' Philosophen auch dokumentarisch zu stützen. Hier sind es vor allem die Ausführungen der Be 0 b ach tun gen über die Rolle und Funktion der hilfe leistenden moralischen Antriebe, wie Mitleid, Gefälligkeit, Ehrgefühl, Schamgefühl und ähnliche, die ihm als Beweis dienen sollen. Dabei geht er von der Voraussetzung aus, daß die dortigen Ausführungen ohne die eben angedeutete Lösung des ethischen Grundproblems (im Sinne einer konstruktiven Methode) 'incongruous and confusing' seien, daß als bIo ß hilfe leistende Antriebe für die ethische Entscheidung einen Scheinbegriff darstellten, von dem man 118) SchUpp, o. c. S.92 ff.

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sich nicht vorstellen könne, wie er den Philosophen wirklich habe befriedigen können, daß in der dürftigen Behauptung, es sei ein Glück für den Menschen, diese hilfeleistenden Triebe zu besitzen weil sie ihm über die unerreichbaren Forderungen der Vorschriften hinweghälfen, sich die Na iv i t ä t seiner Auffassung von den hilfeleistenden Trieben offenbare. Denn er habe innerlich unbefriedigt sein müssen mit einer solchen Abhängigkeit der Moralität von zufälligen psychologischen Gegebenheiten 119. Wiederum sc h I i eßt SchlIpp, daß es für den Philosophen in dieser Situation nur einen Ausweg geben konnte: nämlich die Lösung des ethischen Problems nicht in obersten Normen oder Regeln zu suchen, sondern in 'a construcitve process temporally extended'. Er habe also nicht eine Regel, weder eine dogmatische noch eine intuitive, sondern eine k 0 n struktive Methode benötigt und deshalb müsse er auch die Lösung notwendig in dieser Richtung gesucht haben. In diesem Sinn lege denn auch Kant 'ohne Zweifel' in der Dissertation den Ton auf die Begriffe des 'Reinen'. 'Formalen', 'Methodologischen'. Zweifellos aber beruht diese ganze Argumentation auf einem MUSverständnis der Darlegungen über die hilfeleistenden moralischen Instinkte in den Beobachtungen bzw. der Funktion überhaupt, die ('liesen nach Kant im moralischen Leben des Menschen zukommt. Die frühe Erkenntnis der großen Bedeutung dieser hilfeleistenden moralischen Instinkte gehört u. E. sogar mit zu den tiefsten Einsichten der Kantischen Ethik überhaupt. Immer wieder wird von einer metaphysikfeindlichen Interpretation die entscheidende Erkenntnis übersehen, daß die Ethik des reinen Willens eigentlich den Standort des gei s t i gen Wes e n s als sol c h e n bezeichnet den der Mensch in seiner Abhängigkeit von den Begierden der Natur natürlicherweise überhaupt nicht rein erreichen kann, so daß seine Moralität immer· not wen d i gunvollkommen, 'unrein' bleiben muß. eben weil in ihm das Übergewicht der Triebe nur durch die Hilfe solcher hilfeleistender moralischer Instinkte wettgemacht werden kann und diese auch weitgehend in die sittliche Motivation selbst eingehen. Diesen Standpunkt hat Kant, wie wir, schon bei der Behandlung der Beobachtungen betont haben, nie aufgegeben: er wirkt weiter in seiner späteren Überzeugung, daß es unter Menschen vielleicht überhaupt keine einzige moralische Handlung gegeben hat und gibt, die aus vollkommen reiner Gesinnung hervorgegangen ist und daß folglich die reine Moralität für den Menschen ein Ideal ist dem er sich nur annähern kann 120. Wenn das Sittengesetz in der das Grundgesetz der Freiheit schlechthin ist und damit das einer Gemeinschaft der freien geistigen Wesen als solcher, dann ist diese Auffassung nur konsequent. Zugleich wird damit klar, daß mit jener positiven Bewertung der hilfeleistenden Triebe keineswegs eine Ab119) Ibid. S.94: 95. 120) KGS IV. 406 f.; V, 84 f.; 122 f.

276 hängigkeit der Moralität als solcher von den zufälligen Gegebe.nhei.ten des psychologischen Charakters gegeben ist. Ihre NotwendIgkeIt ist lediglich das Zeichen der wesentlichen Unvollkommenheit der spezifisch menschlichen Moralität. Wir sind also weit entfernt von einer 'incongruous and confusing discussion of what he calls helpful drives', von einem Scheinbegriff und einer Naivität der Auffassung Kants. Ebenso problematisch ist aber auch, was Schilpp aus der Di ssertation selbst zur Bestätigung seiner Auffassung von der Kantischen Entwi am Rande die kurze, aber vielsagende Notiz an: "necessitas immediata. bonitas immediata". womit er offenbar die sittliche Verpflichtung bzw. die aus der Bestimmung der Willkür durch sie resultierende sittliche Gutheit bezeichnen will. Necessitas und bonitas immediata fungieren dabei ohne allen Zweifel als Gegenbegriffe zur necessitas und bonitas mediata, die dem Handeln oder \Vollen nur im Hinblick auf ein vorausgesetztes Ziel, also nur bedingt zukommen. Was er aber im ersten Satz der Reflexion unter dem moraliter necessarium subiective versteht, erhellt aus der nächsten Reflexion 6459 ( s): es ist eine Schlußfolgerung, die sich aus dem praktischen Syllogismus: Optimum per te possibile fiat. Altqui hoc est optimum. Ergo .. deswegen nur subjektiv notwendig ergibt, weil der Untersatz zwar für wahr gehalten wird, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Schließlich definiert er im letzten Satz der Reflexion 6458 die necessitatio oder Nötigung im allgemeinen als mutatio ln se contingentis in necessarium. Eine wichtige Ergänzung zu dem in R 6458 Gesagten enthält die ebenfalls der Phase s zugehörige Reflexion 6463 (neben §§ 14-16, die lediglich die Gedanken des vorausgehenden § 12 in verschiedener

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Form wiederholen): "1. Obligatio est necessitatio, ergo oppositum actionis potest esse subiective moraliter possibile. 2. Necessitatio obiectiva est vel categorica vel conditionalis. 3. Obligatio est vel primitiva vel derivativa; prior non habet causas impulsivas. " Der erste Satz betont, daß die obligatio nicht eine Notwendigkeit der Handlung schlechthin bedeutet, sondern wesentlich eine N ö ti gun g (= Zwang) zur Handlung, und zwar, wie aus dem Satz 2 hervorgeht, eine necessitatio 0 bi e c ti va; eine bloß objektive, d. h. durch (allgemein gültige) Beweggründe der Vernunft auferlegte l'Jötigung macht aber als solche die Handlung noch nicht sub je kt iv notwendig, so daß ihr Gegenteil psychologisch möglich bleibt. Kant bezeichnet dieses allerdings hier als subiective mo r al i te r possibile, sei es daß er dabei die moralische Möglichkeit im weiteren psychologischen Sinn meint, von der Baumgarten ausgeht, sei es daß er die subjektive moralische Möglichkeit auf Grund eines Irrtums im Untersatz des praktischen Syllogismus im Sinne von R 6459 im Auge hat. Der Unterschied zu B8umgarten liegt auf der Hand: da dieser die Verpflichtung letztlich auf eine psychologische und damit subjektive Notwendigkeit gründet, bedeutet sie bei ihm wesentlich ne ces s i ta s moralis, nicht aber eo ipso ne ces si tat i 0 oder coactio moralis (cf. § 55). Eine solche ist für ihn nur dann geO"eben 11 • b , quotles cum certa determinatione nostra libera, ad cuius oppositurn multa et magna videntur impellere, tarnen causas impulsivas potiores connectimus (§ 51). Wo aber ein solcher Widerstreit der Antriebsursachen nicht vorhanden ist, wo die Handlung in jeder Hinsicht ein voluntarium ist, d. h. wo zu ihr eine 'paene pura voluptas' bewegt und von ihrem Gegenteil ein 'paene purum taedium' abhält, oder wo für die Handlung ein 'ingens superpondium' der Antriebskräfte spricht (§ 54), da kann in keiner Hinsicht von einer coactio moralis, also sinngemäß auch nicht von einer necessitatio, sondern nur von einer necessitas moralis gesprochen werden. Wir werden auf diesen Unterschied der Auffassungen weiter unten noch ausführlicher zu sprechen kommen. Der zweite Satz dieser Reflexion stellt dann ausdrücklich eine Beziehung her zu den Gedankengängen der Preis schrift und der Bemerkungen' auf die das Begriffspaar "necessitas immediata, bonitas immediata" schon hingewiesen hatte. Die necessitatio objectiva ist entweder kat ego r i s ehe, d. h. eine unbedingte und damit eine unmittelbare, oder eine (durch etwas anderes) be d Ln gt e und damit eine mit1:elbare, denen dann gemäß dem Obigen und den Reflexionen der Bemerkungen eine bonitas immediata bzw. mediata entspricht. Bedeutsam ist aber auch der dritte Satz der Reflexion, in dem betont wird, daß die obligatio pr im i t i va, d. h. nach Kants späteren Erklärungen (cf. R 6506) jene, die sich ursprünglich aus dem Wesen der Freiheit ergibt und also die des natürlichen Sittengesetzes selber bezeichnet, k ein e causas impulsivas hat, sondern

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moraliter impossibile im strengen Sinn das, was durch die nach moralischen Gesetzen bestimmte Freiheit unmöglich ist. so daß das moraliter necessarium im Sinn der obligatio als das verstanden werden muß, dessen Gegenteil nach den moralischen Gesetzen unmöglich ist oder dem moralischen Gesetz objektiv betrachtet widerstreitet. Das ist aber gerade das, was auch die Reflexion 6458 ausdrückt. Kant stimmt also hier anscheinend ganz mit Baumgarten überein. Aber nur s ehe in bar; denn der letztere geht bei seiner grundlegenden Ableitung des moraliter necessarium im § 12 der Initia keineswegs aus von dem moraliter possibile im strengen Sinn, wie er es in der "Metaphysica" definiert hatte, sondern offenbar vom moraliter possibile im weiteren Sinn, das eine rein p s y c hol 0 g i sc h e Kategorie darstellt, womit aber die ganze Ableitung des moraliter necessarium und damit auch der obligatio in einer bloßen Psychologie der freien Entscheidung stecken bleibt. Die Bedeutung der Reflexion 6458 liegt also zunächst darin, daß sie den Autor an die Begriffsbestimmungen seiner eigenen 'Metaphysik' verweist, von denen er bei der Ableitung der obligatio moralis hätte ausgehen müssen: nämlich von dem moraliter possibile und necessarium im e n ger e n Sinn, das ein Verhältnis der Freiheit zum mo r al i s ehe n Ge set z ausdrückt. Damit ist aber nicht mehr und nicht weniger gesagt, als daf3 die sittliche Ordnung und ihre Grundbegriffe von grundsätzlich anderer Art sind als die physischen, zu denen auch die psychologischen gehören, folglich auch das sittlich Gute von anderer als das physische. In der Tat fügt unsere Reflexion dem Satz des § 10: "obligatio tribuitur determinationibus liberis, vel personis. quae necessitantur" > am Rande die kurze, aber vielsagende Notiz an: "necessitas immediata. bonitas immediata". womit er offenbar die sittliche Verpflichtung bzw. die aus der Bestimmung der Willkür durch sie resultierende sittliche Gutheit bezeichnen will. Necessitas und bonitas immediata fungieren dabei ohne allen Zweifel als Gegenbegriffe zur necessitas und bonitas mediata, die dem Handeln oder \Vollen nur im Hinblick auf ein vorausgesetztes Ziel, also nur bedingt zukommen. Was er aber im ersten Satz der Reflexion unter dem moraliter necessarium subiective versteht, erhellt aus der nächsten Reflexion 6459 ( s): es ist eine Schlußfolgerung, die sich aus dem praktischen Syllogismus: Optimum per te possibile fiat. Altqui hoc est optimum. Ergo .. deswegen nur subjektiv notwendig ergibt, weil der Untersatz zwar für wahr gehalten wird, es aber in Wirklichkeit nicht ist. Schließlich definiert er im letzten Satz der Reflexion 6458 die necessitatio oder Nötigung im allgemeinen als mutatio ln se contingentis in necessarium. Eine wichtige Ergänzung zu dem in R 6458 Gesagten enthält die ebenfalls der Phase s zugehörige Reflexion 6463 (neben §§ 14-16, die lediglich die Gedanken des vorausgehenden § 12 in verschiedener

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Form wiederholen): "1. Obligatio est necessitatio, ergo oppositum actionis potest esse subiective moraliter possibile. 2. Necessitatio obiectiva est vel categorica vel conditionalis. 3. Obligatio est vel primitiva vel derivativa; prior non habet causas impulsivas. " Der erste Satz betont, daß die obligatio nicht eine Notwendigkeit der Handlung schlechthin bedeutet, sondern wesentlich eine N ö ti gun g (= Zwang) zur Handlung, und zwar, wie aus dem Satz 2 hervorgeht, eine necessitatio 0 bi e c ti va; eine bloß objektive, d. h. durch (allgemein gültige) Beweggründe der Vernunft auferlegte l'Jötigung macht aber als solche die Handlung noch nicht sub je kt iv notwendig, so daß ihr Gegenteil psychologisch möglich bleibt. Kant bezeichnet dieses allerdings hier als subiective mo r al i te r possibile, sei es daß er dabei die moralische Möglichkeit im weiteren psychologischen Sinn meint, von der Baumgarten ausgeht, sei es daß er die subjektive moralische Möglichkeit auf Grund eines Irrtums im Untersatz des praktischen Syllogismus im Sinne von R 6459 im Auge hat. Der Unterschied zu B8umgarten liegt auf der Hand: da dieser die Verpflichtung letztlich auf eine psychologische und damit subjektive Notwendigkeit gründet, bedeutet sie bei ihm wesentlich ne ces s i ta s moralis, nicht aber eo ipso ne ces si tat i 0 oder coactio moralis (cf. § 55). Eine solche ist für ihn nur dann geO"eben 11 • b , quotles cum certa determinatione nostra libera, ad cuius oppositurn multa et magna videntur impellere, tarnen causas impulsivas potiores connectimus (§ 51). Wo aber ein solcher Widerstreit der Antriebsursachen nicht vorhanden ist, wo die Handlung in jeder Hinsicht ein voluntarium ist, d. h. wo zu ihr eine 'paene pura voluptas' bewegt und von ihrem Gegenteil ein 'paene purum taedium' abhält, oder wo für die Handlung ein 'ingens superpondium' der Antriebskräfte spricht (§ 54), da kann in keiner Hinsicht von einer coactio moralis, also sinngemäß auch nicht von einer necessitatio, sondern nur von einer necessitas moralis gesprochen werden. Wir werden auf diesen Unterschied der Auffassungen weiter unten noch ausführlicher zu sprechen kommen. Der zweite Satz dieser Reflexion stellt dann ausdrücklich eine Beziehung her zu den Gedankengängen der Preis schrift und der Bemerkungen' auf die das Begriffspaar "necessitas immediata, bonitas immediata" schon hingewiesen hatte. Die necessitatio objectiva ist entweder kat ego r i s ehe, d. h. eine unbedingte und damit eine unmittelbare, oder eine (durch etwas anderes) be d Ln gt e und damit eine mit1:elbare, denen dann gemäß dem Obigen und den Reflexionen der Bemerkungen eine bonitas immediata bzw. mediata entspricht. Bedeutsam ist aber auch der dritte Satz der Reflexion, in dem betont wird, daß die obligatio pr im i t i va, d. h. nach Kants späteren Erklärungen (cf. R 6506) jene, die sich ursprünglich aus dem Wesen der Freiheit ergibt und also die des natürlichen Sittengesetzes selber bezeichnet, k ein e causas impulsivas hat, sondern

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nur die ab gel e i te te , die auf Grund dieser ersteren aus dem positiven Gesetz eines autoritativen Willens resultiert; denn in diesem Satz wird der ganze Unterschied -zwischen der Auffassung des Phi10sophen von der sittlichen Verpflichtung und der seines Autors offenbar: für diesen besteht deren Wesen in der Verbindung der Handlung mit causis impulsivis potioribus, für jenen beruht die ursprüngliche und grundlegende Verpflichtung des Sittengesetzes überhaupt nicht auf solchen bewegenden Antriebsursachen. Der in der Reflexion 6457 aufgestellten Einteilung der praktischen Philosophie in die der Klugheitslehre und der Verpflichtungslehre und der damit gegebenen Sichtung der spezifischen Eigenart des eigentlich Sittlichen entspricht dann die immer wiederkehrende Unterscheidung zwischen den motiva (objektiv gültigen Beweggrün den der Vernunft) moralia und pragmatica und den bloß subjektiv nötigenden causae impulsivae der Sinnlichkeit (stimuli), von denen nur die ersteren, nämlich die motiva moralia, einen Grund der Verpflichtung abgeben können, während die letzteren überhaupt nicht direkt zur praktischen Philosophie gehören: "Causa motivi moralis (potioris) obligat, motivi pragmatici impellit" (6459, s). "Causas impulsivas actuans subjective necessitantes, non ideo obligat, nec semper objective necessitantes (6462, e ), wobei unter den letzteren entweder die pragmatischen zu verstehen sind oder vielleicht auch die moralia non potiora (= bloße rationes obligandi), von denen in einer der'nächsten Bemerkungen gesagt wird, daß ihnen moralische Motive entgegengesetzt sein können. Ferner: "Motiva actuans pragmatica (auctoramenta vel minas) impellit, moralia obligat" (6465, ?;). "Motiva pragmatica necessitant secundum leges arbitrii privati, moralia: commums. priora faciunt, aliquid mea interesse, posteriora, aliquid ••• " (6467 Rationum obligandi opposita sunt vel moralia vel pragmatiea (6468 S, neben §§ 23, Satz 2). Mit dieser Reflexion wird ausgedrückt, daß den Gründen einer Verpflichtung nicht nur pragmatische Motive entgegengesetzt sein können, sondern auch moralische, nämlich eine 'causa motivi moralis potioris', der sie weichen müssen, wobei er offenbar an das schwächere Gesetz der Gütigkeit (der Liebespflicht) und das stärkere der Schuldigkeit (der Gerechtigkeitspflicht) denkt 7• Allerdings finden sich in den hierher gehörigen Reflexionen der Phase e (1760-64) auch Bemerkungen, die den Vorstellungen und der Ausdrucksweise Baumgartens noch sehr nahe stehen: so vor allem R 6461 ( e ): "actuandae sunt maiores rationes lubitus veri" , wobei zu beachten ist, daß die Phase e die ursprünglichste Schicht der Reflexionen in den Initia darstellt und möglicherweise in die Anfänge der sechziger Jahre zurückreicht. Nur dem Ausdruck nach gehört hierher auch die bereits in anderem Zusammenhang erwähnte R 6462 ( e ), die aber der Sache nach durchaus im Gegensatz zur Baumgartenschen Auffassung steht.

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Die angeführte Reflexion 6467 ( s) ist aber über die grundsätzliche Unterscheidung zwischen moralischen und pragmatischen Motiven hinaus auch deshalb außerordentlich bedeutsam, weil sie erstmals im Bereich dieser Reflexionen das G run d p r i n z i p der mo r a li s c he n Mo ti v e und damit der sittlichen Verpflichtung selber bezeichnet: es sind die leges ar bit r i i co m m uni s im Unterschied zu den leges arbitrii privati, welch letztere als Prinzip der pragmatischen Motive und der pragmatischen 'Verpflichtung' fungieren. Wir haben also in diesen Reflexionen andeutungsweise die ganze Lehre Kants von der moralischen Verpflichtung und ihrem Prinzip in allen ihren wesentlichen und entscheidenden' Momenten, wobei man berücksichtigen muß, daß es sich hierbei um Notizen handelt, die der Philosoph für sich selber machte und bei denen er sich in Fragen, in denen er bereits einen festen Standpunkt gewonnen hatte, mit den knappsten Andeutungen begnügen konnte. Im Anschluß an seine Ableitung der obligatio behandelt Baumgarten in den §§ 13-22 verschiedene die Verbindlichkeit betreffende Fragen, u. a. die des Entstehens und Aufhörens von Verpflichtungen, des verpflichtenden Aktes, der aktiven und passiven Verpflichtung. Für alle diese Fragen ergeben sich aus seinem Begriff der Verbindlichkeit (auf Grund der causa impulsiva potior) einfache schematische Antworten. Von den Voraussetzungen Kants her aber wurden ganz andere Lösungen dieser Probleme notwendig. Da war zunächst die Frage nach dem Ursprung der Verpflichtung. Versteht man oie vom, er s t e n Ursprung überhaupt, so würde Baumgarten im Sinne Wolffsantworten: sie entspringt mit der menschlichen Natur, weil diese selbst mit den freien Handlungen die objektiv stärkeren Antriebsursachen verbindet, nämlich die Motive ihrer wahren Vervollkommnung Uild Glückseligkeit. Kant dagegen sagt in R 6466 ( ? ,,? zu § 22): "Oritur obligatio etiam, cum oritur libertas (facultas vel receptivitas obligandi). Actus quo semet ipsum obligat pater, est generatio. Obligatur erga liberos, non a liberis, obligat, dum obligationi satisfacit". Da die Verpflichtung formal auf den leges arbitrii communis beruht, entspringt sie mit der Freiheit selber, die von Kant bezeichnenderweise als Vermögen, zu verpflichten und Verpflichtung zu empfangen, charakterisiert wird. Mit dem letzteren ist bereits, angedeutet , daß der Mensch nicht nur auf Grund der Gesetze des arbitrium commune zu bestimmten Handlungen und Un, terlassungen im' Hinblick auf sich selbst und auf andere verpflichtet ist, sondern daß er auch durch gewisse freie Handlungen sich selbst oder anderen bestimmte Verpflichtungen auferlegen kann, wie er sogleich am Beispiel des Aktes der Zeugung erklärt, durch den der Vater si c h seI b s t ge gen das Kind verpflichtet. Er wird nicht vom Kinde verpflichtet, das ja noch keinen eigenen Willen hat und deshalb keinen einen anderen verpflichtenden Akt setzen kann. Wenn

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nur die ab gel e i te te , die auf Grund dieser ersteren aus dem positiven Gesetz eines autoritativen Willens resultiert; denn in diesem Satz wird der ganze Unterschied -zwischen der Auffassung des Phi10sophen von der sittlichen Verpflichtung und der seines Autors offenbar: für diesen besteht deren Wesen in der Verbindung der Handlung mit causis impulsivis potioribus, für jenen beruht die ursprüngliche und grundlegende Verpflichtung des Sittengesetzes überhaupt nicht auf solchen bewegenden Antriebsursachen. Der in der Reflexion 6457 aufgestellten Einteilung der praktischen Philosophie in die der Klugheitslehre und der Verpflichtungslehre und der damit gegebenen Sichtung der spezifischen Eigenart des eigentlich Sittlichen entspricht dann die immer wiederkehrende Unterscheidung zwischen den motiva (objektiv gültigen Beweggrün den der Vernunft) moralia und pragmatica und den bloß subjektiv nötigenden causae impulsivae der Sinnlichkeit (stimuli), von denen nur die ersteren, nämlich die motiva moralia, einen Grund der Verpflichtung abgeben können, während die letzteren überhaupt nicht direkt zur praktischen Philosophie gehören: "Causa motivi moralis (potioris) obligat, motivi pragmatici impellit" (6459, s). "Causas impulsivas actuans subjective necessitantes, non ideo obligat, nec semper objective necessitantes (6462, e ), wobei unter den letzteren entweder die pragmatischen zu verstehen sind oder vielleicht auch die moralia non potiora (= bloße rationes obligandi), von denen in einer der'nächsten Bemerkungen gesagt wird, daß ihnen moralische Motive entgegengesetzt sein können. Ferner: "Motiva actuans pragmatica (auctoramenta vel minas) impellit, moralia obligat" (6465, ?;). "Motiva pragmatica necessitant secundum leges arbitrii privati, moralia: commums. priora faciunt, aliquid mea interesse, posteriora, aliquid ••• " (6467 Rationum obligandi opposita sunt vel moralia vel pragmatiea (6468 S, neben §§ 23, Satz 2). Mit dieser Reflexion wird ausgedrückt, daß den Gründen einer Verpflichtung nicht nur pragmatische Motive entgegengesetzt sein können, sondern auch moralische, nämlich eine 'causa motivi moralis potioris', der sie weichen müssen, wobei er offenbar an das schwächere Gesetz der Gütigkeit (der Liebespflicht) und das stärkere der Schuldigkeit (der Gerechtigkeitspflicht) denkt 7• Allerdings finden sich in den hierher gehörigen Reflexionen der Phase e (1760-64) auch Bemerkungen, die den Vorstellungen und der Ausdrucksweise Baumgartens noch sehr nahe stehen: so vor allem R 6461 ( e ): "actuandae sunt maiores rationes lubitus veri" , wobei zu beachten ist, daß die Phase e die ursprünglichste Schicht der Reflexionen in den Initia darstellt und möglicherweise in die Anfänge der sechziger Jahre zurückreicht. Nur dem Ausdruck nach gehört hierher auch die bereits in anderem Zusammenhang erwähnte R 6462 ( e ), die aber der Sache nach durchaus im Gegensatz zur Baumgartenschen Auffassung steht.

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Die angeführte Reflexion 6467 ( s) ist aber über die grundsätzliche Unterscheidung zwischen moralischen und pragmatischen Motiven hinaus auch deshalb außerordentlich bedeutsam, weil sie erstmals im Bereich dieser Reflexionen das G run d p r i n z i p der mo r a li s c he n Mo ti v e und damit der sittlichen Verpflichtung selber bezeichnet: es sind die leges ar bit r i i co m m uni s im Unterschied zu den leges arbitrii privati, welch letztere als Prinzip der pragmatischen Motive und der pragmatischen 'Verpflichtung' fungieren. Wir haben also in diesen Reflexionen andeutungsweise die ganze Lehre Kants von der moralischen Verpflichtung und ihrem Prinzip in allen ihren wesentlichen und entscheidenden' Momenten, wobei man berücksichtigen muß, daß es sich hierbei um Notizen handelt, die der Philosoph für sich selber machte und bei denen er sich in Fragen, in denen er bereits einen festen Standpunkt gewonnen hatte, mit den knappsten Andeutungen begnügen konnte. Im Anschluß an seine Ableitung der obligatio behandelt Baumgarten in den §§ 13-22 verschiedene die Verbindlichkeit betreffende Fragen, u. a. die des Entstehens und Aufhörens von Verpflichtungen, des verpflichtenden Aktes, der aktiven und passiven Verpflichtung. Für alle diese Fragen ergeben sich aus seinem Begriff der Verbindlichkeit (auf Grund der causa impulsiva potior) einfache schematische Antworten. Von den Voraussetzungen Kants her aber wurden ganz andere Lösungen dieser Probleme notwendig. Da war zunächst die Frage nach dem Ursprung der Verpflichtung. Versteht man oie vom, er s t e n Ursprung überhaupt, so würde Baumgarten im Sinne Wolffsantworten: sie entspringt mit der menschlichen Natur, weil diese selbst mit den freien Handlungen die objektiv stärkeren Antriebsursachen verbindet, nämlich die Motive ihrer wahren Vervollkommnung Uild Glückseligkeit. Kant dagegen sagt in R 6466 ( ? ,,? zu § 22): "Oritur obligatio etiam, cum oritur libertas (facultas vel receptivitas obligandi). Actus quo semet ipsum obligat pater, est generatio. Obligatur erga liberos, non a liberis, obligat, dum obligationi satisfacit". Da die Verpflichtung formal auf den leges arbitrii communis beruht, entspringt sie mit der Freiheit selber, die von Kant bezeichnenderweise als Vermögen, zu verpflichten und Verpflichtung zu empfangen, charakterisiert wird. Mit dem letzteren ist bereits, angedeutet , daß der Mensch nicht nur auf Grund der Gesetze des arbitrium commune zu bestimmten Handlungen und Un, terlassungen im' Hinblick auf sich selbst und auf andere verpflichtet ist, sondern daß er auch durch gewisse freie Handlungen sich selbst oder anderen bestimmte Verpflichtungen auferlegen kann, wie er sogleich am Beispiel des Aktes der Zeugung erklärt, durch den der Vater si c h seI b s t ge gen das Kind verpflichtet. Er wird nicht vom Kinde verpflichtet, das ja noch keinen eigenen Willen hat und deshalb keinen einen anderen verpflichtenden Akt setzen kann. Wenn

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aber der Vater dieser seiner Verpflichtung gegen das Kind genügt, verpflichtet er das Kind gegen sich (zur Dankbarkeit), d. h. er stiftet durch sein Handeln eine bestimmte Verpflichtung des Kindes. In diesem besonderen Sinn also ist die Freiheit die facultas vel receptivitas obligandi. In der etwas weiter unten folgenden R 6469 (neben §§ 25-27), die allerdings möglicherweise, wenn auch weniger wahrscheinlich, einer späteren Phase zugehört ( ? 'l? ( K ?», beschreibt er das Wesen des actus obligatorius näher. "Der actus obligatorius besteht bloß in der eingewilligten Zusammenstimmung der freien Handlung des anderen mit dem Dasein des motivi, welches dadurch moralisch necessitiert. Einen actum obligatorium exerziert keiner als durch einen Willen, einem anderen etwas gut zu tun; denn dieses ist ein motivum actionum liberarum secundum regulas communes cum ipsis conjungibile. e. g. ein jeder Mensch will, daß Gutes unter der Condition seiner freien Handlungen dargeboten werde. Die Drohungen können nicht einen actum obligatorium ausmachen. Je mehr Gutes jemand in seiner Gewalt hat, welches nach dem Willen anderer ein Grund'ihrer Handlungen sein kann, des tom ehr actus obligatorios kann einer exercieren. Ja, je mehr jemand guten Willen hat • .• Der Arme kann wenig actus obligatorios exercieren. (Der Wille eines anderen, sofern er einstimmig mit dem Willen des anderen ist, obligiert). Wer keinen actum obligatorium exerciert, der obligiert nicht. Das Elend des Armen obligiert nicht, sondern das Pactum. Ich kann obligiert sein gegen einen anderen, ohne von ihm obligiert zu sein. obligatus ab aliquo est in relatione passiva (moraliter) erga obligantem, et obligans exercet actum obligatorium, qui semper est relatio arbitrii ad arbitrium". Um diese letztere Art des actus obligatiorius geht es also hier, die in einem anderen eine obligatio passiva gegen den Handelnden hervorruft im Unterschied zu der, für die als Beispiel vorausgehend die gene ratio genannt wurde, durch die der Vater gegen das Kind, aber nicht vom Kind obligiert wird. Vom ersteren aber gilt, daß er immer ein Verhältnis der freien Willkür (des Handelnden) zur freien Willkür (dessen, zu dessen Gunsten die Handlung geschieht) bedeutet: dieses Verhältnis aber ist das der Übereinstimmung. Worauf aber bezieht sich diese Übereinstimmung der Willkür beider? Darauf, daß die Handlung, die zu Gunsten des anderen erfolgt, für den letzteren ein Grund oder Motiv zu einer Gegenleistung sein soll: der actus obligatorius besteht bloß in der eingewilligten Zusammenstimmung der freien Handlung des anderen mit dem Dasein des motivi, welches dadurch moralisch necessitiert .•. Die Handlung aber, mit· der der Wille des anderen als mit einem Motiv seiner eigenen Gegenhandlung übereinstimmen kann, muß in dem Tun eines Guten oder wenigstens im Willen dazu liegen, nicht z. B. in Drohungen; denn das. letztere wäre kein motivum actionum liberarum secundum regulas

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communes cum ipsis conjungibile, d. h. mit dem die Willkür aUgemein und durchgehend genommen als einem Motiv der freien Handlungen übereinstimmen könnte; denn jeder Mensch will, daß unter der Conditicn seiner freien Handlungen Gutes dargeboten werde, d. h. daß er nur durch Gutes zu freien Handlungen verpflichtet werde. Der Begriff des actus obligatoriusund die darin implizierten der aktiven und passiven Verpflichtung ist also völlig verschieden von dem, den Baumgarten in seinen §§ 15,25 und 26 entwickelt: Obligatio tam activa quam passiva potest definiri per connexionem vel activam vel passivam causarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione, wobei es zur ersteren nach § 25 genügt causas impulsivas datas cum liberis determinationibus datis .. magis connectere, i. e. perfectius ostendere nexum et consequentiam, cur positis his causis impulsivis ponenda sit haec libera determinatio. Wie die Lösung Kants in der Frage des Ursprungs der obligatio sich wesentlich von der Baumgartens unterscheiden mußte, so auch die der Frage nach dem Aufhören der Verpflichtung. Zu § 21, Satz 2: Si causa impulsiva, quae et sicut antea connexa erat cum aliqua libera determinatione, sic non amplius connectitur, interit ••• obligatio, bemerkt Kant (6464, s): "Satisfaciendo obligationi vel interit obligatio ut in debitis vel superstes manet ut in benefactis ". Für Baumgarten ist die Antwort einfach und erfolgt immer nach dem gl"eichen monotonen Schema. Und wenn auch er als Gegenbegriff des tactus obligatorius' den, 'quo fit ad quod obligati eramus' (§ 22) anführt, so bedeutet für ihn diese Erfüllung der Verpflichtung eben nur das Aufhören der causa impulsiva der Handlung. Für Kant dagegen ergab sich von seinen Prinzipien her je nach der Art der Verpflichtung eine verschiedene Antwort: die Sc h u 1 d i g k e i t s -, d. h. die im eigentlichen Sinn passiv durch die andere Willkür auferlegten Pflichten können nur durch die Erfüllung dessen, wozu man verpflichtet ist, aufhören, aber sie hören dadurch auch wirklich und ganz zu bestehen auf. Anders dagegen bei den Pflichten der Gü ti g k e i t; denn das Elend des Armen ist zwar ein Grund, daß ich mich selbst gegen ihn obligieren muß, aber er kann mich nicht durch seine Armut gegen sich verpflichten, d. h. ihm gegenüber zum Schuldner machen. Für diese Art der Verpflichtung, die keine im eigentlichen Sinn passive ist, gilt, daß sie nicht mit der Erfüllung aufhört (weil die Erfüllung kein bestimmtes Maß hat und die Verpflichtung solange bestehen bleibt, als das verpflichtende Motiv besteht). Zu den für Baumgarten grundlegenden Ausführungen der §§ 2937 über die Einteilung der Verpflichtungen in natürliche und positive (obligatio naturalis obiectiva intrinseca - positiva arbitraria formalis extrinseca), in negative und affirmative (ad omittendum - ad comittendum) , sowie über die Art der Moralität der Handlungen und

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aber der Vater dieser seiner Verpflichtung gegen das Kind genügt, verpflichtet er das Kind gegen sich (zur Dankbarkeit), d. h. er stiftet durch sein Handeln eine bestimmte Verpflichtung des Kindes. In diesem besonderen Sinn also ist die Freiheit die facultas vel receptivitas obligandi. In der etwas weiter unten folgenden R 6469 (neben §§ 25-27), die allerdings möglicherweise, wenn auch weniger wahrscheinlich, einer späteren Phase zugehört ( ? 'l? ( K ?», beschreibt er das Wesen des actus obligatorius näher. "Der actus obligatorius besteht bloß in der eingewilligten Zusammenstimmung der freien Handlung des anderen mit dem Dasein des motivi, welches dadurch moralisch necessitiert. Einen actum obligatorium exerziert keiner als durch einen Willen, einem anderen etwas gut zu tun; denn dieses ist ein motivum actionum liberarum secundum regulas communes cum ipsis conjungibile. e. g. ein jeder Mensch will, daß Gutes unter der Condition seiner freien Handlungen dargeboten werde. Die Drohungen können nicht einen actum obligatorium ausmachen. Je mehr Gutes jemand in seiner Gewalt hat, welches nach dem Willen anderer ein Grund'ihrer Handlungen sein kann, des tom ehr actus obligatorios kann einer exercieren. Ja, je mehr jemand guten Willen hat • .• Der Arme kann wenig actus obligatorios exercieren. (Der Wille eines anderen, sofern er einstimmig mit dem Willen des anderen ist, obligiert). Wer keinen actum obligatorium exerciert, der obligiert nicht. Das Elend des Armen obligiert nicht, sondern das Pactum. Ich kann obligiert sein gegen einen anderen, ohne von ihm obligiert zu sein. obligatus ab aliquo est in relatione passiva (moraliter) erga obligantem, et obligans exercet actum obligatorium, qui semper est relatio arbitrii ad arbitrium". Um diese letztere Art des actus obligatiorius geht es also hier, die in einem anderen eine obligatio passiva gegen den Handelnden hervorruft im Unterschied zu der, für die als Beispiel vorausgehend die gene ratio genannt wurde, durch die der Vater gegen das Kind, aber nicht vom Kind obligiert wird. Vom ersteren aber gilt, daß er immer ein Verhältnis der freien Willkür (des Handelnden) zur freien Willkür (dessen, zu dessen Gunsten die Handlung geschieht) bedeutet: dieses Verhältnis aber ist das der Übereinstimmung. Worauf aber bezieht sich diese Übereinstimmung der Willkür beider? Darauf, daß die Handlung, die zu Gunsten des anderen erfolgt, für den letzteren ein Grund oder Motiv zu einer Gegenleistung sein soll: der actus obligatorius besteht bloß in der eingewilligten Zusammenstimmung der freien Handlung des anderen mit dem Dasein des motivi, welches dadurch moralisch necessitiert .•. Die Handlung aber, mit· der der Wille des anderen als mit einem Motiv seiner eigenen Gegenhandlung übereinstimmen kann, muß in dem Tun eines Guten oder wenigstens im Willen dazu liegen, nicht z. B. in Drohungen; denn das. letztere wäre kein motivum actionum liberarum secundum regulas

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communes cum ipsis conjungibile, d. h. mit dem die Willkür aUgemein und durchgehend genommen als einem Motiv der freien Handlungen übereinstimmen könnte; denn jeder Mensch will, daß unter der Conditicn seiner freien Handlungen Gutes dargeboten werde, d. h. daß er nur durch Gutes zu freien Handlungen verpflichtet werde. Der Begriff des actus obligatoriusund die darin implizierten der aktiven und passiven Verpflichtung ist also völlig verschieden von dem, den Baumgarten in seinen §§ 15,25 und 26 entwickelt: Obligatio tam activa quam passiva potest definiri per connexionem vel activam vel passivam causarum impulsivarum potiorum cum libera determinatione, wobei es zur ersteren nach § 25 genügt causas impulsivas datas cum liberis determinationibus datis .. magis connectere, i. e. perfectius ostendere nexum et consequentiam, cur positis his causis impulsivis ponenda sit haec libera determinatio. Wie die Lösung Kants in der Frage des Ursprungs der obligatio sich wesentlich von der Baumgartens unterscheiden mußte, so auch die der Frage nach dem Aufhören der Verpflichtung. Zu § 21, Satz 2: Si causa impulsiva, quae et sicut antea connexa erat cum aliqua libera determinatione, sic non amplius connectitur, interit ••• obligatio, bemerkt Kant (6464, s): "Satisfaciendo obligationi vel interit obligatio ut in debitis vel superstes manet ut in benefactis ". Für Baumgarten ist die Antwort einfach und erfolgt immer nach dem gl"eichen monotonen Schema. Und wenn auch er als Gegenbegriff des tactus obligatorius' den, 'quo fit ad quod obligati eramus' (§ 22) anführt, so bedeutet für ihn diese Erfüllung der Verpflichtung eben nur das Aufhören der causa impulsiva der Handlung. Für Kant dagegen ergab sich von seinen Prinzipien her je nach der Art der Verpflichtung eine verschiedene Antwort: die Sc h u 1 d i g k e i t s -, d. h. die im eigentlichen Sinn passiv durch die andere Willkür auferlegten Pflichten können nur durch die Erfüllung dessen, wozu man verpflichtet ist, aufhören, aber sie hören dadurch auch wirklich und ganz zu bestehen auf. Anders dagegen bei den Pflichten der Gü ti g k e i t; denn das Elend des Armen ist zwar ein Grund, daß ich mich selbst gegen ihn obligieren muß, aber er kann mich nicht durch seine Armut gegen sich verpflichten, d. h. ihm gegenüber zum Schuldner machen. Für diese Art der Verpflichtung, die keine im eigentlichen Sinn passive ist, gilt, daß sie nicht mit der Erfüllung aufhört (weil die Erfüllung kein bestimmtes Maß hat und die Verpflichtung solange bestehen bleibt, als das verpflichtende Motiv besteht). Zu den für Baumgarten grundlegenden Ausführungen der §§ 2937 über die Einteilung der Verpflichtungen in natürliche und positive (obligatio naturalis obiectiva intrinseca - positiva arbitraria formalis extrinseca), in negative und affirmative (ad omittendum - ad comittendum) , sowie über die Art der Moralität der Handlungen und

289 288 ihr Verhältnis zu den Folgen (moralitas obiectiva und subiectiva) und das Zusammenfallen der objektiven mit der subjektiven im Hinblick auf den göttlichen Willen, finden wir bei Kant nur wenige Bemerkungen' die mit einiger Sicherheit dieser frühen Phase. zugerechnet werden können. Aber die se wenigen gehören zu den mhaltlich bedeutsamsten dieses Abschnittes. R 6472, Phase e, bemerkt zur Baumgartenschen Unterscheidung obligatio und positiva (§ 29): "si lex obligatoria est ratlonatum rius, oritur obligatio positiva. motivum, quod ab arbltrlO alterms est depromptum, potest esse ratio obligationis naturalis". das verpflichtende Gesetz oder Gebot seinen Grund in der Wlllkur eines anderen hat, dann liegt eine positive Verpflichtung vor. damit ist nicht gesagt, daß ein aus der Willkür des anderen entsprmgender Beweggrund nur eine positive Verpflichtung begründen könne; wir haben ja bei der Betrachtung des actus obligatorius daß aus solchen von der Willkür des anderen abhängigen Beweggrunden eine naturgesetzliche Verpflichtung resultiert. Während Kant in der Auffassung des Verhältnisses zwischen obligatio naturalis und positiva wenigstens im mit Baumgarten übereinstimmt, ist das nicht mehr der Fall fur das Verhältnis zwischen moralitas obiectiva und subiectiva im Hinblick auf den Willen Gottes (§ 37,38), Zwar gibt er seinem Autor ohne weiteres darin recht daß die objektive Moralität der Handlungen (aus ihrer Natur) notwendig als eine subjektive des göttlichen. Willens zU betrachten ist, weil Gott notwendig die Erfüllung des Slttengesetzes durch den Menschen will. Aber er betont gegenüber Wolffschule mit Nachdruck, daß der göttliche Wille nur dadurch eme verpflichtende Kraft oder Autorität für den menschlichen Willen habe daß er ein ab s 01 ut he ilige r Wille ist. R 6481 ( s) "Dei vonon habet vim obligatoriam, nisi propterea quod proficiscitur ab ente, cui inest perfectio moralis". Für Baumgarten ist die objektive Moralität der Handlungen, die nach ihm in der wese.nhaft.en e Beziehung derselben zur perfectio naturae besteht, elI:subjektive des göttlichen Willens, weil Gott die selner geistigen Geschöpfe und damit auch die Handlungen, dle dia l dieser letzteren sind, wollen muß, und die Frage, warum dleser unsere Vollkommenheit intendierende göttliche Wille verpflichtende Kraft für uns habe, kann er nur damit beantworten, daß durch den göttlichen Willen die causa impulsiva der Natur selbst an Klar,- , heit Deutlichkeit, bewegender Kraft und Würde zunehme (§ 71). Hierher gehören thematisch auch die R 6499 ( S, zu § 71 über . Ath' t ) "Die, ' die Gültigkeit und Erkenntnis des Naturgeset zes 1m els en:. ' potestas obligatoria divina gründet sich aufs Rechte. Wenn er semen Nächsten nicht liebet, den er siehet, wie will er Gott lieben etc. Wenn man Gott vor der Moralität erkennen will, so legt man ihm nicht moralische Vollkommenheiten bei. Daher kann Religion böse

Sitten hervorbringen oder sie gesetzlich indeterminiert lassen' die rohen Völker glauben, daß Gott an die Sitten nicht gebunden sei an sie sind. Sie empfinden ungern den sittlichen Zwang und daß Gott davon frei sei. Nicht alle gute Sittlichkeit ist Frömmigkeit. Eine die vor der Sittlichkeit anfängt, ist ihr oft entgegen. Ferner dle R 6500 ( e? '1 ? ebenfalls zu § 71): "Der Wille Gottes enthält wohl die größe sten motiva obligantia, aber nicht den der Form moralischer Gesetze". Kant entwickelt hier, wenn auch m etwas gewundener Form, eines seiner überzeugendsten Argumente gegen den t h e 010 gis c h e n Mo r alp 0 s i t iv i sm u s • Der erste Satz könnte, an sich betrachtet, bloß als Wiederholung des Gedankens der R 6481 verstanden werden. Aber im Zusammenhang genommen hat er offenbar einen anderen Sinn: nämlich daß unsere Erkenntnis der potestas obligatoria divina sich auf die Erdes Rechten gründet. Denn im folgenden ist von der Möghchkelt, Gott als moralisch heiliges Wesen zu erkennen die Rede: wie sollen wir Gott als heiligen Gott erkennen, wenn wir nicht zuvor das Rechte oder die Moralität erkannt haben? Wenn man Gott der erkennen will (um die Moralität ursprünglich aus semem Wlllen abzuleiten), kann man an Gott nur physische Vollkommenheiten erfassen. Auf diese Weise aber kommt man zu einem Gottesbegriff und einer amoralischen Religiösität, wie Ka.nt ?el den rohen Völkern voraussetzt, die es für einen Vorzug des gotthchen Wesens halten, vom Zwang der moralischen Gesetze befreit zu sein. Von diesem Zusammenhang her ist dann auch der nicht ohne weiteres verständliche zweite Satz (das Bibelzitat) zu interpretieren. Wer seinen Nächsten nicht liebt, d. h. wer die Nächstenliebe nicht als Pflicht an sich erkennt, wie will er erkennen, daß Gott sie will, und ihn so lieben, indem er seinen Willen erfüllt? . Die folgEmde Reflexion bringt dann die let z t e Beg r ü n dun g d:eses Verhältnisses zwischen göttlichem Willen und Sittlichkeit: Sle unterscheidet zwischen dem formalen Grund der absolut verpflichtenden sittlichen Gesetze und dem Willen Gottes als materialem Prinzip der motiva obligantia: der Wille Gottes enthält die stärksten (materialen) Motive der Verpflichtung, aber diese haben ihre verpflichtende Kraft auf Grund des formalen Prinzips des moraliGes.etzes, des Wesensgesetzes der freien Willkür als solcher, ahnhch Wle der menschliche actus obligatorius seine den anderen erhält auf Grund des formalen Prinzips der allgemem gülhgen Übereinstimmung der Willkür. Der Sache nach ?ehört in diesen Zusammenhang auch die R 6513 ( Ö ? K ? zu § 100). mder Kant Stellung nimmt zur Lehre Baumgartens nach der IGe. set zgeb er I so vlel bedeutet wie Urh e be r d er V e' rpfl i ch tun g des Ges:tzes, so daß Gott folglich als Urheber der gesamten Natur und des gesamten Naturrechtes und seiner Verpflichtung notwendlg auch als Ge set z g e b er des ganzen natürlichen Sittenge-

289 288 ihr Verhältnis zu den Folgen (moralitas obiectiva und subiectiva) und das Zusammenfallen der objektiven mit der subjektiven im Hinblick auf den göttlichen Willen, finden wir bei Kant nur wenige Bemerkungen' die mit einiger Sicherheit dieser frühen Phase. zugerechnet werden können. Aber die se wenigen gehören zu den mhaltlich bedeutsamsten dieses Abschnittes. R 6472, Phase e, bemerkt zur Baumgartenschen Unterscheidung obligatio und positiva (§ 29): "si lex obligatoria est ratlonatum rius, oritur obligatio positiva. motivum, quod ab arbltrlO alterms est depromptum, potest esse ratio obligationis naturalis". das verpflichtende Gesetz oder Gebot seinen Grund in der Wlllkur eines anderen hat, dann liegt eine positive Verpflichtung vor. damit ist nicht gesagt, daß ein aus der Willkür des anderen entsprmgender Beweggrund nur eine positive Verpflichtung begründen könne; wir haben ja bei der Betrachtung des actus obligatorius daß aus solchen von der Willkür des anderen abhängigen Beweggrunden eine naturgesetzliche Verpflichtung resultiert. Während Kant in der Auffassung des Verhältnisses zwischen obligatio naturalis und positiva wenigstens im mit Baumgarten übereinstimmt, ist das nicht mehr der Fall fur das Verhältnis zwischen moralitas obiectiva und subiectiva im Hinblick auf den Willen Gottes (§ 37,38), Zwar gibt er seinem Autor ohne weiteres darin recht daß die objektive Moralität der Handlungen (aus ihrer Natur) notwendig als eine subjektive des göttlichen. Willens zU betrachten ist, weil Gott notwendig die Erfüllung des Slttengesetzes durch den Menschen will. Aber er betont gegenüber Wolffschule mit Nachdruck, daß der göttliche Wille nur dadurch eme verpflichtende Kraft oder Autorität für den menschlichen Willen habe daß er ein ab s 01 ut he ilige r Wille ist. R 6481 ( s) "Dei vonon habet vim obligatoriam, nisi propterea quod proficiscitur ab ente, cui inest perfectio moralis". Für Baumgarten ist die objektive Moralität der Handlungen, die nach ihm in der wese.nhaft.en e Beziehung derselben zur perfectio naturae besteht, elI:subjektive des göttlichen Willens, weil Gott die selner geistigen Geschöpfe und damit auch die Handlungen, dle dia l dieser letzteren sind, wollen muß, und die Frage, warum dleser unsere Vollkommenheit intendierende göttliche Wille verpflichtende Kraft für uns habe, kann er nur damit beantworten, daß durch den göttlichen Willen die causa impulsiva der Natur selbst an Klar,- , heit Deutlichkeit, bewegender Kraft und Würde zunehme (§ 71). Hierher gehören thematisch auch die R 6499 ( S, zu § 71 über . Ath' t ) "Die, ' die Gültigkeit und Erkenntnis des Naturgeset zes 1m els en:. ' potestas obligatoria divina gründet sich aufs Rechte. Wenn er semen Nächsten nicht liebet, den er siehet, wie will er Gott lieben etc. Wenn man Gott vor der Moralität erkennen will, so legt man ihm nicht moralische Vollkommenheiten bei. Daher kann Religion böse

Sitten hervorbringen oder sie gesetzlich indeterminiert lassen' die rohen Völker glauben, daß Gott an die Sitten nicht gebunden sei an sie sind. Sie empfinden ungern den sittlichen Zwang und daß Gott davon frei sei. Nicht alle gute Sittlichkeit ist Frömmigkeit. Eine die vor der Sittlichkeit anfängt, ist ihr oft entgegen. Ferner dle R 6500 ( e? '1 ? ebenfalls zu § 71): "Der Wille Gottes enthält wohl die größe sten motiva obligantia, aber nicht den der Form moralischer Gesetze". Kant entwickelt hier, wenn auch m etwas gewundener Form, eines seiner überzeugendsten Argumente gegen den t h e 010 gis c h e n Mo r alp 0 s i t iv i sm u s • Der erste Satz könnte, an sich betrachtet, bloß als Wiederholung des Gedankens der R 6481 verstanden werden. Aber im Zusammenhang genommen hat er offenbar einen anderen Sinn: nämlich daß unsere Erkenntnis der potestas obligatoria divina sich auf die Erdes Rechten gründet. Denn im folgenden ist von der Möghchkelt, Gott als moralisch heiliges Wesen zu erkennen die Rede: wie sollen wir Gott als heiligen Gott erkennen, wenn wir nicht zuvor das Rechte oder die Moralität erkannt haben? Wenn man Gott der erkennen will (um die Moralität ursprünglich aus semem Wlllen abzuleiten), kann man an Gott nur physische Vollkommenheiten erfassen. Auf diese Weise aber kommt man zu einem Gottesbegriff und einer amoralischen Religiösität, wie Ka.nt ?el den rohen Völkern voraussetzt, die es für einen Vorzug des gotthchen Wesens halten, vom Zwang der moralischen Gesetze befreit zu sein. Von diesem Zusammenhang her ist dann auch der nicht ohne weiteres verständliche zweite Satz (das Bibelzitat) zu interpretieren. Wer seinen Nächsten nicht liebt, d. h. wer die Nächstenliebe nicht als Pflicht an sich erkennt, wie will er erkennen, daß Gott sie will, und ihn so lieben, indem er seinen Willen erfüllt? . Die folgEmde Reflexion bringt dann die let z t e Beg r ü n dun g d:eses Verhältnisses zwischen göttlichem Willen und Sittlichkeit: Sle unterscheidet zwischen dem formalen Grund der absolut verpflichtenden sittlichen Gesetze und dem Willen Gottes als materialem Prinzip der motiva obligantia: der Wille Gottes enthält die stärksten (materialen) Motive der Verpflichtung, aber diese haben ihre verpflichtende Kraft auf Grund des formalen Prinzips des moraliGes.etzes, des Wesensgesetzes der freien Willkür als solcher, ahnhch Wle der menschliche actus obligatorius seine den anderen erhält auf Grund des formalen Prinzips der allgemem gülhgen Übereinstimmung der Willkür. Der Sache nach ?ehört in diesen Zusammenhang auch die R 6513 ( Ö ? K ? zu § 100). mder Kant Stellung nimmt zur Lehre Baumgartens nach der IGe. set zgeb er I so vlel bedeutet wie Urh e be r d er V e' rpfl i ch tun g des Ges:tzes, so daß Gott folglich als Urheber der gesamten Natur und des gesamten Naturrechtes und seiner Verpflichtung notwendlg auch als Ge set z g e b er des ganzen natürlichen Sittenge-

290 setzes zu betrachten sei. Kant dagegen riefiniert den leg i s I at o. r wesentlich anders: "Necessitans universaliter secundum legem ahquam hanc legem fert. Edictum. Sancit legem, non creat. nem sed imponit". Ein bloßer Gesetzgeber ist wesenthch nlcht obligationis, sondern ein Instanz, die ein bereits sich bestehendes und verpflichtendes Gesetz, wie es z. B. das Slttengesetz ist durch seinen autoritativen Willen allgemein auferlegt und beDie Kantische Reflexion enthält unmittelbar nur die sätzliche Unterscheidung zwischen legislator und auctor legls bzw. obligationis und geht nicht ausdrücklich auf die vom Baumgartenschen Text her naheliegende Frage ein, ob Gott nun als bloßer Gesetzgeber des 'Naturrechtes' oder auch als auctor seiner tenden Kraft zu gelten habe. Aber ohne Zweifel führt der diese Unterscheidung gerade im Hinblick auf diese Frage em; denn aus den vorausgehend angeführten Reflexionen 6481,. 6499, 6500 geht eindeutig hervor, daß nach ihm der Wille Gottes mcht das Prinzip des Sittengesetzes und seiner verpflichtenden Kraft sem kann. Im Anschluß an seine Bestimmung des Wesens der Moralität der Akte und des Verhältnisses zwischen objektiver und subjektiver Moralität entwickelt Baumgarten nun im § 39 als oberste und allgemeinste Form des sittlichen Imperativs die Formel 'Fac bonum, omitte malum' in ähnlich psychologischer Weise wie er den der Verpflichtung selbst begründet hatte. Kant nimmt dazu m zwel der Phase angehörigen Reflexionen Stellung: R 6483: "Regula: Fac bonam in se actionem, est propositio identica. Omitte malam in se actionem, in praedicato continetur sub principio nis". R 6484: "Cum bonum vel sit Physicum: propter consectana, vel morale: actionis tamquam liberae immediata bonitas, regula illa tamquam vaga non est obligatoria. Nam 1mo: si sit bonum consecta.rium externum, ideo nulla resultat causa impulsiva illud appetendl; 2do: si sit bonum illud internum, causa quidem impulsiva adest, bonitas actionis propterea est mediata adeoque non obligatio. Achonis bonitas locum habet, dummodo intendatur bonum, etiamsi frustretur suo exitu". Der Gedanke von dem tau t 0 log i s c he n Charakter der W olffschen Formel kehrt in den späteren Reflexionen öfters wieder und wird hier das erste Mal ausdrücklich formuliert. Die These. Kants bedeutet, daß der Begriff der actio in se bona bzw. der actio in se mala voll verdeutlicht bereits die Notwendigkeit sie zu tun bzw. zu unterlassen besagt, gemäß der oben angedeuteten Gleichung tas immediata = bonitas immediata. Wenn also das bonum (m der Formel: fac bonum) ausdrücklich als innere Gutheit der Handlung verstanden wird so drückt die Formel zwar wirklich die Verpflich:tung aus, aber sie ist dann rein tautologisch und besagt anderes als daß das unbedingt .Gute das unbedingt Gute und damlt das un-

291 bedingt zu Tuende sei, womit aber in keiner Weise deutlich wird, worin es bestehe, ja ob es überhaupt ein solches und damit einen unbedingten Imperativ gebe. Wird aber diese Bestimmung (der inne ren 0 de r unm i tt e I ba ren Gu th e it) nicht hinzugefügt und die Wolffsche Formel so genommen, wie sie liegt und Baumgarten sie hier entwickelt: fac bonum, omitte. malum, dann ist dieser Begriff und somit auch die Regel u nb e s tim m t und kann deshalb auch nicht eine unbedingte Verpflichtung ausdrücken. Denn dann kann bonum auch das bloß p h Y s i s c h Gute bedeuten, sei es als bonum consectarium externum, aus dem überhaupt nicht notwendig ein Antrieb es zu begehren resultiert. sei es als bonum internum (eine physische Vervollkommnung der menschlichen Natur und der damit gegebene Glückswert) , dann stellt sie zwar für das Handeln eine notwendige causa impulsiva dar, aber die Gutheit der Handlung, die zur Verwirklichung dieses bonum notwendig ist, ist dann nur mediata, ihre Notwendigkeit kann folglich auch keine obUgatio darstellen. Die Gutheit der Handlung selbst - und hier meint er offenbar die eingangs erwähnte immediata boniats actionis - verwirklicht sich schon in der Intention der guten Handlung, auch wenn ihre Verwirklichung vereitelt wird. In § 40 wandelt Baumgarten die obige Formel des allgemeinen 'sittlichen Imperativs, durchaus folgerichtig zu seiner Auffassung vom Wesen der Verpflichtung, ab in die speziellere Form: "(Ergo) bonorum sibi vere oppositorum, ita ut ambo fieri nequeant, committe melius et optimum, omitte minus bona bzw. fac minus mala, dumimpediunt maiora ac ipsa sunt, bonis a potiori accensenda, omitte peiora et pessimum", woraus sich nach ihm die natürliche und vernünftige Verpflichtung zur Abtötung ergibt, die er folgendermaßen definiert: commissio maU peius, non aliter impediendum, ,impedituri, et omissio boni melius, non aliter consequendum, impedituri est abnegatio (§ 41). Hier wird völlig deutlich, daß für Baumgarten in der Tat alle bona bzw. die ihnen entsprechenden causae motivae als grundsätzlich gleichartig nebeneinander rangieren und sich nur graduell voneinander unterscheiden. Kant bemerkt zu dieser Definition der Abtötung bzw. zu den einleitenden Worten derselben ,ebenfalls zu § 36 'subjectiva ') einen sehr wichtigen Gedanken: "Wenn die motiva moralia in arbitrio alieno sein. Eigentlich ist moralitas obiectiva die pura und subjektiva die affeeta". Diese letztere für die Kantische Ethik grundlegende Unterscheidung zwischen der reinen Moralität, die das geistige Wesen als solches betrifft, und der affecta, die für eine bestimmte Art von Subjekten gilt, finden wir allerdings auch bereits in den Bemerkungen zu den Beobachtungen angedeutet (XX, 24,10). Ebenso liegen auch die Bemerkungen Kants zum Kapitel der Initia über die Co a c ti 0 mo r a l i s in ihrer Mehrzahl in Zeitraum: E-A (vor 1764 -1769/70). Wir haben bereits erwähnt, daß Baumgarten die obligatio von der coactio moralis unterschieden wissen will. Wichtiger ist in unserem gegenwärtigen Zusammenhang seine Unterscheidung zwischen der coactio moralis in te rn a (dem moralischen Selbstzwang) und ex te rn a. Durch letztere werden wir von einer and.eren Person moralisch gezwungen, und zwar kann dies auf mehrfache Weise geschehen: entweder illecebris et suasionibus ad actionem blande coactam oder minis et dissuasionibus ad actionem metu coactam und schließlich durch die ex tor si 0 im eigentlichen Sinn. die als Unterart der coactio moralis die Freiheit in keiner Weise aufheben soll. Diese letztere Art der coactio moralis wird nun zum Prinzip der wesentlichsten Einteilung der Pflichten überhaupt gemacht: 0 bl i g a ti 0 ad liberam determinationem aliquam per licitam alteri ho mini extorsionem est ex te rn a (plena, perfecta), reliquae in te rn a e (minus plenae, imperfectae) sunt obI i g at ion es, wobei er diese moralisch mögliche extorsio auch als eine absolute und physische versteht: potest tamen etiam ita obligari, ut alter homo id, ad quod prior tenetur, absolute, physice, moraliter possit ab eodem extorquere (§ 56). Eine Reihe von Fragen stellen sich hier sofort, z. B.: 1) Wie kommt es, daß gerade diese besondere Art des äußeren Zwanges einen so fundamentalen Unter-

292 der Phase zugehörigen Reflexion (6487) sehr kurz: "est obligatio imperfecti". Obwohl nach der textkritischen Anmerkung des Herausgebers über die Endung des imperfecti kein Zweifel sein kann, kann der Ausdruck andererseits kaum anders gedeutet werden als im Sinn der obligatio imperfecta. Daraus wird deutlich, daß der Philosoph bereits zu diesem frühen Zeitpunkt sehr bestimmte Vorstellungen hatte über den Charakter und den Gegenstand der unvollkommenen Pflicht im Unterschied zur vollkommenen Rechtspflicht. Neben den §§ 46-48, in denen Baumgarten als weitere Formulierungen des obersten Pflichtprinzips aufstellt bzw. aus den vorausgehenden ableitet: vive concenienter naturae, quantum potes (§ 46) und Ama optimum, quantum potes (§ 48) finden wir folgende wahrscheinlich sehr frühe Reflexionen Kants (6488, Ö - Tl): "Suche die Vollkommenheit um des Gefühls der Lust an der Handlung halber. Ungewißheit, ohne moralisch Gefühl auszumachen, wo die größeste Vollkommenheit sei, oder bei Handlungen der Dankbarkeit". Wie der Herausgeber bemerkt, handelt es sich hier um Reste einer längeren älteren, teilweise überschriebenen und unleserlichen Reflexion, die aber ihrerseits noch unsicher sind. So wie die Reflexion hier abgedruckt ist, spiegelt sie deutlich den Standpunkt der Preisschrift wider, in der das moralische Gefühl noch als das spezifisehe Vermögen betrachtet wird, das Gute zu erkennen, bzw. die unmittelbare Lust oder das unmittelbare Wohlgefallen an der Handlung als das entscheidende Kriterium der moralischen Gutheit galt, zugleich aber auch die Wolffsche Formel als oberstes Formalprinzip der Verpflichtung anerkannt wurde. Sie dürfte also tatsächlich der Phase Ö (1762-63) angehören. Unter den Reflexionen Kants zu diesem Kapitel gibt es noch eine Anzahl, deren Datierung von den Herausgebern nur innerhalb eines größeren Spielraumes bestimmt werden konnte, aber so, daß dessen terminus ad quem nur wenig über die Phase Tl hinausliegt. Es sind folgende: R 6473 ( Tl? K? zu § 29 über den Unterschied zwischen obligatio naturalis und positiva): "Der allgemeine Grund der moralischen Verknüpfung der freien Willkür mit ihrem Gegenstand ist das Gesetz. Wenn dieses Gesetz selbst willkürlich ist, so heißt es positiv",: R 6474 ( Tl ? K? zu § 29): "Der Grund der Verbindlichkeit zu einer Handlung ist praeceptum: Gebot. Ein allgemeiner Grund der Verbindlichkeit zu einer Art Handlungen ist lex: Gesetz. Wenn der Grund der Moralität der Handlung die Willkür ist, so ists lex positiva". Der wichtige Grundgedanke dieser Bemerkungen ist, daß die Verbindlichkeit der Handlungen und damit auch die notwendige Verbindung der Handlungen mit ihren Objekten auf dem Ge set z als eigentlichem Grund beruht, während bei Baumgarten dieses in der Begründung der obligatio selber gar nicht erscheint, sondern erst im II. Kapitel als ein erd erz w ö I f obligierenden Faktoren (obligantia). Ferner gehört hierher ein Teil der R 6475 ( zu

293 § 31 über die obligatio negativa und affirmativa)' "Omissiones in sen-

su practico sunt commissiones in morali. - Omissionesnon sunt ideo semper defectus tantum morales. Omissio (physice talis)spectari potest ut actio in sensu morali". Während Baumgarten Handlungen als 'realitates', die bösen als 'negationes' definIert (§.32) und zwar folgerichtig zu seiner physisch-psychologischen der sittlichen Ordnung, sind nach Kant gemäß seiner Lehre von den negativen Größen Unt.erlassungen, wenn sie gegen die Forderungen des Pflichtgesetzes erfolgen, in praktischer Hinsicht durchaus als positive Handlungen zu bewerten, z. B. die Unterlassung der Erfüllung einer Gerechtigkeitspflicht. Der erste Satz von R 6478 ( E-CJ zu § 36): "Bonitas est vel moralis vel physica, prior" •• ist insofern nicht so wichtig, als diese grundlegende Unterscheidung auch in der R 6484 vorausgesetzt wird, die einwandfrei den frühen Phasen angehört. Dagegen enthält die hierher gehörige R 6480 ( !;-q> ,ebenfalls zu § 36 'subjectiva ') einen sehr wichtigen Gedanken: "Wenn die motiva moralia in arbitrio alieno sein. Eigentlich ist moralitas obiectiva die pura und subjektiva die affeeta". Diese letztere für die Kantische Ethik grundlegende Unterscheidung zwischen der reinen Moralität, die das geistige Wesen als solches betrifft, und der affecta, die für eine bestimmte Art von Subjekten gilt, finden wir allerdings auch bereits in den Bemerkungen zu den Beobachtungen angedeutet (XX, 24,10). Ebenso liegen auch die Bemerkungen Kants zum Kapitel der Initia über die Co a c ti 0 mo r a l i s in ihrer Mehrzahl in Zeitraum: E-A (vor 1764 -1769/70). Wir haben bereits erwähnt, daß Baumgarten die obligatio von der coactio moralis unterschieden wissen will. Wichtiger ist in unserem gegenwärtigen Zusammenhang seine Unterscheidung zwischen der coactio moralis in te rn a (dem moralischen Selbstzwang) und ex te rn a. Durch letztere werden wir von einer and.eren Person moralisch gezwungen, und zwar kann dies auf mehrfache Weise geschehen: entweder illecebris et suasionibus ad actionem blande coactam oder minis et dissuasionibus ad actionem metu coactam und schließlich durch die ex tor si 0 im eigentlichen Sinn. die als Unterart der coactio moralis die Freiheit in keiner Weise aufheben soll. Diese letztere Art der coactio moralis wird nun zum Prinzip der wesentlichsten Einteilung der Pflichten überhaupt gemacht: 0 bl i g a ti 0 ad liberam determinationem aliquam per licitam alteri ho mini extorsionem est ex te rn a (plena, perfecta), reliquae in te rn a e (minus plenae, imperfectae) sunt obI i g at ion es, wobei er diese moralisch mögliche extorsio auch als eine absolute und physische versteht: potest tamen etiam ita obligari, ut alter homo id, ad quod prior tenetur, absolute, physice, moraliter possit ab eodem extorquere (§ 56). Eine Reihe von Fragen stellen sich hier sofort, z. B.: 1) Wie kommt es, daß gerade diese besondere Art des äußeren Zwanges einen so fundamentalen Unter-

294 schied in den Pflichten begründet, während die übrigen Arten des äußeren Zwanges nur innere und unvollkommene Verpflichtungen zur Folge haben? 2) Wie sollen nur die durch äußere gründeten vollkommene, alle übrigen Pflichten. also auch samtllche gegen sich selbst, unvollkommene sein? .3) Wie mit Art der äußeren Verpflichtung dort, wo es sIch um eme extorslO absoluta und physica handelt, wahre Freiheit zusammen bestehen? 4) Woher kommt dem anderen überhaupt die mo r al i s c h e M ö g lichkeit d.h. die sittliche Erlaubtheit dieser Art der Erzwingung und was bedeutet hier moralische Möglichkeit, da es offenbar nicht jenes 'moraliter possibile' bedeuten kann., von dem Baumgarten in seiner Ableitung der obligatio (§ 12) ausgmg? , Kants Kritik richtet sich zum großen Teil gegen diese anfechtbaren Punkte der Lehre seines Autors. Er unterscheidet zunächst in R 6489 ( S-"I") zu§ 50) zwischen dem physischen Zwang, den er offenbar als mit der Freiheit unvereinbar aus dem praktischen Bereich ausscheidet, und dem pr akt i s c h e n. Diesen unterteilt er wiederum in eine Erzwingung per stimulos (die subjektiv nötigen) und einen objektiv praktischen Zwang per motiva, die wiederum zweifacher Art sein können, entweder moralia oder pragmatica. In der folgenden R 6490 ( e-i\ , ebenfalls zu § 50) er die ::rs:e uneigentliche Art des praktische Zwanges und ihr Verhaltnls zur Freiheit näher: "Nemo cogi potest pathologice zu einer willkürlichen Handlung propter arbitrium liberum. - secundum leges arbitrii bruti (pathologice) quilibet comparative cogitur, i. e. libertas imminuitur. 11 In R 6491 ( , ebenfalls zu § 50) erläutert er den objektiven praktischen pragmatischen Zwang: "Es ders daß ein moralischer Zwang durch Regeln der Klugheit notlg ist. der Antrieb gründet sich auf das Gefühl im gegenwärtigen Zu• " D .h• stand die Klugheit auf das Vergnügen des ganzen Zustandes. auch die objektiven Regeln der Klugheit bestimmen den Willen nicht unmittelbar als subjektive Notwendigkeit zum Handeln. sondern nur als objektive, folglich müssen auch sie den Willen n ö t i gen, zwar deswegen, weil dieser unter dem Einfluß der auf das Vergnugen des Augenblicks gerichteten Antriebe steht, so daß die Willkür, die sich durch die Regeln der Klugheit bestimmt, oft solchen Antrieben wiederstehen muß. Dieser Zwang wird hier moralisch genannt, entweder weil die Klugheitslehre wie bei Crusius zur Moral gerechnet wird oder weil dieser objektive als analogon und Vorstufe der Sittlichkeit betrachtet wIrd, wobeI aber in einer der nächsten Reflexionen (6493, s-i\ ) betont, daß dIe motiva pragmatice cogentia a placentibus .mit den motivis moralibuszusammenstimmen als dIe a dlspllcentlbus. Über den eigentlich mo ra I i s c h e n Zwang im Unterschied zum pragmatischen handeln nun die folgenden ( '- -i\ , zu § § 51,52) "Externe moraliter cogor per mohva lUrlS, mterne per

295 motiva Ethica. Vera coactio moralis est externa secundum motiva iuris. Coactio interna est imperium in semet et subiectiva". Ferner R 6494 ( , zu § 52,53) "Coactio pragmatica vel moralis. necessitatio actionis pragmatice vel moraliter invitae. cogi non potest moraliter , nisi per motiva moralia quatenus potest sensu morali. e. g. Cogo aliquem moraliter , si sub conditione vel Ethica vel iuris e. g. miseriam aliorum alicui sub oculos ponendo vel datam :-evocando, impello". R 6495 ( s-i\ ,neben § 52 Schluß) se IP.sum stricte obligandi possunt esse Ethica, i. e. possum ahquld promIttere, ad quod iure non obligatus sumo Quo minus quis pragmatice potest cogi, quo magis moraliter , hoc est liberior. quo paucioribus rationibus moraliter cogentibus secundum regulas iuris aliquis subiectus: eo magis patet motivis Ethice cogentibus, quibus se ipsum potest cogere". R 6496 (!;-A , neben und in § 56 über die Einteilung der Pflicht in äußere = vollkommene und innere = unv?l1kommene): "coactio moralis (aIterius) semper est licita; coactlO pragmatica non est licita sub conditione a privata utilitate deprompta nec ab utilitate alterius, sed tantum sub conditione morali; conditio haec moralis non potest esse ni si sonsensus voalterius. coactio moralis est vel interna vel externa; posterlOr est motivum; obligatio debit i moraliter cogens est ius". R 6497 ( S ? ( TI ?) K ??, zu § 56 - 57) "In den Regeln des Rechts stimmt di.e Privatwillkür eines jeden, wenn sie durchgängig angenommen wIrd, nur mit sich selbst, in denen der Ethik stimmt die Willkür dem Objekte nach". R 6498 ( !; ? ? vor § 60) "Alle Pflichten sind entweder schuldige (officia debiti) oder verdienstliche Pflichten (ofmeriti) •.Die Relation bei den ersteren ist Schuldigkeit - Recht, (bel den) zweiten Gütigkeit - Bedürfnis. Complexus legum debiti: Jus, meriti: Ethica respectu officiorum erga alios. Vis necessitans prioris est perfecta, quoniam est absoluta. vis necessitans posterioris est imperfecta, quoniam est hypothetica sub conditione praestati officii debiti. sed actionum bonitas moralis in priori casu est negativa, h. e. minimum morale, in posteriori casu est affirmativa plerophoria moralis". ' -Diese Reflexionen handeln im Unterschied zu dem pragmatischen Zwang, dem vorher die Rede war (R 6491), von dem eigentlich mo r alls c h e n, der ausschließlich aus mo r a 1i s c h e n Mo ti _ ve n entspringt. Innerhalb dieses nun sehr eingeschränkten Bereiches akzeptiert Kant die Baumgartensche Einteilung der coactio moralis eine interna und externa, aber so, daß er ihnen eine streng moralIsche Bedeutung bestimmt, indem er die letztere aus den Motiven des Rechtes, die erstere aus den bloß ethischen Motiven ableitet; dabei betont er, daß nur der äußere secundum motiva iuris s mo r a I i s c her Z w a n g im e i gen t I ich e n S i n n, d. h. im Smne eines passiven Gezwungenwerdens bezeichnet werden könne während der innere secundum motiva Ethica eine aktive Herrschaf;

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294 schied in den Pflichten begründet, während die übrigen Arten des äußeren Zwanges nur innere und unvollkommene Verpflichtungen zur Folge haben? 2) Wie sollen nur die durch äußere gründeten vollkommene, alle übrigen Pflichten. also auch samtllche gegen sich selbst, unvollkommene sein? .3) Wie mit Art der äußeren Verpflichtung dort, wo es sIch um eme extorslO absoluta und physica handelt, wahre Freiheit zusammen bestehen? 4) Woher kommt dem anderen überhaupt die mo r al i s c h e M ö g lichkeit d.h. die sittliche Erlaubtheit dieser Art der Erzwingung und was bedeutet hier moralische Möglichkeit, da es offenbar nicht jenes 'moraliter possibile' bedeuten kann., von dem Baumgarten in seiner Ableitung der obligatio (§ 12) ausgmg? , Kants Kritik richtet sich zum großen Teil gegen diese anfechtbaren Punkte der Lehre seines Autors. Er unterscheidet zunächst in R 6489 ( S-"I") zu§ 50) zwischen dem physischen Zwang, den er offenbar als mit der Freiheit unvereinbar aus dem praktischen Bereich ausscheidet, und dem pr akt i s c h e n. Diesen unterteilt er wiederum in eine Erzwingung per stimulos (die subjektiv nötigen) und einen objektiv praktischen Zwang per motiva, die wiederum zweifacher Art sein können, entweder moralia oder pragmatica. In der folgenden R 6490 ( e-i\ , ebenfalls zu § 50) er die ::rs:e uneigentliche Art des praktische Zwanges und ihr Verhaltnls zur Freiheit näher: "Nemo cogi potest pathologice zu einer willkürlichen Handlung propter arbitrium liberum. - secundum leges arbitrii bruti (pathologice) quilibet comparative cogitur, i. e. libertas imminuitur. 11 In R 6491 ( , ebenfalls zu § 50) erläutert er den objektiven praktischen pragmatischen Zwang: "Es ders daß ein moralischer Zwang durch Regeln der Klugheit notlg ist. der Antrieb gründet sich auf das Gefühl im gegenwärtigen Zu• " D .h• stand die Klugheit auf das Vergnügen des ganzen Zustandes. auch die objektiven Regeln der Klugheit bestimmen den Willen nicht unmittelbar als subjektive Notwendigkeit zum Handeln. sondern nur als objektive, folglich müssen auch sie den Willen n ö t i gen, zwar deswegen, weil dieser unter dem Einfluß der auf das Vergnugen des Augenblicks gerichteten Antriebe steht, so daß die Willkür, die sich durch die Regeln der Klugheit bestimmt, oft solchen Antrieben wiederstehen muß. Dieser Zwang wird hier moralisch genannt, entweder weil die Klugheitslehre wie bei Crusius zur Moral gerechnet wird oder weil dieser objektive als analogon und Vorstufe der Sittlichkeit betrachtet wIrd, wobeI aber in einer der nächsten Reflexionen (6493, s-i\ ) betont, daß dIe motiva pragmatice cogentia a placentibus .mit den motivis moralibuszusammenstimmen als dIe a dlspllcentlbus. Über den eigentlich mo ra I i s c h e n Zwang im Unterschied zum pragmatischen handeln nun die folgenden ( '- -i\ , zu § § 51,52) "Externe moraliter cogor per mohva lUrlS, mterne per

295 motiva Ethica. Vera coactio moralis est externa secundum motiva iuris. Coactio interna est imperium in semet et subiectiva". Ferner R 6494 ( , zu § 52,53) "Coactio pragmatica vel moralis. necessitatio actionis pragmatice vel moraliter invitae. cogi non potest moraliter , nisi per motiva moralia quatenus potest sensu morali. e. g. Cogo aliquem moraliter , si sub conditione vel Ethica vel iuris e. g. miseriam aliorum alicui sub oculos ponendo vel datam :-evocando, impello". R 6495 ( s-i\ ,neben § 52 Schluß) se IP.sum stricte obligandi possunt esse Ethica, i. e. possum ahquld promIttere, ad quod iure non obligatus sumo Quo minus quis pragmatice potest cogi, quo magis moraliter , hoc est liberior. quo paucioribus rationibus moraliter cogentibus secundum regulas iuris aliquis subiectus: eo magis patet motivis Ethice cogentibus, quibus se ipsum potest cogere". R 6496 (!;-A , neben und in § 56 über die Einteilung der Pflicht in äußere = vollkommene und innere = unv?l1kommene): "coactio moralis (aIterius) semper est licita; coactlO pragmatica non est licita sub conditione a privata utilitate deprompta nec ab utilitate alterius, sed tantum sub conditione morali; conditio haec moralis non potest esse ni si sonsensus voalterius. coactio moralis est vel interna vel externa; posterlOr est motivum; obligatio debit i moraliter cogens est ius". R 6497 ( S ? ( TI ?) K ??, zu § 56 - 57) "In den Regeln des Rechts stimmt di.e Privatwillkür eines jeden, wenn sie durchgängig angenommen wIrd, nur mit sich selbst, in denen der Ethik stimmt die Willkür dem Objekte nach". R 6498 ( !; ? ? vor § 60) "Alle Pflichten sind entweder schuldige (officia debiti) oder verdienstliche Pflichten (ofmeriti) •.Die Relation bei den ersteren ist Schuldigkeit - Recht, (bel den) zweiten Gütigkeit - Bedürfnis. Complexus legum debiti: Jus, meriti: Ethica respectu officiorum erga alios. Vis necessitans prioris est perfecta, quoniam est absoluta. vis necessitans posterioris est imperfecta, quoniam est hypothetica sub conditione praestati officii debiti. sed actionum bonitas moralis in priori casu est negativa, h. e. minimum morale, in posteriori casu est affirmativa plerophoria moralis". ' -Diese Reflexionen handeln im Unterschied zu dem pragmatischen Zwang, dem vorher die Rede war (R 6491), von dem eigentlich mo r alls c h e n, der ausschließlich aus mo r a 1i s c h e n Mo ti _ ve n entspringt. Innerhalb dieses nun sehr eingeschränkten Bereiches akzeptiert Kant die Baumgartensche Einteilung der coactio moralis eine interna und externa, aber so, daß er ihnen eine streng moralIsche Bedeutung bestimmt, indem er die letztere aus den Motiven des Rechtes, die erstere aus den bloß ethischen Motiven ableitet; dabei betont er, daß nur der äußere secundum motiva iuris s mo r a I i s c her Z w a n g im e i gen t I ich e n S i n n, d. h. im Smne eines passiven Gezwungenwerdens bezeichnet werden könne während der innere secundum motiva Ethica eine aktive Herrschaf;

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296 297 des Subjektes über sich selbst bedeute. Der passive moralische Zwang aber besteht, wie wir schon bei Erkläru.ng d,,:s obligatorius gesehen haben, darin, daß Wlr durch dle Wlllkur :lnes anderen auf Grund unserer Übereinstimmung mit ihr gegen dlesen verpflichtet sind und von ihm m 0 r a li s c h zur Leis:ung der gezwungen werden können. Kant faßt aber nicht nur dle als den moralischen Zwang im eigentlichen Sinn, sondern begrundet zugleich auch den moralischen er beruht auf dem allgemeinsten Gesetz der frelen Wlllkür uberhaupt, daß nämlich die Privatwillkür eines .durchgängig (d. h. im Verhältnis zu jeder anderen) genommen mlt slch selbst zusammenstimmen müsse (R 6497). Von der extorsio im Sinne einer sischen Erzwingung ist bei diesem moralischen Zwang noch lllcht die Rede; sie ist etwas, was sich erst aus ihm ergibt, bzw. durch ihn moralisch möglich wird: es ist jene coactio p:ragmatica alterius von der R 6496 spricht und die eine Erzwmgung durch Beder Glückseligkeit d. h. der Beraubung von Glückseligkeitswerten bedeutet •• Dieser Zwang ist niemals erlaubt aus dem bloßen Motiv des Nutzens, sei es des Zwingenden oder auch des zu Zwingenden, sondern einzig und allein unter einer Bedingung. die nur in dem bestehen kann, des zu Zwingenden selbst begründet wurde. namhch m der Ubereinstimmung seiner Willkür mit der des anderen hins.ichtlich des Motivs seiner Verpflichtung. Damit ist also jene morallsche Befugnis die Schuldigkeitspflicht auch äußerlich zu erzwingen, die morapossibilis extorsio, die bei Baumgarten unerklärt.. in ihrem moralischen Charakter erklärt und zuglelch vom mo r a I i s c h e n Zwang im eigentlichen Sinn unterschleden. So bekommt die Baumgartensche Einteilung in äußere oder Rechtspflichten und innere oder ethische Pflich:en b.estimmten und eindeutig moralischen Sinn: die ersteren smd Jene, dle nach den Gesetzen der allgemeinen Willkür jeder Einzelne sich selbst auferlegen muß. die letzteren jene, die ihm nach eben diesen Gesetzen durch die Willkür eines anderen auferlegt werden. Nach Baumgarten und der Wolffschule sind allein die erzwingbaren Pflichten obligationes plenae et folghch alle übrigen (sowohl gegen sich selbst wie gegen den obligationes minus plenae et imperfectae. Für diese .letzteren 1st es charakteriE'tisch, daß durch sie eine aptitudo moralls Art erworben wird das meritum morale (§ 64). Auch hier schheßt sich Kant (R 6498) 'grundsätzlich dieser Einteilung der Pflichten in officia debiti und meriti an, wobei er die ersteren auf das Recht bzw. die Schuldigkeit, die letzteren aber auf die Gütigkeit und dürfnis bezieht; schon daraus wird hinreichend klar, daß er bel d:eser Einteilung nur die P f I ich t eng e gen die an der e n 1m Auge hat, was noch deutlicher im unmittelbar folgenden zum Aus-

druck kommt, wo er dem Jus als Komplex der Schuldigkeitspflichten, die Ethik als Komplex der verdienstlichen Pflichten gegenüberstellt, aber nur soweit sie unser Verhalten gegen andere betreffen (nicht gegen uns selbst). Hier wird ein sehr wichtiger Unterschied zu Baumgarten angedeutet: während für diesen alle nicht äußerlich erzwingbaren Pflichten unvollkommen und damit officia meriti sind, anerkennt Kant auch vollkommene und strenge und damit nichtverdienstliche Pflichten gegen sich selbst, obwohl sie nicht erzwingbar sind. Das Moment der äußeren Erzwingbarkeit kann also nur die Pflichten gegen die anderen spezifizieren. Kant bestimmt im folgenden auch das Verhältnis näher, das zwischen diesen beiden Arten der Pflichten besteht: die nötigende Kraft der Rechtspflichten ist vollkom m e n und ab s 01 u t , die der verdienstlichen ist u n v 011 kom m e n w eil nur h y pot h e t i s c h , nämlich unter der Bedingung, daß der Schuldigkeitspflicht Genüge getan wurde; d. h. unter den Pflichten gegen den Nächsten haben die Rechtspflichten unbedingt den Vorrang. Wenn aber die verpflichtende Kraft der verdienstlichen in diesem Zusammenhang hypothetisch genannt wird, so bedeutet das nichts anderes als ihren unvollkommenen Verpflichtungscharakter selbst, den der Philosoph in dieser frühen Phase gern mit dem Terminus officia beneplaciti bezeichnete. Dieser hypothetische Charakter steht nicht in Widerspruch zu dem von ihm so nachdrücklich betonten kategorischen aller sittlichen Imperative; denn als Gegenbegriff zum kategorischen bedeutet hyp 0 th eti s che r Imp e ra ti v, daß die durch ihn bestimmte Handlung nicht um ihrer selbst willen gut und notwendig ist, sondern lediglich als Mittel zu einem im Wesen untersittlichen Ziel. Demgegenüber ist. der Gegenstand auch der verdienstlichen Pflichten ein an sich notwendiger Zweck und die Handlung seiner Verwirklichung ist an sich gut und notwendig, wenn auch ihre Erfüllung im Konflikt sfall der der Gerechtigkeitspflicht als der vorrangigen weichenmuß, wodurch sie aber selbst keineswegs als sittliche Forderung aufgehoben wird. Die Betonung des in diesem Sinn hypothetischen Charakters der officia meriti bedeutet so wenig eine Ab wer tun g gegenüber den Gerechtigkeitspflichten , daß ihre Erfüllung allein eine positive moralische Vollkommenheit und damit eine Fülle der moralischen Bonität verleiht, die Erfüllung der Gerechtigkeitspflichten dagegen nur eine negative moralische Gutheit und damit ein Minim"m an Moralität. Innerlich härigt damit zusammen, wie Kant hier das Verhältnis der ethischen und juridischen Pflichten zur Fr e ih e i t kennzeichnet. Während er gegenüber dem pathologischen bzw. pragmatischen8 Zwang, der die Freiheit vermindert, betont, daß der Mensch um so freier sei, je mehr er moralisch gezwungen werden könne (cf. R 6482), unterscheidet er doch innerhalb dieser moralischen Freiheit nochmal: in einem gewissen Sinn bedeutet der pas si v e moralische

296 297 des Subjektes über sich selbst bedeute. Der passive moralische Zwang aber besteht, wie wir schon bei Erkläru.ng d,,:s obligatorius gesehen haben, darin, daß Wlr durch dle Wlllkur :lnes anderen auf Grund unserer Übereinstimmung mit ihr gegen dlesen verpflichtet sind und von ihm m 0 r a li s c h zur Leis:ung der gezwungen werden können. Kant faßt aber nicht nur dle als den moralischen Zwang im eigentlichen Sinn, sondern begrundet zugleich auch den moralischen er beruht auf dem allgemeinsten Gesetz der frelen Wlllkür uberhaupt, daß nämlich die Privatwillkür eines .durchgängig (d. h. im Verhältnis zu jeder anderen) genommen mlt slch selbst zusammenstimmen müsse (R 6497). Von der extorsio im Sinne einer sischen Erzwingung ist bei diesem moralischen Zwang noch lllcht die Rede; sie ist etwas, was sich erst aus ihm ergibt, bzw. durch ihn moralisch möglich wird: es ist jene coactio p:ragmatica alterius von der R 6496 spricht und die eine Erzwmgung durch Beder Glückseligkeit d. h. der Beraubung von Glückseligkeitswerten bedeutet •• Dieser Zwang ist niemals erlaubt aus dem bloßen Motiv des Nutzens, sei es des Zwingenden oder auch des zu Zwingenden, sondern einzig und allein unter einer Bedingung. die nur in dem bestehen kann, des zu Zwingenden selbst begründet wurde. namhch m der Ubereinstimmung seiner Willkür mit der des anderen hins.ichtlich des Motivs seiner Verpflichtung. Damit ist also jene morallsche Befugnis die Schuldigkeitspflicht auch äußerlich zu erzwingen, die morapossibilis extorsio, die bei Baumgarten unerklärt.. in ihrem moralischen Charakter erklärt und zuglelch vom mo r a I i s c h e n Zwang im eigentlichen Sinn unterschleden. So bekommt die Baumgartensche Einteilung in äußere oder Rechtspflichten und innere oder ethische Pflich:en b.estimmten und eindeutig moralischen Sinn: die ersteren smd Jene, dle nach den Gesetzen der allgemeinen Willkür jeder Einzelne sich selbst auferlegen muß. die letzteren jene, die ihm nach eben diesen Gesetzen durch die Willkür eines anderen auferlegt werden. Nach Baumgarten und der Wolffschule sind allein die erzwingbaren Pflichten obligationes plenae et folghch alle übrigen (sowohl gegen sich selbst wie gegen den obligationes minus plenae et imperfectae. Für diese .letzteren 1st es charakteriE'tisch, daß durch sie eine aptitudo moralls Art erworben wird das meritum morale (§ 64). Auch hier schheßt sich Kant (R 6498) 'grundsätzlich dieser Einteilung der Pflichten in officia debiti und meriti an, wobei er die ersteren auf das Recht bzw. die Schuldigkeit, die letzteren aber auf die Gütigkeit und dürfnis bezieht; schon daraus wird hinreichend klar, daß er bel d:eser Einteilung nur die P f I ich t eng e gen die an der e n 1m Auge hat, was noch deutlicher im unmittelbar folgenden zum Aus-

druck kommt, wo er dem Jus als Komplex der Schuldigkeitspflichten, die Ethik als Komplex der verdienstlichen Pflichten gegenüberstellt, aber nur soweit sie unser Verhalten gegen andere betreffen (nicht gegen uns selbst). Hier wird ein sehr wichtiger Unterschied zu Baumgarten angedeutet: während für diesen alle nicht äußerlich erzwingbaren Pflichten unvollkommen und damit officia meriti sind, anerkennt Kant auch vollkommene und strenge und damit nichtverdienstliche Pflichten gegen sich selbst, obwohl sie nicht erzwingbar sind. Das Moment der äußeren Erzwingbarkeit kann also nur die Pflichten gegen die anderen spezifizieren. Kant bestimmt im folgenden auch das Verhältnis näher, das zwischen diesen beiden Arten der Pflichten besteht: die nötigende Kraft der Rechtspflichten ist vollkom m e n und ab s 01 u t , die der verdienstlichen ist u n v 011 kom m e n w eil nur h y pot h e t i s c h , nämlich unter der Bedingung, daß der Schuldigkeitspflicht Genüge getan wurde; d. h. unter den Pflichten gegen den Nächsten haben die Rechtspflichten unbedingt den Vorrang. Wenn aber die verpflichtende Kraft der verdienstlichen in diesem Zusammenhang hypothetisch genannt wird, so bedeutet das nichts anderes als ihren unvollkommenen Verpflichtungscharakter selbst, den der Philosoph in dieser frühen Phase gern mit dem Terminus officia beneplaciti bezeichnete. Dieser hypothetische Charakter steht nicht in Widerspruch zu dem von ihm so nachdrücklich betonten kategorischen aller sittlichen Imperative; denn als Gegenbegriff zum kategorischen bedeutet hyp 0 th eti s che r Imp e ra ti v, daß die durch ihn bestimmte Handlung nicht um ihrer selbst willen gut und notwendig ist, sondern lediglich als Mittel zu einem im Wesen untersittlichen Ziel. Demgegenüber ist. der Gegenstand auch der verdienstlichen Pflichten ein an sich notwendiger Zweck und die Handlung seiner Verwirklichung ist an sich gut und notwendig, wenn auch ihre Erfüllung im Konflikt sfall der der Gerechtigkeitspflicht als der vorrangigen weichenmuß, wodurch sie aber selbst keineswegs als sittliche Forderung aufgehoben wird. Die Betonung des in diesem Sinn hypothetischen Charakters der officia meriti bedeutet so wenig eine Ab wer tun g gegenüber den Gerechtigkeitspflichten , daß ihre Erfüllung allein eine positive moralische Vollkommenheit und damit eine Fülle der moralischen Bonität verleiht, die Erfüllung der Gerechtigkeitspflichten dagegen nur eine negative moralische Gutheit und damit ein Minim"m an Moralität. Innerlich härigt damit zusammen, wie Kant hier das Verhältnis der ethischen und juridischen Pflichten zur Fr e ih e i t kennzeichnet. Während er gegenüber dem pathologischen bzw. pragmatischen8 Zwang, der die Freiheit vermindert, betont, daß der Mensch um so freier sei, je mehr er moralisch gezwungen werden könne (cf. R 6482), unterscheidet er doch innerhalb dieser moralischen Freiheit nochmal: in einem gewissen Sinn bedeutet der pas si v e moralische

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Zwang, wie er in den Rechtspflichten gegeben ist, eine Beschränkung der moralischen Freiheit, nämlich der Freiheit zur moralischen Selbstvervollkommnung , wie sie in der Erfüllung der ethisehen Pflichten liegt: je weniger der Mensch dem moralischen Zwang von Rechtspflichten unterworfen ist, desto mehr kann er sich den bloß ethisch die Willkür bestimmenden Motiven eröffnen und dadurch zu seiner eigentlichen mo r ali s eh e n V 0 llk 0 m m e nh e i t gelangen. Die frühen Reflexionen zum Zweiten Kapitel der Initia, das in 12 Sektionen die 0 b l i g a nt i a d. h. die obligierenden Faktoren behandelt, sind weniger zahlreich und auch inhaltlich weniger bedeutend. Zunächst gehören eindeutig den frühesten Phasen an R 6508 ( e , zu § 85) und R 6512 ( e, zu § 93). Die erstere spricht einen Gedanken aus, der uns schon von den Bemerkungen her bekannt ist: "legis (leges?) iuris naturalis saepe vetant, quod iuris positivi permittunt. - quod est per ius positivum officium beneplaciti, saepe per ius naturae est officium debiti" (Cf.XX, S. 40,1-7). Die letztere bemerkt zu dem § 93, in dem Baumgarten das oberste Rechtsprinzip: li suum cuique tribue" ableitet: "Suum est vel logice vel pragmatice (physice?) vel practice tale; posterius est vel pragmatice vel moraliter tale. prius est utile per arbitrium liberum alicuius modificabile, posterius secundum leges arbitrii communis. res nullius pragmatice -- res alicuius pragmatice non potest esse res nullius moraliter". Das s u u m log i c eta I e dürfte das sein, was von einem Subjekt auf Grund seines Begriffes ausgesagt werden kann. Die übrigen Arten sind aus den Bezeichnungen selbst verständlich: das s u um physice tale (sofern das erste pragmatice sinngemäß durch physice zu ersetzen ist) als das, was zur Physis des Subjektes gehört, das s u u m pr ac ti c eta I e ist ein nützlicher Gegenstand, insofern er durch Freiheit modifiziert und dadurch in Besitz genommenwerdenkann, das suum moraliter tale ist das letztere, insofern es durch die Gesetze des allgemeinen Willens (als Eigentum) sanktioniert wird. Deshalb ist auch das suum pragmatice tale in moralischer Hinsicht keine res nullius, weil das Rechtsgesetz die willkürliche Inbesitznahme, sofern sie den Gesetzen des allgemeinen Willens gemäß ist, rechtlich besiegelt". Unter den Reflexionen Kants zu den Ausführunge der Initia über Belohnungen und Strafen, die möglicher - bzw. wahrscheinlicherweise noch den frühen Phasen zuzurechnen sind. finden wir eine, die sicher der Phase angehört und zugleich inhaltlich sehr bedeutsam ist: R 6521 (zu § 107 über den Begriff und die Arten des meritum): "praemium actionis pragmaticae ante illam promulgatur. actionis moralis potest post illam conferri. actiones moraliter indifferentes non necessitantur nisi pragmatice, actiones pragmatice indifferentes v"!l malae non necessitantur nisi moraliter. Actio moraliter pura

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motivis moralibus non habet admista pragmatica. Sed tales in hominem non cadunt; ideo Deus praemiis gratuitis motivis moralibus complementum dedit ad sufficientiam". Diese Reflexion enthält zunächst gegenüber Baumgarten den grundlegenden Unterschied zwischen dem praemium pragmaticum und dem praemium morale; ersteres muß vor der Ha n d 1 u n g bekannt gemacht werden, und zwar deswegen, weil es, wie im Schlußsatz angedeutet wird und auch aus der Natur dieser Art von Belohnung hervorgeht, Mo ti v der actio pragmatica ist. Da umgekehrt das praemium actionis moralis niemals in das Motiv der Handlung selbst eingehen darf, wenn diese moralische Reinheit haben soll, braucht es auch nicht vor der Handlung dem Handelnden vorgestellt zu werden, sondern es genügt, daß es nach derselben verliehen wird. Der zweite Satz ist unmittelbar aus dem Wortlaut verständlich. Der Schluß der Reflexion enthält die schon in anderem Zusammenhang behandelte grundlegende Lehre Kants, daß die moralisch reine Handlung einer re i n mo r al i sc h e n Motivierung entspringen muß und folglich keine pragmatisehen Beweggründe enthalten darf, daß aber die reine Moralität die Möglichkeiten des Menschen übersteige und Gott deshalb bei ihm die moralischen Motive verstärke dadurch, daß er sie mit praemiis gratuitis verbinde; diese gehen also auch irgendwie in die sittliche Motivierung ein, ohne daß aber das Wie hier näher bestimmt wird. Nachdem in der eben behandelten R 6521 die praemia gratuita Gottes ausdrücklich erwähnt werden, können wir hier auch die vorhergehende R 6519 ( 5? K?, zu § 107 über das Wesen und die Arten des meritum) anführen, die begründet, warum die göttlichen Belohnungen nur unverdient (gratuita) sein können: "Eine Handlung ist ein meritum, wodurch ich mehr tue, als ich verbindlich war; denn wenn ich gerade. nur so viel tue, so war die Handlung schon ohne dem praemio notwendig. Daher kann ich gegen Gott kein meritum, auch nicht einmal pragmaticum haben, weil die praemia bei ihm gratuita sein und ich ohne das schon so zu handeln schuldig bin". D. h. wenn ich nur meine Schuldigkeit tue, habe ich dem andern gegenüber kein Verdienst; da wir aber Gott alle guten Handlungen, auch die pragmatisch guten, schuldig sind, können wir durch sie ihm gegenüber kein Verdienst im eigentlichen Sinn erwerben, so daß alle göttlichen Belohnungen unverdient (gratuita) sind. In dem entsprechenden Abschnitt über die Strafen haben wir keine Reflexionen, die eindeutig der Phase zuzurechnen sind, dagegen eine ganze Anzahl, die wahrscheinlich diesem frühen Zeitraum angehören, vor allem auch deswegen, weil sie inhaltlich der R 6521 parallel sind, insofern auch hier, wiederum im Gegensatz zu Baumgarten, ein wesentlicher Unterschied gemacht wird zwischen den poenae pragmaticae und den poenae morales. R 6524 ( , zu § 115 über poena und demeritum): "Omnes poenae sunt vel morales vel pragmaticae; morales Sl:mt vindicativae, pragma-

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Zwang, wie er in den Rechtspflichten gegeben ist, eine Beschränkung der moralischen Freiheit, nämlich der Freiheit zur moralischen Selbstvervollkommnung , wie sie in der Erfüllung der ethisehen Pflichten liegt: je weniger der Mensch dem moralischen Zwang von Rechtspflichten unterworfen ist, desto mehr kann er sich den bloß ethisch die Willkür bestimmenden Motiven eröffnen und dadurch zu seiner eigentlichen mo r ali s eh e n V 0 llk 0 m m e nh e i t gelangen. Die frühen Reflexionen zum Zweiten Kapitel der Initia, das in 12 Sektionen die 0 b l i g a nt i a d. h. die obligierenden Faktoren behandelt, sind weniger zahlreich und auch inhaltlich weniger bedeutend. Zunächst gehören eindeutig den frühesten Phasen an R 6508 ( e , zu § 85) und R 6512 ( e, zu § 93). Die erstere spricht einen Gedanken aus, der uns schon von den Bemerkungen her bekannt ist: "legis (leges?) iuris naturalis saepe vetant, quod iuris positivi permittunt. - quod est per ius positivum officium beneplaciti, saepe per ius naturae est officium debiti" (Cf.XX, S. 40,1-7). Die letztere bemerkt zu dem § 93, in dem Baumgarten das oberste Rechtsprinzip: li suum cuique tribue" ableitet: "Suum est vel logice vel pragmatice (physice?) vel practice tale; posterius est vel pragmatice vel moraliter tale. prius est utile per arbitrium liberum alicuius modificabile, posterius secundum leges arbitrii communis. res nullius pragmatice -- res alicuius pragmatice non potest esse res nullius moraliter". Das s u u m log i c eta I e dürfte das sein, was von einem Subjekt auf Grund seines Begriffes ausgesagt werden kann. Die übrigen Arten sind aus den Bezeichnungen selbst verständlich: das s u um physice tale (sofern das erste pragmatice sinngemäß durch physice zu ersetzen ist) als das, was zur Physis des Subjektes gehört, das s u u m pr ac ti c eta I e ist ein nützlicher Gegenstand, insofern er durch Freiheit modifiziert und dadurch in Besitz genommenwerdenkann, das suum moraliter tale ist das letztere, insofern es durch die Gesetze des allgemeinen Willens (als Eigentum) sanktioniert wird. Deshalb ist auch das suum pragmatice tale in moralischer Hinsicht keine res nullius, weil das Rechtsgesetz die willkürliche Inbesitznahme, sofern sie den Gesetzen des allgemeinen Willens gemäß ist, rechtlich besiegelt". Unter den Reflexionen Kants zu den Ausführunge der Initia über Belohnungen und Strafen, die möglicher - bzw. wahrscheinlicherweise noch den frühen Phasen zuzurechnen sind. finden wir eine, die sicher der Phase angehört und zugleich inhaltlich sehr bedeutsam ist: R 6521 (zu § 107 über den Begriff und die Arten des meritum): "praemium actionis pragmaticae ante illam promulgatur. actionis moralis potest post illam conferri. actiones moraliter indifferentes non necessitantur nisi pragmatice, actiones pragmatice indifferentes v"!l malae non necessitantur nisi moraliter. Actio moraliter pura

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motivis moralibus non habet admista pragmatica. Sed tales in hominem non cadunt; ideo Deus praemiis gratuitis motivis moralibus complementum dedit ad sufficientiam". Diese Reflexion enthält zunächst gegenüber Baumgarten den grundlegenden Unterschied zwischen dem praemium pragmaticum und dem praemium morale; ersteres muß vor der Ha n d 1 u n g bekannt gemacht werden, und zwar deswegen, weil es, wie im Schlußsatz angedeutet wird und auch aus der Natur dieser Art von Belohnung hervorgeht, Mo ti v der actio pragmatica ist. Da umgekehrt das praemium actionis moralis niemals in das Motiv der Handlung selbst eingehen darf, wenn diese moralische Reinheit haben soll, braucht es auch nicht vor der Handlung dem Handelnden vorgestellt zu werden, sondern es genügt, daß es nach derselben verliehen wird. Der zweite Satz ist unmittelbar aus dem Wortlaut verständlich. Der Schluß der Reflexion enthält die schon in anderem Zusammenhang behandelte grundlegende Lehre Kants, daß die moralisch reine Handlung einer re i n mo r al i sc h e n Motivierung entspringen muß und folglich keine pragmatisehen Beweggründe enthalten darf, daß aber die reine Moralität die Möglichkeiten des Menschen übersteige und Gott deshalb bei ihm die moralischen Motive verstärke dadurch, daß er sie mit praemiis gratuitis verbinde; diese gehen also auch irgendwie in die sittliche Motivierung ein, ohne daß aber das Wie hier näher bestimmt wird. Nachdem in der eben behandelten R 6521 die praemia gratuita Gottes ausdrücklich erwähnt werden, können wir hier auch die vorhergehende R 6519 ( 5? K?, zu § 107 über das Wesen und die Arten des meritum) anführen, die begründet, warum die göttlichen Belohnungen nur unverdient (gratuita) sein können: "Eine Handlung ist ein meritum, wodurch ich mehr tue, als ich verbindlich war; denn wenn ich gerade. nur so viel tue, so war die Handlung schon ohne dem praemio notwendig. Daher kann ich gegen Gott kein meritum, auch nicht einmal pragmaticum haben, weil die praemia bei ihm gratuita sein und ich ohne das schon so zu handeln schuldig bin". D. h. wenn ich nur meine Schuldigkeit tue, habe ich dem andern gegenüber kein Verdienst; da wir aber Gott alle guten Handlungen, auch die pragmatisch guten, schuldig sind, können wir durch sie ihm gegenüber kein Verdienst im eigentlichen Sinn erwerben, so daß alle göttlichen Belohnungen unverdient (gratuita) sind. In dem entsprechenden Abschnitt über die Strafen haben wir keine Reflexionen, die eindeutig der Phase zuzurechnen sind, dagegen eine ganze Anzahl, die wahrscheinlich diesem frühen Zeitraum angehören, vor allem auch deswegen, weil sie inhaltlich der R 6521 parallel sind, insofern auch hier, wiederum im Gegensatz zu Baumgarten, ein wesentlicher Unterschied gemacht wird zwischen den poenae pragmaticae und den poenae morales. R 6524 ( , zu § 115 über poena und demeritum): "Omnes poenae sunt vel morales vel pragmaticae; morales Sl:mt vindicativae, pragma-

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tieae sunt vel correctivae vel exemplares. Poena vindicativa wird zugefügt. indem man entweder das Unrecht überhaupt oder seine eigene erlittene Beleidigung rächt; zu dem letzten gehört Zorn". Eine Ergänzung zu dem hier Gesagten enthält R 6525 ( , zu §§ 116, 117 über die Einteilung der Strafen): "Poenae sunt vel pragmaticae: ne peccetur, vel !norales: quoniam peccatum. e5t. ita et praemia_ praemia pragmatica eum motivis moralibus magis consentiunt quam poenae. quia. quatenus sunt gratuita, augent obligationem (cf. RR 6493,6532). Auch den Ausführungen Bawngartens über die mo ra 1 i s ehe Zur e c h nun g bzw. Zurechenbarkeit hat Kant mehrere wichtige Bemerkungen hinzugefügt, die wahrscheinlich noch der Phase angehören: so R 6538 ( l