Kants Logik der Begriffe: Die Begriffslehre der formalen und transzendentalen Logik Kants 9783110893922, 9783110189568

Taking account of Kant's unpublished mss., the author presents a close textual interpretation of Kant's logic

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Kants Logik der Begriffe: Die Begriffslehre der formalen und transzendentalen Logik Kants
 9783110893922, 9783110189568

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Bernd Prien Kants Logik der Begriffe

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Kants tudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm

150

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Bernd Prien

Kants Logik der Begriffe Die Begriffslehre der formalen und transzendentalen Logik Kants

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 0340-6059 ISBN-13:

978-3-11-018956-8

ISBN-10: 3-11-018956-9

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruytcr G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Rinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Svstemen. Printed in G e r m a n v Rinbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin D r u c k und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2004 im Fach Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal angenommen wurde. Ermöglicht wurde diese Dissertation durch ein Stipendium des von Prof. Burkhard Tuschling geleiteten und von der DFG geförderten Graduiertenkollegs »Collegium Philosophiae Transatlanticum: Subjekt und Person in der Philosophie der Neuzeit«. Die Kolloquien und Tagungen, die im Rahmen dieses Kollegs stattfanden, sowie die Möglichkeit, ein Jahr an der Emory University in Atlanta zu verbringen, waren eine große Anregung und Bereicherung für mich. Mein Dank gilt weiterhin den Professoren Manfred Baum in Wuppertal und Rudolf Makkreel in Atlanta, die als Erst- bzw. Zweitgutachter zahlreiche wertvolle Hinweise gegeben haben. Wichtig für mich waren weiterhin die Sitzungen in Herrn Baums Lesekreis zur »Kritik der reinen Vernunft«. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Läszlö Tengelyi (Wuppertal) und Herrn Prof. Michael Wolff (Bielefeld) für die Bereitschaft, an der Disputation teilzunehmen. Für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe Kantstudien-Ergänzungshefte möchte ich mich bei den Herausgebern Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas Seebohm bedanken. Münster, im Februar 2006

Bernd Prien

Inhaltsverzeichnis 1

Einleitung

2

Die 2.1 2.2 2.3 2.4

3

Die Begriffslehre der formalen Logik 47 3.1 Eingrenzung des Themas der Begriffslehre 51 3.2 Die logischen Handlungen des Verstandes 57 3.2.1 Erkenntnisgrund, Teilvorstellung und Merkmal . 58 3.2.2 Komparation, Reflexion und Abstraktion . . . . 68 3.3 Inhalt und Umfang von Begriffen 75 3.3.1 Vergleich von Begriffen nach dem Inhalt 77 3.3.2 Vergleich von Begriffen nach dem Umfang . . . . 83 3.3.3 Höchste Gattung und niedrigste Art 86

4

Die 4.1 4.2 4.3

5

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung 109 5.1 Apprehension, Reproduktion und Rekognition 110 5.1.1 Die Synthesis der Apprehension 112 5.1.2 Die Synthesis der Reproduktion 114 5.1.3 Die Synthesis der Rekognition 121 5.2 Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption . 126 5.2.1 Der Begriff des denkenden Ichs 127

Struktur der Erkenntnis Erkenntnis im eigentlichen Sinne Die objektive Realität von Begriffen Begriffe und die Funktion unterzuordnen Die Logik überhaupt 2.4.1 Kants Einteilungen der Logik 2.4.2 Aufgabe und Vorgehen der formalen Logik . . . .

Verbindung überhaupt Arten des Mannigfaltigen Die Einheit des Mannigfaltigen Die Handlung der Synthesis

1 7 7 14 24 33 37 43

91 92 98 102

X

Inhaltsverzeichnis 5.2.2 5.2.3

6

Die Anwendung auf das Mannigfaltige 133 Die transzendentale Einheit der Apperzeption . . 142

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien 6.1 Notwendigkeit und objektive Einheit 6.1.1 Die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung 6.1.2 Anschauungen und Begriffe 6.2 Die Entsprechung der Kategorien und Urteilsfunktionen 6.2.1 Die Einheit in Urteilen 6.2.2

Der Anwendungsbereich der Kategorien

151 152 152 161 169 173 181

Literaturverzeichnis

189

Sachregister

197

1

Einleitung

Diese Untersuchung ist der Logik der Begriffe nach Kant gewidmet. Ich möchte zunächst das Thema dieser Arbeit etwas genauer abstecken als es durch den Titel »Kants Logik der Begriffe« möglich ist. In der theoretischen Philosophie Kants spielen zwei Arten von Logik eine wichtige Rolle, nämlich einerseits die formale, andererseits die transzendentale Logik. Grob gesprochen unterscheiden diese beiden Logikarten sich dadurch, dass die eine die Regeln des Denkens gleich welchen Inhalts, die andere aber nur die Regeln des Denkens reinen Inhalts enthält. 1 Mit dem Titel »Kants Logik der Begriffe« sind beide Arten von Logik intendiert. Ich werde also sowohl die Begriffslehre der formalen als auch die der transzendentalen Logik behandeln. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung wird aber im Bereich der formalen Logik liegen. Die transzendentale Logik wird nur im letzten Kapitel behandelt. Meiner Ansicht nach ist die Beschäftigung mit Kants formaler Logik von großer Wichtigkeit für das Verständnis der Kritik der reinen Vernunft (K.d.r.V.). Die formale Logik ist im Vergleich zu der transzendentalen Logik ein recht vernachlässigtes Thema, was sicherlich daran liegt, dass sie in der K.d.r.V. kaum erwähnt wird, während die transzendentale Logik dort das Hauptthema bildet. Aus diesem Umstand darf man allerdings nicht den Schluss ziehen, dass Fragen der formalen Logik für das Verständnis der K.d.r.V. irrelevant wären. Besonders deutlich wird dies in Hinblick auf die Frage nach der Vollständigkeit der Urteilstafel. Dies ist ja auf der einen Seite eine Frage der formalen Logik, genauer gesagt, der Urteilslehre, denn es geht darum, welche Urteilsformen es gibt. Auf der anderen Seite begründet Kant in der K.d.r.V die Behauptung, dass es eine gewisse Liste von Kategorien gibt, damit, dass es eben diese Liste von Urteilsformen gibt. Darüber hinaus hängt eine Reihe weiterer Einteilungen in der K.d.r.V. von den Einteilungen der Urteilstafel ab. Meiner Ansicht nach ist dies ein besonders drastisches Beispiel dafür, dass die formale Logik von Genauer werde ich Kants Einteilungen der Logik in Kapitel 2.4 besprechen.

2

Einleitung

grundlegender Bedeutung für die Argumentation der K.d.r.V. ist. Als weiteres Beispiel kann die Theorie formal gültiger Schlüsse genannt werden, also die Schlusslehre der formalen Logik. Diese findet Anwendung bei der Bestimmung der transzendentalen Ideen und wird dem entsprechend auch kurz in der K.d.r.V. abgehandelt. Dass die formale Logik bei Kant eine so grundlegende Rolle spielt, hat meiner Ansicht nach den Grund, dass die Logik die Wissenschaft von den Regeln des Verstandes, bzw. des Denkens ist (vgl. A 52/B 76). In der formalen Logik wird also gesagt, was man a priori und ganz allgemein über jedes Denken sagen kann. Damit spiegelt sich in der formalen Logik, also in ihrer Begriffslehre, Urteilslehre und Schlusslehre, wider, was eigentlich der diskursive Verstand ist. Dass die formale Logik eng mit der Frage zusammenhängt, was der diskursive Verstand ist, zeigt sich auch daran, dass man nach Kant die formale Logik an die synthetische Einheit der Apperzeption zu heften habe und dass dieses Vermögen der Verstand selbst ist (vgl. Β 134n).2 Da nun Kants Metaphysik und Erkenntnistheorie auf die Leistungen gewisser Erkenntnisvermögen rekurrieren, ist die Beantwortung der Frage, was eigentlich der Verstand ist, sicherlich grundlegend für das Verständnis Kants. Die Betrachtung der formalen Logik kann m.E. einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten. Eine vollständige Behandlung der formalen Logik Kants müsste auf die Begriffslehre, die Urteilslehre und die Schlusslehre eingehen. Diese Untersuchung beschränkt sich auf die Begriffslehre. Sie hofft aber trotzdem, von dieser Warte aus ein gewisses Licht auf die Frage werfen zu können, was der Verstand ist. Insbesondere soll in Kapitel 5.2 Kants Behauptung geklärt werden, dass das Vermögen der synthetischen Einheit der Apperzeption der Verstand selbst ist, bzw. der höchste Punkt, an den man selbst die formale Logik heften muss. Es ist eines der Hauptziele dieser Arbeit zu klären, wie sich die Form der Begriffe (also ihre Allgemeinheit) aus der synthetischen Einheit der Apperzeption ergibt. Damit wäre für den Bereich der Begriffslehre geklärt, inwiefern man die formale Logik an diesen höchsten Punkt zu heften hat. 3 2 3

Diese Behauptungen werde ich in Kapitel 5.2 zu erläutern versuchen. Bezüglich der Urteilslehre liegt mit Klaus Reichs Buch Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel bereits eine Arbeit vor, die versucht, die Liste der Urteilsformen aus dem höchsten Punkt abzuleiten. Reichs Argumentationen und Ergebnisse werden hier natürlich nicht als bekannt oder gar als richtig voraus-

Einleitung

3

Die Betrachtung der formalen Logik ist meiner Ansicht nach also erstens für ein vertieftes Verständnis auch der Metaphysik und Erkenntnistheorie Kants unerlässlich. Zweitens ist die Betrachtung von Kants Logik natürlich für ein über die kantische Philosophie hinausgehendes Interesse für die Grundlagen der Logik wichtig. Zu diesen Grundlagen zählt z.B. die Frage, welche logischen Urteilsformen es gibt. So formuliert Reich die Frage, ob die Quantität eines Urteils zu dessen Inhalt oder zu dessen Form gehört, 4 und ebenso könnte man fragen, warum es nach Kant keine komplexen Urteile gibt, die durch »und« verbunden sind. Diese Fragen sind heute insbesondere deshalb interessant, weil sich die Urteilsformen, die die auf Frege zurückgehende Logik annimmt, stark von denen der kantischen Logik unterscheiden. 5 Im Vergleich mit der Logik Freges stellt sich z.B. die Frage, ob an der Subjektstelle von Urteilen immer ein Begriff stehen muss, wie Kant behauptet. Ein Vergleich der Logik Kants mit der Freges kann in dieser Arbeit allerdings nicht geleistet werden. Ich hoffe aber immerhin insofern zu dieser Auseinandersetzung beitragen zu können, als ich einen Beitrag zum Verständnis der Logik Kants liefere. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt zwar im Bereich der formalen Logik, im letzten Kapitel werde ich jedoch auch auf die Begriffslehre der transzendentalen Logik eingehen. Auch dies geschieht in der Absicht, ein genaueres Bild davon zu erhalten, was nach Kant ein diskursiver Verstand ist. Und zwar werde ich mich hier speziell den reinen VerstandesbegrifFen (im Gegensatz zu den reinen Vernunftbegriffen) zuwenden. Dies sind ja Begriffe, deren Materie durch den Verstand, genauer gesagt durch dessen Urteilsfunktionen, festgelegt ist. Die transzendentale Logik kann also insofern beleuchten, was ein diskursiver Verstand ist, als sie zeigt, warum er schon den Inhalt gewisser reiner Begriffe bestimmt. Dadurch, dass im Titel dieser Arbeit von der Logik der Begriffe die Rede ist, sollen auch gewisse Fragen mit Bezug auf Begriffe ausgeschlossen werden. Z.B. werde ich nicht über die Bildung empirischer

4 5

gesetzt. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass ich in dieser Arbeit in vielen Fragen zu ähnlichen Ergebnissen wie Reich komme. Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, S. 45. Der ursprüngliche Anstoß zu dieser Arbeit ist von Michael Wolffs Diskussion des Verhältnisses zwischen der kantischen und der fregeschen Logik ausgegangen. Vgl. M. Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Siehe hierzu auch meinen Aufsatz Kant und die Auswahl der logischen Konstanten.

4

Einleitung

Begriffe durch die reflektierende Urteilskraft sprechen, da dies nach Kant keine logische Frage ist. Zweitens werde ich mich nicht mit der objektiven Realität der Kategorien beschäftigen, also mit der Frage, ob es den Kategorien korrespondierende sinnliche Anschauungen gibt. Denn die Frage, ob es Anschauungen gibt, die bestimmten Begriffen korrespondieren, kann nicht durch die Logik entschieden werden, die sich nur mit dem Verstand und daher nicht mit Anschauungen beschäftigt. Diese Arbeit beansprucht also nicht, eine vollständige Besprechung von Kants Begriffstheorie zu sein. Diese Untersuchung ist so aufgebaut, dass ich zunächst in einem vorbereitenden Kapitel - im Anschluss an diese Einleitung - erläutere, dass Erkenntnis im eigentlichen Sinne ein Urteil aus objektiv realen Begriffen ist. Ein Begriff ist dann objektiv real, wenn ihm Anschauungen korrespondieren. Zur Erkenntnis tragen daher die beiden Vermögen Sinnlichkeit und Verstand bei. Weiterhin bespreche ich in diesem Kapitel den Begriff der Logik, den Kant als Wissenschaft von den Regeln des Verstandes überhaupt definiert. Die Logik hat also einen Aspekt der Erkenntnis zu ihrem Thema, nämlich die Erkenntnis, insofern sie auf dem Verstand beruht. Ich diskutiere dabei die Unterscheidungen, die Kant innerhalb der Logik trifft. Die wichtigsten Arten der Logik sind die allgemeine reine Logik, die Kant auch formale Logik nennt, und die transzendentale Logik. Im dritten Kapitel wende ich mich der Begriffslehre der formalen Logik nach Jäsche zu. Bei Jäsche ist der wichtigste Gedanke m.E. der, dass Begriffe Vorstellungen sind, in denen die Vorstellung einer Beschaffenheit als Erkenntnisgrund verwendet wird. Man verwendet die Vorstellung einer Bestimmung als Erkenntnisgrund, wenn man sich vermittelst ihrer auf alle Objekte bezieht, die diese Bestimmung aufweisen. Es bleibt bei Jäsche allerdings die Frage offen, warum der Verstand Vorstellungen als Erkenntnisgrund gebraucht, sodass seine Vorstellungen die Form der Allgemeinheit aufweisen. Man kann daher sagen, dass der Jäsche-Logik die Grundlagen fehlen. Diese Grundlagen werden erst später in Kapitel 5 »nachgeliefert«. Weiterhin diskutiere ich in Kapitel 3 Inhalt und Umfang als formale Bestimmungen von Begriffen. Im vierten Kapitel diskutiere ich den Begriff der Verbindung, der sowohl für die formale als auch für die transzendentale Logik bedeut-

Einleitung

5

sam ist. Insbesondere unterscheide ich dabei zwischen bloß subjektiv gültigen und objektiv gültigen Verbindungen. Ich stelle weiterhin die Behauptung auf, dass es zwei verschiedene, aber weitgehend parallel zu behandelnde Fälle von objektiv gültigen Verbindungen gibt, nämlich erstens Verbindungen von Begriffen oder Urteilen zu Urteilen und zweitens Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung zur Anschauung eines Gegenstands. Diese Behauptung wird von zentraler Bedeutung für meine Interpretation Kants sein. In Kapitel 5 wende ich mich Kants Theorie des Selbstbewusstseins zu und versuche nachzuvollziehen, inwiefern man Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden können muss, um sich seiner selbst bewusst werden zu können. Es wird gezeigt, wie das Selbstbewusstsein den Verbindungen von Vorstellungen zugrunde liegt. Daraus ergibt sich eine Erklärung, warum die analytische Einheit des Bewusstseins einer Vorstellung es erfordert, diese Vorstellung als allgemeinen Erkenntnisgrund zu verwenden. Letzteres war ja zuvor in Kapitel 3 als zentrale Bestimmung von Begriffen herausgestellt worden. Es werden hier also die Grundlagen der Jäsche-Logik »nachgeliefert«. Im abschließenden Kapitel 6 wende ich mich den reinen Verstandesbegriffen zu und diskutiere deren objektive Gültigkeit sowie deren Entsprechung zu den Urteilsfunktionen.

2

Die Struktur der Erkenntnis

Dieses Kapitel dient der Einführung in die Thematik dieser Arbeit, nämlich die Logik der Begriffe. Die ersten drei Abschnitte zeichnen ein etwas umfassenderes Bild dessen, was nach Kant Erkenntnis von Gegenständen ist. Ich werde daraufhinweisen, dass Erkenntnis im eigentlichen Sinne immer ein Urteil ist (2.1). Dies bedeutet, dass man Anschauungen und Begriffe nur in einem uneigentlichen Sinne Erkenntnis nennen kann. Diese Vorstellungen sind nur insofern Erkenntnis, als sie Erfordernisse zur Erkenntnis im eigentlichen Sinne sind (2.2). Im Abschnitt 2.3 wende ich mich dann Kants Behauptung zu, dass Begriffe auf Funktionen beruhen. Nachdem in den ersten drei Abschnitten von den Beiträgen beider Erkenntnisvermögen (Sinnlichkeit und Verstand) die Rede war, komme ich in Abschnitt 2.4 zu Kants Definition der Logik. Wie sich zeigen wird, beschränkt sich die Logik auf einen ganz bestimmten Aspekt der Erkenntnis, denn sie ist nach Kant die Wissenschaft von den Regeln des Verstandes, also eines der beiden Vermögen, die am Erkennen von Gegenständen beteiligt sind. Die umfassendere Darstellung des Erkennens dient dazu, die Aufgabe der Logik klarer bestimmen zu können, die das eigentliche Thema dieser Arbeit bildet.

2.1

Erkenntnis im eigentlichen Sinne

Man muss bei Kant zwischen Erkenntnis im eigentlichen Sinne und Erkenntnis im uneigentlichen Sinne unterscheiden, auch wenn Kant diesen Unterschied fast nie nennt. Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist immer ein Urteil, denn nur in Urteilen kann man Gegenstände erkennen, da man nur in Urteilen etwas von ihnen aussagt. Anschauungen und Begriffe nennt Kant zwar auch Erkenntnis (vgl. A 320/B 376f), sie sind dies aber nur in einem uneigentlichen Sinne, denn für sich genommen intendieren sie Gegenstände nur, sagen aber nichts von ihnen aus. Sie werden nur deshalb von Kant als Erkenntnisse bezeichnet, weil sie zur Erkenntnis im eigentlichen Sinne erforderlich sind. In diesem Abschnitt werde ich nun näher auf die Erkenntnis im eigentlichen Sinne,

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Die Struktur der Erkenntnis

also auf Urteile eingehen, während ich mich im nächsten Abschnitt damit beschäftige, inwiefern Anschauungen und Begriffe für Erkenntnis erforderlich sind. Bevor ich zur Objektivität als wesentlicher Eigenschaft von Urteilen komme, möchte ich kurz darauf eingehen, welche Vorstellungen nach Kant zu Urteilen verbunden werden können. Grundsätzlich gibt es nach Kant drei Arten von Urteilen, die sich in ihrer Relation unterscheiden, nämlich kategorische, hypothetische und disjunktive. In kategorischen Urteilen werden zwei Begriffe miteinander verbunden. Die Art der Verbindung kann dabei bejahend oder verneinend (Qualität) und allgemein oder besonders (Quantität) sein: Alle/einige A sind/sind nicht B.1 Außerdem können Urteile ihrer Quantität nach auch einzeln sein.2 Auch in einzelnen Urteilen werden zwei Begriffe verbunden. Ein einzelnes Urteil hat demnach die Form »Dieses Α ist B«. Es ist also nicht so, dass in einem einzelnen Urteil eine Anschauung als Subjekt verwendet wird. Dies wird durch Kants erste Anmerkung zur Urteilstafel, die Quantität betreffend, bestätigt, wo er vom „Begriff des Subjekts" (A 71/B 96) spricht. 3 Wenn Kant andererseits auch Urteile zuließe, die sich aus einer Anschauung und einem Begriff zusammensetzen, dann könnte ein Urteil nicht allein eine Handlung des Verstandes sein, denn Anschauungen sind Vorstellungen der Sinnlichkeit und nicht des Verstandes. Entsprechend dürfte das Urteil auch nicht in der Logik behandelt werden, denn diese handelt ja ausschließlich von den Regeln des Verstandes. Neben den kategorischen Urteilen gibt es nach Kant auch hypothetische und disjunktive Urteile. Dies sind komplexe Urteile, d.h. in ihnen werden Urteile zu Urteilen verbunden. Als Materie der komplexen Urteile können kategorische Urteile oder selbst schon komplexe Urteile dienen. 1 2 3

Siehe Kants Urteilstafel (A 70/B 95). Die Urteilsqualität »unendlich« vernachlässige ich hier. Als Beleg kann man außerdem Β 140 heranziehen, wo Kant sagt, dass ein Urteil nach der traditionellen Definition „die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen" (kursiv von mir) ist. Kant kritisiert an dieser Definition, dass sie nicht auf hypothetische und disjunktive Urteile passt. Den kategorischen Urteilen hält er sie für angemessen - wenn man einmal von Kants Hauptkritikpunkt an der traditionellen Urteilsdefinition absieht, dass sie das Verhältnis der Vorstellungen im Urteil unbestimmt lässt (s.u.).

9

Erkenntnis im eigentlichen Sinne

Kant sagt, dass das Urteil traditionell als „Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen" definiert wurde (B 140). Gegen diese Definition wendet er ein, dass sie nur kategorische Urteile erfasst. Dieses Defizit ließe sich jedoch leicht beheben, indem man das Urteil als Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen oder zwischen Urteilen definiert. Schwerwiegender ist seiner Ansicht nach ein anderes Versäumnis dieser Definition: Sie fordert nämlich nicht, dass im Urteil ein objektives Verhältnis von Begriffen oder Urteilen vorgestellt wird. Es ist nämlich wesentlich für Urteile, dass es sich um eine objektiv gültige Verbindung von Begriffen oder von Urteilen handelt. Kant schreibt in der Überschrift zu § 19 der K.d.r.V.: „Die logische Form aller Urteile besteht in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe" (B 140). Etwas später formuliert er dann seine Definition des Urteils, der zufolge „ein Urteil nichts andres sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen. Darauf zielt das Verhältniswörtchen ist in denselben, um die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden." (B 141f)

Was hier mit einer objektiven Einheit von Begriffen (im Gegensatz zu einer subjektiven) gemeint ist, lässt sich am besten anhand eines Beispiels erläutern. 4 Mit dem Urteil »Alle Α sind B« behaupte ich, dass alle Dinge, die unter den Begriff Α fallen, auch unter den Begriff Β fallen, bzw. dass alle Dinge, die die Beschaffenheit Α aufweisen, auch die Beschaffenheit Β aufweisen. Ich behaupte in einem solchen Urteil also, dass unter den Objekten, die durch diese Begriffe repräsentiert werden, ein gewisses Verhältnis besteht, nämlich dasjenige, dass alle Objekte mit der Eigenschaft Α auch die Eigenschaft Β aufweisen. Ich behaupte mit einem Urteil also, dass objektiv, d.h. unter den Objekten, ein gewisses Verhältnis besteht. Kant stellt Fällen dieser Art solche entgegen, in denen ich mir nur ein Verhältnis zwischen meinen Vorstellungen vorstelle, bzw. mir eines solchen Verhältnisses bewusst bin. Dies ist dann der Fall, wenn verschiedene Begriffe in mir durch Assoziation verbunden sind oder wenn ich feststelle, dass bestimmte Vorstellungen sich des Öfteren in mir begleiten. Im letzteren Fall kann ich sagen: „Wenn ich einen Körper trage, 4

Inwiefern dies die objektive Einheit der Apperzeption Kapitel 5.2 erläutert werden.

ist, kann erst später in

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D i e Struktur der Erkenntnis

so fühle ich einen Druck der Schwere" (B 142). Hier weisen die Vorstellungen nur eine subjektive Einheit auf. Im Gegensatz dazu kann man eine objektive Einheit der Begriffe, die in einem Urteil besteht, ausdrücken, indem man sagt: „er, der Körper, i s t schwer" (B 142). Das Verhältniswörtchen »ist« dient nach Kant dazu, „die objektive Einheit gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden." (B 142) Man behauptet also im kategorischen Urteil ein bestimmtes Verhältnis zwischen den verbundenen Begriffen, nämlich, dass die Menge der unter den Subjekt-Begriff fallenden Gegenstände ganz bzw. zum Teil in der Menge der unter den Prädikat-Begriff fallenden Gegenstände enthalten ist, bzw. von ihr ausgeschlossen ist. 5 Diese Formulierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Urteil »Alle Α sind B« nur von einer Klasse von Dingen handelt, nämlich von den yl's. Von diesen sagt das Urteil, dass sie die Bestimmung Β haben. Die Verbindung im kategorischen Urteil weist eine gewisse Asymmetrie auf, aufgrund derer der Subjekt-Begriff dazu dient, eine Klasse von Gegenständen herauszugreifen, der Prädikat-Begriff aber dazu, diesen Gegenständen eine Bestimmung zuzuschreiben. Diese Eigenschaft, dass in Urteilen ein objektives Verhältnis behauptet wird, gilt nicht nur für kategorische Urteile, sondern auch für hypothetische und disjunktive. Allerdings sind die Elemente, zwischen denen in solchen Urteilen ein Verhältnis vorgestellt wird, keine Begriffe, sondern selbst schon Urteile. In einem hypothetischen Urteil behaupte ich, dass die von den Urteilen vorgestellten Sachverhalte in einem Verhältnis, nämlich einem Grund-Folge-Verhältnis stehen. Ich stelle mir also nicht bloß vor, dass zwei Urteile subjektiv in mir in einem Verhältnis stehen, sondern dass die von ihnen vorgestellten Sachverhalte objektiv in einem Verhältnis stehen. Ebenso behaupte ich mit einem disjunktiven Urteil, dass mehrere Sachverhalte in dem Verhältnis stehen, dass sie sich gegenseitig ausschließen, wobei aber eines von ihnen immer gegeben sein muss. Ich behaupte in diesen beiden Fällen also, dass ein objektives Verhältnis zwischen Sachverhalten besteht. Genau wie die Kopula »ist« benutzt wird, um die objektive Einheit in kategorischen Urteilen auszudrücken, so werden die Wörter »wenn . . . dann . . . « und »entweder . . . oder . . . « benutzt, um die 5

Dies entspricht den klassischen vier Kombinationen von Quantität und Qualität, durch die sich ar, i-, e-, o- Sätze unterscheiden.

Erkenntnis im eigentlichen Sinne

11

objektive Einheit in hypothetischen bzw. disjunktiven Urteilen auszudrücken.6 Die Objektivität, von der Kant in seiner Definition des Urteils spricht, betrifft also nicht die Vorstellungen, die im Urteil verbunden werden, sondern die Verbindung zwischen ihnen. Dies wird auch durch § 19 der K.d.r.V. bestätigt: Unmittelbar vor der Formulierung der Urteilsdefinition sagt Kant, dass er „die Beziehung gegebener Erkenntnisse in jedem Urteile" untersuchen und sie „von dem Verhältnisse [dieser Erkenntnisse] nach Gesetzen der reproduktiven Einbildungskraft" unterscheiden möchte. Und über dieses Verhältnis von Begriffen oder Urteilen sagt Kant dann, dass es die Art sei, „gegebene Erkenntnisse zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen" (B 141, kursiv von mir). Wenig später betont Kant noch einmal, dass ein Urteil aufgrund der Art des Verhältnisses, das in ihm vorgestellt wird, objektiv genannt wird: „ e i n U r t e i 1, d.i. ein Verhältnis, das o b j e k t i v g ü l t i g ist" (B 142). Das Verhältnis der Vorstellungen im Urteil wird deshalb objektiv genannt, weil man im Urteil behauptet, dass unter den Objekten ein Verhältnis besteht. Es muss dabei allerdings vorausgesetzt werden, dass die Begriffe bzw. Urteile, die zu Urteilen zusammengesetzt werden, selbst schon in dem Sinne objektiv sind, dass sie je eine Klasse von Objekten bzw. einen Sachverhalt vorstellen. Andernfalls ließe sich die Forderung der Objektivität der Einheit, die die Begriffe bzw. Urteile eingehen, gar nicht formulieren. Man muss ja voraussetzen, dass die Begriffe Α und Β sich auf je eine Klasse von Dingen beziehen,7 um sinnvoll fordern zu können, dass im Urteil »Alle Α sind 5 « etwas über das Verhältnis dieser Klassen ausgesagt wird. Ebenso erfordert es die Einheit, die im hypothetischen bzw. im disjunktiven Urteil vorgestellt ist, dass die verbundenen Urteile Sachverhalte vorstellen. Denn nur dann kann man aussagen, dass die vorgestellten Sachverhalte in einem Grund-Folge-Verhältnis bzw. in einem Verhält6

7

Longuenesse hält es für unklar, „whether and how the role [Kant] attributes to the »copula 'is'« might also be that of the other connectives in judgment, 'if . . . then' and 'either . . . or'." ( K a n t and the Capacity to Judge, S. 84) Von Begriffen wird Objektivität hier nur in einem sehr schwachen Sinne gefordert, nach dem alle Begriffe (und auch Anschauungen) objektiv sind (vgl. A 320/B 376f). Objektivität in diesem Sinne ist z.B. von objektiver Realität zu unterscheiden (s.u.).

Die Struktur der Erkenntnis

12

nis mehrerer sich ausschließender Möglichkeiten stehen, von denen eine zutrifft. Es wäre meiner Ansicht nach aber falsch zu sagen, die Verbindung der Vorstellungen im Urteil werde deshalb objektiv genannt, weil sie den verbundenen Vorstellungen, also den Begriffen oder Urteilen, Objektivität verleiht. Nach einer solchen Position kann ein Begriff eine Klasse von Gegenständen nur aufgrund dessen vorstellen, dass er mit einem anderen Begriff in einem Urteil verbunden ist. Diese Ansicht vertritt Allison: „The claim that every judgment involves the reference of representations to an object is thus taken to be equivalent to the claim that every judgment is objectively valid."8 Diese Auffassung macht die Eigenschaft von Begriffen, sich auf eine Klasse von Dingen zu beziehen, davon abhängig, dass sie in einem Urteil auftreten. Dazu möchte ich drei Bemerkung machen bzw. Einwände erheben: Erstens ändert die Sichtweise, dass Begriffe nur aufgrund ihres Auftretens in Urteilen objektiv sind, nichts daran, dass auch die Einheit der Begriffe in Urteilen in der eben erläuterten Weise objektiv sein muss. Nach der kritisierten Sichtweise sind Urteile also in doppelter Weise objektiv: Einerseits ist das durch sie vorgestellte Verhältnis von Begriffen objektiv, andererseits verleihen sie den Begriffen ihre Objektivität. Zweitens möchte ich gegen diese Sichtweise einwenden, dass sie zu einem unendlichen Regress führt: Wenn man von einem kategorischen Urteil sagt, dass die Urteilseinheit erst die Objektivität der Begriffe hervorbringt, dann muss man Entsprechendes auch über hypothetische und disjunktive Urteile sagen: Hypothetische und disjunktive Urteile bringen erst die Objektivität ihrer Konstituenten, also letzten Endes der kategorischen Urteile, hervor. Man müsste also sagen, dass die Objektivität von Urteilen davon abhängt, dass sie in hypothetischen oder disjunktiven Urteilen gebraucht werden. Da deren Objektivität wieder von ihrem Auftreten in anderen Urteilen abhängt, führt diese Ansicht zu einem unendlichen Regress. Drittens möchte ich anmerken, dass ich nicht nachvollziehen kann, wie Begriffen dadurch Objektivität verliehen werden soll, dass sie vermittelst der synthetischen Einheit der Apperzeption zu einem Urteil verbunden sind. Auf der anderen Seite glaube ich, dass man die ObKant's

Transcendental

Idealism, S. 72.

Erkenntnis im eigentlichen Sinne

13

jektivität von Begriffen, die darin besteht, dass sie eine Klasse von Objekten intendieren, unabhängig davon erklären kann, dass sie in einem Urteil auftreten. Eine solche Erklärung versuche ich in Kapitel 5 dieser Arbeit zu geben. Nachdem erläutert wurde, inwiefern Urteile objektiv gültige Verbindungen sind, komme ich nun zu der Frage, warum nur Urteile Erkenntnis im eigentlichen Sinne sein können. Erkenntnis ist allgemein gesprochen eine Vorstellung, die sich nach ihrem Gegenstand richtet, denn nur dann kann man sagen, der Gegenstand sei durch die Vorstellung erkannt. Dieses Kriterium wird nun von Urteilen erfüllt, von Anschauungen und Begriffen dagegen nicht. Im Urteil behaupte ich eine objektiv gültige Verbindung, d.h. ich behaupte, dass die von den Begriffen vorgestellten Merkmale in re verbunden sind. In diesem Sinne ist ja jedes Urteil eine objektiv gültige Einheit von Begriffen, denn ich stelle mir vor, dass die Tatsache, dass die Begriffe in meinem Bewusstsein vereinigt sind, auch etwas in re repräsentiert. Ich erhebe also im Urteil den Anspruch, mich nach dem Gegenstand zu richten. Ein Begriff allein ist dagegen keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne, denn durch einen Begriff intendiere ich nur einen Gegenstand, ich sage aber nichts von ihm aus. Wenn ich Gegenstände durch einen Begriff vorstelle, beanspruche ich nicht, mich nach den Gegenständen zu richten. Innerhalb des Gebrauchs des Begriffs »Erkenntnis im eigentlichen Sinne« kann man wiederum einen strengeren und liberaleren Gebrauch unterscheiden. Im strengeren Sinne ist Erkenntnis ein wahres Urteil, d.h. ein falsches Urteil zählt nicht als Erkenntnis. Man würde nämlich nicht sagen, dass man einen Gegenstand erkannt hat, wenn man etwas Falsches von ihm aussagt. Trotzdem spricht Kant gelegentlich auch von falscher Erkenntnis. In diesem Sinne ist Erkenntnis also alles, was wahr sein kann. Entsprechend benutzt Kant den Begriff »objektiv« manchmal auch so, dass er nur auf solche Urteile zutrifft, die wahr sind. Dies ist vielleicht die am nächsten liegende Bedeutung von »objektiv gültig«, denn dann liegt die vorgestellte Verbindung von Begriffen ja wirklich vor. Die Objektivität der Urteilseinheit, die das Thema dieses Abschnitts bildete, bedeutet dagegen nur, dass das Urteil wahr oder falsch ist. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit verstehe ich die Objektivität der Urteilseinheit immer im Sinne der Wahrheitsfähigkeit von Urteilen, nicht im Sinne ihrer Wahrheit.

14

Die Struktur der Erkenntnis

2.2

Die objektive Realität von Begriffen

Im vorigen Abschnitt habe ich erläutert, dass Erkenntnis im eigentlichen Sinne immer ein Urteil ist, weil nur in Urteilen eine Aussage über Gegenstände getroffen wird. In diesem Abschnitt möchte ich nun darauf hinweisen, dass die im Urteil verbundenen Begriffe außerdem objektive Realität aufweisen müssen, damit man im engeren Sinne von Erkenntnis sprechen kann. Die objektive Realität von Begriffen muss man von der Objektivität von Begriffen unterscheiden. Alle Begriffe als solche sind objektiv, während nur manche Begriffe objektiv real sind. Und zwar weist ein Begriff dann objektive Realität auf, wenn ihm sinnliche Anschauungen korrespondieren. Die Bedeutung der beiden Begriffe »Objektivität« und »objektive Realität« soll nun erklärt werden. Zur Objektivität von Begriffen: In seiner Stufenleiter der Vorstellungen definiert Kant Anschauungen und Begriffe als objektive Perzeptionen, die einzeln bzw. allgemein sind. Objektivität in dem Sinne, wie sie allen Begriffen zukommt, ist also eine Eigenschaft, die Begriffe mit Anschauungen teilen, und die sie von Perzeptionen, also Empfindungen, unterscheidet (vgl. A320/B376f). Um zu erklären, was mit dieser Objektivität gemeint ist, muss man das Vorgestellte verschiedener Vorstellungen betrachten. Und zwar hat nach Kant jede Vorstellung ein Vorgestelltes, d.h. einen Gegenstand, den sie vorstellt. Kant schreibt: „Alle Vorstellungen haben, als Vorstellungen, ihren Gegenstand" (A 108). Vom Vorgestellten wird dabei nicht gefordert, dass es in irgendeiner Weise existiert: Alles, was vorgestellt werden kann, ist Vorgestelltes. Man sieht an dieser Stelle, dass das Wort »Gegenstand« bei Kant eine sehr weite Bedeutung haben kann. Bezüglich des Vorgestellten kann man nun solches unterscheiden, das durchgängig bestimmt ist, und solches, das es nicht ist. Mit der durchgängigen Bestimmtheit eines Gegenstandes ist gemeint, dass bezüglich jedes Prädikats bestimmt ist, ob es dem Gegenstand zukommt oder nicht. Empfindungen sind nun Vorstellungen, deren Vorgestelltes nicht durchgängig bestimmt ist. Die Empfindung »rot« stellt nur eine Beschaffenheit vor, die an etwas vorkommen kann. Dabei ist diese Beschaffenheit nicht in anderen Hinsichten, wie der Größe oder des Gewichts, bestimmt. Anschauungen und Begriffe sind dagegen Vorstellungen, deren Vorgestelltes durchgängig bestimmt ist. Eine Anschau-

D i e objektive Realität von Begriffen

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ung stellt einen einzelnen Gegenstand vor, der in jeder Hinsicht bestimmt ist. Ein Begriff stellt all jene Gegenstände vor, die ein gewisses Merkmal aufweisen, ansonsten aber beliebig bestimmt sein können. Die Forderung, dass Anschauungen und Begriffe objektiv sind, ist also so zu verstehen, dass ihr Vorgestelltes ein durchgängig bestimmter Gegenstand bzw. eine Klasse solcher Gegenstände ist. Dieser Ansicht scheint auch Stuhlmann-Laeisz zu sein. Er weist nämlich zunächst darauf hin, dass nicht alle Begriffe Gegenstände möglicher Erfahrung vorstellen. Sie seien aber objektive Perzeptionen „insofern, als sie zumindest auf ein solches den intersubjektiven Gesetzen der formalen Logik genügendes »Etwas« müssen bezogen werden können".9 Mit einem Etwas meint Stuhlmann-Laeisz hier wohl einen durchgängig bestimmten Gegenstand, und weil Anschauungen und Begriffe auf einen solchen bezogen werden können, sind sie nach diesem Zitat objektive Perzeptionen. Anschauungen und Begriffe stimmen darin überein, dass ihr Vorgestelltes durchgängig bestimmt ist. Das Vorgestellte einer Anschauung kann sogar identisch sein mit dem Vorgestellten eines Begriffs. Ich kann z.B. den Raum oder auch einen einzelnen Gegenstand im Raum, wie einen Stuhl, sowohl durch eine Anschauung als auch durch einen Begriff vorstellen. Anschauungen und Begriffe unterscheiden sich aber darin, als was sie Gegenstände vorstellen. Eine Anschauung stellt etwas als ein einzelnes Individuum vor, während Begriffe ihr Vorgestelltes als Träger einer Eigenschaft, die es mit anderen möglichen Gegenständen gemeinsam hat, vorstellen. Begriffe stellen ihr Vorgestelltes vermittelst eines Merkmals als Dinge vor. Dies bedeutet, dass sich die intentionalen Gegenstände von Anschauungen und Begriffen unterscheiden, selbst wenn ihr Vorgestelltes identisch ist. Der intentionale Gegenstand ist nämlich das Vorgestellte in der Art seiner Gegebenheit, d.h. in der Art, wie er vorgestellt wird. Die bisherigen Erörterungen zeigen, dass das Wort »objektiv« bei Kant in verschiedenen Kontexten Verschiedenes bedeutet. Man muss z.B. die Objektivität von Anschauungen und Begriffen von der Objektivität der Urteilseinheit unterscheiden. Im erstgenannten Fall besagt Objektivität, dass Anschauungen und Begriffe etwas durchgängig Bestimmtes vorstellen. Im zweitgenannten Fall besagt Objektivität daStuhlmann-Laeisz, Kants Logik, S. 76.

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Die Struktur der Erkenntnis

gegen, dass ein Verhältnis von Begriffen als objektiv gültig vorgestellt wird. Ich wende mich nun der Frage zu, was man unter der objektiven Realität von Begriffen zu verstehen hat. Um dies zu erläutern, ist zunächst allgemein zu Begriffen anzumerken, dass sie sich nicht selbst widersprechen dürfen. Dies ist die logische Möglichkeit des Begriffs oder Gedankens. „Die Möglichkeit eines Gedankens oder Begriffs beruht auf dem Satze des Widerspruchs, z.B. der eines denkenden unkörperlichen Wesens (eines Geistes). Das Ding, wovon selbst der bloße Gedanke unmöglich ist (d.i. der Begriff sich widerspricht), ist selbst unmöglich." (AA20, 325)

Ein mögliches Ding ist also alles, was durch einen logisch möglichen Begriff vorgestellt werden kann. Kant fährt nun fort und unterscheidet innerhalb der möglichen Dinge real mögliche und nicht real mögliche: „Das Ding aber, wovon der Begriff möglich ist, ist darum nicht ein [real] mögliches Ding. Die erste Möglichkeit kann man die logische, die zweyte die reale Möglichkeit nennen [... ]." (AA 20, 325)10 Kant unterscheidet hier die Möglichkeit eines Begriffs von der realen Möglichkeit eines Dings, das durch einen Begriff vorgestellt wird. Der Begriff ist ein möglicher Begriff, wenn er widerspruchsfrei ist. Und diese Möglichkeit des Begriffs wird logische Möglichkeit genannt, im Gegensatz zur realen Möglichkeit, die einem Ding zukommen kann. Jeder logisch mögliche Begriff stellt ein Ding vor, dieses Ding ist aber nicht immer real möglich. Dann stellt Kant die Verbindung zwischen der realen Möglichkeit des Dings und der objektiven Realität des Begriffs her: ,,[D]er Beweis der [realen Möglichkeit des Dings] ist der Beweis der objectiven Realität des Begriffs, welchen man jederzeit zu fordern berechtigt ist." (AA 20, 325) Objektive Realität eines Begriffs wiederum liegt dann vor, wenn es dem Begriff korrespondierende Anschauungen gibt: Der Beweis der objektiven Realität des Begriffs „kann aber nie anders geleistet werden, als durch Darstellung des dem Begriffe correspondirenden Objects" (AA 20, 325). Unmittelbar vorher hatte Kant verschiedene Möglichkeiten genannt, wie das einem Begriff korrespondierende 10

Vgl.: „Einen Gegenstand e r k e n n e n , dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit [...] beweisen könne. Aber d e n k e n kann ich, WEIS ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d.i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht." (B XXVIn)

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Objekt dargestellt werden kann. In jedem dieser Fälle besteht die Darstellung darin, zum Begriff eine Anschauung hinzuzufügen: „Wenn einem Begriffe die correspondirende Anschauung a priori beygegeben werden kann, so sagt man: dieser Begriff werde c o n s t r u i r t ; ist es nur eine empirische Anschauung, so nennt man das ein bloßes Beyspiel zu dem Begriffe; die Handlung der Hinzufügung der Anschauung zum Begriffe heißt in beiden Fällen Darstellung (exhibitio) des Objects, ohne welche (sie mag nun mittelbar, oder unmittelbar geschehen) es gar kein Erkenntniß geben kann." (AA 20, 325)

Es gibt nach Kants Meinung also Begriffe, die mögliche Dinge vorstellen, die aber nicht real möglich sind. Dies ist z.B. bei den transzendentalen Ideen der Fall. Ein Ding, das möglich, aber nicht real möglich ist, nennt Kant ens rationis. Ein solches Gedankending wird durch einen »leeren Begriff ohne Gegenstand« gedacht (vgl. A 292/B 348). Wenn Kant sagt, dass zur objektiven Realität eines Begriffs erfordert wird, dass ihm eine mögliche Anschauung korrespondiert, so ist damit eine sinnliche Anschauung gemeint, denn die einzige uns mögliche Art der Anschauung ist sinnlich (vgl. A67f/B92). Ich erwähne dies hier deshalb, weil Kant im ersten Teil der Kategorien-Deduktion nach der zweiten Auflage der K.d.r.V. (§§ 15-19) auch vom Mannigfaltigen einer nicht-sinnlichen Anschauung spricht. Er abstrahiert dort also davon, ob das unserem menschlichen Verstand gegebene Mannigfaltige sinnlich oder nicht-sinnlich ist. 11 Im Hinblick auf diese abstrakte Behandlungsweise der Synthesis des Verstandes möchte ich hier nur darauf hinweisen, dass zur objektiven Realität eines Begriffs eine korrespondierende Anschauung erforderlich ist, die uns Menschen tatsächlich möglich ist. Eine bloß denkbare nicht-sinnliche Anschauung, die einem Begriff korrespondiert, kann ihm keine objektive Realität verleihen. Erkenntnis im eigentlichen Sinne ist nach Kant immer ein Urteil, weil man nur im Urteil etwas von den Gegenständen aussagen kann. Darüber hinaus wird für Erkenntnis aber noch erfordert, dass die im Urteil verwendeten Begriffe objektive Realität aufweisen, d.h. es müssen ihnen sinnliche Anschauungen entsprechen. Es muss ein dem Begriff korrespondierendes Objekt dargestellt werden können, 11

Siehe unten S. 93-98 sowie Β 130.

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Die Struktur der Erkenntnis „denn sonst bleibt es immer nur ein Gedanke, welcher, ob ihm irgend ein Gegenstand correspondire, oder ob er leer sey, d.i. ob er überhaupt zum Erkenntnisse dienen könne, so lange, bis jenes in einem Beyspiele gezeigt wird, immer ungewiß bleibt" (AA20, 325f).

Ein Urteil, in dem leere (d.h. nicht objektiv reale) Begriffe verwendet werden, ist nach Kant also selbst nur ein leerer Gedanke, durch den nichts erkannt wird, obwohl ein solches Urteil der logischen Form nach natürlich Erkenntnis ist. Begriffe ohne objektive Realität sind insofern leer, als unter ihnen keine Gegenstände möglicher Erfahrung enthalten sind, d.h. sie haben hinsichtlich der Gegenstände möglicher Erfahrung keinen Umfang. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie schlechthin keinen Umfang haben, denn jeder Begriff besitzt einen unendlich großen Umfang möglicher Dinge. Kants Forderung, dass die in einem Urteil verbundenen Begriffe objektiv real sein müssen, damit dies Erkenntnis ist, lässt sich so verstehen, dass wir nur durch Anschauungen einen unmittelbaren Zugang zu Gegenständen außer uns haben. Dieser Zugang wiederum besteht dadurch, dass die Gegenstände uns affizieren. „Die Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit." (A 19/B 33) Begriffe von Gegenständen, von denen wir keine Anschauungen haben können (die bei uns Menschen immer sinnlich sind), sind leer und deshalb können wir durch sie auch nicht erkennen. Der Beitrag der Anschauungen zur Erkenntnis besteht also darin, dass sie Begriffen objektive Realität verleihen. Auf der anderen Seite besteht der Beitrag von Begriffen zur Erkenntnis darin, verschiedene Anschauungen unter sich zu befassen. Ohne eine solche Klassifikation wäre die Anschauung blind. Jäsche versucht, dies anhand des Beispiels eines „Wilden" zu illustrieren, der ein Haus sieht, aber nicht den Begriff eines Hauses besitzt (vgl. AA 9, 33). Der Beitrag der Begriffe zur Erkenntnis besteht also darin, Anschauungen zu klassifizieren. Man kann bei dieser Klassifikation von Anschauungen einen direkten und einen indirekten Fall unterscheiden. Ein Begriff kann verschiedene Begriffe unter sich enthalten oder verschiedene Anschauungen. Diese beiden Fälle nennt Kant ja schon in § 1 der K.d.r.V., wo er über den Bezug von Erkenntnissen auf Gegenstände spricht: „Alles Denken [d.h. alle Begriffe] aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder

Die objektive Realität von Begriffen

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im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale,[12] zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen [...]." (A 19/B 33) Letzten Endes müssen Begriffe also Anschauungen unter sich enthalten, damit sie einen Beitrag zur Erkenntnis leisten können, dieser Bezug kann aber durch Unterbegriffe vermittelt sein. Es ist in diesem Zusammenhang m.E. sinnvoll, von subjektiv niedrigsten Begriffen zu sprechen. Ein Begriff ist dann ein subjektiv niedrigster Begriff, wenn eine Person zu ihm keine Unterbegriffe mehr kennt. 13 Unter einen Begriff, der nicht subjektiv niedrigste Art ist, werden weitere Begriffe geordnet und unter einen Begriff, der subjektiv niedrigste Art ist, werden Anschauungen geordnet. Es zeigt sich also, dass man sowohl Anschauungen als auch Begriffe als Requisiten (Erfordernisse) der Erkenntnis bezeichnen kann, denn Begriffe sind erstens als Bestandteile von Urteilen und zweitens zur Klassifikation von Anschauungen erforderlich und Anschauungen sind für die objektive Realität von Begriffen erforderlich. Da Anschauungen und Begriffe die beiden Requisiten der Erkenntnis sind, nennt Kant sie auch selbst Erkenntnisse. 14 Durch die gleichartige Bezeichnung wird allerdings verdeckt, dass Anschauungen und Begriffe in ganz unterschiedlicher Weise für Erkenntnis im eigentlichen Sinne erforderlich sind. Dabei ist aber zu beachten, dass Anschauungen und Begriffe nur Erkenntnisse in einem uneigentlichen Sinne sind, da sie anders als Urteile - Erkenntnisse im eigentlichen Sinne - nichts über Gegenstände aussagen. Anschauungen und Begriffe stellen Gegenstände nur vor, d.h. sie repräsentieren bzw. intendieren sie nur. Deshalb kennzeichnet Kant Anschauungen und Begriffe in R 2836, wo er dieselbe Stufenleiter von Vorstellungen angibt wie in der K.d.r.V., durch „ad cognitionem [im eigentlichen Sinne] pertinens" (siehe Anmerkung des Herausgebers). Man kann sich den doppelten Gebrauch des Wortes »Erkenntnis« bei Kant auch durch eine Bemerkung in den »Fortschritten der Metaphysik« erklären. Dort sagt Kant, man könne von diskursiver und von intuitiver Erkenntnis sprechen und damit Begriffe bzw. Anschauungen 12 13

14

Der Zusatz „vermittelst gewisser Merkmale" steht nur in der zweiten Auflage. Objektiv betrachtet gibt es keine niedrigsten Begriffe, weil es zu jedem Begriff noch Unterarten gibt. Siehe hierzu meine Diskussion von § 11 der Jäsche-Logik in Abschnitt 3.3.3. Siehe § 1 der Jäsche-Logik und Kants Stufenleiter der Vorstellungen ( A 3 2 0 / Β 376f).

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Die Struktur der Erkenntnis

als objektive Perzeptionen meinen, je nachdem, auf welches Requisit der Erkenntnis es hauptsächlich ankommt (vgl. AA 20, 325). Ich möchte nun das Verhältnis der Korrespondenz, das zwischen einer Anschauung und einem Begriff bestehen muss, damit letzterer objektiv real ist, näher beschreiben. Kant schreibt: „Wenn einem Begriffe die correspondirende Anschauung a priori beygegeben werden kann, so sagt man: dieser Begriff werde

construirt;

ist es nur eine empirische Anschauung, so nennt man das ein bloßes Beyspiel zu dem Begriffe; die Handlung der Hinzufügung der Anschauung zum Begriffe heifit in beiden Fällen Daxstellung (exhibitio) des Objects

[...]." (AA 20, 325) Aus diesem Zitat geht hervor, dass Kant bei der Korrespondenz zwischen Anschauung und Begriff an die Konstruktion bzw. an die Beispiele eines Begriffs denkt, allgemein gesprochen an eine Anschauung, durch die ein Begriff dargestellt wird. Die Beziehung, die nach Kant zwischen Anschauung und Begriff bestehen muss, damit Erkenntnis möglich ist, ist also die des Darunterfallens. Damit ist Folgendes gemeint: Wenn ich z.B. die Anschauung eines roten Gegenstandes habe, so fällt diese Anschauung unter den Begriff »Rot«. Die Beziehung besteht darin, dass der Vorstellungs-Inhalt der Anschauung zum Teil mit dem Inhalt des Begriffs übereinkommt. Wenn die Anschauung diejenigen Merkmale enthält, die den Begriff ausmachen, fällt sie unter ihn, andernfalls nicht. Im Schematismus-Kapitel drückt Kant dies so aus, dass es eine Gleichartigkeit zwischen dem Begriff und dem zu subsumierenden Gegenstand (bzw. dessen Anschauung) geben muss: ,,[D]er Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten." (A 137/ Β 176) Die Anschauung wird dabei als durchgängig bestimmt angenommen, d.h. der Inhalt der Anschauung ist so reich, dass sie alle Eigenschaften ihres Gegenstandes repräsentiert. 15 16

Beck hat in einem Brief an Kant vorgeschlagen, Anschauungen als durchgängig bestimmte Vorstellungen zu erklären. Diesem Vorschlag stimmt Kant grundsätzlich zu, bemerkt aber, dass die durchgängige Bestimmtheit nicht im Subjekt, sondern im Objekt befindlich ist (vgl. AA 11, 347). Auf diese Fragen werde ich später noch eingehen (S. 63).

Die objektive Realität von Begriffen

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Die Eigenschaften dieses Verhältnisses lassen sich am besten im Kontrast zum Urteilsverhältnis erklären. Abgesehen davon, dass letzteres nicht zwischen einer Anschauung und einem Begriff bestehen kann, sondern nur zwischen Begriffen oder zwischen Urteilen, besteht folgender grundsätzlicher Unterschied: Während das Verhältnis der Korrespondenz genau dann besteht, wenn eine zumindest partielle inhaltliche Übereinstimmung zwischen Anschauung und Begriff besteht, ist das Bestehen der Urteilsbeziehung von den Inhalten der Vorstellungen unabhängig. Ich kann z.B. in einem kategorischen Urteil jeden Begriff von jedem beliebigen anderen aussagen, unabhängig davon, ob eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen ihnen besteht oder nicht. Ansonsten gäbe es ja nur analytische Urteile. Kant drückt sich zwar auch so aus, dass in einem kategorischen Urteil ein Begriff unter einen anderen subsumiert wird. Man kann sogar in zwei verschiedenen Bedeutungen sagen, dass im Urteil ein Begriff dem anderen untergeordnet wird. Man kann erstens sagen, dass im kategorischen Urteil der Subjekt-Begriff dem Umfange nach dem Prädikat untergeordnet wird. Zweitens kann man sagen, dass der Prädikat-Begriff als Folge dem Subjekt-Begriff als Erkenntnisgrund untergeordnet wird. Denn in einem Urteil behauptet man ja z.B., dass etwas, wenn es ein Mensch ist, damit auch sterblich ist. Hier wird die Sterblichkeit als Folge des Menschseins angesehen.16 Die Ähnlichkeit der sprachlichen Ausdrücke darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Falle von Urteilen vom Verstand eine Verbindung hergestellt werden muss, während die Relationen der Korrespondenz einfach aufgrund der Inhalte der Vorstellungen besteht. Abschließend möchte ich noch kurz auf das Verhältnis zwischen zwei Begriffen, bei denen einer Unterart des anderen ist, eingehen:17 Das Fallen einer Anschauung unter einen Begriff ist nämlich vom Fallen eines Begriffs unter einen anderen Begriff zu unterscheiden. Beim Verhältnis einer Gattung zur Art handelt es sich um die Beziehung der Spezifikation eines Begriffs. So ist z.B. in der Reihe der Begriffe »Lebewesen«, »Pflanze«, »Baum«, »Eiche« jeder Begriff eine Fortbestimmung des vorhergehenden. Durch die Spezifikation eines Begriffs 16

17

Vgl. R3053: „Urtheil ist das Bewustseyn, daß ein Begrif unter einem Anderen enthalten ist. Entweder als sein Prädicat oder sein Grund oder als ein Glied seiner Eintheilung." Siehe hierzu ausführlicher Kapitel 3.3.1.

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Die Struktur der Erkenntnis

gelangt man immer nur zu anderen Begriffen, die zwar konkreter sind als der Ausgangsbegriff, aber auf jeden Fall noch allgemeine Vorstellungen sind. Man gelangt also durch die Spezifikation eines Begriffs niemals zu Anschauungen. Deshalb muss die Beziehung zwischen einem Begriff und den darunter fallenden Anschauungen eine andere sein als die zwischen einer Gattung und ihren Arten. Ich möchte an dieser Stelle einen Aufsatz von Peter Rohs diskutieren, da dieser zu leugnen scheint, dass es das Verhältnis des Darunterfallens zwischen Anschauungen und Begriffen bei Kant gibt. 1 8 Zunächst ist dabei anzumerken, dass Rohs im Gegensatz zu mir der Ansicht ist, dass wir in einzelnen Urteilen eine Anschauung mit einem Begriff verbinden. Rohs erkennt an, dass nach Kants Ansicht auch in einzelnen Urteilen zwei Begriffe verbunden werden, hält dies aber für sachlich falsch und vermutet, dass Kant sich in dieser Frage nicht genügend vom Einfluss der Tradition freigemacht hat. 1 9 Rohs stellt sich in seinem Aufsatz die Frage, wie Begriffe sich auf Gegenstände beziehen. Er geht dabei davon aus, dass nur Anschauungen sich unmittelbar auf Gegenstände beziehen können, während dies bei Begriffen nur vermittelt durch Anschauungen möglich ist. Die Frage des Bezugs von Begriffen auf Gegenstände der Sinne läuft deshalb auf die Frage nach der Beziehung zwischen Begriffen und Anschauungen hinaus. Rohs weist in seinem Aufsatz außerdem darauf hin, dass nach Kant der Verstand von Begriffen keinen anderen Gebrauch machen kann, als dass er dadurch urteilt (vgl. A 6 8 / B 93). Daher muss so Rohs - auch die Subsumtion von Anschauungen unter Begriffe in Urteilen stattfinden, und zwar in einzelnen Urteilen, in denen - entgegen Kants Meinung - eine Anschauung und ein Begriff verbunden werden. Es folgt nach Rohs, dass ein Begriff sich „nur auf eine einzige Weise auf einen einzelnen Gegenstand beziehen kann: dadurch, dass er Prädikat eines wahren singulären Urteils ist, dessen singuläres Element [d.h. die Anschauung] auf diesen Gegenstand referiert". 20 Rohs scheint Kants Behauptung, dass der Verstand Begriffe nur in Urteilen gebrauchen kann, so zu verstehen, dass dadurch auch ausgeschlossen werden soll, dass Begriffe unabhängig von Urteilen eine Beziehung auf 18 19 20

Rohs, Bezieht sich nach Kant die Anschauung unmittelbar auf Gegenstände? Vgl. Rohs, a.a.O., S. 216. Rohs, a.a.O., S. 217.

Die objektive Realität von Begriffen

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Anschauungen haben, die unter sie fallen. Nur deshalb kann er schließen, dass die einzige Art, wie ein Begriff sich auf Gegenstände beziehen kann, das wahre Urteil ist. Würde er die Beziehung des Darunterfallens anerkennen, ergäbe sich ja noch die Alternative, dass ein Begriff sich dadurch auf Gegenstände bezieht, dass Anschauungen unter ihn fallen, die sich wiederum auf Gegenstände beziehen. Ich möchte an dieser Stelle keine Auseinandersetzung darüber führen, wie der Satz „Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt" (A 68/B 93) zu verstehen ist. 21 Stattdessen möchte ich auf ein internes Problem an Rohs' Position hinweisen: Nachdem Rohs zu dem Ergebnis gekommen ist, dass Begriffe sich nur dadurch auf Gegenstände beziehen können, dass sie Prädikate wahrer einzelner Urteile sind, schließt er, dass Anschauungen dazu zwei Funktionen erfüllen müssen: Erstens müssen sie sich unabhängig von anderen Vorstellungen auf einzelne Gegenstände beziehen, zweitens müssen sie darüber entscheiden, ob das Urteil, das entsteht, wenn man einen bestimmten Begriff von ihnen aussagt, wahr oder falsch ist. „Die Anschauung als repraesentatio singularis hat also zwei Funktionen. In der einen bezieht sie uns unmittelbar auf etwas Einzelnes [...]. In der zweiten Funktion entscheidet die Anschauung über den Wahrheitswert des singulären Urteils selbst." 22 Es wird nicht ganz klar, was damit gemeint ist, dass die Anschauung über den Wahrheitswert des Urteils entscheidet. Rohs erläutert dies durch das Beispiel, dass man einfach sehen kann, dass dies ein Apfel ist, oder dass dies kein Apfel ist. Wenn aber die Anschauung den Wahrheitswert eines einzelnen Urteils entscheidet, so kann man aufgrund dessen das Verhältnis des Darunterfallens einfach definieren: Eine Anschauung a fällt unter einen Begriff F genau dann, wenn die Anschauung α den Wahrheitswert des einzelnen Urteils (im Sinne Rohs') Fa als wahr bestimmten würde. Man muss also schließen, dass es Rohs nicht gelungen ist, die Position, dass es zwischen Anschauungen und Begriffen nur die Urteilsbeziehung und keine andere gibt, aufrecht zu erhalten. Also selbst wenn man annimmt, dass man Anschauungen und Begriffe in einem Urteil verknüpfen kann, muss man annehmen, dass es neben dem Urteilsverhältnis noch das Verhältnis des Darunterfallens zwischen Anschauungen und Begriffen gibt, das unabhängig von un21 22

Ich werde mich später (S. 30) noch mit dieser Frage beschäftigen. Rohs, a.a.O., S. 219.

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Die Struktur der Erkenntnis

seren Urteilshandlungen besteht. Wenn man dies nicht tut, so gibt es nichts, aufgrund dessen manche Urteile wahr sind, während andere Urteile falsch sind. Ein einzelnes Urteil, wie Rohs es auffast, ist ja wahr, wenn der Begriff von Anschauungen ausgesagt wird, die unter diesen Begriff fallen, ansonsten falsch.

2.3

Begriffe und die Funktion unterzuordnen

In diesem Abschnitt möchte ich auf den Anfang des Kapitels „Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt" (A 67-69/B 92-94) eingehen. Dieser Titel scheint mir etwas irreführend zu sein, denn zumindest im ersten Teil dieses Kapitels ist auch des Öfteren von Anschauungen die Rede, sodass es hier nicht nur um die Logik und den Verstand zu gehen scheint. Vielmehr betrachtet Kant hier das Ganze des Erkennens, für das sowohl Anschauungen als auch Begriffe erforderlich sind. Dabei geht es ihm aber hauptsächlich darum, dass der Verstand zu diesem Erkennen dadurch beiträgt, dass er urteilt. Kants Ziel in diesem Textstück ist der Nachweis, dass ,,[d]ie Funktionen des Verstandes [...] insgesamt gefunden werden [können], wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann" (A 69/B 94). Wenn man also eine vollständige Liste von Urteilsfunktionen besitzt, besitzt man eine vollständige Liste der Funktionen des Verstandes. Mir kommt es in diesem Abschnitt hauptsächlich darauf an, Kants Behauptung zu interpretieren, dass Begriffe auf Funktionen beruhen. Außerdem ist dieses Kapitel der K.d.r.V. deshalb im Zusammenhang dieser Arbeit wichtig, weil dieser Text manchmal so interpretiert wird, dass die Form von Begriffen davon abhängt, dass sie in einem Urteil auftreten. Solche Interpretationen halte ich für falsch. Dies kann allerdings erst im Verlaufe der Arbeit nachgewiesen werden. Hier soll nur gezeigt werden, dass Kants Äußerungen nicht zu einer solchen Lesart zwingen. Zunächst möchte ich aber auf das Verhältnis der Erkenntnis arten »Anschauung« und »Begriff« zu den Erkenntnis vermögen »Sinnlichkeit« und »Verstand« eingehen. Kant ordnet Anschauungen dem Vermögen »Sinnlichkeit« und Begriffe dem Vermögen »Verstand« zu. In diesem Zusammenhang ist es also wichtig, zwischen Vermögen und Vorstellungsarten zu unterscheiden. Eine von Kants Grundannahmen, die er gleich zu Beginn der transzendentalen Analytik aufstellt, be-

Begriffe und die Punktion unterzuordnen

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steht darin, dass Erkenntnis bei uns Menschen von zwei verschiedenen Vermögen hervorgebracht wird: „Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen [...], die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen [...]. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus [...]." (A50/B74)

Diese und ähnliche Äußerungen, die sich immer wieder bei Kant finden, implizieren streng genommen zwei Behauptungen. Auf die eine bin ich schon in diesem Kapitel eingegangen: Die Vorstellungsarten Anschauung und Begriff sind Requisiten (d.h. Erfordernisse) der Erkenntnis im eigentlichen Sinne. Die andere Behauptung besagt, dass es bei uns Menschen zwei Erkenntnisvermögen gibt, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, denen diese Vorstellungsarten zugeordnet werden können. Vorstellungsarten und Vermögen sind so voneinander zu unterscheiden, dass die Vermögen die Vorstellungen hervorbringen. 23 Jedes Vermögen ist durch eine gewisse Funktionsweise ausgezeichnet. Unsere Sinnlichkeit ist dadurch ausgezeichnet, dass sie die Fähigkeit besitzt, „Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen" (A 19/B 33). Darüber hinaus ist sie dadurch ausgezeichnet, dass gewisse Formen in ihr liegen, weshalb all unsere Anschauungen in Raum und Zeit sind. Unser diskursiver Verstand ist dadurch ausgezeichnet, dass er ein Bewusstsein seiner selbst hervorbringen kann, aber kein Mannigfaltiges (dies muss ihm durch ein anderes Vermögen gegeben werden). Aus diesen Funktionsweisen der Vermögen erklären sich die Eigenschaften der von den Vermögen hervorgebrachten Vorstellungen. Wie sich aus der Funktionsweise des diskursiven Verstandes die logischen Eigenschaften von Begriffen ergeben, soll im Verlaufe dieser Arbeit (insbesondere in Kapitel 5) erläutert werden. Man muss also streng zwischen Vorstellungsarten und Vermögen unterscheiden, insbesondere zwischen dem Vermögen »Sinnlichkeit« und der Vorstellungsart »Anschauung«. Kant sagt zwar, dass alle An23

Ohne einen Beleg dafür angeben zu können, scheint mir, dass nach Kant nicht nur Erkenntnis, sondern überhaupt jede Vorstellung von irgendeinem mentalen Vermögen hervorgebracht wird. Dieser Ansicht ist auch Carl. Vgl. Die transzendentale Deduktion der Kategorien ..., S. 79.

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Die Struktur der Erkenntnis

schauungen, die uns Menschen tatsächlich gegeben sein können, sinnlich sind, er ist aber der Ansicht, dass dem Verstand Anschauungen auch durch ein anderes Vermögen als durch die Sinnlichkeit gegeben sein könnten. Es könnte also auch Anschauungen geben, die nicht durch die Sinnlichkeit hervorgebracht sind. Deshalb abstrahiert Kant in Passagen, in denen er lediglich den Beitrag des Verstandes zur Erkenntnis untersucht, davon, dass dem Verstand das Mannigfaltige bei uns Menschen immer durch die Sinnlichkeit gegeben ist (insbesondere in den §§ 15-19 der K.d.r.V.). Er nimmt deshalb in diesen Passagen auch das Mannigfaltige einer nicht-sinnlichen Anschauung als möglich an. 24 Kant ordnet der Vorstellungsart »Anschauung« das Vermögen »Sinnlichkeit« und der Vorstellungsart »Begriff« das Vermögen »Verstand« zu. Er begründet dies durch folgende Überlegung (vgl. A 67f/ Β 92f): Wir besitzen zwei Erkenntnisvermögen, ein sinnliches (die Sinnlichkeit) und ein nicht-sinnliches (den Verstand). Weiterhin nimmt Kant an, dass es zwei Arten von Erkenntnis, also zwei Arten objektiver Vorstellungen gibt, nämlich Anschauungen und Begriffe. (Es ergibt sich aus den Definitionen von Anschauung und Begriff als einzelne bzw. allgemeine objektive Perzeptionen (vgl. A320/B376f), dass dies die beiden einzigen Unterarten des Begriffs »objektive Vorstellung« sind.) Schließlich setzt Kant noch voraus, dass bei uns Menschen Anschauungen immer sinnlich sind. Es ergibt sich aus diesen Voraussetzungen eine Zuordnung der Anschauungen (einer Vorstellungsart) zur Sinnlichkeit (einem Vermögen) sowie eine Zuordnung der Begriffe zum Verstand. Als Erkenntnisvermögen muss der Verstand Erkenntnis hervorbringen. Dies können keine Anschauungen sein, weil diese immer sinnlich sind, der Verstand aber nicht-sinnlich ist. Daher muss der Verstand Begriffe hervorbringen. Ich möchte nun eine Interpretation für Kants Behauptung vorschlagen, dass Anschauungen auf Affektionen und Begriffe auf Funktionen beruhen. Kant schreibt: „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Punktionen. Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu 24

Siehe unten, S. 93-98.

Begriffe u n d die P u n k t i o n u n t e r z u o r d n e n

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o r d n e n . Begriffe g r ü n d e n sich also auf d e r S p o n t a n e i t ä t d e s D e n k e n s , wie s i n n l i c h e A n s c h a u u n g e n auf d e r R e z e p t i v i t ä t d e r E i n d r ü c k e . " ( A 6 8 / Β 93)

Bevor ich erläutere, inwiefern Begriffe auf Funktionen beruhen, möchte ich noch auf die Frage eingehen, ob Kant hier eine Definition des Begriffs »Funktion« gibt, die für alle Vorkommnisse dieses Begriffs in der K.d.r.V. gilt. Der Satz „Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen" (A 68/B 93) erweckt ja aufgrund der Wendung „Ich verstehe aber unter Funktion . . . " zunächst den Eindruck einer Definition. Dies hätte allerdings zur Folge, dass jedes Vorkommnis des Worts »Funktion« in der K.d.r.V. so verstanden werden müsste, dass dabei von einem Ordnen verschiedener Vorstellungen unter eine gemeinsame die Rede ist. Folgende Textstellen mögen verdeutlichen, dass dies zu Schwierigkeiten führt: Kant spricht z.B. von einer Funktion, die einerseits verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibt und andererseits der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit gibt (vgl. A79/B104f). Kant spricht auch von einer Funktion der Synthesis, die eine Anschauung hervorbringt (vgl. A 105), und von einer dem Verstände zukommenden Funktion, die Synthesis des Mannigfaltigen auf Begriffe zu bringen (vgl. A 78/ Β 103). Außerdem schreibt Kant auch der Sinnlichkeit eine Funktion zu (vgl. A51/B 75).25 Aufgrund dieser Schwierigkeiten bin ich der Ansicht, dass Kant hier dem Anschein zum Trotz keine Definition des Begriffs »Funktion« geben will, sondern dass er eine ganz bestimmte Funktion angeben will. Der zu interpretierende Satz ist daher so zu lesen: „Ich verstehe aber unter Funktion [hier] die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen." Meiner Ansicht nach gibt Kant dem Begriff »Funktion« weder hier noch an einer anderen Stelle der K.d.r.V. eine Definition. Er schließt sich in seiner Verwendung dieses Begriffs einfach den Mathematikern und Philosophen sei25

Auch Paton hat diese Schwierigkeiten gesehen, hat aber gleichwohl daran festgehalten, dass alle Vorkommnisse von »Punktion« im Sinne dieser Stelle interpretiert werden müssen (vgl. Kant's Metaphysic of Experience, S. 245ff). So auch de Vleeschauwer, La Däduction Transcendentale dans L'CEuvre de Kant, Bd. 2, S. 35f, dagegen Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel S. 30, Fn. 17a.

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Die Struktur der Erkenntnis

ner Zeit an. Danach ist eine Funktion eine gesetzmäßige, nach einer Regel verlaufende Operation. Mit dem zitierten Satz gibt er nun eine ganz bestimmte Funktion an, nämlich diejenige, verschiedene Vorstellungen einer gemeinsamen unterzuordnen. Diese Funktion werde ich hier auch die Funktion unterzuordnen nennen, um sie von anderen Funktionen zu unterscheiden. Insgesamt will Kant hier also sagen, dass Begriffe auf einer ganz bestimmten Funktion beruhen, nämlich derjenigen, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Nach dieser Vorbemerkung soll nun erklärt werden, was damit gemeint ist, dass Begriffe auf Funktionen beruhen, so wie Anschauungen auf AfFektionen. Und zwar denke ich, dass es Kant hier auf die Form von Begriffen bzw. von Anschauungen ankommt. So beruhen j a die Formen sinnlicher Anschauungen, nämlich Raum und Zeit, auf unserer Art, von Gegenständen affiziert zu werden. Wenn wir aufgrund unserer Sinnlichkeit affiziert werden und Vorstellungen empfangen, so ordnen wir diese Vorstellungen gleich in Verhältnissen von Raum und Zeit. Allerdings möchte ich auf Anschauungen nicht weiter eingehen. Entsprechend beruhen Begriffe meiner Ansicht nach insofern auf der Funktion unterzuordnen, als durch diese Funktion Begriffe ihrer Form nach hervorgebracht werden. Da die Form der Begriffe mit Bezug auf die Jäsche-Logik und Kants Reflexionen im nächsten Kapitel noch ausführlich behandelt wird, möchte ich hier nur einige vorläufige Anmerkungen machen. Zunächst ist anzumerken, dass nach Kant Begriffe ihrer Form nach durch drei logische actus, nämlich Komparation, Reflexion und Abstraktion hervorgebracht werden. Bei diesen drei Verstandeshandlungen muss es sich also um eine alternative Beschreibung der Funktion unterzuordnen handeln. Inwiefern man dies sagen kann, wird das nächste Kapitel ergeben. Die Form der Begriffe ist etwas, das allen Begriffen gemeinsam ist, und das sie als Begriffe auszeichnet. Sie besteht in der diskursiven Allgemeinheit, also darin, dass Begriffe vermittelst eines Merkmals viele verschiedene Gegenstände vorstellen. Diese Eigenschaft beruht nach Kant nun darauf, dass verschiedene Vorstellungen einer Vorstellung untergeordnet werden, die ihnen gemeinsam ist. Dabei ist der Begriff den unterzuordnenden Vorstellungen in dem Sinne gemeinsam, dass es eine teilweise inhaltliche Übereinstimmung gibt. Bei der Interpretation der Funktion unterzuordnen ist also zunächst zu betonen, dass

Begriffe u n d die Funktion unterzuordnen

29

zwischen dem Begriff und den verschiedenen Vorstellungen, auf deren Unterordnung der Begriff beruht, ein inhaltliches Verhältnis bestehen muss: Der Inhalt des Begriffs muss mit einem Teil des Inhalts der untergeordneten Vorstellungen übereinstimmen. Dies ist meiner Ansicht nach damit gemeint, „verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen" (A 68/B 93). Die Gemeinschaftlichkeit besteht also in einer inhaltlichen Übereinstimmung. Es stellt sich nun die Frage, welcher Art die Vorstellungen sind, die Begriffen untergeordnet werden, sodass Begriffe dadurch ihrer Form nach hervorgebracht werden. Als mögliche Antworten bieten sich hier zunächst Anschauungen und Begriffe an, allerdings führt keiner dieser beiden Fälle zu einer vollkommen befriedigenden Interpretation. Gegen die Interpretation, dass Begriffe ihrer Form nach auf der Unterordnung von verschiedenen Anschauungen beruhen, spricht, dass es nicht zu allen Begriffen korrespondierende Anschauungen gibt, die ihnen untergeordnet werden könnten. Es gibt z.B. keine Anschauungen, die einer der transzendentalen Ideen korrespondieren würden, was bedeutet, dass diese Begriffe keine objektive Realität aufweisen. Trotzdem sind die Ideen ihrer logischen Form nach aber Begriffe.26 Die Interpretation, dass Begriffe ihrer Form nach dadurch hervorgebracht werden, dass ihnen andere Begriffe untergeordnet werden, ist einem derartigen Einwand nicht ausgesetzt, denn zu jedem Begriff gibt es Artbegriffe, die unter ihm enthalten sind. Allerdings ist diese Interpretation insofern unbefriedigend als bei der Erklärung der Form von Begriffen auf Begriffe rekurriert wird, die diese Form selbst schon aufweisen. Es ergibt sich also ein infiniter Regress. Meiner Ansicht nach muss man unter den Vorstellungen, die einer gemeinsamen Vorstellung untergeordnet werden, mögliche ganze Vorstellungen von Gegenständen verstehen. Solche Vorstellungen, von denen Kant gelegentlich in den Reflexionen zur Logik spricht, stellen jede der unendlich vielen Bestimmungen vor, die ein einzelner Gegenstand aufweist. Sie entsprechen den Gegenständen, die durch einen Begriff vorgestellt werden, gewissermaßen eins zu eins. Es ist klar, dass wir als endliche Wesen keine ganzen Vorstellungen besitzen. Kant nimmt aber solche Vorstellungen als möglich an, um logische Sachverhalte zu 26

Aus diesem Grunde ist M. Wolffs Interpretation dieser Stelle zu kritisieren, der hier von sinnlich erworbenen Vorstellungen ausgeht. Siehe Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, S. 65.

30

Die Struktur der Erkenntnis

erläutern. Ich werde in Kapitel 3 auf dieses Thema zurückkommen (S. 58). Ich möchte betonen, dass die Funktion unterzuordnen streng vom Urteilen unterschieden werden muss. Dies ergibt sich daraus, dass im Fall der Funktion unterzuordnen eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen bestehen muss, während dies bei Urteilen nicht unbedingt der Fall ist. Im Urteil kann man einem PrädikatBegriff ja auch einen Subjekt-Begriff unterordnen, der keine Unterart des Prädikats ist. Ansonsten gäbe es nur analytische Urteile. Wie eben schon erwähnt wurde, sagt Kant zwar auch, dass im Urteil ein Begriff dem anderen untergeordnet wird, diese sprachliche Gleichheit darf aber nicht über die sachlichen Unterschiede hinwegtäuschen. Allerdings legt die folgende Textstelle die Interpretation, dass es sich bei der Funktion unterzuordnen um das Urteil handelt, zumindest nahe. Es soll deshalb gezeigt werden, dass dies bei genauerem Hinsehen nicht der Fall ist. „Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so daß der V e r s t a n d überhaupt als ein V e r m ö g e n z u u r t e i l e n vorgestellt werden kann. Denn er ist nach dem obigen ein Vermögen zu denken. Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe." ( A 6 9 / Β 94)

Der Verstand ist dieser Stelle zufolge das Vermögen der Erkenntnis durch Begriffe. Um durch Begriffe zu erkennen (im eigentlichen Sinne), muss man aber urteilen. Aus diesem Grund kann man alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen. Nun ist aber auch die Funktion unterzuordnen eine Handlung des Verstandes. Also kann man auch die Funktion unterzuordnen auf Urteile zurückführen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Funktion unterzuordnen ein Urteil ist. Es wird nur gesagt, dass sie auf Urteile zurückgeführt werden kann. Dies wiederum ist meiner Ansicht nach folgendermaßen zu verstehen: Es gibt einerseits die eigentliche Handlung des Verstandes (des Vermögens der Erkenntnis durch Begriffe), die darin besteht, durch Begriffe zu erkennen. Diese Handlung besteht im Urteilen, also darin, Begriffe auf objektiv gültige Weise zu verbinden. Daneben gibt es aber auch Handlungen des Verstandes, die für diese Handlung vorausgesetzt sind. Man muss z.B. Begriffe ihrer Form nach hervorbringen, um durch sie

Begriffe und die Punktion unterzuordnen

31

erkennen zu können. Dies geschieht durch die Funktion unterzuordnen. Diese Handlung des Verstandes kann also in dem Sinne auf Urteile zurückgeführt werden, dass sie für das Urteilen vorausgesetzt ist, sie ist aber selbst kein Urteil. Dieselbe Interpretation wird auch durch den Fortgang des Textes unmittelbar nach der Behauptung, dass Begriffe auf Funktionen beruhen, nahegelegt. Denn Kant sagt zuerst, dass Begriffe auf der Funktion unterzuordnen beruhen und schreibt dann: „Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt." (A 68/B 93) Aus dieser Formulierung geht hervor, dass beim Urteilen schon Begriffe vorausgesetzt sind, denen andere Vorstellungen untergeordnet sind. Die Funktion unterzuordnen muss demnach schon vor und unabhängig vom Gebrauch von Begriffen in Urteilen ausgeführt werden. Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich noch die Interpretation von Longuenesse diskutieren, die die Position vertritt, dass die Funktion unterzuordnen, auf der Begriffe beruhen, im Urteil ausgeführt wird. Nach Longuenesse handelt es sich bei dieser Funktion um Urteile, denn „in judging we typically relate a concept, say divisible [... ] to another concept, say »bodies« (the subject-concept) and by means of it to all objects thought under the subject-concept". 27 Dadurch - so Longuenesse - entspricht das Urteil der Definition der Funktion unterzuordnen als Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinsamen zu ordnen. Ich denke, dass Longuenesse hier meint, dass ein Urteil diese Definition insofern erfüllt, als unter dem Subjekt-Begriff des Urteils verschiedene Anschauungen enthalten sind. 28 Die Funktion unterzuordnen ist nach Longuenesse deshalb ein Urteil, oder wird genauer gesagt beim Urteilen vollzogen, weil im Urteil ein Prädikat-Begriff von einem Subjekt-Begriff ausgesagt wird, unter welchen wiederum - und darauf kommt es an - viele Objekte geordnet werden. Diese Charakterisierung von Urteilen kann sich auf Kants Aussage stützen, dass Urteile 27 28

The Divisions of Transcendental Logic and the Leading Thread, S. 140. Wie Wolff behauptet Longuenesse also, dass Begriffe auf der Unterordnung von Anschauungen beruhen. Dies kann, wie eben erläutert, nicht für Begriffe allgemein gelten. Man kann dieses Problem hier aber ignorieren, wenn man die Betrachtung auf objektiv reale Begriffe einschränkt. Nur in diesem Fall ist ein Urteil ja wirklich Erkenntnis von Gegenständen.

32

Die Struktur der Erkenntnis „Punktionen der Einheit unter unsern Vorstellungen [sind], da nämlich statt einer unmittelbaren Vorstellung eine höhere, die diese und mehrere unter sich begreift, zur Erkenntnis des Gegenstandes gebraucht, und viel mögliche Erkenntnisse dadurch in einer zusammengezogen werden." (A 69/B 94)

Ich stimme mit Wolff darin überein, dass diese Aussage folgendermaßen zu verstehen ist: „Der Umstand, daß das Urteilsprädikat nicht auf viele Vorstellungen [d.h. Anschauungen, B.P.], sondern statt dessen auf nur einen (nicht-prädikativ gebrauchten) Begriff bezogen wird, bewirkt die (numerische) Einheit der Erkenntnis im Urteil. Durch diesen Umstand werden nämlich viele mögliche Erkenntnisse »in einer [Erkenntnis] zusammengezogen«." 29 Urteile sind also Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen, insofern sie einen Subjekt-Begriff enthalten, unter den verschiedene Anschauungen geordnet sind. Longuenesse scheint dies nun so zu verstehen, dass es die Urteilshandlung ist, die erstens die Anschauungen unter den Subjekt-Begriff ordnet und zweitens den Prädikat-Begriff vom Subjekt-Begriff aussagt. Auch Wolff scheint diese Ansicht zu vertreten: „Da alles Denken, d.h. aller Begriffsgebrauch, wie wir nun schon in [d] erfahren haben, in Urteilen stattfindet, muß auch die Herstellung eines unmittelbaren Gegenstandsbezuges eine Angelegenheit des Urteilens sein." 30 Nach Longuenesse und Wolff spielt das Urteil also eine Doppelrolle: Einerseits wird in ihm ein Prädikat-Begriff von einem Subjekt-Begriff ausgesagt, andererseits werden die Begriffe auf Gegenstände bezogen. Entsprechend bestimmt Longuenesse die Form des Urteils als „the ways in which in them, concepts are combined and related to objects" (kursiv von mir). 3 1 Dieser Interpretation möchte ich entgegenhalten, dass sie unter dem Begriff des Urteils zwei ganz und gar verschiedene Handlungen zusammenfasst: Einerseits das Verbinden von zwei Begriffen (Subjekt und Prädikat), andererseits das Ordnen von Anschauungen unter den ihnen gemeinsamen Subjekt-Begriff. Man könnte argumentieren, dass diese beiden Handlungen sehr wohl zusammengehören, da 29 30

31

M. Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, S. 83. Wolff, a.a.O., S. 81. Dem möchte ich entgegenhalten, dass nicht schlechthin jeder Begriffsgebrauch in Urteilen stattfindet. Wenn z.B. die Einbildungskraft einen Begriff gebraucht, um das Mannigfaltige der Anschauung zu vereinigen, findet kein Urteilen statt (siehe unten, S. 164-167). Longuenesse, a.a.O., S. 141.

Die Logik überhaupt

33

das Urteilen ja den Besitz von Begriffen voraussetzt. 32 Aus diesem Grunde, so könnte man sagen, beinhaltet die Urteilshandlung auch die Handlungseinheit, auf der Begriffe beruhen. Dies Argument würde jedoch nicht überzeugen. Denn wenn das Ausführen einer Handlung es voraussetzt, dass man eine andere Handlung ausgeführt hat, so kann man nicht unbedingt darauf schließen, dass die erste Handlung die zweite beinhaltet. So setzt z.B. die Handlung des Fischens zwar den Besitz eines Fischernetzes voraus, trotzdem enthält diese Handlung nicht die des Herstellens eines Netzes. Kant definiert die Handlung des Urteilens so, dass Begriffe oder Urteile objektiv verbunden werden, d.h. er meint mit der Handlung des Urteilens nur das objektive Verbinden von Erkenntnissen. Die Handlungen, aufgrund derer Begriffe sich auf Gegenstände beziehen, sind in der Handlung des Urteilens dagegen nicht enthalten.

2.4

Die Logik überhaupt

Die bisherigen Abschnitte haben zweierlei ergeben: Erstens ist Erkenntnis im eigentlichen Sinne immer ein Urteil, in welchem Begriffe auf objektiv gültige Weise miteinander verbunden werden. Zweitens müssen die verbundenen Begriffe objektiv real sein, damit nicht nur Erkenntnis im logischen Sinne vorliegt. Die objektive Realität erfordert wiederum, dass den Begriffen sinnliche Anschauungen korrespondieren. Schließlich kommt noch etwas hinzu, das bisher noch nicht erwähnt wurde: Die Urteile müssen untereinander in inferenziellen Beziehungen stehen, damit sie ein systematisches Ganzes bilden. Nur dann kann man nach Kant sagen, dass die Urteile die Wissenschaft eines Gegenstandsbereichs ausmachen. 33 Nach Kant sind zwei Vermögen an der menschlichen Erkenntnis beteiligt, nämlich die Sinnlichkeit und der Verstand. Durch die Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben, durch den Verstand werden sie gedacht (vgl. A 50/B 74). Die Sinnlichkeit ist für Erkenntnis erforderlich, da nur sie uns Anschauungen geben kann, und Begriffe nur aufgrund von korrespondierenden Anschauungen objektive Realität 32

33

Ich habe ja gesagt, dass man in diesem Sinne die Funktion unterzuordnen auf Urteile zurückführen kann, sie ist aber deshalb nicht Bestandteil der Urteilshandlung. Kant schreibt, dass „die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft [... ] macht" (A 832/B 860).

34

Die Struktur der Erkenntnis

besitzen können. Der Verstand hat dagegen drei Aufgaben: Er muss erstens Begriffe, zweitens Urteile und drittens Schlüsse bilden. Entsprechend setzt der Verstand sich aus drei Teilvermögen zusammen: Dem Verstand im engeren Sinne, der Urteilskraft und der Vernunft. Diese drei Vermögen werden zusammen auch als Verstand im weiteren Sinne oder als das obere Erkenntnisvermögen bezeichnet, während die Sinnlichkeit auch unteres Erkenntnisvermögen heißt. 34 Zu jedem der beiden Erkenntnisvermögen gibt es nach Kant nun eine Wissenschaft, die ihre jeweiligen Regeln untersucht. „Daher [weil man den Anteil beider Vermögen an der Erkenntnis nicht vermischen darf] unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d.i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d.i. der Logik." (A52/B76) Man kann daher sagen, dass die Logik es mit der Analyse eines bestimmten Teils unseres Erkennens zu tun hat, nämlich dem Erkennen von Gegenständen, sofern dies durch Begriffe, Urteile und Schlüsse geschieht. Entsprechendes findet sich in der Jäsche-Logik. Jäsche beginnt seine Erläuterung des Begriffs der Logik mit der Bemerkung, dass alles in der Natur nach Regeln geschieht. Dies gelte auch für all unsere Kräfte und insbesondere für unseren Verstand, der bei seinen Handlungen an gewisse Regeln gebunden sei (vgl. AA 9, l l f ) . Wenn Jäsche hier von Regeln des Verstandes spricht, so meint er damit Eigenheiten des Denkens, die von der Natur des Verstandes herrühren. „Denn es leidet gar keinen Zweifel: wir können nicht denken oder unsern Verstand nicht anders gebrauchen als nach gewissen Regeln. Diese Regeln können wir nun aber wieder für sich selbst denken, d.h. wir können sie o h n e i h r e A n w e n d u n g oder in abstracto denken." (AA9, 12)

Wir können uns also der Regeln, nach denen unser Verstand seiner Natur nach vorgehen muss, bewusst werden und sie formulieren. Diese Auffassung von der Logik legt natürlich den Vorwurf des Psychologismus nahe. Am Ende dieses Abschnitts werde ich darauf noch eingehen. Hier möchte ich zunächst erläutern, was bei Kant eigentlich mit dem Begriff »Regel« gemeint ist, da dieser Begriff im 18. Jahrhundert eine andere Bedeutung hatte als die heute geläufige, die stark von Wittgenstein geprägt ist. Kants Verständnis dieses Begriffes ist m.E. der Tra34

Vgl. Anthropologie

in pragmatischer

Hinsicht,

§ 40 (AA7, 196f).

Die Logik überhaupt

35

dition entnommen. Dafür spricht erstens, dass man keine Auseinandersetzung mit diesem Begriff in seinen veröffentlichten Schriften findet. Zweitens deuten die Bemerkungen, die Kant zu diesem Begriff macht, an, dass er sich den von Wolff und Baumgarten gegebenen Definitionen anschließt. Chr. Wolffund Baumgarten definieren den Begriff »Regel« in beinahe identischer Formulierung: „Propositio enuncians determinationem rationi conformem est norma (regula, lex)" (Baumgarten) bzw. „Proposito enuncians determinationem rationi conformem Regula dicitur" (Wolff).35 Eine Regel ist also ein Satz, der besagt, dass eine Bestimmung eines Dinges einem Grund gemäß ist, dass also eine gewisse Bestimmung des Dinges aus einem bestimmten Grund besteht. Eine Regel hat demnach die Form eines wenn-dann-Satzes: »Weil der und der Grund vorliegt, hat das Ding die und die Bestimmung«. Man hat sich unter einer Regel nach Wolff und Baumgarten also nicht primär eine Vorschrift für Handlungen vorzustellen, sondern ganz allgemein eine Gesetzmäßigkeit36 oder Regelmäßigkeit. Als Beispiele für Regeln kann man Naturgesetze anführen, z.B. genügen die Bewegungen der Planeten einer Regel. Chr. Wolff führt als Beispiel für Regeln die Ordnungsprinzipien für Bücher in einer Bibliothek an. Wegen dieser primären Bedeutung des Begriffs »Regel« ist es aber auch möglich, von Regeln im Sinne von Vorschriften für Handlungen zu sprechen. Kants Reflexionen zeigen, dass sein Verständnis des Begriffs »Regel« dem von Baumgarten und Wolff entspricht. Er schreibt: „Einheit der Bedingung, unter der etwas allgemein gesetzt wird, ist Regel." (R5751) Es ist in dieser Reflexion von einer Bedingung die Rede, bei deren Erfüllung allgemein etwas gesetzt wird. Sofern also eine bestimmte Bedingung gegeben ist, wird immer (allgemein) eine Folge gesetzt. Auch nach Kant ist eine Regel also das Bestehen einer GrundFolge-Beziehung oder einer Gesetzmäßigkeit, oder, genauer gesagt, die Vorstellung davon. Auch in der K.d.r.V. geht Kant von diesem Verständnis des Begriffs »Regel« aus. Er schreibt: „Nun heißt aber die Vorstellung einer allgemeinen B e d i n g u n g , nach welcher ein gewisses Mannigfaltige [...] gesetzt werden k a n n , eine R e g e l [...]." (A 113) Dieser 35

36

Baumgarten, Metaphysial, § 83. Als Übersetzungen für regula gibt Baumgarten Richtschnur und Gesetz an. Chr. Wolff, Philosophia prima sive Ontologia, § 475. Bezüglich des Wortes »Gesetz« ist hier Vorsicht geboten, da Kant, wie wir sehen werden, unter Gesetzen notwendig bestehende Regeln versteht.

36

Die Struktur der Erkenntnis

Satz kann ähnlich wie R 5751 gelesen werden, denn in beiden Fällen drückt Kant sich recht ähnlich aus: Im Kern ist sowohl in der Reflexion (»Bedingung, unter der etwas allgemein gesetzt wird«) als auch hier (»Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltiges gesetzt werden kann«) von einer Grund-Folge-Beziehung die Rede. Dabei sind aber folgende Unterschiede zu beachten: 1) Die Formulierung in der K.d.r.V. lässt nur das Setzen von Mannigfaltigem der Anschauung als Folge eines Grundes zu. Dies hängt damit zusammen, dass Kant hier keine Definition des Begriffes »Regel« gibt, sondern nur sagt, dass die Vorstellung einer Bedingung, nach welcher ein Mannigfaltiges gesetzt wird, Regel heißt, d.h. unter den Begriff der Regel fällt. 2) In der Formulierung der K.d.r.V. taucht noch ein Modalausdruck auf, der in der Reflexion fehlt. Kant will m.E. sagen, dass eine Regel vorliegt, wenn das Grund-Folge-Verhältnis als möglich vorgestellt wird. Dabei bezieht sich die Möglichkeit auf das Vorliegen des gesamten Verhältnisses und nicht nur auf das Eintreten der Folge bei Vorliegen des Grundes. Eine Regel ist also die Vorstellung, dass das Verhältnis, dass ein bestimmter Grund eine Folge nach sich zieht, möglicherweise besteht, und nicht die Vorstellung, dass der Grund möglicherweise die Folge nach sich zieht. Kant nennt an dieser Stelle der K.d.r.V. außerdem noch den Begriff »Gesetz«; dies ist dasselbe wie eine Regel, nur dass das Grund-FolgeVerhältnis als notwendig bestehend vorgestellt wird. Kants Verständnis des Begriffs »Regel« unterscheidet sich somit deutlich von einem durch den späten Wittgenstein geprägten Verständnis, wonach Regeln aufgrund von Konvention bestehen. Nach Kant sind Regeln eher so etwas wie Naturgesetze, die empirisch entdeckt oder analytisch gewonnen werden können. Letzteres ist meiner Ansicht nach im Fall der formalen und transzendentalen Logik gegeben. Beide werden ja an einen höchsten Punkt, nämlich die synthetische Einheit der Apperzeption, geheftet (vgl. Β 134n). Dies ist meiner Ansicht nach so zu verstehen, dass sich die Regeln der Logik analytisch aus diesem Begriff ergeben. Diese Bemerkung stellt aber einen Vorgriff dar; erst in Kapitel 5 werden wir sehen, wie sich die formallogischen Eigenschaften von Begriffen aus dem »höchsten Punkt« ergeben.

Die Logik überhaupt

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2.4.1 Kants Einteilungen der Logik Der Begriff der Logik ist aufgrund seiner Definition als Wissenschaft von den Verstandesregeln überhaupt sehr weit. Wie wir gleich sehen werden, fallen sogar empirische Untersuchungen über den Verstand darunter. Daher nimmt Kant eine Reihe von Unterscheidungen innerhalb dieses Begriffs vor. Bei der Diskussion dieser Unterscheidungen ist es sinnvoll, zwischen einzelnen Logiken und Logik-Begriffen zu unterscheiden. Eine einzelne Logik ist ein System von Regeln für den Verstandesgebrauch. Eine einzelne Logik muss deshalb ein System sein, weil eine Logik nach Kant eine Wissenschaft ist, und „die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft [...] macht" (A 832/B 860). Ein System ist durch eine Einheit nach einem Zweck ausgezeichnet, weshalb es ein Ganzes ist, das gegliedert und nicht gehäuft ist (vgl. A 832f/B 860f). Als solche Systeme von Verstandesregeln kann man beispielsweise die formale Logik und die transzendentale Logik ansehen. Die in ihnen enthaltenen Regeln stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern beziehen sich aufeinander. So setzt z.B. die Schlusslehre der formalen Logik voraus, dass es ganz bestimmte Urteilsformen gibt. Auf der anderen Seite kann man verschiedene Logik-Begriffe bilden, unter die einzelne Logiken fallen, die jeweils ein System von Regeln ausmachen. Diese Begriffe fordern, dass die in den Logiken enthaltenen Regeln bestimmten Bedingungen genügen. Unter den Begriff »allgemeine Logik« fallen z.B. einzelne Logiken, die Regeln enthalten, die von allem Inhalt abstrahieren. Nach seiner Definition der Logik als Wissenschaft von den Verstandesregeln überhaupt führt Kant folgende Unterbegriffe ein: 1) Logiken des allgemeinen Verstandesgebrauchs, 2) Logiken des besonderen Verstandesgebrauchs, 3) reine Logiken und 4) angewandte Logiken. Ich möchte zunächst kurz diese vier Begriffe charakterisieren und auf die logischen Verhältnisse zwischen ihnen eingehen.37 „Die Logik kann nun wiederum in zwiefacher Absicht unternommen werden, entweder als Logik des allgemeinen, oder des besondern Verstandesgebrauchs." (A 52/B 76) Betrachten wir zuerst den Begriff »Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs«. Eine unter diesen Be37

Siehe zu dem Folgenden auch M. Wolff, Die Vollständigkeit Urteilstafel, S. 204-225.

der

kantischen

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Die Struktur der Erkenntnis

griff fallende Logik „enthält die schlechthin notwendigen Regeln des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet, und geht also auf diesen, unangesehen der Verschiedenheit der Gegenstände, auf welche er gerichtet sein mag" (A 52/B 76). Kant definiert diese Logikart in Hinblick auf die Klasse der Gegenstände, für welche die in einer derartigen Logik enthaltenen Regeln gelten. Eine Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs enthält demnach solche Regeln des Denkens, die für alle Gegenstände überhaupt gelten, unabhängig von deren Verschiedenheit. Diese Regeln sind notwendig für das Denken, da das Denken ja immer von irgendwelchen Gegenständen handelt und die Regeln einer Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs unabhängig davon gelten, welche Gegenstände dies sind. Es sind demnach Regeln, die für jedes Denken gelten. Die Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs nennt Kant auch allgemeine Logik. Die Allgemeinheit einer Logik besteht darin, dass die in ihr enthaltenen Regeln von allem Inhalt abstrahieren (vgl. A 54/ Β 78). Mit der Abstraktion von allem Inhalt dürfte nicht gemeint sein, dass die allgemeine Logik von dem Urteilsinhalt absieht, der auf den Urteilsfunktionen der Quantität, Qualität und Relation beruht. Kant behauptet ja implizit, dass die Quantität, Qualität und Relation eines Urteils einen Beitrag zu dessen Inhalt leisten: „Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt" (A 74/ B99f). Dieser Inhalt wird in der Urteilslehre der formalen Logik ja gerade thematisiert. Gemeint ist hier nur, dass die allgemeine Logik von allem Begriffsinhalt abstrahiert. Eine allgemeine Logik enthält also Regeln, die unabhängig davon gelten, welchen Inhalt die Begriffe haben, durch die gedacht wird. Diese Regeln gelten z.B. unabhängig davon, ob dieser Inhalt rein oder empirisch ist. Dies ist gleichbedeutend mit der Bestimmung, von allem Unterschied der Gegenstände zu abstrahieren. Zweitens nennt Kant im obigen Zitat den Begriff »Logik des besonderen Verstandesgebrauchs«. Eine solche Logik „enthält die Regeln, über eine gewisse Art von Gegenständen richtig zu denken" (A 52/ Β 76). Die Logiken des besonderen Verstandesgebrauchs zeichnen sich also dadurch aus, dass sie Regeln enthalten, die nur für das Denken über einen Teil, d.h. eine Teilklasse der Gegenstände gelten. Kant versteht unter einer besonderen Logik „das Organon dieser oder jener

Die Logik überhaupt

39

Wissenschaft". Ein solches Organon kann man nach Kant erst dann aufstellen, „wenn die Wissenschaft schon lange fertig ist". Ein Organon enthält Regeln, „wie sich eine Wissenschaft von [gewissen Gegenständen] zu Stande bringen lasse" (A 52/B 76f). Diese Bemerkungen deuten an, dass es sich bei einem Organon um so etwas wie die Axiomatisierung einer Wissenschaft handelt, wie z.B. die Newton'schen Axiome für die klassische Mechanik. Eine solche Axiomatisierung lässt sich erst aufstellen, wenn die wesentlichen Entdeckungen schon gemacht worden sind, sodass die Wissenschaft „nur die letzte Hand zu ihrer Berichtigung und Vollkommenheit bedarf" (A 52/B 76).38 Nach Kant bilden der Begriff »Logik des allgemeinen Verstandesgebrauchs« und der Begriff »Logik des besonderen Verstandesgebrauchs« eine vollständige Disjunktion, denn er sagt, dass die Logik „entweder als Logik des allgemeinen, oder des besondern Verstandesgebrauchs" unternommen werden kann (A 52/B 76, kursiv von mir). Dies kommt daher, dass beide Begriffe durch die Klasse der Gegenstände definiert werden, für die die Denkregeln gelten. Im ersten Fall sind es alle Gegenstände, im zweiten nur ein Teil der Gegenstände. 39 Weiterhin kann man die Begriffe »reine Logik« und »angewandte Logik« bilden. Eine Logik ist dann rein, wenn sie keine empirischen Prinzipien annimmt. ,Als reine Logik hat sie keine empirische Prinzipien [...]. Sie ist eine demonstrierte Doktrin, und alles muß in ihr völlig a priori gewiß sein" (A54/B78). Eine Logik ist dagegen angewandt, wenn sie nicht rein ist, sondern empirische Prinzipien annimmt. Wie die Begriffe »allgemeine Logik« und »besondere Logik« schließen auch die Begriffe »reine Logik« und »angewandte Logik« einander aus. Aus diesen zwei Begriffsgegensätzen lassen sich vier Paarungen bilden: 1) Die allgemeine reine Logik ist die Logik im eigentlichen Sinne. Kant bezeichnet sie auch als formale Logik (vgl. A 131/B 170) oder einfach als Logik. Sie bildet auch das ausschließliche Thema der JäscheLogik. Als reine Logik hat sie es „mit lauter Prinzipien a priori zu tun, und ist ein K a n o n d e s V e r s t a n d e s und der Vernunft" (A53/B77). Außerdem abstrahiert die formale Logik von allem Be38

39

Nach M. Wolff kann man die Logiken des besonderen Verstandesgebrauchs auch als Fachlogiken bezeichnen. Vgl. Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, S. 210. Der Ausdruck »Gegenstand« ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen, sodass er nicht nur die Gegenstände möglicher Erfahrung umfasst, sondern alle möglichen Gegenstände.

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Die Struktur der Erkenntnis

griffsinhalt. Daher ist sie ein Kanon des Verstandes und der Vernunft „nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle, (empirisch oder transzendental)" (A53/B77). Die formale Logik zählt also auf, was man a priori über jedes Denken sagen kann. 40 2) Während die allgemeine reine Logik aufgrund ihrer Reinheit von ,Rillen empirischen Bedingungen, unter denen unser Verstand ausgeübet wird" (A 53/B 77) abstrahiert, macht die allgemeine, aber angewandte Logik gerade diese Bedingungen zu ihrem Thema. Sie ist „auf die Regeln des Gebrauchs des Verstandes unter den subjektiven empirischen Bedingungen, die uns die Psychologie lehrt, gerichtet" (A 53/ Β 77). Die empirische Psychologie stellt fest, zu welchen Operationen und Vorstellungen das menschliche Gemüt neigt und welchen empirischen Bedingungen es bei seinen Operationen unterworfen ist. Sie handelt „z.B. vom Einfluß der Sinne, vom Spiele der Einbildung, den Gesetzen des Gedächtnisses, der Macht der Gewohnheit, der Neigung etc." (A 53/B 77). Dies sind die „zufälligen Bedingungen des Subjekts, die diesen Gebrauch hindern oder befördern können [...]. Sie handelt von der Aufmerksamkeit, deren Hindernis und Folgen, dem Ursprünge des Irrtums [...] usw." (A 54/B 78f). Diese empirischen Bedingungen können dazu führen, dass wir zu inhaltlich ungerechtfertigten Urteilen kommen (Vorurteile) oder zu formal falschen Schlüssen. Die Kenntnis der Umstände, die solche Fehler begünstigen, kann als „Kathartikon des gemeinen Verstandes" (A 53/B 78) dienen. Die angewandte Logik kann einerseits Regeln zur Vermeidung von Fehlschlüssen beinhalten, andererseits Regeln zur Vermeidung falscher Urteile. 3) Es gibt unter den reinen Logiken nicht nur die allgemeine reine (also formale) Logik, sondern es gibt auch Logiken des besonderen Verstandesgebrauchs, die rein sind. An erster Stelle ist hier die transzendentale Logik zu nennen. Sie ist eine „Wissenschaft des reinen Verstandes- und Vernunfterkenntnisses, dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken" (A 57/B 81). Sie ist also dadurch bestimmt, dass sie sich mit dem reinen Denken von Gegenständen befasst. Mit dem reinen Denken ist Folgendes gemeint: In den §§ 3-4 der Jäsche-Logik werden verschiedene Ursprünge der Materie von Begriffen unterschieden. Reine Begriffe entspringen nicht nur ihrer Form, sondern auch ihrer 40

Ich werde im Kapitel 2.4.2 noch auf die Aufgabe und das Vorgehen der formalen Logik zurückkommen.

Die Logik überhaupt

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Materie oder ihrem Inhalt nach dem Verstand. Sie unterscheiden sich dadurch von empirischen Begriffen, deren Materie durch die Erfahrung gegeben ist, und von gemachten Begriffen, deren Materie willkürlich erdichtet ist. 41 Mit »Verstand« ist hier der Verstand im weiteren Sinne gemeint, der den Verstand im engeren Sinne, die Urteilskraft und die Vernunft enthält. Nach Kant entsprechen jedem der drei Teilvermögen gewisse reine Begriffe: Die Kategorien entspringen dem Verstand i.e.S., die transzendentalen Ideen der Vernunft und der Begriff der Zweckmäßigkeit der Urteilskraft. Mit der Frage, wie dem Verstand, entsprechend den Urteilsfunktionen Kategorien entspringen, werde ich mich noch in Kapitel 6 beschäftigen. Die beiden anderen Fälle möchte ich hier nur nennen und nicht weiter diskutieren. So schreibt Kant über den Ursprung der transzendentalen Ideen: „Die Form der Urteile (in einen Begriff von der Synthesis der Anschauungen verwandelt) brachte Kategorien hervor [...]. Eben so können wir erwarten, daß die Form der Vernunftschlüsse [... ] den Ursprung besonderer Begriffe a priori enthalten werde, welche wir reine Vernunftbegriffe, oder t r a n s z e n d e n t a l e I d e e n nennen können" (A 321/B 378). Über den Begriff der Zweckmäßigkeit schreibt Kant: „Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflectirenden Urtheilskraft seinen Ursprung hat." (AA 5, 181) Da die transzendentale Logik sich nur mit reinen Begriffen befasst, ist sie eine Logik, „in der man nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahier^]" (A 55/Β 80) - die transzendentale Logik ist also keine allgemeine Logik. Sie untersucht, ob und welche Begriffe ihren Ursprung der Materie nach in unserem Verstand i.w.S. haben, d.h. sie beschäftigt sich mit dem reinen Denken. Diese Wissenschaft ist eine Logik, „weil sie es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun hat, aber lediglich, so fern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird" (A 57/B 81f). Kant sagt, dass die transzendentale Logik „den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit solcher Erkenntnisse" (A 57/B 81) bestimmt. Es ist fraglich, was Kant hier mit objektiver Gültigkeit meint. Es kann meiner Ansicht nach nicht die objektive Realität reiner Begriffe gemeint sein, die darin besteht, dass den Begriffen sinnliche Anschauungen entsprechen. Dies kann nämlich von einer Logik gar nicht untersucht werden, da sie sich nur mit dem 41

Siehe unten, S. 53.

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Die Struktur der Erkenntnis

Verstand beschäftigt und nicht mit der Sinnlichkeit, durch die die korrespondierenden Anschauungen ja gegeben werden müssten. 42 Stattdessen wird hier mit der objektiven Gültigkeit die Objektivität in dem Sinne gemeint sein, dass die Kategorien Gegenstände der Anschauung als solche vorstellen. Ihr Inhalt gibt an, was einen Gegenstand der Anschauung als solchen auszeichnet. 43 Friedman behauptet von der transzendentalen Logik, sie sei „concerned with precisely the relation between concepts and intuitions, between understanding and sensibility - although only with the pure or non-empirical (see A 55/B 79-80) aspects of this relation". 44 Wenn man Kants Definition der Logik als Wissenschaft von den Regeln des Verstandes zugrunde legt, kann auch die transzendentale Logik sich nur mit dem Verstand beschäftigen. Als Logik kann sie also nicht die Beziehung des Verstandes zur Sinnlichkeit thematisieren. 45 Wie wir in Kapitel 6.2.2 sehen werden, sind die Kategorien als Ausdruck der Regeln des Denkens von Gegenständen möglicher Erfahrung auch gar nicht auf die Sinnlichkeit eingeschränkt. Neben der transzendentalen Logik sind aber auch die Fachlogiken von reinen Wissenschaften, wie der Mathematik, rein. M. Wolff vertritt die Ansicht, dass man nach Kant die Logik Freges als Fachlogik der Mathematik anzusehen hat. 46 4) Die Fachlogiken empirischer Wissenschaften sind selbst auch empirisch. Da diese Logiken nicht rein sind, sondern empirische Prinzipien annehmen, muss man sie als angewandte Logiken des besonderen Verstandesgebrauchs klassifizieren. Allerdings spielen in diesem Fall nicht, wie bei der allgemeinen angewandten Logik, empirische Prinzipien über den Verstand eine Rolle, sondern empirische Prinzipien über bestimmte Gegenstände. 42

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Damit soll natürlich nicht geleugnet werden, dass die transzendentale Deduktion der Kategorien deren objektive Realität beweisen soll. Dazu muss sie aber über die transzendentale Logik hinausgehen. Kant schreibt: „Alle sinnliche Anschauungen stehen unter den Kategorien" (B 143). Ich werde mich in Kapitel 6.2 mit Kants Beweis für diese Behauptung beschäftigen. Kant and the Exact Sciences, S. 97. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass Kant sich selbst nicht an diesen strengen Sprachgebrauch hält: Er betitelt den ganzen zweiten Teil der Elementarlehre der K.d.r.V. als transzendentale Logik, obwohl in diesem auch über die Sinnlichkeit gesprochen wird. Vgl. Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, S. 311.

Die Logik überhaupt 2.4.2

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Aufgabe und Vorgehen der formalen Logik

Zum Abschluss dieses Kapitels möchte ich noch kurz auf die Aufgabe und das Vorgehen der formalen Logik eingehen. Als Wissenschaft von den Verstandesregeln muss die Logik die Vorstellungen untersuchen, durch die der Verstand erkennt, d.h. sie muss die Form der Begriffe untersuchen. Zweitens muss sie die möglichen Formen von Urteilen bestimmen. Da der Verstand als Vernunft Urteile als in inferenziellen Beziehungen stehend ansieht, hat die formale Logik drittens zu untersuchen, welche gültigen Schlüsse es gibt. Damit unterscheidet sich die Aufgabe der Logik nach Kant von der Aufgabe, die im 20. Jahrhundert oft der Logik zugeschrieben wird. Hier geht man davon aus, dass eine gewisse Syntax und Semantik von Formeln vorgegeben ist, sowie einige Axiomschemata und/oder Schlussregeln. Die Aufgabe der Logik wird dann hauptsächlich darin gesehen, die Wahrheit der Axiome, die Korrektheit der Schlussregeln und die Vollständigkeit des gesamten Systems zu beweisen. Dagegen gehört es nach Kant zu den Hauptaufgaben der formalen Logik, die Form der Begriffe und Urteile zu bestimmen. Sie erörtert, warum und in welchem Sinne Begriffe allgemein sind, entwickelt eine Definition des Urteils und gibt eine Liste möglicher Urteilsformen an. In der eben gegebenen Skizze des Vorgehens der modernen Logik werden all diese Fragen als beantwortet vorausgesetzt, da man ja eine bestimmte Syntax und Semantik voraussetzt. Man unterscheidet daher heute zwischen Logik und Philosophie der Logik. Die Fragen, die nach Kant für die formale Logik zentral sind, werden der Philosophie der Logik zugeordnet. Dies ändert jedoch nichts daran, dass diese Fragen beantwortet werden müssen. Das Vorgehen der Logik nach Kant ist meines Erachtens so zu beschreiben, dass die Form der Vorstellungen des Verstandes (also der Begriffe) sowie die Liste der Urteilsformen aus dem Begriff des Verstandes analytisch gewonnen werden. Kant sagt ja, dass das Vermögen der synthetischen Einheit der Apperzeption der Verstand selbst ist und dass man selbst die formale Logik an dieses Vermögen, das gewissermaßen den höchsten Punkt ausmacht, heften muss (vgl. Β 134n). Ich werde erst in Kapitel 5 auf die Frage eingehen, was die synthetische Einheit der Apperzeption ist und wie das »Anheften« zu verstehen ist. An dieser Stelle möchte ich nur darauf hinweisen, dass die Regeln der Logik sich analytisch aus dem Begriff des Verstandes ergeben sollen.

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Die Struktur der Erkenntnis

Dadurch ist die formale Logik „eine demonstrierte Doktrin, und alles muß in ihr völlig a priori gewiß sein." (A 54/B 78) Reich hat in seinem Buch Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel einen Vorschlag unterbreitet, wie man die Liste der Urteilsfunktionen aus der synthetischen Einheit der Apperzeption als höchstem Punkt gewinnen kann. Während Reich also einen Vorschlag gemacht hat, wie sich das »Anheften« der formalen Logik an den höchsten Punkt für die Urteilslehre durchführen lässt, beabsichtige ich Entsprechendes für die Begriffslehre: In Kapitel 5 dieser Arbeit werde ich versuchen nachzuvollziehen, inwiefern sich die logische Form der Begriffe, also ihre Allgemeinheit, aus diesem höchsten Punkt ergibt. Wenn man diese Interpretation des Vorgehens der formalen Logik akzeptiert, wird klar, inwiefern die Regeln der Logik nach Kant notwendig sind. 47 Denn diese Regeln ergeben sich aus dem Begriff des Verstandes, bzw. des Denkens. Gemütshandlungen, die diesen Regeln nicht gemäß sind, kann man daher gar nicht als Denken bezeichnen. Die formale Logik enthält nicht Regeln, die kontingent für mich oder für uns Menschen als biologische Spezies gelten, 48 sondern Regeln, an die sich jeder diskursive Verstand überhaupt halten muss. Die formale Logik handelt ,glicht von den subiectiven Regeln [...]: wie der Verstand bey uns denkt, sondern den obiectiven[49]: wie er denken soll, d.i. Was nach regeln des V e r s t a n d e s ü b e r h a u p t zu denken ist" (R 1599). Diese Reflexion zeigt auch, dass nach Kant die Regeln der formale Logik nicht deskriptiv, sondern präskriptiv zu verstehen sind. 50 Die Logik beschreibt nicht, welche Gemütshandlungen wir wirklich vollziehen, sondern sie gibt an, welche wir vollziehen müssen, um überhaupt zu denken. Dies wiederum bedeutet, dass die formale Logik angibt, welche Gemütshandlungen wir vollziehen müssen, um einen diskursiven Beitrag zur Erkenntnis zu leisten. Wir sollten also so denken, wie 47

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Jäsche bemerkt: „In der Logik ist aber die Präge nicht nach z u f ä l l i g e n , sondern nach n o t h w e n d i g e n Regeln [... ]." (AA 9, 14) Wenn es um die Menschen als biologische Spezies geht, liegt eine angewandte Logik vor. Man kann die Regeln der Logik als objektiv bezeichnen, insofern sie nicht bloß subjektiv für mich gelten, sondern für jeden möglichen diskursiven Verstand überhaupt. Letzteres bedeutet, dass die Regeln notwendig intersubjektiv gelten. Auch nach Jäsche beanspruchen die Regeln der Logik nicht zu beschreiben, „wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen" ( A A 9 , 14).

Die Logik überhaupt

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die Logik es vorschreibt, weil wir sonst keinen Gegenstand erkennen könnten. Aus dieser Beschreibung des Vorgehens der formalen Logik wird auch deutlich, dass der Vorwurf des Psychologismus Kant nicht trifft. 51 Kant betont ja, dass in einer reinen Logik keine empirischen Prinzipien verwendet und daher auch nichts aus der empirischen Psychologie geschöpft wird (vgl. A 54/B 78). Nach Kant liegt also nicht unbedingt ein Psychologismus vor, wenn man in der Logik von mentalen Entitäten spricht, sondern erst dann, wenn man empirische Prinzipien aus der Psychologie verwendet. In diesem Zusammenhang ist Haacks Unterscheidung von drei Positionen in Hinblick auf das Vorgehen der Logik hilfreich:52 Und zwar nennt Haack den starken Psychologismus, den schwachen Psychologismus und den Antipsychologismus. Nach der ersten Position beschreibt die Logik, wie wir wirklich denken, nach der zweiten, wie wir denken sollten, und nach der dritten befasst sich die Logik überhaupt nicht mit dem Denken. Kants Position müsste man hier als schwachen Psychologismus einordnen, denn die Regeln der Logik handeln nach Kant vom Denken, sind aber präskriptiv und nicht deskriptiv zu verstehen. 53

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Dieser Vorwurf ist gegenüber Logikern der Neuzeit ja oft erhoben worden. Siehe z.B. Bochenski, Formale Logik, S. 300f. Vgl. Philosophy of Logics, S. 238. Haack hält Kants Position allerdings für einen starken Psychologismus, siehe S. 238.

3

Die Begriffslehre der formalen Logik

Das vorige Kapitel hatte einleitenden Charakter. Es wurde erläutert, dass Erkenntnis im eigentlichen Sinne ein Urteil aus objektiv realen Begriffen ist, d.h. aus Begriffen, denen sinnliche Anschauungen korrespondieren. Weiterhin habe ich Kants Begriff der Logik erläutert, insbesondere den Begriff der allgemeinen reinen (formalen) Logik. Es hat sich gezeigt, dass die Logik die Regeln für eines der beiden Vermögen formuliert, die am menschlichen Erkennen beteiligt sind, nämlich für den Verstand. Die nun folgenden Kapitel wenden sich dem eigentlichen Thema dieser Arbeit zu, den Begriffen. In diesem Kapitel werde ich die Begriffslehre der Jäsche-Logik untersuchen. Der wichtigste Gedanke bei Jäsche ist m.E. der, dass Begriffe als Erkenntnisgründe verwendete Teil Vorstellungen sind. Man verwendet die Vorstellung einer Beschaffenheit, d.h. eines Merkmals, als Erkenntnisgrund, indem man diese Vorstellung mit einem bestimmten Bewusstsein begleitet und sich dadurch auf alle Objekte bezieht, die diese Beschaffenheit aufweisen. Es bleibt bei Jäsche allerdings unklar, warum der Verstand Vorstellungen als Erkenntnisgrund verwenden kann oder muss. Diese Erklärung soll in Kapitel 5 gegeben werden. Dort wird erläutert, warum man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet, wenn man an ihr die analytische Einheit des Bewusstseins denkt. Ich habe im vorigen Kapitel allgemein erörtert, wodurch die allgemeine reine (formale) Logik sich nach Kant auszeichnet. In diesem Kapitel soll nun, dem Thema dieser Arbeit entsprechend, die Begriffslehre dargestellt werden, die neben der Urteils- und der Schlusslehre einen der drei Teile der formalen Logik ausmacht. Dies wird allerdings durch die Quellenlage erschwert. Kant hat nämlich seine Ansichten zur formalen Logik niemals systematisch niedergeschrieben. In seinen veröffentlichten Werken gibt es nur gelegentliche Erklärungen zu einzelnen formallogischen Fragestellungen. Daneben gibt es im handschriftlichen Nachlass eine große Menge von Reflexionen zur Logik (d.h. zur forma-

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Die Begriffslehre der formalen Logik

len Logik), die allerdings keine zusammenhängende Darstellung bilden. Eine solche Darstellung liegt nur in der Jäsche-Logik vor, die in der Literatur oft als Kants Logik bezeichnet und so behandelt wird, als sei sie von Kant selbst verfasst oder zumindest von ihm als seine Meinung korrekt wiedergebend autorisiert. Beides ist nicht der Fall.1 Die JäscheLogik ist so entstanden, dass Gottlob Benjamin Jäsche von Kant beauftragt wurde, dessen Logikauffassung, die er selbst nur in Vorlesungen mitgeteilt hat, mit der „erforderlichen Klarheit und Bestimmtheit und zugleich mit der gehörigen Ordnung" 2 niederzuschreiben. Dafür erhielt er von Kant eine „selbsteigene Handschrift, deren er [Kant] sich bei seinen Vorlesungen bedient hatte". 3 Man kann davon ausgehen, dass es sich hierbei um Kants Exemplar von George Friedrich Meiers ,Auszug aus der Vernunftlehre" gehandelt hat, in das Kant im Laufe mehrerer Jahrzehnte Bemerkungen geschrieben hatte, die ihm als Grundlage für seine Logik-Vorlesungen gedient haben und die später als Logik-Reflexionen publiziert worden sind. Diese Reflexionen sind also eigentlich keine zur Veröffentlichung bestimmten Formulierungen. Man kann andererseits aber davon ausgehen, dass Kant nur Gedanken notiert hat, die er für so ausgereift hielt, dass sie in einer Vorlesung mitgeteilt werden konnten. Der größte Teil der Formulierungen in der Elementar lehre der Jäsche-Logik stimmt fast wörtlich mit irgendeiner Logik-Reflexion überein. 4 Jäsche ist bei der Abfassung seines Handbuches also anscheinend so vorgegangen, dass er aus den zahlreichen Notizen Kants eine Auswahl getroffen hat und diese zu einem Text zusammengestückelt hat. Nur gelegentlich sah er sich genötigt, selbst zu formulieren. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass ihm Nachschriften von Kants Vorlesungen vorlagen. Jedenfalls gibt es an einzelnen Stellen auch Entsprechungen zwischen uns bekannten Nachschriften und der Jäsche-Logik.5Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte ist der philologische Status der Jäsche-Logik so zu bewerten, dass sie kein Werk

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6

Zu dem Folgenden vgl. T. Boswell, On the Textual Authenticity of Kant's Logic. Vorrede der Jäsche Logik, AA 9, 3. Vorrede der Jäsche-Logik, AA 9, 3. Hinske hat eine Zuordnung von Stellen der Jäsche-Logik zu Kants Logik-Reflexionen aufgestellt. Siehe Kant-Index, Bd 2, XLV-XLVIII. Z.B. weist das Beispiel zu § 6 der Jäsche-Logik Ähnlichkeiten mit der LogikNachschrift »Pölitz« auf. Siehe auch Boswell, On the Textual Authenticity of Kant's Logic, S. 199f.

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D i e Begriffslehre d e r f o r m a l e n Logik

Kants ist. Andererseits unterscheidet sie sich von Werken der Sekundärliteratur dadurch, dass sie auf ausdrückliche Aufforderung Kants hin entstanden ist, und dadurch, dass viele Formulierungen in ihr fast wörtlich mit Reflexionen Kants übereinstimmen, sodass Jäsches Tätigkeit auch editorische Züge trägt. Diese Entstehungsgeschichte macht es nun aber zumindest in zweifacher Hinsicht zweifelhaft, ob die Jäsche-Logik Kants Ansichten in allen Fällen richtig und vollständig wiedergibt. Erstens ist es denkbar, dass Jäsche Kant in manchen Punkten einfach nicht richtig verstanden hat. Man kann sich leicht vorstellen, dass es eine ausgesprochen schwierige Aufgabe ist, aufgrund fragmentarischer Notizen die Meinung eines anderen Philosophen in allen Punkten richtig wiederzugeben, besonders wenn diese, wie Känts formale Logik, eine gewisse Originalität beanspruchen kann und sich wesentlich von der Tradition unterscheidet. Es ist also wegen der Schwierigkeit der Aufgabe, die Jäsche übernommen hat, zu erwarten, dass es auch bei wichtigen Fragen vorkommt, dass er Kants Ansicht nicht ganz richtig wiedergibt.6 Das zweite Problem hängt mit der Zielsetzung der Jäsche-Logik zusammen: Sie soll die Logik so darstellen, wie Kant „sie in öffentlichen Vorlesungen seinen Zuhörern vorgetragen" hat. 7 Nun scheint es aber nicht so, als habe Kant in seinen Vorlesungen seine Ansichten über Logik umfassend dargestellt. Denn in der K.d.r.V. sagt Kant, dass die analytische Einheit des Bewusstseins allen Begriffen als solchen angehöre und dass man deshalb die formale Logik an die synthetische Einheit der Apperzeption zu heften habe (vgl. Β 133n). In den Nachschriften und bei Jäsche ist allerdings keine Spur einer solchen Grundlegung der Logik zu finden. Insofern kann man sagen, dass der Jäsche-Logik das Fundament fehlt. 8 Man kann wohl davon ausgehen, dass Kant nichts gelehrt hat, was seiner Meinung nach falsch ist. Er hat aber anscheinend seine Meinung nicht vollständig dargelegt. Vielmehr scheint es so, als habe Kant die Grundlagen zu seiner Logikauffassung ausgelassen - wohl wegen ihrer Schwierigkeit. Eine entsprechende Unvollständigkeit ist daher auch bei Jäsches Handbuch zu diesen Vorlesungen zu erwarten. 6

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Reich nennt einige Fehler Jäsches. Vgl. Die Vollständigkeit S. 21ff, Anm. 10. Vorrede der Jäsche-Logik, AA 9, 3. Vgl. Reich, Die Vollständigkeit der Urteilstafel, S. 24.

der

Urteilstafel,

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Die Begriffslehre der formalen Logik

Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Jäsche-Logik wertlos ist. Jäsches Verdienst besteht darin, die unzusammenhängenden Reflexionen Kants geordnet und zu einer fortlaufenden Abhandlung zusammengefügt zu haben. Dass Jäsches Handbuch sich größtenteils aus Reflexionen zusammensetzt, hat ja auch den Vorteil, dass es aus genuin kantischen Formulierungen besteht. Und im Vergleich zu den Vorlesungsnachschriften ist die Jäsche-Logik wesentlich sorgfältiger formuliert und gegliedert. Die Nachschriften sind in den meisten Fällen von Personen verfasst, die uns nicht bekannt sind. Sie waren auf jeden Fall nicht von Kant dazu beauftragt, diese Nachschriften zu verfassen, und konnten sich wohl auch kaum auf seine Vorlesungsnotizen stützen. Die Autorität der Nachschriften ist daher auf jeden Fall geringer als die der Jäsche-Logik. Aus diesen Gründen halte ich die Entscheidung für falsch, die Stuhlmann-Laeisz in seinem Buch über Kants Logik fällt, nämlich neben dem veröffentlichten Werk und den Reflexionen zwar die Nachschriften als Textgrundlage heranzuziehen, aber nicht die Jäsche-Logik.9 Ich werde mich bei meiner Darstellung der Begriffslehre dem Aufbau nach an die Jäsche-Logik halten. Ein Vergleich mit den Nachschriften zeigt auch, dass dieser Aufbau wohl dem von Kants Vorlesungen entspricht. Ich werde allerdings in der Auswahl der Reflexionen, auf die ich mich stütze, zum Teil von Jäsche abweichen. Die Tatsache, dass Jäsche eine bestimmte Reflexion Kants übernommen hat, macht diese nicht zu einem genuineren Ausdruck von Kants Ansicht als andere Reflexionen. Es handelt sich hierbei nur um die Einschätzung des KantLesers Jäsche, der ich nicht immer zustimme. Eine inhaltlich bedeutsame Abweichung meiner Darstellung von der Jäsches wird allerdings bei der Interpretation der drei logischen Handlungen bestehen, die die Form eines Begriffs hervorbringen. Die Begriffslehre nach Jäsche lässt sich in drei Teile untergliedern, denen je ein Abschnitt dieses Kapitels entspricht. Die §§ 1-5 führen durch Unterscheidungen zwischen Anschauungen und Begriffen sowie zwischen Form und Materie auf das eigentliche Thema der Begriffslehre hin, nämlich auf die Frage nach dem Ursprung der Form der Begriffe (Abschnitt 3.1). In § 6 wird diese Frage durch die Angabe dreier logischer Verstandeshandlungen beantwortet (Abschnitt 3.2). Die §§ 7-16 9

Vgl. Stuhlmann-Laeisz, Kants Logik, S. 1, Anm. 1.

Eingrenzung des Themas der Begriffslehre

51

handeln dann von Inhalt und Umfang von Begriffen und von Relationen zwischen Begriffen wie »höher-niedriger« und »weiter-enger« (Abschnitt 3.3).

3.1

Eingrenzung des Themas der Begriffslehre

In der Begriffslehre der formalen Logik wird die Form der Begriffe untersucht. Zu diesem Ergebnis gelangt Jäsche durch die §§1, 2 und 5 seines Handbuchs. In § 1 unterscheidet Jäsche Begriffe von Anschauungen, in § 2 unterscheidet er an Begriffen Form und Materie, und in § 5 wird die Behauptung begründet, dass die formale Logik sich nur mit der Form, aber nicht der Materie der Begriffe beschäftigt. Die §§ 3 und 4 unterscheiden verschiedene Ursprünge der Materie von Begriffen. Die §§ 1-5 der Jäsche-Logik führen also zur logischen Frage hin, gehören aber selbst im strengen Sinne noch nicht zur Logik. In § 1 knüpft Jäsche an die Theorie der zwei Requisiten der Erkenntnis an, wenn er schreibt: „Alle Erkenntnisse, das heißt: alle mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstellungen sind entweder A n s c h a u u n g e n oder B e g r i f f e." Wie wir gesehen haben, werden Anschauungen und Begriffe als Erkenntnisse bezeichnet, weil beides Requisiten der Erkenntnis im eigentlichen Sinne sind. Um Gegenstände zu erkennen, muss man Begriffe in einem Urteil verbinden. Damit das Urteil wirklich Erkenntnis ist, müssen die Begriffe außerdem objektiv real sein, was wiederum dann der Fall ist, wenn ihnen Anschauungen korrespondieren. Diese erkenntnistheoretischen Überlegungen sind für die Logik allerdings nicht von Interesse. Für die Logik ist hier erstens wichtig, dass die vorgestellten Gegenstände von Begriffen (wie auch die von Anschauungen) durchgängig bestimmte Gegenstände sind. Zweitens ist natürlich der Unterschied, der zwischen Anschauungen und Begriffen besteht, wichtig: „Die Anschauung ist eine e i n z e l n e Vorstellung (repraesentatio singularis), der Begriff eine a l l g e m e i n e (repraesentatio per notas communes) oder r e f l e c t i r t e Vorstellung (repraesentatio discursiva)." (Jäsche § 1) Dass die Anschauung einzeln ist, bedeutet, dass sie einen Gegenstand als einzelnen, also als Individuum vorstellt, während ein Begriff eine Klasse von Gegenständen vorstellt, und zwar vermittelst eines Merkmals, das ihnen gemeinsam ist. Begriffe stellen Ge-

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Die Begriffslehre der formalen Logik

genstände also nicht als einzelne vor, sondern als Träger eines Merkmals. 10 Jäsche hätte an dieser Stelle noch erwähnen sollen, dass uns Anschauungen durch die Sinnlichkeit gegeben sind, während Begriffe vom Verstand hervorgebracht werden. Dies liefert nämlich die Begründung dafür, dass die Logik, als Wissenschaft von den Regeln des Verstandes, sich mit Begriffen, aber nicht mit Anschauungen beschäftigt (vgl. A52/B 76). In § 2 trifft Jäsche eine Unterscheidung zwischen Materie und Form der Begriffe. ,An jedem Begriffe ist M a t e r i e und F o r m zu unterscheiden. Die Materie der Begriffe ist der G e g e n s t a n d , die Form derselben die A l l g e m e i n h e i t . " Hier benennt Jäsche lediglich die Form der Begriffe (die Allgemeinheit), gibt aber keine Erklärung, was die Form einer Vorstellung eigentlich ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, eine Parallele zur transzendentalen Ästhetik zu ziehen. Dort ist Kant zu dem Ergebnis gekommen, dass die Formen der Anschauung, Raum und Zeit, auf der Natur unserer Sinnlichkeit beruhen. Raum und Zeit sind gewissermaßen die Art, wie unsere Sinnlichkeit die Empfindungen ordnet. Die Form der Anschauung ist demnach etwas, das auf dem Vermögen beruht, das Anschauungen hervorbringt, nämlich der Sinnlichkeit. Entsprechendes kann man auch über die Form der Begriffe sagen. Die Form von Begriffen besteht aus gewissen Eigenschaften von Begriffen, die aufgrund der Tätigkeit des Verstandes bestehen. Während aber die Formen der Anschauung auf der Art beruhen, wie wir passiv Vorstellungen in Empfang nehmen, beruht die Form der Begriffe auf gewissen aktiven Handlungen des Verstandes. Und die Logik stellt die Frage, welche Handlungen dies sind (vgl. § 5 der Jäsche-Logik). Während die Form der Begriffe auf gewissen Handlungen des Verstandes beruht, ist die Materie dagegen als das aufzufassen, an dem diese Handlungen ausgeübt werden. Entsprechend war in der Ästhetik das Empfangene die Materie der Anschauungen, während die Form der Anschauungen auf der Art des Empfangens durch die Sinnlichkeit beruhte. Die Materie von Begriffen ist also eine von irgendwoher gegebene 10

Die von Jäsche hier angegebenen Charakterisierungen stimmen übrigens genau mit denjenigen überein, die Kant in der »Stufenleiter der Vorstellungen« gibt (vgl. A 3 2 0 / B 376f).

Eingrenzung des Themas der Begriffslehre

53

Vorstellung, die durch gewisse Handlungen in einen Begriff verwandelt wird: „Die allgemeine Logik [...] erwartet, daß ihr anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden, um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln" (A 76/B 102). Während die Form bei allen Begriffen gleich ist, ist die Materie bei unterschiedlichen Begriffen verschieden. Jäsche behauptet in § 2, dass die Materie der Begriffe der Gegenstand ist. Um dies zu erläutern, muss ich etwas vorgreifen. Ein Begriff wird nach Kant dadurch gebildet, dass man die Vorstellung einer möglichen Bestimmung von Gegenständen als Erkenntnisgrund verwendet. Es wird also die Vorstellung einer möglichen Bestimmung, wie »rot«, »Pferd« etc. benutzt, um sich auf diejenigen durchgängig bestimmten Gegenstände zu beziehen, die diese Bestimmung aufweisen. Diese Vorstellung einer bloßen Bestimmung bildet nun die Materie des Begriffs. An ihr wird eine gewisse Handlung des Verstandes ausgeführt, die sie erst zum Begriff macht, nämlich das Verwenden als Erkenntnisgrund. Nun schreibt Jäsche bzw. Kant, dass die Materie des Begriffs der Gegenstand sei (vgl. R2834). Damit dürfte gemeint sein, dass die Materie des Begriffs festlegt, auf welche Klasse von Gegenständen sich der Begriff bezieht. Dies ist die »materia circa quam«, also das, wovon Begriffe handeln. Denn die Eigenschaft, deren Vorstellung von einem Begriff als Erkenntnisgrund verwendet wird, dient als Kriterium dafür, ob ein Ding unter den Begriff fällt oder nicht. 11 Jäsche unterscheidet in § 4 verschiedene Ursprünge der Materie von Begriffen. Da diese Unterscheidungen sich nicht mit der Form von Begriffen beschäftigen, gehören sie eigentlich gar nicht in die formale Logik (vgl. R2851, Jäsche §5, Anm. 2). Und zwar unterscheidet Jäsche zwischen gegebener und gemachter Begriffsmaterie, wobei die gegebene nochmals in a priori und a posteriori gegebene Materie unterschieden wird. Auf den Fall gemachter Materie wird die Unterscheidung a priori/a posteriori dagegen nicht angewandt. 12 Für das Verständnis der Begriffe »gegeben« und »gemacht« ist zweierlei zu beachten: Erstens 11

12

Das Verhältnis der Begriffe »Materie« und »Inhalt« ist meiner Ansicht nach folgendermaßen zu verstehen: Die Materie eines Begriffs ist eine Vorstellung, an der gewisse logische Handlungen ausgeübt werden, sodass eine neue Vorstellung entsteht, die die Form von Begriffen aufweist. Die Materie bestimmt den Inhalt dieses Begriffs. Dass Begriffe Inhalt haben, ist aber Bestandteil ihrer Form (siehe Jäsche-Logik §7). Vgl. R2847, R2852, R2853, R2855. Siehe auch Kants Bemerkungen zur Definition von Begriffen (A 727ff/B 755ff).

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Die Begriffslehre der formalen Logik

muss man verschiedene Bedeutungen von »gegeben« unterscheiden. Kant sagt ja, dass die Logik erwarte, „daß ihr anderwärts, woher es auch sei, Vorstellungen gegeben werden, um diese zuerst in Begriffe zu verwandeln" (A 76/B 102). An dieser Stelle ist der Ausdruck »gegeben« in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Es ist weder gemeint, dass die Vorstellungen sinnlich gegeben sein müssen, noch dass es sich um gegebene, im Gegensatz zu gemachter Materie handeln muss. Die Materie, also die Vorstellungen, die der Verstand in Begriffe verwandelt, können sowohl durch die Sinne a posteriori gegeben, aber auch a priori gegeben oder gemacht sein. Zweitens ist zu betonen, dass die Unterscheidung gegeben/gemacht sich auf die Materie von Begriffen bezieht. Ihrer Form nach sind Begriffe dagegen immer gemacht. Aus den von Jäsche getroffenen Unterscheidungen bezüglich der Materie ergeben sich drei Klassen von Begriffen, die ich nun der Reihe nach erläutern möchte. 1) Als gemacht bezeichnet Kant Begriffe, deren Materie durch willkürliche Zusammensetzung gebildet wird. Dies ist einerseits bei mathematischen Begriffen der Fall, andererseits bei komplexen Begriffen, deren Materie wir aus den Materien anderer Begriffe zusammensetzen. Kant gibt als Beispiel für „willkürlich gedachte" Begriffe einerseits den der Schiffsuhr, andererseits mathematische Begriffe an (A 729/B 757). 2) Bei ihrer Materie nach gegebenen Begriffen ist die Materie dagegen nicht willkürlich von uns bestimmt, sondern sie ist durch etwas außer unserem Belieben liegendes festgelegt. Diese Festlegung kann entweder durch die Erfahrung oder unabhängig von Erfahrung, durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens geschehen (vgl. A 729/B 757). Letzteres ist bei den reinen Verstandesbegriffen, den reinen Vernunftbegriffen und dem Begriff der reflektierenden Urteilskraft der Fall. Diese Begriffe sind ihrem Inhalt nach in dem Sinne rein, d.h. frei von Empirischem, dass ihr Inhalt unabhängig von Erfahrung durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens festgelegt ist. Die Materie der reinen VerstandesbegriSe (Kategorien) ist durch die logischen Funktionen zu Urteilen festgelegt. Und genauso, wie die Funktionen zu Urteilen, und damit gewissermaßen die möglichen Formen der Urteile, die Materie der Kategorien bestimmen, enthält auch „die Form der Vernunftschlüsse [...] den Ursprung besonderer Begriffe a priori" (A321/B378), nämlich den Ursprung der reinen Vernunftbegriffe, also der transzendentalen Ideen. Außer durch den Verstand und durch die Vernunft ist

Eingrenzung des Themas der Begriffslehre

55

nach Kant auch durch das Vermögen der reflektierenden Urteilskraft die Materie zu einem Begriff a priori gegeben: „Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflectirenden Urtheilskraft seinen Ursprung hat." (AA 5, 181) Auf die Frage, wie sich aus den Urteilsformen die Materie bestimmter Begriffe ergibt, werde ich später noch eingehen (Kapitel 6.2.1). Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass die Urteilsformen und die Schlussformen nach Kant durch die Natur des Verstandes i.w.S. festgelegt sind und dass sich aus diesen Formen die Materie von a priori gegebenen Begriffen ableitet. 3) Wenn die Materie eines Begriffs durch die Natur unseres Erkenntnisvermögens festgelegt ist, sagt Kant, dass sie a priori gegeben ist. Dagegen ist die Materie a posteriori gegeben, wenn sie durch die Erfahrung festgelegt ist. Dies ist bei empirischen Begriffen der Fall (vgl. Jäsche § 4, R2855). Es ist klar, dass die Materie empirischer Begriffe nicht willkürlich erdichtet ist. Physiker stellen ja umfangreiche Untersuchungen an, um der Natur angemessene Begriffe bilden zu können. Um einen empirischen Begriff zu bilden, vergleicht man mehrere Gegenstände miteinander, um an ihnen eine gemeinsame Eigenschaft zu finden. Finde ich so eine Gemeinsamkeit empirischer Gegenstände, so ist die daraus resultierende Materie durch die Natur gegeben und nicht durch mich gemacht. Das Auffinden solcher Gemeinsamkeiten unter den Gegenständen der Sinne ist Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft. 13 Diesen Prozess des Aufsuchens einer gemeinsamen Eigenschaft von empirischen Gegenständen nennt Kant auch Absonderung. So schreibt er in R 2847: „Alle Begriffe sind allgemein entweder der Absonderung oder der Erdichtung. Jene sind entweder a priori oder posteriori entsprungen." Die hier gemachte Einteilung der Begriffe entspricht genau der oben genannten in gegebene (durch Absonderung) und gemachte (durch Erdichtung), wobei die ersteren wiederum a priori oder a posteriori gegeben sein können. 14 Der Ausdruck »Absonderung« ist anders zu verstehen als der Begriff »Abstraktion« im Kontext der 13

14

Vgl. Einleitung in die K.d.U., IV, AA 5, 179: „Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie [die Urteilskraft] das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß r e f l e c t i r e n d . " Diese Reflexion belegt noch einmal, dass mit gemachter Materie willkürlich zusammengestellte, und in diesem Sinne erdichtete Materie gemeint ist.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

drei logischen Handlungen, die Begriffe ihrer Form nach hervorbringen. Absonderung betrifft die Materie mancher Begriffe, während die Abstraktion nach § 6 der Jäsche-Logik die Form aller Begriffe betrifft (siehe Kapitel 3.2.2). Obwohl nach Kant Erfahrungsbegriffe Begriffe mit a posteriori gegebener Materie sind, sagt er in R2910, dass sie ihrer Materie nach in gewisser Hinsicht auch gemacht sind: „Erfahrungsbegriffe sind auch gemacht, weil sie das object durch Warnehmungen, die ich willkührlich auslese, bestimmen und zusammensetzen." Kant will hier wohl nicht die frühere Position in Frage stellen, sondern nur sagen, dass die Materie der Erfahrungsbegriffe auch in gewisser Weise gemacht ist, weil es eine Willkür bei der Auslese der Wahrnehmungen gibt, aufgrund derer wir den empirischen Begriff bilden. Ich habe in meiner Interpretation Jäsches § 3 übersprungen, da das dort Gesagte anscheinend schon in § 4 mit enthalten ist. Jäsche unterscheidet in § 3 zwischen empirischen und reinen Begriffen. Man könnte diese Stelle so verstehen, dass hier zwischen mathematischen Begriffen, reinen Verstandes- und Vernunftbegriffen sowie dem Begriff der Zweckmäßigkeit auf der einen Seite und empirischen Begriffen auf der anderen Seite unterschieden werden soll. Diese Unterscheidung würde gewissermaßen quer zu den in § 4 getroffenen verlaufen, da es nach diesem Verständnis sowohl unter den gegebenen als auch unter den gemachten Begriffen reine und empirische gibt. Jäsches Anmerkungen zu § 3 deuten jedoch eher darauf hin, dass er hier nur an den Unterschied zwischen a priori und a posteriori gegebenen Begriffen denkt. In § 5 nennt Jäsche schließlich das eigentliche Thema der Begriffslehre. Der Haupttext dieses Paragraphen scheint mir allerdings etwas missglückt zu sein. Er schreibt: „Der Ursprung der Begriffe d e r b l o ß e n F o r m nach beruht auf Reflexion und auf der Abstraction von dem Unterschiede der Dinge [...]. Und es entsteht also hier die Frage: W e l c h e H a n d l u n g e n d e s V e r s t a n d e s e i n e n B e g r i f f a u s m a c h e n [... ]." Dieser Text ist verwirrend, da Jäsche hier erst zwei der drei Handlungen nennt, die nach § 6 Begriffe ihrer Form nach hervorbringen, und dann danach fragt, welche Handlungen des Verstandes einen Begriff ausmachen. Da es nicht sinnvoll wäre, erst diese Handlungen zu nennen und dann nach ihnen zu fragen, müsste man im Zuge einer wohlwollenden Interpretation Jäsches

Die logischen Handlungen des Verstandes

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annehmen, dass er hier mit »Reflexion« und »Abstraktion« etwas anderes meint als die in § 6 genannten Handlungen. Ich sehe aber nicht, was stattdessen gemeint sein könnte, und auch in Kants Reflexionen (der erste Satz von § 5 entspricht R 2859 und der zweite R 2856) lassen sich keine Anhaltspunkte für eine derartige Auffassung finden. Das eigentliche Anliegen Jäsches in § 5 scheint mir aber Folgendes zu sein: Jäsche will betonen, dass die formale Logik sich nur damit beschäftigt, durch welche Verstandeshandlungen wir die Form der Begriffe hervorbringen. Dies geht aus den beiden Anmerkungen zu § 5 hervor. Zum einen wird in Anm. 2 die Untersuchung des Ursprungs der Materie der Begriffe der Metaphysik zugeordnet. Da dieser Aspekt von Begriffen also nicht in der Logik betrachtet wird, kann man schon im Ausschlussverfahren schließen, dass sie sich mit der Form der Begriffe befasst. Zum anderen beginnt Anm. 1 mit der Behauptung, dass die formale Logik von allem bestimmten Inhalt abstrahiert. Dies ist nach Jäsche der Grund dafür, dass die Logik nur untersucht, wie eine Vorstellung „auf mehrere Objecte kann bezogen werden" oder „wie g e g e b e n e V o r s t e l l u n g e n im D e n k e n zu B e g r i f f e n w e r d e n " (Jäsche-Logik § 5, Anm. I). 15 Die Begriffslehre der Logik hat nach Jäsche also lediglich zu untersuchen, wie es dazu kommt, dass eine Vorstellung sich auf viele Gegenstände bezieht. Die Logik schaut also nicht darauf, welche Vorstellungen dem Verstand gegeben sind, sondern nur darauf, durch welche Handlungen er sie allgemein macht.

3.2

Die logischen Handlungen des Verstandes

In diesem Abschnitt sollen nun die Handlungen des Verstandes beschrieben werden, die die Form von Begriffen, also ihre Allgemeinheit hervorbringen. Dabei werde ich etwas anders vorgehen als Jäsche, der in § 6 seines Handbuchs recht unvermittelt die drei logischen actus Komparation, Reflexion und Abstraktion nennt und mit Erklärungen versieht, die selbst sehr erklärungsbedürftig sind. Um deutlicher zu machen, wie diese Handlungen mit der Form von Begriffen zusammenhän15

Hier ist »gegeben« wieder in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Es ist also weder gemeint, dass die Vorstellungen immer durch die Sinne gegeben sein müssen, noch dass es sich um gegebene und nicht um gemachte Materie handeln muss. Die Vorstellungen, die „i m D e n k e n z u B e g r i f f e n w e r d e n " , können sowohl gegeben als auch gemacht sein.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

gen, werde ich zunächst erläutern, inwiefern man von Begriffen sagen kann, dass sie Vorstellungen sind, die als analytischer Erkenntnisgrund verwendet werden. Danach werde ich zeigen, dass Komparation, Reflexion und Abstraktion als Bestandteile der Handlung, eine Vorstellung als analytischen Erkenntnisgrund zu gebrauchen, anzusehen sind. 3.2.1 Erkenntnisgrund, Teilvorstellung und Merkmal Was es bedeutet, dass in Begriffen eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet wird, lässt sich am besten anhand eines Beispiels erläutern: Der Begriff »Tisch« enthält seiner Materie nach nur die Vorstellung einer möglichen Bestimmung von Dingen, nämlich die, Tisch zu sein. Trotzdem ist das Vorgestellte, bzw. das Gedachte des Begriffs »Tisch« nicht die Bestimmung »Tisch«, sondern eine Klasse von durchgängig bestimmten Gegenständen, an denen diese Bestimmung vorkommt, und die daneben noch viele weitere Bestimmungen aufweisen können. Es wird also im Begriff »Tisch« die Vorstellung der Eigenschaft »Tisch« dazu verwendet, sich auf Gegenstände zu beziehen, die diese Bestimmung aufweisen. Die Vorstellung einer Bestimmung als Erkenntnisgrund zu verwenden, besteht also darin, sich aufgrund ihrer auf einen durchgängig bestimmten Gegenstand zu beziehen. Eine als Erkenntnisgrund gebrauchte Vorstellung bezeichnet Kant auch als Merkmal und in diesem Sinne kann man von Begriffen sagen, dass sie Merkmale sind, an denen ich Gegenstände erkenne und sie von anderen Gegenständen unterscheide.16 Es ist also so, dass in Begriffen die Vorstellung einer möglichen Bestimmung von Gegenständen dazu benutzt wird, sich auf verschiedene Gegenstände zu beziehen. Diese Vorstellung dient dabei als Kriterium dafür, auf welche Gegenstände sich der Begriff bezieht. Ich habe mich jetzt so ausgedrückt, dass man sich auf einen Gegenstand bezieht, wenn man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet. Kant drückt sich jedoch oft so aus, dass eine Vorstellung Erkenntnisgrund einer ganzen Vorstellung, und nicht eines Gegenstands ist: „Eine Partialvorstellung als Erkentnisgrund der ganzen Vorstellung ist ein Merkmal" (R 2282, kursiv von mir) und ,,Der Theilbegrif 16

Es wird sich gleich zeigen, dass es noch eine andere, sachlich verwandte Gebrauchsweise von »Merkmal« gibt, nach der ein Merkmal eine Bestimmung eines Dings ist, aufgrund derer es gedacht wird.

Die logischen Handlungen des Verstandes als E r k e n t n i s g r u n d der gantzen

Vorstellung

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ist das Merkmal" (R 2283,

kursiv von mir). Mit einer ganzen Vorstellung ist eine Vorstellung gemeint, die alle Bestimmungen eines gegebenen Gegenstands vorstellt, oder eine Ansammlung von Vorstellungen aller Bestimmungen des Gegenstands. Es ist klar, dass wir Menschen, als endliche Wesen, keine solche ganze Vorstellung eines Gegenstandes haben können. Allerdings spricht dies ja nicht dagegen, den Begriff einer solchen Vorstellung zur Erklärung logischer Zusammenhänge zu benutzen. 17 Dass Kant in den eben zitierten Reflexionen von Erkenntnisgründen von ganzen Vorstellungen, statt von Gegenständen spricht, hängt damit zusammen, dass es ihm hier nicht auf den Unterschied zwischen einem Gegenstand und dessen ganzer Vorstellung ankommt. Wichtig ist hier lediglich der Unterschied zwischen durchgängiger Bestimmtheit (des Gegenstands oder der ganzen Vorstellung) und dem Begriff, in dem nur die Vorstellungen einer oder einer begrenzten Zahl von Beschaffenheiten verwendet wird. Im Zusammenhang mit Merkmalen spricht Kant auch oft von Teilvorstellungen. 18 Dabei meint Kant mit einer Teilvorstellung nicht einfach die Vorstellung eines Teils eines Dings, d.h. eines Teils der Bestimmungen eines Dings, sondern eine Vorstellung, die als Vorstellung eines Teils eines Dings betrachtet wird. Kant schreibt: „Das Merkmal wird erstlich als Vorstellung an sich selbst, zweytens als gehörig wie ein theilbegrif zu einer Andern Vorstellung [d.h. zur möglichen ganzen Vorstellung des Gegenstands] und dadurch als Erkentnisgrund des Dinges betrachtet." (R2285) 19 Damit eine Vorstellung als Teilvorstellung betrachtet wird, ist die Bildung eines gewissen Bewusstseins dieser Vorstellung erforderlich. Man betrachtet eine Vorstellung als Teilvorstellung, wenn man sich dessen bewusst ist, dass sie nur einen Teil eines Dings vorstellt. 20 Eine bloße Vorstellung einer möglichen Bestimmung 17

18 19

20

Von ganzen Vorstellungen ist auch an anderen Stellen die Rede, z.B. R2280, Jäsche-Logik A A 9 , 58. Siehe z.B. R2283, R2285, R2286. Siehe auch R2286: „Merkmal ist eine theilvorstellung, ( 9 die) als solche (® ein Erkentnisgrund ist)." Dies ist zu lesen als »Ein Merkmal ist eine Teilvorstellung als solche, d.h. eine Vorstellung, die als Erkenntnisgrund verwendet wird«. Das Wort »Teilvorstellung« hat einen Doppelsinn: Es kann sowohl der Teil einer Vorstellung als auch die Vorstellung eines Teils gemeint sein. Spricht man von der Teilvorstellung einer ganzen Vorstellung, so ist die erste Lesart einschlägig. Spricht man hingegen von der Teilvorstellung eines Gegenstands, so ist die zweite Lesart einschlägig.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

von Gegenständen hat als Vorgestelltes zwar nur einen Teil dieser Gegenstände, sie wird aber nicht als Vorstellung eines Teils betrachtet. Deshalb läuft es, wie die eben zitierte R 2285 behauptet, auf dasselbe hinaus, ob man eine Vorstellung als Teilvorstellung ansieht, oder ob man sie als Erkenntnisgrund gebraucht. Wenn ich eine Vorstellung als Vorstellung eines Teils eines Dings (oder einer ganzen Vorstellung) ansehe, dann beziehe ich mich auch aufgrund dieser Vorstellung auf die durchgängig bestimmten Dinge. Umgekehrt kann man auch sagen, dass man, indem man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund benutzt, sie als Teilvorstellung ansieht. Denn wenn man sich vermittelst eines Merkmals auf einen Gegenstand bezieht, ist man sich ja dessen bewusst, dass das Merkmal nur einen Teil des Gegenstandes vorstellt. Zum Gebrauch des Begriffs »Teil vor Stellung« ist hier noch anzumerken, dass an den hier betrachteten Stellen eine Vorstellung gemeint ist, die als Teil einer möglichen ganzen Vorstellung eines Dings, bzw. als Vorstellung eines Teils eines Dings angesehen wird. Davon zu unterscheiden wäre ein Gebrauch von »TeilVorstellung«, wonach ein Gattungsbegriff Teilvorstellung seiner Artbegriffe ist. 21 In diesem Fall ist der Artbegriff das Ganze, in Bezug auf das der Gattungsbegriff ein Teil ist. Der Artbegriff ist im Gegensatz zur ganzen Vorstellung eines Dings aber nicht durchgängig bestimmt, sondern enthält selbst nur eine begrenzte Zahl von Merkmalen. In diesem Fall läge also nur ein relatives Ganzes vor. Ich habe erläutert, inwiefern bei einem Begriff eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet wird und auch erwähnt, dass Kant eine Teilvorstellung, die als Erkenntnisgrund gebraucht wird, als Merkmal bezeichnet. In diesem Sinne kann man also sagen, dass Begriffe Merkmale sind. 22 Nun ist dies aber nicht die einzige und wohl auch nicht die am nächsten liegende Bedeutung des Begriffs »Merkmal«. In erster Linie würde man unter einem Merkmal wohl eher eine Bestimmung eines Dings verstehen, aufgrund dessen es erkannt, d.h. hier gedacht, und von anderen Dingen unterschieden wird. Tatsächlich findet sich auch diese Bedeutung von »Merkmal« bei Kant: „Ein M e r k m a l i s t d a s j e n i g e an e i n e m D i n g e , was e i n e n T h e i l der E r k e n n t n i ß d e s s e l b e n a u s m a c h t [...]." (AA 9, 58) 21 22

Zu Gattungen und Arten siehe Kapitel 3.3. Vgl. R 2278, R 2281, R 2287, R 2288.

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Ich möchte nun diese Bedeutung des Begriffs »Merkmal« erläutern, nach der es eine Bestimmung eines Dings ist. Ein Merkmal ist diejenige Bestimmung eines Dings, aufgrund derer es durch einen Begriff gedacht wird. „Was ich an einem Dinge, das ich durch einen Begrif mir vorstelle, ist sein Merkmal." (R 2277) Ein durchgängig bestimmtes Ding wie z.B. ein Tisch wird ja durch den Begriff »Tisch« nur aufgrund einer seiner Bestimmungen gedacht, nämlich derjenigen, Tisch zu sein, während andere Bestimmungen, wie seine Farbe oder die Anzahl seiner Beine, irrelevant dafür sind, dass das Ding durch den Begriff »Tisch« gedacht wird. Dass eine Bestimmung des Dinges sein Merkmal ist, bzw. als dessen Erkenntnisgrund verwendet wird, bedeutet also, dass das Ding als Ganzes aufgrund dieser Bestimmung, die nur eine unter vielen ist, gedacht wird. Dies bedeutet auch, dass eine Beschaffenheit eines Dings nicht an sich das Merkmal dieses Dings ist, sondern nur, insofern die Vorstellung dieser Beschaffenheit in einem Begriff dazu verwendet wird, sich auf dieses Ding zu beziehen. Es kann demnach jede der Bestimmungen, die ein durchgängig bestimmtes Ding aufweist, Merkmal dieses Dinges sein. Nicht an sich, sondern nur für das Vorstellen durch einen bestimmten Begriff ist eine Bestimmung eines Dings dessen Merkmal. Wenn man voraussetzt, dass ein Ding durch einen bestimmten Begriff gedacht wird, dann kann man nach Kant die Bestimmungen des Dings auf folgende Art klassifizieren:23 Zuerst kann man zwischen zum Wesen gehörigen (ad essentiam pertinentia) und außerwesentlichen Prädikaten eines Dings unterscheiden. Die erstgenannten gehören notwendig zu dem Ding, die letztgenannten nicht. Die wesentlichen Prädikate können wiederum auf zwei Weisen notwendig zum Ding gehören, nämlich erstens als Bestandstücke (ut constitutiva) und zweitens als Folgen (ut rationata). Die außerwesentlichen Prädikate werden weiter in modi und relationes eingeteilt und die rationata weiter in analytische und synthetische. Beides ist hier allerdings nicht von Belang. Nur die constitutiva sind Merkmale im oben erläuterten Sinn, denn nur sie machen den Inhalt des Begriffs aus, durch den das Ding gedacht wird. 24 23 24

Siehe hierzu Über eine Entdeckung . . . , AA 8, 228f und Jäsche-Logik, AA 9, 60. Allerdings verwendet Kant das Wort »Merkmal« auch in einem weiten Sinne, nach dem es ganz allgemein die Bestimmungen eines Dings bezeichnet, also auch die nicht-konstitutiven und die außerwesentlichen Bestimmungen.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

Die beiden genannten Bedeutungen von »Merkmal« stehen nun nicht beziehungslos nebeneinander, sondern laufen vielmehr auf dasselbe hinaus: „Ein M e r k m a l i s t d a s j e n i g e a n e i n e m D i n g e , w a s e i n e n T h e i l der E r k e n n t n i ß d e s s e l b e n a u s m a c h t , oder - welches dasselbe ist - eine P a r t i a l v o r s t e l l u n g , s o f e r n sie als Ε r k e η η t η i ß g r u η d der g a n z e n V o r s t e l l u n g b e t r a c h t e t w i r d . " (AA9, 58)

Dass beides dasselbe ist, kann man sich wie folgt erklären: Eine Bestimmung eines Dings ist wie gesagt nur insofern sein Merkmal, als das Ding durch einen entsprechenden Begriff gedacht wird. Deshalb kann man auch die Vorstellung einer Bestimmung, sofern diese Vorstellung dazu verwendet wird, sich auf ein Ding zu beziehen, als Merkmal bezeichnen. Es ist ja diese so gebrauchte Vorstellung, die eine Bestimmung des Dings erst zum Merkmal macht. Bei der bisherigen Betrachtung hat sich gezeigt, dass Begriffe allgemeine Merkmale sind. Es gibt nach Kant jedoch auch noch eine andere Art von Merkmalen, nämlich die intuitiven Merkmale, die nicht allgemein sind. In diesem Sinne sind Anschauungen Merkmale. Kant schreibt in R 2286: „Merkmal ist eine theilvorstellung, ( 9 die) als solche ( 9 ein Erkentnisgrund ist). Es ist entweder intuitiv ( 9 synthetischer theil): ein theil der Anschauung, oder discursiv: ein theil des Begrifs, der ein Analytischer Erkentnisgrund ist." Eine solche Unterscheidung zwischen zwei Arten von Merkmalen trifft Kant nur in den Reflexionen, nicht im veröffentlichten Werk. In der K.d.r.V. ist nur von Merkmalen schlechthin die Rede, und da dies immer im Zusammenhang mit Begriffen geschieht, müssen dort allgemeine Merkmale gemeint sein. Anschauungen werden, soweit ich sehe, im veröffentlichten Werk nicht als intuitive Merkmale bezeichnet. Um sich klarzumachen, dass auch Anschauungen in gewissem Sinne Merkmale sind, muss man zeigen, dass sie nicht durchgängig bestimmte Vorstellungen sind, die als Erkenntnisgrund verwendet werden. Man kann nun tatsächlich von einer Anschauung sagen, dass sie nicht durchgängig bestimmt ist, weil aufgrund unserer Endlichkeit keine Anschauung alle Bestimmungen eines Gegenstandes enthalten kann. Insofern eine Anschauung sich aber als Teil auf den ganzen Gegenstand bezieht,

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kann man auch sagen, dass in einer Anschauung eine Teilvorstellung als Erkenntnisgrund der ganzen Anschauung, zu der sie als Bestandteil gehört, gebraucht wird. Insofern ist auch eine Anschauung ein Merkmal. Dabei kann es aber nicht so sein, dass die Teilvorstellung in der Anschauung als Kriterium dafür dient, auf welche Gegenstände man sich bezieht, denn dann würde die Anschauung sich ja auf viele Gegenstände beziehen. Die Teilvorstellung kann also nicht als analytischer Erkenntnisgrund von Gegenständen verwendet werden, sondern muss auf andere Weise verwendet werden, die Kant als intuitiv oder synthetisch bezeichnet. Diesen Gebrauch einer Teilvorstellung als intuitiven oder synthetischen Erkenntnisgrund kann man meiner Ansicht nach aufgrund einer Anmerkung Kants über die durchgängige Bestimmtheit von Anschauungen beleuchten. J.S. Beck hatte in einem Brief an Kant vom 31.5.1792 vorgeschlagen, Anschauungen und Begriffe dadurch zu unterscheiden, dass die ersteren durchgängig bestimmt sind, die letzteren aber nicht (vgl. AA 11, 338). Kant antwortet darauf an Beck (Brief vom 3.7.1792), dass er nichts gegen diese Art der Unterscheidung einzuwenden habe, aber zu bedenken gebe, dass „die durchgängige Bestimmung hier objectiv und nicht als im Subject befindlich verstanden werden müsse (weil wir alle Bestimmungen des Gegenstandes einer empirischen Anschauung unmöglich kennen können), da dann die Definition doch nicht mehr sagen würde als: sie ist die Vorstellung des Einzelnen gegebenen." (AA 11, 347) Die Aussage, dass Anschauungen objektiv und nicht im Subjekt durchgängig bestimmt sind, ist folgendermaßen zu verstehen: Wenn man eine Anschauung von einem Gegenstand besitzt, so stellt man damit nur einen Teil seiner Bestimmungen vor, und insofern ist die Anschauung im erkennenden Subjekt nicht durchgängig bestimmt. Aber wenn man in dieser Situation an dem angeschauten Gegenstand eine bisher nicht vorgestellte Eigenschaft entdeckt, so kann man die Vorstellung dieser Eigenschaft zur Anschauung des Gegenstandes hinzufügen, ohne dass man dadurch die Anschauung eines anderen Gegenstandes hätte. Durch die Hinzufügung der Vorstellung einer weiteren Bestimmung des Gegenstandes erhält man nicht in dem Sinne eine andere Anschauung, dass sie sich auf einen anderen Gegenstand bezöge. In diesem Sinne sind Vorstellungen von allen Bestimmungen eines angeschauten Gegenstandes potentiell in der Anschauung enthalten. Dies will Kant damit sagen, dass die durchgängige

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Die Begriffslehre der formalen Logik

Bestimmung einer Anschauung „objectiv und nicht als im Subject befindlich verstanden werden müsse" (AA 11, 347). Wenn diese Interpretation von Kants Bemerkung richtig ist, kann man folgende Schlüsse über den Gebrauch von Teilvorstellungen in Anschauungen ziehen: Während man einen Begriff mit einer bestimmten als analytischen Erkenntnisgrund gebrauchten Vorstellung identifizieren kann, kann man eine Anschauung nicht mit einem bestimmten synthetischen Merkmal identifizieren, weil dieselbe Anschauung verschiedene Vorstellungen als Erkenntnisgrund benutzen kann. Die Teilvorstellung, die in einer Anschauung verwendet wird, dient nicht als Kriterium dafür, auf welche Gegenstände die Anschauung sich bezieht, ansonsten wäre die Anschauung ja allgemein. Vielmehr wird im Falle menschlicher Anschauungen aufgrund raum-zeitlicher Verhältnisse entschieden, auf welchen Gegenstand sich eine Anschauung bezieht. Allgemein gebrauchte Merkmale dienen dagegen als Kriterium, worauf der Begriff sich bezieht. Nach diesem Exkurs zu Anschauungen möchte ich nun wieder zu der Frage zurückkehren, inwiefern man von Begriffen sagen kann, dass sie als analytische Erkenntnisgründe verwendete Vorstellungen sind. Und zwar soll nun unter Verwendung der Fußnote zu § 16 der K.d.r.V. näher erläutert werden, worin es besteht, eine Vorstellung als Erkenntnisgrund zu verwenden. Dort bringt Kant Begriffe mit einer gewissen Art von Bewusstsein in Verbindung: „Die analytische Einheit des Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an" (Β 133n). Er schreibt auch, dass man „die analytische Einheit des Bewußtseins" an einer Vorstellung denkt, und dass dies die Vorstellung „zum conceptus communis macht" (Β 134n). In bin der Ansicht, dass dies so verstanden werden kann, dass man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet, indem man ein gewisses Bewusstsein dieser Vorstellung bildet. Wenn ich die Vorstellung der Beschaffenheit »rot« als Erkenntnisgrund verwende, beziehe ich mich auf alle Dinge, die diese Beschaffenheit aufweisen. Dieses Verwenden als Erkenntnisgrund, so ist dieser Stelle m.E. zu entnehmen, besteht darin, ein Bewusstsein dieser Vorstellung zu bilden: Ich bin mir dessen bewusst, dass dies die Vorstellung einer Beschaffenheit eines Dings ist, und ich bin mir dessen bewusst, dass rote Dinge noch andere Beschaffenheiten aufweisen können, wodurch sie sich auch voneinander unterscheiden können.

Die logischen Handlungen des Verstandes

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In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Kant schreibt, dass man in Begriffen eine Vorstellung als etwas denkt oder ansieht: „Eine Vorstellung, die als v e r s c h i e d e n e n [Dingen oder Vorstellungen] gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas V e r s c h i e d e n e s an sich haben [... ]." (Β 133n) Kant schreibt hier, dass die Vorstellung als verschiedenen Dingen gemein gedacht wird, und dass sie als verschiedenen Dingen zugehörig angesehen wird. Ich sehe dieser Stelle zufolge die Vorstellung einer Beschaffenheit auf gewisse Weise an, d.h. ich bilde ein Bewusstsein dieser Vorstellung. Wenn ich z.B. den Begriff »Tisch« denke, bin ich mir dessen bewusst, dass ich mich auf verschiedene mögliche Dinge beziehe, und dass diese neben »Tisch« noch weitere Beschaffenheiten aufweisen können. Im Text der Fußnote sagt Kant der Sache nach, dass ein Begriff eine als Erkenntnisgrund verwendete Vorstellung ist: ,,[W]enn ich mir r o t überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann [...]." (Β 133n) Sich rot überhaupt zu denken, heißt, den Begriff »Rot« zu denken. Wenn ich den Begriff »Rot« benutze, stelle ich mir nach diesem Zitat eine Beschaffenheit vor, die neben anderen an einem Ding vorkommen kann. Da Kant, wie gesagt, oft nicht zwischen dem Ding und seiner ganzen Vorstellung unterscheidet, formuliert er dies auch so, dass die Vorstellung der Beschaffenheit »rot« mit anderen Vorstellungen in der ganzen Vorstellung eines Dings verbunden sein kann. An dieser Stelle kommt es mir darauf an, dass der Gebrauch einer Vorstellung als Erkenntnisgrund darin besteht, sich ihrer auf gewisse Weise bewusst zu werden, nämlich an ihr die analytische Einheit des Bewusstseins zu denken. Nun ist das Bewusstsein einer Vorstellung selbst wieder eine Vorstellung. 25 Man kann deshalb sagen, dass man einen Begriff bildet, indem man auf der Basis einer gegebenen Vorstellung eine formal neue Vorstellung bildet, nämlich das analytische Bewusstsein der gegebenen Vorstellung. Man muss daher bei der Behandlung von Kants Begriffslehre zwei Vorstellungen unterscheiden, nämlich einerseits eine gegebene Vorstellung, deren Vorgestelltes eine mögliche Bestimmung von Dingen ist, und die erst noch in einen 25

Vgl. Jäsche-Logik: „Eigentlich ist das Bewußtsein eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist." (AA 9, 33)

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Die Begriffslehre der formalen Logik

Begriff verwandelt werden soll. Auf der anderen Seite gibt es die analytische Einheit des Bewusstseins dieser gegebenen Vorstellung. Diese mit Bewusstsein begleitete Vorstellung ist ein Begriff und ihr Vorgestelltes besteht aus einer Klasse von Gegenständen oder Vorstellungen davon. 2 6 Es gehört nach Kants Theorie der Begriffe zum Vorstellungsinhalt von Begriffen, dass sie allgemein sind. Wenn wir die analytische Einheit des Bewusstseins an einer Vorstellung denken, stellen wir die Vorstellung ja als verschiedenen Dingen gemeinsam vor. Der Bezug auf verschiedene Dinge gehört also mit zum Inhalt des Bewusstseins, das Begriffe ihrer Form nach hervorbringt. Es ist nach Kant j a kein Widerspruch zu sagen, dass die Form einer Vorstellung zu ihrem Inhalt beiträgt. Er behauptet dies ja implizit von der Quantität, der Qualität und der Relation eines Urteils (vgl. A 74/B 99f). Das Verwandeln einer gegebenen Vorstellung in einen Begriff besteht also darin, ein Bewusstsein von ihr zu bilden, wodurch eine formal neue Vorstellung gebildet wird. Damit unterscheidet sich Kants Theorie der Begriffe z.B. von der Lockes. In kantischer Terminologie würde man sagen, dass nach Locke ein Begriff einfach eine nicht durchgängig bestimmte Vorstellung ist. Locke schreibt: ,,[T]he mind makes the particular ideas received from particular objects to become general; which is done by considering them as they are in the mind such appearences - separate from all other existences, and the circumstances of real existence, as time, place, or any other concomitant ideas. This is called ABSTRACTION, whereby ideas taken from particular beings become general representatives of all of the same kind

Abstrakte Ideen sind für Locke solche, deren intentionaler Gegenstand nicht durchgängig bestimmt ist. Dieser Stelle zufolge macht man ja eine particular idea allgemein, indem man von den besonderen Umständen absieht, unter denen man sie erworben hat, sodass die idea in den entsprechenden Hinsichten dann unbestimmt ist. Locke betont 26

27

Der Gebrauch einer Vorstellung als Erkenntnisgrund besteht demnach darin, ein bestimmtes Bewusstsein dieser Vorstellung zu bilden. Dies zeigt, dass mit »Gebrauch« hier etwas ganz anderes gemeint ist als beim späten Wittgenstein, wo der Gebrauch eines Wortes dessen durch Konventionen vorgeschriebene Verwendung in der Sprache ist. An Essay Concerning Human Understanding, Bk II, Ch XI, § 9.

Die logischen Handlungen des Verstandes

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auch an anderer Stelle, dass die abstrakte Idee des Dreiecks „must be neither oblique nor rectangle, neither equilateral, equicrural, nor scalenon; but all and none of these at once".28 Wenn nun eine Vorstellung nicht durchgängig bestimmt und in diesem Sinne abstrakt ist, reicht dies nach Lockes Ansicht dafür hin, dass solche Ideen „general representatives of all [beings] of the same kind" (Bk II, Ch XI, § 9) werden. Es bleibt bei Locke allerdings unklar, wodurch nicht durchgängig bestimmte Vorstellungen (abstrakte Ideen) zu Repräsentanten aller Dinge einer Art werden. Das ideatum einer abstrakten Idee ist ja nur eine mögliche Bestimmung von Dingen. Es bleibt daher bei Locke die Frage offen, wie diese Ideen dazu kommen, eine Klasse von Dingen zu repräsentieren. Kants Begriffstheorie bedeutet insofern einen Fortschritt gegenüber der Lockes, als Kant diese Frage beantwortet. Nach Kant ist ein Begriff nämlich nicht einfach eine nicht durchgängig bestimmte und in diesem Sinne abstrakte Vorstellung, sondern ein Bewusstsein einer solchen Vorstellung. Dadurch wird sie als Erkenntnisgrund verwendet und erst dadurch wird klar, warum ein Begriff sich auf viele Gegenstände bezieht und nicht nur auf eine mögliche Bestimmung an Gegenständen. Ich habe in diesem Abschnitt vorausgesetzt, dass wir die Fähigkeit besitzen, uns einer Vorstellung auf die eben beschriebene Weise bewusst zu werden, also so, dass man sich zugleich dessen bewusst ist, dass eine Vorstellung eine Bestimmung eines möglichen Dings repräsentiert, und dass dieses Ding daneben noch weitere Bestimmungen aufweisen kann. Genauer gesagt habe ich hier vorausgesetzt, dass man Vorstellungen von Beschaffenheiten in einem Bewusstsein vereinigen und als zu einem Gegenstand gehörig ansehen kann. Die Theorie des Bewusstseins und der Synthesis der Vorstellungen, die hier vorausgesetzt wird, werde ich allerdings erst in Kapitel 5.2 im Rahmen meiner Erörterungen zur Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung (§ 16 der K.d.r.V.) darstellen. Dort werden also die Grundlagen der formalen Begriffslehre, deren Fehlen bei Jäsche schon angemerkt wurde, gelegt. Genauer gesagt wird dort gezeigt, wie sich aus dem Begriff des Verstandes, bzw. des Selbstbewusstseins die formalen Eigenschaften von Begriffen, insbesondere ihre Allgemeinheit, ergeben. 28

A.a.O., Bk IV, Ch VII, § 9.

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D i e Begriffslehre der formalen Logik

3.2.2

Komparation, Reflexion und Abstraktion

Wie oben erläutert, geht die Begriffslehre der formalen Logik nach Kant davon aus, dass irgendeine Vorstellung vorliegt, und fragt, durch welche Handlungen des Verstandes diese Vorstellung in einen Begriff verwandelt wird (vgl. R2839, A 76/B 102). Ich habe versucht zu zeigen, dass dieses Verwandeln darin besteht, die Vorstellung als analytischen oder allgemeinen Erkenntnisgrund zu verwenden. Ich habe weiterhin zu zeigen versucht, dass dieses Verwenden als Erkenntnisgrund darin besteht, ein gewisses Bewusstsein einer gegebenen Vorstellung zu bilden. Durch dieses Verwenden als Erkenntnisgrund wird die Form eines Begriffs hervorgebracht, die ja in der Allgemeinheit besteht. Nun nennt Jäsche in § 6 drei Handlungen, „wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden", nämlich Komparation, Reflexion und Abstraktion. Es ergibt sich daraus, dass das Verwenden einer Vorstellung als Erkenntnisgrund eigentlich dasselbe sein müsste wie das Komparieren, Reflektieren und Abstrahieren. Dies ist im Grunde auch der Fall, wie sich aus R 2854 ergibt, wo Kant aufzählt: „Logische a c t u s i m Begriffe: erstlich

die Vorstellung einer n o t a als communis: comparatio,

z w e y t e n s . D i e s e als Erkentnisgrund eines Dinges: reflexio, drittens

die abstraction von d e m , w a s es von andern D i n g e n Ver-

schiedenes hat." 2 9

Meiner Ansicht nach sind diese Erklärungen der logischen Handlungen wie folgt zu verstehen. Zur Komparation: Wenn man sich durch eine gegebene Vorstellung auf all diejenigen Dinge bezieht, die die entsprechende Beschaffenheit aufweisen, betrachtet man diese Vorstellung als verschiedenen Dingen gemeinsam, d.i. ich nehme die „Vorstellung einer nota als communis" (R 2854), bzw. ich bilde einen Begriff „dadurch, daß etwas als Teilvorstellung betrachtet wird, die mehrern gemein sein kann" (Dohna-Wundlacken). 29

Eine ähnliche Erklärung der drei logischen Handlungen findet sich auch in der Nachschrift Dohna-Wundlacken: Die Bildung von Begriffen geschieht „1. dadurch, daß etwas als Teilvorstellung betrachtet wird, die mehrern gemein sein kann, z.B. die rote Farbe. 2. wenn ich die Teilvorstellung als notam, als Erkenntnisgrund einer Sache betrachte, z.B. durch r o t Blut, Rose usw. erkenne. Die 3te Handlung ist die Abstraktion, diese Teilvorstellung als Erkenntnisgrund, insofern ich von allen übrigen Teilvorstellungen absehe" (AA 24, 753).

Die logischen H a n d l u n g e n des Verstandes

69

Zur Reflexion und Abstraktion: Wenn man sich durch eine gegebene Vorstellung auf all diejenigen Dinge bezieht, die eine entsprechende Beschaffenheit aufweisen, betrachtet man diese Vorstellung als Erkenntnisgrund, wie Kant sowohl in R2854 als auch nach der Logik Dohna-Wundlacken betont. Außerdem sieht man beim Gebrauch einer Vorstellung als Erkenntnisgrund eo ipso davon ab, dass der Gegenstand noch weitere Eigenschaften besitzt, denn man bezieht sich ja unabhängig von solchen weiteren Eigenschaften auf den Gegenstand. Man abstrahiert also „von dem, was es von andern Dingen Verschiedenes hat" (R 2854). Nach dieser Interpretation sind die drei logischen Akte nicht als gleichwertig anzusehen. Der zentrale logische Akt, der eine gegebene Vorstellung allgemein macht, ist die Reflexion, d.h. das Verwenden einer Vorstellung als Erkenntnisgrund. Von der Reflexion kann man sagen, dass sie die Komparation und die Abstraktion schon in sich enthält, denn wenn man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet, sieht man sie dadurch als verschiedenen Dingen gemeinsam an (Komparation), sieht aber gleichzeitig auch von den Unterschieden zwischen diesen Dingen ab (Abstraktion). Ich habe mich bei meiner Interpretation der Komparation, Reflexion und Abstraktion auf R 2854 und die Nachschrift Dohna-Wundlacken gestützt. Nun gibt Jäsche, gestützt auf R 2876, allerdings ganz anders klingende Beschreibungen dieser logischen Verstandeshandlungen. Diese Beschreibungen sind erstens recht kryptisch, und legen es zweitens nicht unbedingt nahe, unter der Reflexion die Verwendung einer Vorstellung als Erkenntnisgrund zu verstehen. 30 Man kann aber davon ausgehen, dass die verschiedenen Beschreibungen der logischen Verstandeshandlungen, die Kant in seinen Logik-Reflexionen notiert, Formulierungen einer und derselben Position sind. Auf jeden Fall scheint es mir möglich, die Charakterisierungen der logischen Akte, die Jäsche in § 6 bzw. Kant in R 2876 gibt, so zu interpretieren, dass sie mit den in R 2854 genannten Akten übereinstimmen. Jäsche schreibt in § 6: 30

In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals daran erinnern, dass die Tatsache, dass JSsche eine bestimmte Reflexion zur Grundlage seiner Formulierung gemacht hat, dieser Reflexion nicht größere Autorität als anderen verleiht. Dies zeigt nur, dass nach Jäsches Ansicht Kant die Sache hier treffender formuliert als in anderen Reflexionen.

70

D i e Begriffslehre der formalen Logik „Die logischen Verstandes-Actus, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden, sind: 1) die C ο m ρ a r a t i ο n, d.i. die Vergleichung der Vorstellungen unter einander i m Verhältnisse zur Einheit des Bewußtseins; 2) die R e f l e x i o n , d.i. die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in E i n e m B e w u ß t s e i n begriffen sein können; u n d endlich 3) D i e A b s t r a c t i o n

oder die A b s o n d e r u n g alles Übrigen, worin die

g e g e b e n e n Vorstellungen sich unterscheiden." 3 1

1) Die Komparation bestand nach der eben ausgewerteten R 2854 darin, eine Vorstellung als mehreren Gegenständen gemeinsam anzusehen. In der Erklärung Jäsches ist dagegen von der Vergleichung von Vorstellungen die Rede. Hiermit ist meiner Ansicht nach das Vergleichen der ganzen Vorstellungen von verschiedenen Dingen gemeint. Außerdem sollen die Vorstellungen „im Verhältnisse zur Einheit des Bewußtseins" verglichen werden. Hiermit dürfte die analytische Einheit des Bewusstseins angesprochen sein, die Begriffen als solchen anhängt. Durch das Bilden dieses Bewusstseins verwendet man ja eine gegebene Vorstellung als Erkenntnisgrund. Jäsches Erklärung der Komparation ist demnach so zu verstehen, dass verschiedene ganze Vorstellungen von Dingen miteinander verglichen werden, und zwar in Hinblick auf eine gemeinsame Beschaffenheit, durch die die analytische Einheit dieser Vorstellungen in einem Bewusstsein möglich ist. Diese Erklärung der Komparation hängt mit der obigen, wonach Komparieren bedeutet, eine Vorstellung als nota communis anzusehen, in der Weise zusammen, dass man durch das Vergleichen verschiedener ganzer Vorstellungen das Bewusstsein bildet, dass eine Reihe von Gegenständen in Hinblick auf eine Eigenschaft übereinstimmt. Durch die31

Dieser Text ist eine leichte Umformulierung von R2876, und damit auch schon eine Interpretation, die ich allerdings für korrekt halte; vgl. R2876: „Logischer Ursprung der Begriffe: 1. durch comparation: wie sie sich zu einander in einem Bewustseyn verhalten. [...] 2. durch reflexion ( 9 mit demselben Bewustseyn): wie verschiedene in einem Bewustseyn begriffen seyn können. [ . . . ] 3. durch abstraction: da man das weglaßt, worin sie sich unterscheiden." Es gibt noch eine spätere Version dieser Reflexion: „1. apprehensio variorum (® Auffassung). ( 9 comparatio mit dem object zum Erkentnis.) 2. reflexio: Überlegung des Zusammenhangs zur Einheit des Begrifs. 3. abstractio von dem Übrigen."

Die logischen Handlungen des Verstandes

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ses Vergleichen kommt man dazu, eine „nota als communis" (R 2854) vorzustellen. R 2876 und Jäsche konzentrieren sich also auf den Prozess, der zu dem Ergebnis führt, dass man eine nota als communis vorstellt. Aus dieser Charakterisierung der ersten logischen Handlung geht übrigens auch hervor, warum sie Komparation genannt wird, was nach R 2854 nicht der Fall war. 2) Die Reflexion bestand nach R 2854 darin, sich auf diejenigen Gegenstände zu beziehen, die der reflektierten Vorstellung entsprechen. Wie Jäsches Erklärung der Komparation ist auch die Erklärung der Reflexion so zu verstehen, dass hier eine Handlung angegeben wird, die in der Bildung des Bewusstseins resultiert, durch das man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet: Eine gegebene Vorstellung als Erkenntnisgrund zu verwenden, ist gewissermaßen das Ergebnis der „Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen [d.h. die ganzen Vorstellungen verschiedener Dinge] in Einem Bewußtsein begriffen sein können": Indem man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund gebraucht, bildet man ein Bewusstsein verschiedener Gegenstände und begreift so diese Vorstellungen in einem Bewusstsein. Umgekehrt ist es die Überlegung, wie man die Vorstellungen in einem Bewusstsein vereinigen kann, die dazu führt, eine gemeinsame Bestimmung als Erkenntnisgrund zu verwenden. 3) Die Abstraktion besteht schließlich darin, dass man sich dessen bewusst ist, dass der Gegenstand noch weitere Eigenschaften aufweisen kann, der Bezug eines Begriffs auf ihn davon aber unabhängig ist. In der Charakterisierung dieser dritten logischen Handlung unterscheiden R 2854 und Jäsche sich nicht. Jäsche versucht, die drei logischen Handlungen anhand eines Beispiels zu erläutern. Diese Erläuterung scheint mir allerdings in zweifacher Hinsicht kritikwürdig zu sein: Erstens scheint mir die Beschreibung des Aktes der Komparation fehlerhaft zu sein: „Ich sehe z.B. eine Fichte, eine Weide und eine Linde. Indem ich diese Gegenstände zuvörderst unter einander vergleiche, bemerke ich, daß sie von einander verschieden sind in Ansehung des Stammes, der Äste, der Blätter u.dgl.m.; nun reflectire ich aber hiernächst nur auf das, was sie unter sich gemein haben, den Stamm, die Aste, die Blätter selbst und abstrahire von der Größe, der Figur derselben u.s.w.; so bekomme ich einen Begriff vom Baume." (Jäsche-Logik § 6, Anm. 1)

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D i e Begriffslehre d e r f o r m a l e n Logik

Die Komparation wird hier so dargestellt, dass man beim Vergleich der Bäume miteinander feststellt, dass sie sich in den Ausprägungen der Merkmale, die für Bäume konstitutiv sind (Stamm, Äste, Blätter), unterscheiden. Dagegen stellt man meiner Meinung nach bei der Komparation die Übereinstimmung verschiedener Gegenstände in Bezug auf ein bestimmtes Merkmal fest, nicht deren Unterschiede in Bezug auf die Ausprägung dieses Merkmals. Die Komparation besteht ja gerade darin, das Bewusstsein einer Gemeinsamkeit zu bilden. Die Unterschiede in den Ausprägungen der Merkmale werden meiner Ansicht nach nur in der Abstraktion thematisiert, die darin besteht, von ihnen abzusehen. Es liegt übrigens der Verdacht nahe, dass Jäsche dieses Beispiel aus der Logik-Nachschrift Pölitz übernommen hat, denn dort befindet sich dasselbe Beispiel, mit einer Erläuterung, die denselben Fehler enthält (vgl. A A 24, 566f), während man dieses Beispiel in anderen Nachschriften nicht findet. Zweitens scheint mir Jäsches Beispiel insofern irreführend, als es den Eindruck erweckt, dass die logischen Handlungen des Verstandes dazu dienen, etwas Gemeinsames an verschiedenen Gegenständen aufzufinden. Jäsche geht bei seinem Beispiel davon aus, dass man verschiedene Bäume vor sich hat und dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede an ihnen feststellt. Auf diese Weise kann man eine Bestimmung finden, die verschiedenen Gegenständen gemeinsam ist. Dadurch hat man aber nur die Vorstellung einer möglichen Bestimmung von Gegenständen gefunden, die die Materie eines Begriffs bilden kann. Man hat dadurch an dieser Vorstellung noch nicht die analytische Einheit des Bewusstseins gedacht, die sie erst zum Begriff macht. Das Auffinden einer Gemeinsamkeit hat m.E. noch nichts damit zu tun, eine Vorstellung allgemein zu machen. Jäsche verwechselt also die Handlungen, durch die eine empirisch vorgegebene Materie zu Begriffen aufgefunden wird, mit den Handlungen, durch die eine Vorstellung, die als schon gegeben betrachtet wird, 32 allgemein gemacht wird. Es ist aber klar, dass nach Kant beide Handlungen zu unterscheiden sind, weil die eine die Materie von Begriffen und die andere die Form von Begriffen betrifft. Entsprechend wird auch nur die letztgenannte in der formalen Logik behandelt. 32

Es kann sich hierbei, wie gesagt, um a priori oder a posteriori gegebene oder um gemachte Materie zu Begriffen handeln.

Die logischen Handlungen des Verstandes

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Jäsches Vermengung der Handlung, eine Gemeinsamkeit unter Gegenständen zu finden, mit der Handlung, eine Vorstellung in einen Begriff zu verwandeln, hängt wohl auch damit zusammen, dass Kant das Wort »Reflexion« nicht nur dazu verwendet, eine der drei logischen Handlungen zu bezeichnen, sondern auch dazu, die Handlung des Findens einer Gemeinsamkeit zu bezeichnen. Die Handlung der sich reflektierend betätigenden Urteilskraft, das Allgemeine zum Besonderen zu finden, wird ja auch als Reflexion bezeichnet. Dass beide Handlungen unter den Begriff »Reflexion« fallen, ist aber unbedeutend, weil dieser Begriff sehr unbestimmt ist. »Reflexion« heißt einfach nur Überlegung und Überlegungen kann es zu den verschiedensten Fragen geben. So fällt unter den Begriff »Reflexion« erstens die Handlung, eine Vorstellung als Erkenntnisgrund zu verwenden, es gibt zweitens die transzendentale Reflexion, die Vorstellungen den Erkenntnisvermögen zuordnet, 33 es gibt drittens die einem Urteil vorhergehende Reflexion, die die zu verbindenden Begriffe vergleicht,34 und es gibt viertens die Reflexion, die zum Besonderen das Allgemeine findet.35 Unter diesen Handlungen gibt es m.E. keine weitergehenden Übereinstimmungen, als dass sie alle in irgendeinem Sinne eine Überlegung sind. Ich möchte mich an dieser Stelle noch zu einer Interpretation der drei logischen Handlungen Komparation, Reflexion und Abstraktion äußern, die Longuenesse vorgeschlagen hat, 36 und der Allison sich anscheinend anschließt. 37 Allison sieht für die Bildung empirischer Begriffe das generelle Problem, dass dieser Vorgang zirkulär ist: Man muss schon Begriffe besitzen, um Gegenstände miteinander verglei33

34

35

36 37

„Die Ü b e r l e g u n g [... ] ist das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen" (A 260/B 316). Dies ist die transzendentale Reflexion (vgl. A262/B318). „Vor allen objektiven Urteilen vergleichen wir die Begriffe, um auf die Einerleiheit [... ] oder die Verschiedenheit [...], auf die E i n s t i m m u n g [... ] und den Widerstreit [ . . . ] zu kommen." (A262/B317f) Diese Vergleichung nennt Kant auch „ l o g i s c h e R e f l e x i o n [...]." (A 262/B 318) „Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. [... ] Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß r e f l e c t i r e n d." (AA 5, 179) Kant and the Capacity to Judge, S. 115-122. Kant's Theory of Taste, S. 20-30, Allison kommentiert hier die Erörterungen von Longuenesse.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

chen und dadurch ihre Gemeinsamkeiten sehen zu können. 38 Allison sieht in Longuenesse' Interpretation der drei logischen Handlungen einen Versuch zur Lösung dieses Problems. Longuenesse bemerkt zunächst, dass es unplausibel ist, eine chronologische Reihenfolge der Handlungen Komparation, Reflexion und Abstraktion anzunehmen. „Reflection and abstraction are not operations that follow comparison and are dependent on it; rather, each depends on the others and all proceed simultaneously."39 Dann stellt Longuenesse die Behauptung auf, dass wir, um einen Begriff zu bilden, eigentlich nicht die Gegenstände vergleichen, sondern deren Schemata. Sie verweist dazu auf R 2880: „Wir vergleichen nur das allgemeine der Regel unserer Auffassung." (Hier muss man beachten, dass das Schema eine Regel der Auffassung bzw. der Apprehension ist.) 40 Der Vergleich der Schemata zur Bildung eines Begriffs bringt diese Schemata nach Longuenesse auch erst hervor. Dies ist wohl so zu verstehen, dass Vergleich und Bildung von Schemata nur in einem hermeneutischen Zirkel geschehen können. Die Interpretation, dass wir zunächst Schemata bilden, um daraus Begriffe zu bilden, setzt voraus, dass man nach Kant Schemata von Begriffen besitzen kann, ohne die entsprechenden Begriffe zu besitzen. Dies ist nach Longuenesse aber der Fall, denn es ist „clear that the »rules for the synthesis of intuition« must first have been acquired at the outcome of the operations described in the A Deduction (apprehension, reproduction, and recognition), in order to be reflected as discursive concepts".41 Durch die Behauptung, dass man bei der Begriffsbildung nicht Gegenstände, sondern Schemata vergleicht, hat man nach Allison das Problem, wie man eine allgemeine Vorstellung bildet, aber nur verschoben. Denn nun stellt sich die Frage, wie man die Schemata bildet, die ja selbst schon etwas Allgemeines sind. Nach Allison werden die Schemata nun durch Assoziation gebildet. Die Assoziation setzt wie38

39 40

41

Siehe auch Edmund Heller, Kant und J. S. Beck über Anschauung und Begriff, S. 83. Longuenesse, a.a.O., S. 116. Siehe auch R 2883: „Diese Gemeingültigkeit setzt freylich eine Vergleichung voraus, aber nicht der Warnehmungen, sondern unserer Auffassung, so fern sie schon die Darstellung eines noch unbestimten Begrifs enthält und an sich allgemein ist." A.a.O., S. 116, Fn 29.

Inhalt und Umfang von Begriffen

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derum voraus, dass es eine materiale Gleichförmigkeit der Natur gibt. So schreibt Longuenesse: Die „»rule of apprehension« of which the concept is the universal representation is both immanent to the sensible, singular representation, and generated by the act of comparison".42 Wir können also eine Regel der Auffassung nur erwerben, wenn sie sich aufgrund der sinnlichen Vorstellungen anbietet. Ich möchte diese Erörterungen zur Bildung empirischer Begriffe nicht anzweifeln. Allerdings scheint mir, dass Longuenesse bzw. Allison nicht die Frage beantworten, wie man eine gegebene Vorstellung in einen Begriff verwandelt. Stattdessen beschreiben sie den Prozess, durch den wir in der Erfahrung eine Gemeinsamkeit der Gegenstände finden. Es wird hier lediglich erklärt, durch welche Schritte wir aus gegebenen Gegenständen die Vorstellung einer Eigenschaft herausfiltern können, die ihnen gemeinsam ist. Die Allgemeinheit von Begriffen besteht aber darin, dass wir uns bei einer Vorstellung dessen bewusst sind, dass wir uns durch sie auf verschiedene Gegenstände beziehen. Meiner Ansicht nach beschreiben Longuenesse und Allison also nur den Prozess, durch den man die Materie zu einem empirischen Begriff findet. Diese kann dann durch die drei logischen Handlungen zu einem empirischen Begriff gemacht werden. Longuenesse und Allison sagen aber nichts dazu, wie dieses Verwandeln einer gegebenen Vorstellung in einen Begriff geschieht.

3.3

Inhalt und Umfang von Begriffen

Im restlichen Teil seiner Begriffslehre beschäftigt Jäsche sich mit den Verhältnissen, die zwischen verschiedenen Begriffen aufgrund ihres Inhalts und Umfangs bestehen. In § 7 definiert Jäsche zunächst, was unter Inhalt und Umfang von Begriffen zu verstehen ist. Uber den Inhalt schreibt Jäsche: „Ein jeder Begriff, als Τ h e i 1 b e g r i f f , ist in der Vorstellung der Dinge enthalten [...]. In [dieser] Rücksicht hat jeder Begriff einen I n h a l t [...]." Ich vermute, dass mit der „Vorstellung der Dinge" hier die ganze Vorstellung eines Dinges gemeint ist. Die Vorstellungen, die zur ganzen Vorstellung des Dings gehören, sind Vorstellungen von Bestimmungen des Dings. Jäsche weist an dieser Stelle darauf hin, dass ein Begriff eine Teilvorstellung ist, also eine nicht durchgängig bestimmte Vorstellung, die als Teil der ganzen 42

A.a.O., S. 118.

Die Begriffslehre der formalen Logik

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Vorstellung von Gegenständen angesehen wird. Dies ist nach Kant ja gleichbedeutend damit, dass diese Vorstellung dazu verwendet wird, sich auf die ganze Vorstellung zu beziehen. Es kommt hier nun darauf an, dass im Begriff dieselbe Vorstellung verwendet wird, die auch Teil der ganzen Vorstellung des Dings ist. Daraus folgt nämlich, dass im Begriff eine Vorstellung von einer möglichen Bestimmung von Dingen als Erkenntnisgrund verwendet wird. Es erscheint nun durchaus sinnvoll, aufgrund dieses Umstandes von einem Begriff zu sagen, er habe Inhalt, denn Inhalt zu haben, bedeutet dann einfach, mögliche Bestimmungen von Gegenständen vorzustellen. Aufgrund ihrer Rolle als Erkenntnisgrund haben Begriffe als solche einen Umfang: „Ein jeder Begriff, als Τ h e i 1 b e g r i f f , ist in der Vorstellung der Dinge enthalten, als Ε r k e η η t η i ß g r u η d, d. i. als M e r k m a l sind diese Dinge u n t e r ihm enthalten." (Jäsche-Logik § 7) Dies ist so zu verstehen, dass nach Jäsche das Haben eines Umfangs von Begriffen darin besteht, dass im Begriff eine Vorstellung als Erkenntnisgrund gebraucht wird. Durch diesen Gebrauch beziehen wir uns nämlich auf eine Reihe von Gegenständen, und zwar auf solche, die die Eigenschaft aufweisen, die von der im Begriff verwendeten Vorstellung repräsentiert wird. Diese Menge an Gegenständen bildet den Umfang des Begriffs. Hieraus ergibt sich auch, dass Kant mit dem Umfang das meint, was Schulthess die extensionale Extension genannt hat. Und zwar unterscheidet Schulthess zwischen der extensionalen und der intensionalen Extension von Begriffen. Die intensionale Extension ist die Menge aller Artbegriffe, die unter einen gegebenen Begriff fallen, die extensionale Extension ist die Menge aller Dinge, die unter einen Begriff fallen. 43 Da nach § 7 der Jäsche-Logik der Umfang eines Begriffs aus Gegenständen und nicht aus Begriffen besteht, entspricht er also der extensionalen Extension. Ich werde nach der Besprechung von Gattungen und Arten noch einmal auf diese Unterscheidung von Schulthess zurückkommen. Es ist noch zu bemerken, dass in der formalen Logik mit dem Umfang immer eine Menge möglicher Dinge gemeint ist. Dieser Umfang ist immer unendlich groß. Im Unterschied dazu könnte man auch von einem empirischen Umfang sprechen, der aus den wirklichen Gegenständen besteht, die eine gewisse Bestimmung aufweisen. Dieser empirische 43

Vgl. Relation

und Punktion, S. 16f.

Inhalt und Umfang von Begriffen

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Umfang kann auch nur endlich oder sogar leer sein, d. h. es ist möglich, dass nur endlich viele oder gar kein wirklicher Gegenstand die vom Begriff geforderte Bestimmung aufweist. Vom empirischen Umfang und vom Umfang möglicher Dinge kann man außerdem den Umfang der Gegenstände möglicher Erfahrung unterscheiden. Dieser besteht aus den Gegenständen möglicher Erfahrung, die unter den Begriff fallen, unabhängig davon, ob sie wirklich existieren oder nicht. Auch dieser Umfang kann leer sein, und zwar ist dies der Fall, wenn der Begriff nicht objektiv real ist. Dass Begriffe Inhalt und Umfang aufweisen, gehört zu ihrer Form. Begriffe haben einen Inhalt, weil in ihnen die Vorstellung einer möglichen Bestimmung von Gegenständen gebraucht wird, und sie haben einen Umfang, weil diese Vorstellung als analytischer Erkenntnisgrund gebraucht wird. 3.3.1 Vergleich von Begriffen nach dem Inhalt Ich wende mich nun dem Vergleich verschiedener Begriffe zu. Und zwar kann man Begriffe bezüglich ihres Inhalts und bezüglich ihres Umfangs vergleichen. In Bezug auf den Inhalt kann man drei Verhältnisse zwischen Begriffen unterscheiden, die aber eng zusammenhängen: Enthaltensein, Widerspruch und inhaltliche Unabhängigkeit. Jäsche beschäftigt sich in seiner Begriffslehre nur mit dem ersten dieser Verhältnisse. Und zwar sagt er, dass ein Begriff in Bezug auf seinen Inhalt reicher oder ärmer als ein anderer sein kann oder, was dasselbe ist, niedriger oder höher: „Begriffe heißen h ö h e r e

(conceptus superiores), sofern sie andre Be-

griffe unter sich haben, die im Verhältnisse zu ihnen n i e d e r e Begriffe genannt werden. Ein Merkmal vom Merkmal - ein e n t f e r n t e s Merkmal - ist ein höherer Begriff, der Begriff in Beziehung auf ein entferntes Merkmal, ein niederer." (Jäsche § 9) 4 4

Der erste Satz dieses Zitats stellt nur klar, dass »höher« und »niedriger« nicht mögliche innere Eigenschaften von Begriffen sind, sondern mögliche Relationen zwischen Begriffen. Ein Begriff kann höher bzw. niedriger nur in Bezug auf einen anderen genannt werden. Eine Erklärung, unter welchen Umständen diese Relation besteht, wird erst 44

Dieser Text entstammt R2897 und R2898.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

im zweiten Satz dieses Zitats gegeben: „Ein Merkmal vom Merkmal - ein e n t f e r n t e s Merkmal - ist ein höherer Begriff [... ]." 45 Da ein Merkmal eine Teil V o r s t e l l u n g ist, ist dies so zu verstehen, dass ein höherer Begriff nur einen Teil dessen enthält, was ein niederer Begriff enthält, sodass der höhere in dem niederen enthalten ist. In anderen Reflexionen äußert Kant sich jedenfalls auch in diesem Sinne: „Conceptus superior continetur in inferiori et hie sub superiori; hinc dictum de omni et nullo." (R 2894) und „Der niedere Begrif ist nicht in dem höheren enthalten, denn er enthält mehr in sich; aber er ist doch unter jenem enthalten, weil der höhere den ErkenntnisGrund des niedrigen enthält." (R 2896) Es stellt sich nun die Frage, ob man die Redeweise vom Enthaltensein eines Begriffs in einem anderen weiter erläutern kann, oder ob man dies als primitives Verhältnis zwischen Begriffen annehmen muss. Hier muss man zwischen solchen Begriffen, die durch das Zusammensetzen anderer Begriffe gebildet wurden, die also definiert wurden, und solchen, für die dies nicht gilt, unterscheiden. Im ersten Fall ist klar, dass die im Definiens vorkommenden Begriffe im definierten Begriff enthalten sind. Es ist aber klar, dass nicht alle Begriffe dadurch gebildet worden sein können, dass sie aus anderen Begriffen zusammengesetzt wurden, denn dies würde zu einem infiniten Regress führen. Die Erklärung des Enthaltenseins, die de Jong in seinem »conjunction modell of concepts« gibt, ist also nicht auf alle Begriffe anwendbar: EI(P, S) [d. h. Ρ ist in S enthalten] iff the concept S can be analyzed as a conjunction of concepts, with the concept Ρ as one of its conjuncts, i.e., 3XI3X 2 ... 3X n (S = I i ® X 2 ® . . . ® X n f f i P ) with η > l. 46 Wenn man dieses Bikonditional von rechts nach links liest, ergibt sich etwas, das keinerlei Schwierigkeiten bereitet: Wenn der Begriff S durch die Begriffe Ρ und andere definiert ist, dann ist Ρ in S enthalten. Liest man das Bikonditional jedoch von links nach rechts, so ergibt sich m.E. eine falsche Aussage, nämlich dass ein Begriff nur dann in einem anderen enthalten ist, wenn der letztere durch den ersteren definiert ist. Denn es gibt empirisch gegebene Begriffe, bei denen der eine in dem 45

46

Eine ähnliche Formulierung gibt es bereits in der vorkritischen Schrift Die falsche Spitzfindigkeit ... Dort schreibt Kant „nota notae est etiam nota rei ipsius" (AA 2, 49). de Jong, Kant's Analytic Judgments and the Traditional Theory of Concepts, S. 628.

Inhalt und Umfang von Begriffen

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anderen enthalten ist, wie z.B. »Körper« in »Stein«, bei denen man aber nicht sagen kann, dass wir im Besitz weiterer Begriffe X\,..., Xn sind, sodass sich »Stein« als Körper, der X i , . . . , X n ist, definieren lässt. Vielmehr ist anzunehmen, dass uns zunächst beide Begriffe unabhängig voneinander empirisch gegeben sind, und dass wir uns erst nachträglich dessen bewusst werden, dass der eine in dem anderen enthalten ist. Dies betrifft die Frage nach dem Ursprung der Materie der Begriffe. Die Materien können unabhängig voneinander empirisch entspringen, sodass nicht die Materie des einen Begriffs durch Definition unter Verwendung der Materie des anderen Begriffs gemacht sein muss, damit zwischen den Begriffen das Verhältnis des Enthaltenseins bestehen kann. 47 Meiner Ansicht nach ist das Enthaltensein eine primitive Relation zwischen Begriffen, die man nicht auf andere Relationen zurückführen kann, insbesondere nicht darauf, dass der eine Begriff durch den anderen (und weitere) definiert ist. Es können uns durch die Erfahrung oder a priori Begriffe gewissen Inhalts gegeben sein, die schon in bestimmten Verhältnissen des Enthaltensein stehen. Dieser Verhältnisse kann man sich später bewusst werden. Dies geschieht im Rahmen einer Erörterung des Begriffs, in der die im Begriff enthaltenen Merkmale ohne Anspruch auf Vollständigkeit angegeben werden. Auf diese Weise wird der Begriff deutlich. 48 Kommen wir nun zum zweiten Verhältnis zwischen Begriffsinhalten, dem Widerspruch. Ebenso wie das Enthaltensein eines Begriffs in einem anderen ist der Widerspruch zwischen zwei Begriffen ein Verhältnis, das nicht auf andere Verhältnisse zurückgeführt werden kann und daher als primitiv angenommen werden muss. Auch der Satz vom Widerspruch erklärt nicht, was ein Widerspruch ist, sondern besagt 47

48

de Jong sieht das obige Zitat als Präzisierung zu § 36, Anm. 1 der JäscheLogik an. Jäsche verdeutlicht hier die Natur eines analytischen Urteils, indem er schreibt: „Alles x, welchem der Begriff des Körpers (a+b) zukommt, dem kommt auch die A u s d e h n u n g (b) zu, ist ein Exempel eines a n a l y t i s c h e n Satzes." Diese Formulierung muss man aber nicht so verstehen, dass hier die Definierbarkeit des Begriffs »Körper« durch »Ausdehnung« und einige weitere Begriffe gefordert wird. Es soll durch die Buchstaben nur verdeutlicht werden, dass der Begriff »Körper« den Begriff »Ausdehnung« schon enthält. „Ich verstehe aber unter E r ö r t e r u n g (expositio) die deutliche (wenn gleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört [...]." (B 38)

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Die Begriffslehre der formalen Logik

nur, dass es ein falsches Urteil ergibt, wenn man einander widersprechende Begriffe in einem Urteil verbindet. Kant formuliert den Satz vom Widerspruch so: „Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht [...]." (A 151/B 190) Bezüglich dieser Formulierung ergibt sich zunächst die Frage, worauf sich das Pronomen »ihm« bezieht. Rein grammatisch kommen sowohl »Ding« als auch »Prädikat« in Betracht. Nach der zweiten Möglichkeit müsste man allerdings lesen »Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches dem Prädikat widerspricht«. Es wäre hier also von einem Prädikat die Rede, das sich selbst widerspricht. Wenn dies gemeint wäre, hätte Kant aber sicherlich geschrieben »Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, das sich widerspricht«. Aus diesem Grund scheint es viel näher liegend, hier zu lesen »Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, das diesem Ding widerspricht«. 49 Dann ergibt sich allerdings die Frage, wieso Kant hier davon spricht, dass ein Prädikat einem Ding widerspricht, und nicht davon, dass zwei Begriffe sich widersprechen. Man muss hier bedenken, dass uns Dinge in der Logik immer nur unter Begriffen gegeben sind. Ein Ding ist immer ein A, z.B. ein Tisch, ein Baum oder was auch immer. Demnach besagt der Satz vom Widerspruch, dass keinem Ding, das als solches durch irgendeinen Begriff S gedacht werden muss, ein Begriff Ρ zukommt, der S widerspricht. Es wird also auch hier nicht erklärt, worin es besteht, dass zwei Begriffe einander widersprechen. Der Satz vom Widerspruch besagt nur, dass ein Urteil »S ist Ρ « falsch ist, wenn ein Widerspruch zwischen den Begriffen vorliegt. Auch hier wird also die Widersprüchlichkeit als nicht weiter zurückzuführende Relation zwischen Begriffsinhalten angesehen. Es ist hier zu beachten, dass nicht bloße Vorstellungen von Bestimmungen sich widersprechen, sondern ein Begriff einem Ding, das unter einem Begriff gedacht wird. Als Vorstellungen bloßer Bestimmungen widersprechen die Vorstellungen »rot« und »grün« sich nicht. Der Widerspruch taucht erst dann auf, wenn man den Begriff »rot« von einem grünen Gegenstand aussagen möchte. Widersprüche können nur zwischen Begriffen bestehen und sie äußern sich nur dann, wenn zwei sich widersprechende Begriffe in einem Urteil verbunden werden. Der Satz vom Widerspruch besagt, dass solche Urteile falsch sind. 49

Siehe hierzu die Diskussion zwischen Konrad Cramer und Michael Wolff, abgedruckt in Tuschling, Probleme der „Kritik der reinen Vernunft", S. 203ff.

Inhalt und Umfang von Begriffen

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Wenn zwei Begriffe sich widersprechen, bedeutet dies übrigens nicht unbedingt, dass einer die Negation des anderen ist. Die Begriffe Α und non-^4 widersprechen sich zwar, aber nicht jedes Paar sich widersprechender Begriffe steht in diesem Verhältnis. So widersprechen sich z.B. die Begriffe »Kreis« und »Viereck«, aber eine Figur, die kein Kreis ist, muss nicht unbedingt ein Viereck sein, sondern kann z.B. auch ein Dreieck sein. Zwei sich widersprechende Begriffe Α und Β decken also zusammen nicht unbedingt die Gesamtheit aller Möglichkeiten ab, d.h. es gilt nicht unbedingt »Jedes Ding ist entweder Α oder B«. Die beiden genannten inhaltlichen Verhältnisse zwischen Begriffen entscheiden darüber, ob ein kategorisches Urteil analytisch oder synthetisch ist. Es gibt bei Kant zwei Charakterisierungen von analytischen Urteilen, die sich auf je eines der beiden inhaltlichen Verhältnisse stützen. Bei einer ersten Erklärung analytischer Urteile geht Kant davon aus, dass der Prädikat-Begriff im Subjekt-Begriff enthalten ist: ,,[D]as Prädikat Β gehöret zum Subjekt Α als etwas, was in diesem Begriffe Α (versteckter Weise) enthalten ist [...]." (A 6/B 10) Kant sagt außerdem über analytische Urteile, dass sie den Subjekt-Begriff „durch Zergliederung in seine Teilbegriffe Zerfällen, die in selbigem schon (obgleichf50] verworren) gedacht waren" (A 7/B 11). Hier sagt Kant also explizit, dass die Begriffe eines analytischen Urteils ineinander enthalten sind. Nun ist dies allerdings nur eine vorläufige Charakterisierung der analytischen Urteile. Sie werden später dadurch definiert, dass man ihre Wahrheit aufgrund des Satzes vom Widerspruch erkennen kann. „Denn, w e n n d a s U r t e i l a n a l y t i s c h ist, es mag nun verneinend oder bejahend sein, so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze des Widerspruchs hinreichend können erkannt werden." (A 151/ Β 190) Wenn die Begriffe in einem bejahenden Urteil sich widersprechen, ist dieses Urteil nach dem Satz des Widerspruchs falsch. Wenn der Prädikat-Begriff in dem Subjekt-Begriff enthalten ist, so ist das bejahende Urteil wahr, weil es einen Widerspruch bedeutete, dieses Prädikat abzusprechen. Neben dem Enthaltensein und dem Widerspruch gibt es jedoch noch ein weiteres Verhältnis, das zwischen Begriffen aufgrund ihres Inhalts bestehen kann, nämlich das der logischen Kompatibilität. Wenn zwei 60

In der ersten Auflage „obschon".

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Die Begriffslehre der formalen Logik

Begriffe sich widersprechen, ist das verneinende Urteil analytisch wahr. Wenn das Prädikat im Subjekt enthalten ist, ist das bejahende Urteil analytisch wahr. Es gibt aber auch den Fall, dass es weder einen Widerspruch bedeutet, einem Ding, das durch den Begriff S gedacht wird, ein Prädikat Ρ zuzusprechen, noch es ihm abzusprechen. Der Begriff Ρ widerspricht also weder S noch ist er darin enthalten. In diesem Fall sind die Begriffe inhaltlich unabhängig. Dann kann die Wahrheit eines Urteils » S ist P « nicht aufgrund des Satzes vom Widerspruchs erkannt werden, d.h. dieses Urteil ist synthetisch. Insgesamt gibt es bezüglich des inhaltlichen Verhältnisses zweier Begriffe Α und Β also vier Möglichkeiten: 1. Der Inhalt von Β enthält den Inhalt von A. 2. Der Inhalt von Α enthält den Inhalt von B. 3. Α und Β sind inhaltlich unabhängig. 4. Α und Β widersprechen sich. In § 10 definiert Jäsche schließlich die Begriffe »Gattung« und » A r t « unter Rückgriff auf die eben definierten Relationen »höher« bzw. »niedriger«. Ein Begriff ist Gattung eines anderen Begriffes und dieser Art des erstgenannten, wenn jener höher ist als dieser. (Der höhere Begriff ist die Gattung, der niedere die Art.) Wenn man also von Begriffen sagt, dass der eine Gattung des anderen und dieser Art des ersten ist, vergleicht man diese Begriffe hinsichtlich ihres Inhalts. Wenn ein Begriff A Art des Begriffs Β ist, bedeutet dies, dass das Urteil »Alle A sind 5 « analytisch ist, was wiederum heißt, dass es ein Widerspruch wäre, einem Α das Prädikat Β abzusprechen. Ich möchte hier noch einmal darauf hinweisen, dass man zwischen der Beziehung, die ein Begriff zu den Gegenständen hat, die unter ihn fallen, und der, die ein Begriff zu seinen Art-Begriffen hat, unterscheiden muss. Die erstgenannte Beziehung besteht darin, dass in einem Begriff eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet wird. Dies führt dazu, dass der Begriff diese Dinge vorstellt. Dagegen besteht die Beziehung zwischen einem Begriff und seinen Arten aufgrund von Verhältnissen zwischen den Inhalten dieser Begriffe. Und zwar beruht diese Beziehung darauf, dass es einen Widerspruch bedeutet, wenn man einem Ding, das durch einen Art-Begriff gedacht wird, den Gattungs-Begriff abspricht. Man kann auch nicht, wie beim Begriff und seinen Gegen-

Inhalt und Umfang von Begriffen

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ständen, sagen, dass ein Begriff seine Arten vorstellt, diese also seinen intentionalen Gegenstand ausmachen. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals auf eine Begriffsbildung von Schulthess zurückkommen. Er unterscheidet zwischen zwei Arten von Extensionen von Begriffen, nämlich zwischen der extensionalen Extension und der intensionalen Extension. Die extensionale Extension ist die Menge der möglichen Gegenstände, die unter einen Begriff fallen, die intensionale Extension die Menge der Begriffe, die unter einen Begriff fallen. 51 Wenn Kant bzw. Jäsche vom Umfang eines Begriffs sprechen, ist damit in Schulthess' Terminologie die extensionale Extension gemeint, denn mit dem Umfang eines Begriffs sind ja Dinge gemeint und keine Begriffe (vgl. Jäsche §7). Die Menge der Arten eines Begriffs wäre in Schulthess' Terminologie dagegen die intensionale Extension. Wie eben erläutert, müssen die Verhältnisse in beiden Fällen allerdings deutlich unterschieden werden, und Schulthess' Begriffsbildung birgt die Gefahr, die Unterschiede zwischen ihnen zu verwischen. Diese Begriffsbildung mag aber im Zusammenhang von Schulthess' Untersuchung zur Entwicklung von Kants Ansichten über Begriffe gerechtfertigt sein, weil Kant anscheinend zu verschiedenen Zeiten unter dem Umfang eines Begriffs das eine oder das andere verstanden hat. 3.3.2

Vergleich von Begriffen nach dem Umfang

Ich komme nun zu der Frage, in welchen Verhältnissen verschiedene Begriffe in Bezug auf ihren Umfang stehen können. Es soll geklärt werden, was es heißt, dass ein Begriff mehr oder weniger unter sich (nicht in sich) enthält als ein anderer. Dass ein Begriff mehr unter sich enthält als ein anderer, kann man auch so ausdrücken, dass sein Umfang größer ist. Es fragt sich aber, wie man die Größen von Umfängen vergleichen kann, da jeder Begriff unendlich viele Dinge unter sich enthält. Dieser Frage wendet Jäsche sich in § 13 zu: (Ich zitiere R 2886, auf der Jäsches § 13 beruht.) „Ein Begriff ist nicht w e i t e r

als der andere darum, weil er

mehr

unter sich enthält, z.B. des Menschen und des Metalls, denn das kann man nicht wissen; sondern wenn er den andern Begrif und ausser dem noch mehr unter sich enthält." 51

Relation

und Funktion,

S. 16f.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

Die Ausdrücke »mehr unter sich enthalten« und »weiter sein« sind in Kants Sprachgebrauch eigentlich gleichbedeutend. In dieser Reflexion wird aber ein Unterschied zwischen beiden gemacht. Dies liegt daran, dass mit dem Ausdruck »mehr unter sich enthalten« hier etwas anderes gemeint ist als sonst in der Logik, z.B. bei der Formulierung des Reziprozitätsgesetzes (vgl. Jäsche § 7). Meiner Ansicht nach wird »mehr unter sich enthalten« hier nicht im logischen, sondern in einem empirischen Sinne gebraucht, nach dem ein Begriff genau dann mehr unter sich enthält als ein anderer, wenn es mehr wirkliche Gegenstände gibt, die unter ihn fallen. Kant denkt hier also an den oben erwähnten empirischen Umfang (S. 77). In diesem Sinne kann es z.B. sein, dass es mehr Menschen als metallene Gegenstände gibt. Von diesem Verhältnis kann man, wie im obigen Zitat, sagen, dass der Logiker nicht wissen kann, ob es besteht, denn es betrifft ja eine empirische Frage. Dass ein Begriff im logischen Sinne mehr unter sich enthält als ein anderer, d.h. weiter ist, soll nach R2886 also nicht als Aussage über das Verhältnis der empirischen Umfänge verstanden werden. Stattdessen sagt Kant, dass ein Begriff weiter ist als ein anderer, „wenn er den andern Begrif und ausser dem noch mehr unter sich enthält" (R 2886). Es ist hier also an ein echtes InklusionsVerhältnis der Umfänge gedacht: Der Begriff Α ist weiter als B, wenn alle möglichen Dinge, die unter Β enthalten sind, auch unter Α enthalten sind und außerdem noch weitere. Wenn dies der Fall ist, ist es sinnvoll zu sagen, dass mehr Dinge unter Α enthalten sind als unter B, obwohl beide Begriffe unendlich viele Dinge unter sich enthalten. Es ist hierbei zu bemerken, dass es auch Paare von Begriffen gibt, für die gilt, dass keiner von beiden weiter ist als der andere. Dies wird in der Nachschrift Dohna-Wundlacken bemerkt: „Wollte man eine Betrachtung und Vergleichung anstellen zwischen Metall und Holz, so sind dies conceptus heterogenei, haben gar keinen respectum in Ansehung ihrer Quantität, z.B. 100 Jahre - deutsche Meile, [weil keiner dieser Begriffe, die miteinander verglichen werden, unter dem andern steht. - ]" (AA 24, 755) 5 2

Wenn die beiden Begriffsumfänge also in keinem Inklusionsverhältnis stehen, ist keiner von beiden weiter als der andere, und die Begriffe 52

Die eckigen Klammern zeigen hier keine Hinzufügung von mir an, sondern bedeuten, dass es sich um eine Randnotiz in der Nachschrift handelt.

Inhalt u n d U m f a n g von Begriffen

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werden dann heterogen genannt. Dies ist z.B. bei Begriffen der Fall, deren Umfange sich nur teilweise schneiden. Z.B. ist manches, aber nicht alles Rote rund und manches, aber nicht alles Runde rot. Außerdem gibt es Begriffe, deren Umfange ganz außereinander liegen, wie z.B. Holz und Eisen. Nichts Hölzernes ist eisern und umgekehrt. 53 Für zwei gegebene Begriffe Α und Β gibt es also vier mögliche Verhältnisse, in denen ihre Umfange stehen können. 1. Der Umfang von Α enthält den Umfang von B. 2. Der Umfang von Β enthält den Umfang von A. 3. Die Umfange überlappen teilweise. 4. Die Umfänge liegen ganz außereinander. Wir haben jetzt gesehen, dass zwei Begriffe sowohl bezüglich ihres Inhalts als auch bezüglich ihres Umfangs in vier Verhältnissen zueinander stehen können. Ich möchte nun zeigen, dass diese Verhältnisse einander genau entsprechen. Ich werde dazu nacheinander die vier Verhältnisse betrachten, in denen der Inhalt zweier Begriffe Α und Β stehen kann, und zeigen, dass dann auch ein entsprechendes Verhältnis zwischen ihren Umfangen besteht. 1. Sei der Inhalt von Α im Inhalt von Β enthalten. Dann wäre es ein Widerspruch, einem Ding Β das Prädikat Α abzusprechen. Das Urteil »Alle Β sind A« ist also nach dem Satz des Widerspruchs wahr. Dieses Urteil besagt aber, dass der Umfang von Β im Umfang von Α enthalten ist. 2. Wenn der Inhalt von Β im Inhalt von Α enthalten ist, lässt sich genauso wie im Fall 1 zeigen, dass Β weiter als Α ist. 3. Seien die Begriffe Α und Β kompatibel. Es gibt dann .As, die Β sind, und .As, die nicht Β sind. Die Umfänge von Α und Β überlappen also zum Teil. 4. Widerspreche Α dem Begriff B. Nach dem Satz vom Widerspruch ist es dann falsch, Β von einem Ding auszusagen, das durch Α gedacht 53

Ähnliches wie über den Vergleich von Umfangen lässt sich z.B. auch über den Vergleich von unendlichen Teilmengen der rationalen Zahlen sagen. Zwar sind alle diese Mengen gleichmächtig, weil man sie bijektiv aufeinander abbilden kann, aber trotzdem kann eine solche Menge echte Teilmenge einer anderen sein. Auch hier ist zu bemerken, dass es Paare von Mengen gibt, sodass keine Teilmenge der anderen ist, was wiederum entweder so der Fall sein kann, dass deren Schnittmenge leer oder nicht leer ist.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

wird. Nach dem tertium non datur ist deshalb das Urteil »Kein A ist 5 « wahr. Dieses Urteil besagt aber, dass die Umfange von A und Β vollkommen außereinander liegen. Hieraus folgt auch das so genannte Reziprozitätsgesetz, das Jäsche schon in § 7 formuliert hatte: „Inhalt und Umfang eines Begriffes stehen gegen einander in umgekehrtem Verhältnisse. Je mehr ein Begriff u n t e r sich enthält, desto weniger enthält er i η sich und umgekehrt." Dass ein Begriff Α weniger in sich enthält als ein anderer Begriff B, ist nur im ersten der eben behandelten vier Fälle gegeben. In diesem Fall enthält Α aber auch mehr unter sich als B. Dass umgekehrt A nicht weniger in sich enthält als B, ist in den übrigen drei Fällen gegeben. In diesen Fällen gilt aber auch nicht, dass Α mehr unter sich enthält als B. Damit ist das Reziprozitätsgesetz in beiden »Richtungen« bewiesen. Es erweist sich als gröbere Fassung des hier bewiesenen Satzes, dass gewisse Relationen zwischen den Inhalten zweier Begriffe gewissen Relation zwischen ihren Umfängen entsprechen. Zum Abschluss meiner Erörterungen über die Verhältnisse zwischen Begriffen möchte ich noch auf einen terminologischen Punkt hinweisen, in dem ich von Jäsche abgewichen bin. Dieser behauptet in § 12, dass ein deflatorisches Verhältnis zwischen den Relationen »höher« und »weiter« besteht, wobei er sich aber anscheinend auf keine Reflexion stützen kann. Er schreibt: „Der höhere Begriff heißt auch ein w e i t e r e r ; " (Jäsche §12, kursiv von mir). Dies entspricht nicht Kants Meinung. Zwischen Begriffen können wie gesagt Relationen aufgrund ihres Inhalts bestehen, welche durch die Ausdrücke höher/niedriger, Gattung/Art oder mehr in sich enthalten/weniger in sich enthalten bezeichnet werden, oder aufgrund ihres Umfangs, welche durch die Ausdrücke weiter/enger, mehr unter sich enthalten/weniger unter sich enthalten bezeichnet werden. Beide Relationen können unabhängig voneinander erklärt werden, so wie es hier erläutert worden ist. Es wird jedenfalls nicht »weiter« durch »höher« definiert. Dass der höhere Begriff weiter ist, ist Teil des Reziprozitätsgesetzes und muss aufgrund der Definitionen dieser Relationen bewiesen werden. 3.3.3

Höchste Gattung und niedrigste Art

Zum Abschluss dieses Kapitels komme ich zu § 11, wo Jäsche die Begriffe »höchste Gattung« und »niedrigste Art« definiert: „Die h o c h -

Inhalt u n d U m f a n g von Begriffen

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s t e Gattung ist die, welche keine Art ist (genus summum non est species), sowie die n i e d r i g s t e Art die, welche keine Gattung ist (species, quae non est genus, est infima)." Die höchste Gattung ist also gewissermaßen der allgemeinste Begriff, zu dem es keinen allgemeineren Oberbegriff mehr gibt, es ist der Begriff eines Dings überhaupt. Die niedrigste Art wäre der konkreteste Begriff, zu welchem es keine konkreteren Unterarten mehr gibt. Uber die niedrigste Art sagt Jäsche in § 11 weiter: „Dem Gesetze der Stetigkeit zufolge kann es indessen weder eine n i e d r i g s t e , noch eine n ä c h s t e Art geben." Damit wirft § 11 eine Reihe von Fragen auf, die nur zum Teil durch die Anmerkung zu diesem Paragraphen beantwortet werden: Warum gibt es einen höchsten Begriff, aber keine niedrigsten? Was ist eine nächste Art, und warum gibt es sie nicht? Was besagt das Gesetz der Stetigkeit? Ich wende mich zunächst der Frage nach der nicht-Existenz der niedrigsten Art zu. Jäsche erläutert in der Anmerkung, dass es subjektiv betrachtet durchaus niedrigste Begriffe gibt. Ein subjektiv niedrigster Begriff ist der niedrigste Begriff, den eine Person besitzt, zu dem sie also keine Arten mehr kennt. Ebenso gibt es bezüglich einer Sprache niedrigste Begriffe, nämlich die niedrigsten, für die diese Sprache Wörter enthält: „Nur c o m p a r a t i v f ü r d e n G e b r a u c h giebt es niedrigste Begriffe, die gleichsam durch Convention diese Bedeutung erhalten haben, sofern man übereingekommen ist, hierbei nicht tiefer zu gehen." (Jäsche § 11, Anm.) Über die subjektiv niedrigsten Begriffe kann man in gewissem Sinne sagen, dass sie unmittelbar auf Gegenstände angewandt werden, nämlich insofern als diese Anwendung nicht mehr über niedrigere Artbegriffe vermittelt ist. So schreibt Jäsche: „Denn haben wir auch einen Begriff, den wir u n m i t t e l b a r auf Individuen anwenden [...]." (Jäsche § 11, Anm.) 54 Die Fragen, welche Begriffe ein bestimmtes Subjekt besitzt, oder ob man in einer Gemeinschaft übereingekommen ist, nicht tiefer zu gehen, sind für die Logik natürlich nicht interessant. Wichtig ist für 54

Diesen Sachverhalt hat auch Kant im Sinn, wenn er schreibt, dass ein „Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgend eine andre Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen" wird (A 6 8 / B 93, kursiv von mir). Die subjektiv niedrigsten Begriffe werden direkt auf Anschauungen bezogen, die anderen indirekt über Artbegriffe. Siehe auch § 1 der K.d.r.V., wo Kant zwischen direktem und indirektem Bezug des Denkens auf Anschauungen unterscheidet.

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Die Begriffslehre der formalen Logik

die Logik nur, welche Begriffe man bilden kann. „Denn haben wir auch einen Begriff, den wir u n m i t t e l b a r auf Individuen anwenden: so können in Ansehung desselben doch noch specifische Unterschiede vorhanden sein, die wir entweder nicht bemerken, oder die wir aus der Acht lassen." (Jäsche § 11, Anm.) Unter den möglichen Individuen, die unter einen Begriff fallen, gibt es immer noch Unterschiede, und diese Unterschiede können dazu benutzt werden, verschiedene Arten des Begriffs zu definieren. Wenn man eine Reihe von Begriffen betrachtet, in der jeder Art des vorigen ist, wie »Lebewesen«, »Pflanze«, »Baum«, »Buche«, so werden sich zwischen den individuellen Buchen Unterschiede finden, d.h. manche von ihnen werden eine Bestimmung Β aufweisen und andere nicht. Dann kann man aber den Begriff »Buche mit Bestimmung B« bilden, der ein Artbegriff zu »Buche« ist. Da dieser Prozess sich beliebig oft wiederholen lässt, gibt es keine niedrigste Art. Weiterhin erläutert Jäsche in der Anmerkung zu § 11, warum es eine höchste Gattung geben muss: Wenn man in einer Reihe von Begriffen zu immer höheren Gattungen geht, so muss man irgendwann zu einem höchsten Begriff kommen, „von dem sich, als solchem nichts weiter abstrahiren läßt, ohne daß der ganze Begriff verschwindet". Es erscheint zunächst wenig einleuchtend, warum es einen Begriffsinhalt geben sollte, bei dem man nicht noch von einem Teil abstrahieren kann. Dies würde ja bedeuten, dass hier ein »Inhaltsatom« vorliegt, von dem sich nichts abspalten ließe. Jäsche gibt in seiner Anmerkung auch keine weitergehende Erklärung, warum man ein solches Inhaltsatom annehmen sollte. Meiner Ansicht nach lässt sich aber auf folgende Weise begründen, dass jeder Begriff den Begriff eines Dinges überhaupt in sich enthalten muss: Jeder Begriff ist ein Begriff von Dingen, und dass ein Begriff sich auf Dinge bezieht, liegt wiederum daran, dass er Erkenntnisgrund ist. Jeder Begriff muss also schon aufgrund seiner Form Dinge überhaupt vorstellen. Von diesem durch die Form des Begriffs bedingten Inhalt lässt sich nicht abstrahieren, „ohne daß der ganze Begriff verschwindet" (Jäsche-Logik § 11, Anm.). Man kann also in gewisser Weise sagen, dass es einen gemeinsamen atomaren Kern jeden Begriffsinhalts gibt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die möglichen Fortbestimmungen dieses Inhaltskernes auch eine atomare Struktur aufweisen. Vielmehr wird sich gleich zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist.

Inhalt und Umfang von Begriffen

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Das Gesetz, dass es eine höchste Gattung gibt, nennt Kant das Gesetz der Homogenität, denn es besagt, dass je zwei Begriffe insofern homogen sind, als sie Arten einer gemeinsamen Gattung sind. Dies ist der Grundsatz: „non datur vacuum formarum, d. i. es gibt nicht verschiedene ursprüngliche und erste Gattungen, die gleichsam isoliert und von einander (durch einen leeren Zwischenraum) getrennet wären, sondern alle mannigfaltige Gattungen sind nur Abteilungen einer einzigen obersten und allgemeinen Gattung [... ]." (A 659/B 687)

Das Gesetz, dass es keine niedrigste Art gibt, nennt Kant das Gesetz der Varietät oder der Spezifikation. Denn dieses Gesetz besagt, dass die unter einen Begriff fallenden Dinge auf jeden Fall noch untereinander variieren, sodass man durch Spezifikation weitere Unterarten bilden kann. Außer den beiden genannten Gesetzen gibt es nach Kant noch ein Gesetz der Kontinuität (Affinität) der Formen, „welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet" (A 657f/B 685f). ,,[E]s gibt keine Arten oder Unterarten, die einander (im Begriffe der Vernunft) die nächsten wären, sondern es sind noch immer Zwischenarten möglich, deren Unterschied von der ersten und zweiten kleiner ist, als dieser ihr Unterschied von einander." (A659f/B 687f)

Kant will hier sagen, dass es zu jedem Gattung-Art Paar G und A einen Begriff Ζ gibt, sodass G Gattung von Ζ und Ζ Gattung von A ist. Dies entspricht der von Jäsche in § 11 aufgestellten Behauptung, dass es keine nächste Art gibt. Dass es zwischen den Begriffen G und Α immer noch einen Begriff Ζ geben muss, kann man sich m.E. auf die folgende Weise klarmachen: Da es unter einer Gattung immer mehrere Arten gibt, kann man, indem man einige, aber nicht alle von ihnen in einem Begriff zusammenfasst, einen Begriff Ζ bilden. Dieser muss aufgrund seiner Bildung Gattung von Α und Art von G sein.

4

Die Verbindung überhaupt

Im vorigen Kapitel habe ich mich mit der Begriffslehre der formalen Logik nach Jäsche beschäftigt. Im Zentrum dieser Beschäftigung stand die Aussage, dass Begriffe als Erkenntnisgrund verwendete Vorstellungen sind. Daraus ergaben sich die wichtigsten formallogischen Eigenschaften von Begriffen, nämlich erstens dass Begriffe in dem Sinne objektiv sind, dass sie durchgängig bestimmte Gegenstände vorstellen, eine Eigenschaft, die sie mit Anschauungen teilen. Zweitens hat sich ergeben, dass Begriffe Inhalt und Umfang besitzen. Letzteres bedeutet, dass sie sich auf eine unendliche Menge von möglichen Dingen beziehen, wodurch sie sich von Anschauungen unterscheiden. Allerdings bleibt bei Jäsche offen, warum der Verstand dazu in der Lage ist, Vorstellungen als Erkenntnisgrund zu verwenden. Aus diesem Grund kann man sagen, dass der Behandlung der Begriffslehre durch Jäsche die Grundlagen fehlen.1 Diese Grundlagen sollen im folgenden Kapitel 5 »nachgeliefert« werden. Genauer gesagt soll gezeigt werden, dass man eine Vorstellung als Erkenntnisgrund verwendet, wenn man an ihr die analytische Einheit des Bewusstseins denkt. Aus diesem Grund kann man auch sagen, dass die analytische Einheit des Bewusstseins allen Begriffen als solchen anhängt (vgl. Β 133n). Wenn dies geklärt ist, wird auch verständlich, warum die synthetische Einheit der Apperzeption als höchster Punkt dient, an den die formale Logik geheftet werden muss (vgl. Β 134n), zumindest für den Teil der formalen Logik, der sich mit Begriffen beschäftigt. Der Kerngedanke ist, dass eine Vorstellung dadurch als Erkenntnisgrund verwendet wird, dass sie als in möglicher Verbindung mit anderen Vorstellungen stehend angesehen wird. Diese Grundlegung der Begriffslehre erfordert es, Kants Theorie des Selbstbewusstseins oder der Apperzeption einzuführen, was im Kapitel 5.2 geschehen wird. Erst dadurch ist es möglich zu erklären, was 1

Dies bemängelt auch Reich, Die S. 21ff.

Vollständigkeit

der kantischen

Urteilstafel,

92

Die Verbindung überhaupt

Kant unter einer Verbindung von Vorstellungen versteht. Denn mit einer Verbindung von Vorstellungen meint Kant immer eine Verbindung von Vorstellungen in einem Bewusstsein. Vorstellungen zu verbinden, bedeutet, sie in einem Bewusstsein zu vereinigen.2 In diesem Kapitel sollen zunächst auf der Basis des § 15 der K.d.r.V. einige grundlegende Begriffe und Unterscheidungen bezüglich Verbindungen erklärt werden. In § 15 nennt Kant drei Merkmale, die in dem Begriff der Verbindung enthalten sind: „Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des Mannigfaltigen, und der Synthesis desselben, noch den der Einheit desselben bei sich." (B 130) Das Merkmal des Mannigfaltigen besagt, dass es in einer Verbindung immer verschiedene Vorstellungen gibt, die verbunden sind.3 Bezüglich des Mannigfaltigen wird zu untersuchen sein, welche Arten von Vorstellungen Kant als mögliche Elemente von Verbindungen betrachtet. Zweitens werde ich die Einheit betrachten, die verschiedene Vorstellungen in einer Verbindung eingehen. Bezüglich dieser Einheit muss zwischen bloß subjektiver und objektiver Gültigkeit unterschieden werden, wobei aber allein der objektiv gültige Fall für Kant interessant ist. Die Synthesis ist schließlich diejenige Handlung, unter verschiedenen Vorstellungen eine subjektive oder objektive Einheit zu stiften. Sie ist das dritte im Begriff der Verbindung enthaltene Merkmal, das Kant in § 15 nennt.

4.1

Arten des Mannigfaltigen

Zunächst möchte ich auf die Frage eingehen, welche Arten von Vorstellungen verbunden werden können. In § 15 der K.d.r.V. sagt Kant, dass es Verbindungen „des Mannigfaltigen der Anschauung, oder mancherlei Begriffe, und an der ersteren der sinnlichen, oder nicht sinnlichen Anschauung" (B 130) gibt. Es werden hier also zunächst zwei Arten von Vorstellungen unterschieden, nämlich Begriffe und das Mannigfaltige der Anschauung, wobei letzteres nochmals in das Mannigfaltige einer sinnlichen und einer nicht-sinnlichen Anschauung unterteilt wird. 2

3

Außer Verbindungen von Vorstellungen in einem Bewusstsein gibt es auch Verbindungen von Beschaffenheiten in einem Objekt. Wenn Kant das Wort »Verbindung« benutzt, meint er allerdings meist den ersten Fall. Es ist hier also ein Mannigfaltiges an Vorstellungen gemeint. Kant kann auch von einem Mannigfaltigen von Bestimmungen sprechen, die in einem Gegenstand verbunden sind - siehe vorige Fußnote.

Arten des Mannigfaltigen

93

Wenn man Begriffe in objektiver Weise miteinander verbindet, fällt man ein Urteil. In Urteilen „ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener Begriffe gedacht" (B 131). Wie schon in Kapitel 2 betont, ist es für Urteile wesentlich, dass die Begriffe bzw. Urteile in ihnen eine objektive Einheit eingehen. Da die Betrachtung solcher Verbindungen schon voraussetzt, dass Begriffe gegeben sind, kann sie nicht viel zur Beantwortung der Frage beitragen, was Begriffe sind. Verbindungen von Begriffen werden daher in dieser Arbeit nur eine Nebenrolle spielen.4 Zweitens gibt es Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung. Zunächst stellt sich die Frage, was es für Vorstellungen sind, die dieses Mannigfaltige ausmachen. Aufgrund von Kants Beispielen zur Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung ist deutlich, dass hiermit keine ganzen Anschauungen gemeint sein können, die je einen einzelnen Gegenstand vorstellen. Stattdessen sind die Teile gemeint, aus denen sich die Anschauung eines Gegenstandes zusammensetzt. So schreibt Kant beispielsweise: „Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, z.B. eine Linie, muß ich sie z i e h e n , und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen" (B 137f). In diesem Beispiel bilden die Teile einer Linie das Mannigfaltige, das durch die Synthesis zur Vorstellung der ganzen Linie verbunden wird. Dass es sich bei den Vorstellungen, die das Mannigfaltige der Anschauung ausmachen, um Teile von Anschauungen handelt, wird noch deutlicher an den Beispielen der Synthesis der Apprehension, die in der „Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung" (B 160) besteht. 5 Als Beispiele für das Mannigfaltige der Anschauung kann man also sinnlich gegebene Wahrnehmungen nennen, z.B. Farbwahrnehmungen. Man kann auch an komplexere Eigenschaften denken, die sich aber mit Hilfe empirischer Schematismen auf räumlich und zeitlich verteilte 4

5

Dies setzt natürlich die oben formulierte These voraus, dass Begriffe ihrer Form nach unabhängig von der Verwendung in Urteilen hervorgebracht werden. Longuenesse dagegen glaubt, dass das Hervorbringen von Begriffen ihrer Form nach nicht unabhängig von Urteilen geschehen kann (siehe oben, S. 31). Für sie ist die Frage, wie Begriffe im Urteil verbunden werden, deshalb auch wichtig für die Frage, wie Begriffe überhaupt hervorgebracht werden. Kant sagt auch, „daß das Mannigfaltige für die Anschauung" (B 145, kursiv von mir) gegeben sein muss. Auch dies deutet darauf hin, dass die mannigfaltigen Vorstellungen Teile sind, die zu einer Anschauung eines Gegenstandes verbunden werden.

94

D i e Verbindung überhaupt

Wahrnehmungen zurückführen lassen, wie z.B. »Hund«, »ausgedehnt« oder »vierbeinig«. Allgemeiner gesagt besteht das Mannigfaltige der Anschauung aus Vorstellungen von einzelnen Bestimmungen, die einem Gegenstand zukommen können. Neben dem empirischen Mannigfaltigen gibt es nach Kant auch das reine Mannigfaltige der Sinne. „Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori, gehören aber gleichwohl zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts" (A 77/B 102). Dies ist das Mannigfaltige, das in den reinen Anschauungen Raum und Zeit enthalten ist (vgl. Β 160n). Auch das Mannigfaltige a priori muss verbunden werden, um die Vorstellungen von Raum und Zeit hervorzubringen. Reines und empirisches Mannigfaltiges sind allerdings nicht zwei gleichberechtigte Fälle, sondern das empirische Mannigfaltige muss uns Menschen immer in den Formen von Raum und Zeit gegeben sein. Es gibt also kein Mannigfaltiges, das bloß empirisch ist, wohl aber Mannigfaltiges a priori, das keinen empirischen Inhalt aufweist. (Zumindest kann man von diesem empirischen Inhalt absehen.) Das Mannigfaltige a priori liegt dem empirischen in diesem Sinne zugrunde. Man darf den Ausdruck »Mannigfaltiges der Anschauung« also nicht so verstehen, dass damit eine Ansammlung verschiedener Anschauungen, die sich je auf einen Gegenstand beziehen, gemeint ist, auch wenn dies von der bloßen Wortbedeutung her möglich ist. 6 Entsprechend darf man die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung auch nicht so verstehen, dass hierbei Anschauungen von verschiedenen Gegenständen unter einen gemeinsamen Begriff geordnet werden. Man kann also die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung nicht als das Ordnen verschiedener Anschauungen unter eine gemeinsame Vorstellung (einen Begriff) verstehen. 7 Stattdessen ist die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung die Zusammensetzung von Teilen zu der Anschauung eines Gegenstands. Wenn mit einer Anschauung eine objektive Vorstellung eines einzelnen Gegenstandes gemeint ist, kann man von einer Anschauung im starken Sinne sprechen. Im Unterschied dazu ist mit einer Anschauung bei Kant auch manchmal ein Element des Mannigfaltigen der Anschauung gemeint, z.B. wenn Kant von der Synthesis der Anschauungen spricht (vgl. Β 142). Ich hatte in Kapitel 2.3 erwähnt, dass einige Autoren die Funktion unterzuordnen, auf der Begriffe beruhen (vgl. A 6 8 / B 93), in dieser Weise verstehen. Diese Interpretation hatte ich allerdings als falsch zurückgewiesen, weil es nicht zu allen Begriffen korrespondierende Anschauungen gibt.

Arten des Mannigfaltigen

95

An der oben zitierten Stelle aus § 15 nennt Kant sowohl das Mannigfaltige der sinnlichen als auch das Mannigfaltige der nicht-sinnlichen Anschauung. Zunächst ist hierzu zu bemerken, dass nach Kant alles Mannigfaltige der Anschauung, das uns Menschen tatsächlich gegeben sein kann, Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung ist. Dies bedeutet, dass uns alles Mannigfaltige durch ein bestimmtes Vermögen, nämlich die Sinnlichkeit gegeben ist, die sich durch Rezeptivität auszeichnet (vgl. A 19/B 33, A 67f/B 92). Wenn Kant hier vom Mannigfaltigen einer nicht-sinnlichen Anschauung spricht, kann er damit also nicht behaupten wollen, dass uns ein derartiges Mannigfaltiges wirklich gegeben ist. Er muss stattdessen so verstanden werden, dass er nur problematisch die Möglichkeit annehmen will, dass uns auch anders als durch die Sinnlichkeit ein Mannigfaltiges gegeben sein könnte. Ein solches Mannigfaltiges, wenn es denn gegeben wäre, könnte durch den Verstand genauso verbunden werden wie dasjenige Mannigfaltige, das wirklich gegeben ist. Um zu sehen, was mit dem Mannigfaltigen einer nicht-sinnlichen Anschauung gemeint ist, ist es sinnvoll, zuerst den Begriff des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt zu betrachten. Kant sagt in § 21 der K.d.r.V. rückblickend auf den ersten Teil der B-Deduktion (§§ 16-20), er habe dort „von der Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde" (B 144) abstrahiert. 8 Er habe allerdings nicht davon abstrahieren können, „daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, g e g e b e n sein müsse" (B 145). Von dem Umstand, dass dem Verstand ein Mannigfaltiges gegeben sein muss, kann man bei der Untersuchung unseres diskursiven Verstandes nicht abstrahieren, weil dieser nur denken kann. Dies bedeutet, dass er lediglich das Vermögen ist „die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen" (B 145). Was mit der Einheit der Apperzeption gemeint ist, soll erst im nächsten Kapitel thematisiert und erläutert werden. Hier will ich nur betonen, dass unser Verstand lediglich das Vermögen ist, ein ihm gegebenes Mannigfaltiges der Anschauung in einem Bewusstsein zu vereinigen. Der Begriff »Mannigfaltiges einer Anschauung überhaupt« ist entsprechend so zu verste8

Daher spricht Kant in den §§ 16-20 meistens vom Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt.

96

Die Verbindung überhaupt

hen, dass unter ihn alles Mannigfaltige fällt, das dem Verstand gegeben sein könnte, sodass er seine Verbindungstätigkeit daran ausüben kann. Dies ist einerseits das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung, andererseits aber auch das Mannigfaltige einer nicht-sinnlichen Anschauung. Der Begriff »Mannigfaltiges einer Anschauung überhaupt« ist durch Abstraktion aus dem Begriff »Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung« gebildet. Kant sieht dabei einfach von denjenigen Eigenschaften des sinnlichen Mannigfaltigen ab, die aufgrund der Sinnlichkeit unserer Anschauung bestehen. Dafür spricht zunächst, dass Kant von der übersinnlichen Anschauung9 sagt, dass „wir uns [von ihr] specifisch keinen Begriff machen können" (AA 20, 272). Zweitens spricht dafür, dass man nach Kant über ein Objekt einer nicht-sinnlichen Anschauung nur negativ sagen kann, „ d a ß i h m n i c h t s z u r s i n n l i c h e n A n s c h a u u n g G e h ö r i g e s z u k o m m e : also, daß es nicht ausgedehnt, oder im Räume sei" (B 149) etc., während man positiv nichts von einem solchen Objekt erkennen kann. Das Mannigfaltige einer nicht-sinnlichen Anschauung ist dann einfach das Mannigfaltige einer Anschauung überhaupt, das nicht sinnlich ist. Ansonsten stimmt der Begriff der nicht-sinnlichen Anschauung mit dem der sinnlichen Anschauung überein. Diese Anschauung könnte dem Verstand genauso ein Mannigfaltiges für die Synthesis geben, wie es faktisch die sinnliche Anschauung tut. Ein besonderer Fall des Mannigfaltigen der nicht-sinnlichen Anschauung ist das Mannigfaltige der übersinnlichen Anschauung. Unter übersinnlicher Anschauung stellt Kant sich eine Art Ideenschau vor. Piaton erklärt sich nach Kant die synthetischen Urteile a priori in der Mathematik so, dass er eine Anschauung a priori annimmt, die in einem göttlichen Verstand ihren Ursprung hat, der zugleich Ursprung aller Dinge ist. Die Anschauungen dieses göttlichen Verstandes sind Urbilder (Ideen), während unsere Anschauung dieser Ideen nur Nachbilder (ectypa) sind (vgl. AA 8, 391). Das Mannigfaltige, das unserem diskursiven Verstand bei einer solchen Ideenschau vom göttlichen Verstand gegeben ist, wäre das Mannigfaltige einer übersinnlichen Anschauung. Die These, dass es übersinnliche Anschauung gibt, nennt Die übersinnliche Anschauung ist ein besonderer Fall einer nicht-sinnlichen Anschauung, den ich gleich diskutiere.

Arten des Mannigfaltigen

97

Kant Mystik oder Schwärmerei.10 Durch übersinnliche Erfahrung wird dem Menschen gewissermaßen von oben herab durch Inspiration Weisheit eingegossen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Kant nicht an die Erkenntnis eines göttlichen Verstandes denkt, wenn er vom Mannigfaltigen der nicht-sinnlichen bzw. der übersinnlichen Anschauung spricht. 11 Denn der göttliche Verstand erkennt, indem er das Mannigfaltige einer intellektuellen Anschauung und damit zugleich den Gegenstand dieser Anschauung hervorbringt (vgl. Β 145). „Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde a n s c h a u e n [...]." (B 135) Kant sagt nun weiter vom göttlichen Verstand, er „würde einen besondern Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf (B 139). Während die göttliche Erkenntnis durch intellektuelle Anschauung also keiner Synthesis des Mannigfaltigen bedarf, spricht Kant sehr wohl von der Synthesis des nicht-sinnlichen Mannigfaltigen. Man darf also die (problematisch angenommene) menschliche diskursive Erkenntnis aufgrund eines Mannigfaltigen einer nicht-sinnlichen Anschauung nicht mit der göttlichen intuitiven Erkenntnis verwechseln. Im Fall der diskursiven Erkenntnis aufgrund des übersinnlichen Mannigfaltigen ist es zwar dasselbe Mannigfaltige, durch das auch der göttliche Verstand intuitiv erkennt, aber trotzdem ist die Erkenntnis ganz verschieden. Im menschlichen Fall handelt es sich um Erkenntnis durch Begriffe, während der göttliche Verstand erkennt, indem er anschaut. Ich möchte hier noch eine Stelle diskutieren, die die vorgeschlagene Interpretation einerseits bestätigt, andererseits aber auch Probleme aufwirft: „Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung [...]." Dabei nimmt „es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung [...], ob sie sinnlich oder intellektuell sei" (B428f). Diese Stelle bestätigt einerseits, dass dem Verstand das Mannigfaltige, das er verbindet, auch anders als durch 10

11

Kant schreibt Piaton eine »mystische Deduktion« der Ideen zu (vgl. A 3 1 4 n / Β 371n). Die objektive Realität der Ideen versucht Piaton nach Kant also unter Rückgriff auf ein Mannigfaltiges der übersinnlichen Anschauung nachzuweisen. Siehe hierzu Baum, Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie, S. 83f.

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Die Verbindung überhaupt

die Sinnlichkeit gegeben sein könnte. Andererseits wirft diese Stelle Probleme auf, weil Kant hier von intellektueller Anschauung spricht, was ja die Erkenntnis des göttlichen Verstandes beschreibt. Ich schlage daher vor, diese Stelle so zu lesen, dass hier mit der intellektuellen Anschauung die nicht-sinnliche Anschauung gemeint ist. 12 An dieser Stelle hat Kant das Wort »intellektuell« wohl einfach als Gegensatz zu »sinnlich« verwendet, sodass mit »intellektueller Anschauung« hier »nicht-sinnliche Anschauung« gemeint ist. Zusammenfassend kann man also sagen, dass sowohl Anschauungen als auch Urteile Verbindungen von Vorstellungen sind, und zwar im ersten Fall Verbindungen des Mannigfaltigen einer Anschauung, im zweiten Fall Verbindungen von Begriffen. In den §§ 16-18 der K.d.r.V. spricht Kant über den ersten Fall, im § 19 über den zweiten Fall. Es handelt sich hier um zwei Fälle, die in vielerlei Hinsicht parallel verlaufen. Dies wird später noch deutlicher werden, wenn ich auf die metaphysische Deduktion der Kategorien (§ 10 der K.d.r.V.) eingehe (siehe Kapitel 6.2.1, S. 176-179). Weiterhin ist festzuhalten, dass das Mannigfaltige-der-Anschauung-überhaupt alles Mannigfaltige umfasst, das dem diskursiven Verstand als Material zum Denken gegeben sein kann. Damit der diskursive Verstand überhaupt denken kann, muss ihm ein Mannigfaltiges-einer-Anschauung-überhaupt gegeben sein, denn er ist nur ein Vermögen zu verbinden, und das Material dazu muss ihm von irgendwoher gegeben sein, da er selbst kein Mannigfaltiges hervorbringen kann.

4.2

Die Einheit des Mannigfaltigen

Das wichtigste Merkmal an Verbindungen dürfte die Einheit sein, die verschiedene Vorstellungen in ihr eingehen. Diese Einheit bildet jedenfalls das Thema der §§ 16-19 der K.d.r.V. Genaueres zu der Frage, was eine Einheit von Vorstellungen eigentlich ist, wird erst im nächsten Kapitel gesagt werden. Vorgreifend möchte ich hier nur darauf hinweisen, dass eine Verbindung von Vorstellungen nach Kant immer eine Verbindung in einem Bewusstsein ist, und dass dasjenige, was verschiedenen 12

Es scheint bei Kant bezüglich der Unterscheidung zwischen sinnlicher, nichtsinnlicher und intellektueller Anschauung terminologische Schwankungen zu geben. Auch an anderen Stellen trifft die hier vorgeschlagene Interpretation der verschiedenen Arten von Anschauungen auf Schwierigkeiten (siehe unten S. 182).

Die Einheit des Mannigfaltigen

99

Vorstellungen letztlich Einheit verleiht, ein Aspekt des Selbstbewusstseins ist, nämlich das Bewusstsein der eigenen numerischen Identität. Das Thema dieses Abschnittes ist der Unterschied zwischen subjektiv und objektiv gültigen Einheiten von Vorstellungen.13 Dabei ist Folgendes zur Sprechweise anzumerken: Jede Einheit von Vorstellungen ist subjektiv gültig, denn die Vorstellungen sind ja zumindest in meinem Bewusstsein vereinigt. Aber nur manche Einheiten von Vorstellungen sind auch objektiv gültig. Die Begriffe »subjektiv gültige Einheit« und »objektiv gültige Einheit« widersprechen sich also nicht, sondern objektive Einheiten von Vorstellungen sind ein Sonderfall der subjektiven Einheiten. Als Gegenbegriff zu »objektiv gültige Einheit« kann der Begriff »bloß subjektiv gültige Einheit« dienen. 14 Wie gesagt muss man nach Kant grundsätzlich zwei Arten von Verbindungen unterscheiden, nämlich Verbindungen von Begriffen und Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung überhaupt. Verbindungen der ersten Art sind Urteile. Bei dieser Aussage ist allerdings vorausgesetzt, dass die Verbindung der Begriffe objektiv gültig ist, denn nur eine objektive Einheit von Begriffen ist ein Urteil. Auf diesen Umstand bin ich bereits in Kapitel 2 eingegangen. Dort hatte sich gezeigt, dass mit der Objektivität der Einheit im Urteil Folgendes gemeint ist (vgl. S. 7-13): In einem Urteil stelle ich mir nicht bloß vor, dass gewisse Begriffe in mir verbunden sind, sondern ich behaupte, dass die unter die Begriffe fallenden Gegenstände in gewissen Verhältnissen stehen. Dass Urteile objektive Einheiten sind, sagt demnach nichts über die verbundenen Vorstellungen aus, sondern etwas über die Art der Verbindung, die zwischen ihnen hergestellt wird. Solch eine objektive Einheit von Begriffen drückt man nach Kant durch die Kopula »ist« aus. Auf der anderen Seite gibt es auch die bloß subjektiv gültige Einheit von Begriffen. Eine solche Einheit liegt z.B. dann vor, wenn man sich dessen bewusst ist, dass das Tragen eines Körpers immer mit dem Eindruck der Schwere einhergeht. Hier sind die Begriffe nur subjektiv in meinem Bewusstsein vereinigt. Dies kann man nicht durch die Worte »Der Körper ist schwer« ausdrücken, sondern durch 13

14

Der Unterschied subjektiv/objektiv betrifft also eigentlich die Einheit. Man kann aber auch eine Verbindung subjektiv oder objektiv gültig nennen, je nachdem, ob die in ihr gedachte Einheit subjektiv oder objektiv gültig ist. Wie ich schon bemerkt habe, sind für Kant nur objektiv gültige Einheiten von Interesse.

100

Die Verbindung überhaupt

die Worte »Immer wenn ich den Körper trage, fühle ich einen Druck der Schwere« (vgl. Β 142). Entsprechendes gilt auch für Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung. Wie im Falle der Verbindung von Begriffen unterscheidet Kant auch im Zusammenhang mit dem Mannigfaltigen der Anschauung zwischen einer objektiven und einer subjektiven Einheit dieser Vorstellungen: „Die t r a n s z e n d e n t a l e E i n h e i t der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird. Sie heißt darum o b j e k t i v , und muß von der s u b j e k t i v e n E i n h e i t des Bewußtseins unterschieden werden" (B 139).

Kant unterscheidet hier zwischen einer subjektiven und einer objektiven Einheit des Mannigfaltigen. Warum die transzendentale Einheit der Apperzeption eine objektive Einheit ist, soll in Kapitel 6.1.1 geklärt werden. An dieser Stelle geht es mir nur darum zu erklären, was mit der objektiven Einheit von Vorstellungen gemeint ist. Ich hatte gesagt, dass eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung eine Anschauung im starken Sinne ist, also eine Vorstellung eines einzelnen Gegenstandes. Dies setzt voraus, dass das Mannigfaltige auf objektiv gültige Weise verbunden ist. 15 Dabei ist die Behauptung der Objektivität der Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung ganz analog zur Behauptung der Objektivität der Urteilseinheit zu verstehen: Es ist gemeint, dass die Art der Einheit, die zwischen den mannigfaltigen Vorstellungen besteht, eine objektiv gültige ist. Ich bin mir in diesem Fall nicht bloß eines subjektiven Zustandes in mir selbst bewusst, der darin besteht, dass verschiedene Wahrnehmungen in meinem Bewusstsein sind. Stattdessen stelle ich mir eine Einheit der mannigfaltigen Vorstellungen im Objekt vor. Wie gesagt besteht das Mannigfaltige der Anschauung allgemein gesprochen aus Vorstellungen von Beschaffenheiten, die an Gegenständen angetroffen werden können. Ich stelle mir also vor, dass verschiedene Eigenschaften, deren Vorstellungen mir in der Anschauung gegeben sind, Eigenschaften eines und desselben Gegenstandes sind. Wenn mir z.B. ein Mannigfaltiges an sinnlichen Vorstellungen gegeben ist, so kann ich die verschiedenen Eindrücke 15

In den §§ 16-18 gibt es dementsprechend zahlreiche Stellen, an denen Kant von der objektiven Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung spricht.

Die Einheit des Mannigfaltigen

101

z.B. im Begriffeines Hauses vereinigen.16 Wenn ich dies tue, sehe ich die mir gegebenen Empfindungen als einem bestimmten Objekt korrespondierend an, nämlich einem bestimmten Haus, das vor mir steht. Ich stelle mir in diesem Fall eine objektive Einheit der Empfindungen

Es ist nun die Frage zu diskutieren, warum nach Kant Verbindungen niemals gegeben, sondern immer gemacht sind. Dies kann hier nur ansatzweise geschehen. Kant behauptet ja, dass „unter allen Vorstellungen die V e r b i n d u n g die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann" (B 130). Durch die Sinne können uns also Vorstellungen niemals als miteinander verbunden gegeben werden, sondern es sind dem Verstand immer nur unverbundene Vorstellungen gegeben. Eine Verbindung, bzw. eine Einheit entsteht immer nur durch eine Handlung des Verstandes. Dies gilt sowohl für Verbindungen von Begriffen zu Urteilen als auch für die Verbindung des Mannigfaltigen einer Anschauung. Dass Urteile immer durch eine Handlung des Verstandes gefällt werden müssen, und uns nicht gegeben werden können, dürfte unstrittig sein. Dagegen widerspricht Kant nach eigenem Bekunden mit der These, dass auch Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung immer durch uns verrichtet werden müssen, den Psychologen seiner Zeit. Diese glaubten, „die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch so gar zusammen, und brächten Bilder der Gegenstände zuwege" (Α 120n). Nach Kant ist die spontane Tätigkeit des Subjekts also auch dazu erforderlich, ein Bild eines Gegenstandes (eine Anschauung) hervorzubringen. Nach Kant ist sogar eine Synthesis des Mannigfaltigen a priori notwendig, um die reinen Anschauungen von Raum und Zeit hervorzubringen. Davon spricht er z.B. zu Beginn des § 10 der K.d.r.V.: „Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori [...]. Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, dass dieses Mannigfaltige [der Sinne] zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, 16

Dass zum Hervorbringen einer objektiven Einheit des Mannigfaltigen immer ein Begriff erforderlich ist, wird im nächsten Kapitel bei der Besprechung der Synthesis der Rekognition im Begriff erläutert. Dabei wird allerdings zu beachten sein, dass die Synthesis der Rekognition auf das Mannigfaltige der Sinne beschränkt ist. Dagegen betrachte ich in dieser Arbeit die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung ganz allgemein.

102

Die Verbindung überhaupt

aufgenommen, und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis [im uneigentlichen Sinne] zu machen." (A 77/B 102)

Durch die Sinnlichkeit ist uns ein Mannigfaltiges a priori, aber niemals das Bewusstsein der objektiven Einheit dieses Mannigfaltigen gegeben. Daher unterscheidet Kant auch zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung: „Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt [... ] enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Z u s a m m e n f a s s u n g des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung, so daß die Form d e r A n s c h a u u n g bloß Mannigfaltiges, die f o r m a l e A n s c h a u u n g aber Einheit der Vorstellung gibt." (Β 160n)

Die formalen Anschauungen sind Vorstellungen von den Gegenständen Raum und Zeit, während die Form der Anschauung lediglich das Mannigfaltige dazu gibt. Kant behauptet also, dass die Sinnlichkeit uns niemals eine Anschauung, also ein verbundenes Mannigfaltiges geben kann, weder im Fall der reinen Anschauungen noch im Fall der empirischen Anschauungen. Es stellt sich nun die Frage, ob es sich hierbei lediglich um eine empirische Behauptung über die Fähigkeiten der Sinnlichkeit handelt, oder ob es eine Begründung für diese Behauptung gibt. Meiner Ansicht nach ergibt sich die These, dass Verbindungen immer gemacht sind, daraus, dass eine Einheit von Vorstellungen immer eine Einheit in einem Bewusstsein ist. Wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, wird eine solche Einheit dadurch gestiftet, dass man Vorstellungen mit Bewusstsein begleitet und sich seiner numerischen Identität bewusst wird. Das Bewusstsein der eigenen numerischen Identität kann uns aber nie durch die Sinne gegeben sein, sondern muss von uns hervorgebracht sein. Denn diese Identität sehen wir nicht als bloß faktisch gegeben, sondern als notwendig an. Hierauf werde ich im Abschnitt 5.2.1 zurückkommen.

4.3

Die Handlung der Synthesis

Das dritte Merkmal des Begriffs »Verbindung«, das Kant in § 15 nennt, ist das der Synthesis. Dies ist diejenige Handlung, die eine Einheit der Vorstellungen stiftet und sie so verbindet. Kant definiert die Synthesis

Die Handlung der Synthesis

103

wie folgt: „Ich verstehe aber unter S y n t h e s i s in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen." (A 77/B 103) Synthesis ist also die Zusammensetzung von Vorstellungen zu einer Erkenntnis. Dabei lässt diese Definition der Synthesis es offen, welche Art von Vorstellungen zusammengesetzt werden. Die Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung umfasst sowohl die Zusammensetzung von Begriffen zu Urteilen als auch die Zusammensetzung des Mannigfaltigen sowohl der sinnlichen als auch der nicht-sinnlichen Anschauung zur Anschauung eines Gegenstands. Was genau unter der Handlung der Synthesis zu verstehen ist, ist eines der Themen des nächsten Kapitels. Vorgreifend kann man grob Folgendes sagen: Die Synthesis von Vorstellungen besteht darin, diese Vorstellungen mit Bewusstsein zu begleiten und sich der durchgängigen numerischen Identität seiner selbst bewusst zu sein. Dies führt dazu, dass die Vorstellungen über das Selbstbewusstsein miteinander vereinigt sind. Dies gilt sowohl für subjektiv gültige als auch objektiv gültige Einheiten von Vorstellungen, die eben unterschieden wurden. Es hängt dabei von der Regel der Synthesis ab, ob die resultierende Vorstellungseinheit objektiv oder nur subjektiv gültig ist. Wie wir in Kapitel 6 sehen werden, führt eine Synthesis nach Kant zu einer objektiven Einheit, wenn die Regel, nach der die Synthesis verläuft, in einem gewissen Sinne notwendig ist. Weiterhin werden wir in Kapitel 6 sehen, dass diese notwendigen Regeln der Synthesis durch die Urteilsformen, bzw. durch die Kategorien angegeben werden. Man kann daher sagen, dass eine Synthesis von Begriffen zu einer objektiven Einheit führt, wenn sie gemäß den Urteilsformen vollzogen wird, und dass eine Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung zu einer objektiven Einheit führt, wenn sie gemäß den Kategorien vollzogen wird. Dies sind aber alles Vorgriffe. An dieser Stelle möchte ich nur auf die Frage eingehen, durch welche Vermögen Verbindungen hervorgebracht werden. In dieser Frage muss man danach unterscheiden, ob es sich bei den zu verbindenden Vorstellungen um Begriffe oder um das Mannigfaltige einer Anschauung handelt. Zwar ist nach § 15 die Synthesis, egal welche Art von Vorstellungen verbunden werden sollen, „eine Verstandeshandlung, die wir mit der allgemeinen Benennung S y n t h e s i s belegen würden", wobei diese Handlung „ursprünglich einig, und für alle Verbindung gleichgeltend" ist (B 130, kursiv von mir). An ande-

104

Die Verbindung überhaupt

ren Stellen sagt Kant aber, dass die Synthesis des Mannigfaltigen der Sinne eine Handlung der Einbildungskraft ist (vgl. A 78/B 103). Dass es einerseits der Verstand und andererseits die Einbildungskraft sein soll, die die Synthesis vollzieht, ist folgendermaßen zu verstehen: Der Verstand ist meiner Ansicht nach letztlich das Vermögen, Vorstellungen zu verbinden. Er ist nach § 16 der K.d.r.V. „nichts weiter [...], als das Vermögen, a priori zu verbinden" (B 135). Die Einbildungskraft ist dagegen das Vermögen, den Verstand, also das Vermögen zu verbinden, auf das Mannigfaltige der Sinne anzuwenden. Aus diesem Grund kann man sagen, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft „eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit" ist (B 152). Indem man den Verstand auf das Mannigfaltige der Sinne anwendet, bringt man das Bild eines Gegenstandes hervor. Daher kann man auch sagen, dass die Einbildungskraft „das Mannigfaltige der Anschauung in ein B i l d bringen" soll (A 120).17 Die Einbildungskraft hat also die Aufgabe, das Mannigfaltige der Anschauung zu einer Anschauung von einem Gegenstand zu verbinden. Kant benutzt dabei den Begriff »Bild« im Sinne einer Vorstellung, die sich auf einen einzelnen Gegenstand bezieht, also im Sinne von »Anschauung«. Im SchematismusKapitel sagt Kant von Bildern, dass sie nur einen einzelnen Gegenstand vorstellen und „die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen" (A 141/B 180). Wenn man den Verstand allgemein als das Vermögen, Vorstellungen zu verbinden, und die Einbildungskraft als das Vermögen, den Verstand auf das Mannigfaltige der Sinne anzuwenden, auffasst, wird verständlich, warum man einerseits sagen kann, dass alle Synthesis eine Handlung des Verstandes ist, andererseits, dass die Synthesis des Mannigfaltigen der Sinne eine Handlung der Einbildungskraft ist. Meiner Interpretation nach betrachtet Kant Verbindungen von zwei Arten von Vorstellungen, nämlich vom Mannigfaltigen der Anschauung und von Begriffen. Entsprechend unterscheidet er zwischen der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung durch die Einbildungskraft und der Synthesis von Begriffen durch den Verstand. Für diese Interpretation besteht nun allerdings ein Textproblem. Kant schreibt nämlich, dass die „Synthesis überhaupt [... ] die bloße Wirkung der 17

Der zweiten Auflage der K.d.r.V. zufolge ist die Einbildungskraft das Vermögen, „einen Gegenstand auch o h n e d e s s e n G e g e n w a r t in der Anschauung vorzustellen" (B 151).

Die Handlung der Synthesis

105

Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele" (A 78/B 103) ist. 18 Kant scheint hier zu sagen, dass die Synthesis immer von der Einbildungskraft ausgeführt wird. Meiner Ansicht nach meint Kant aber nicht jede Synthesis, wenn er sagt, sie sei die bloße Wirkung der Einbildungskraft. Dies zeigt der Kontext dieser Stelle: Der § 10 der K.d.r.V., dem die eben zitierte Definition entstammt, spricht zunächst davon, dass das Mannigfaltige der Sinne „auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und verbunden werde" (A 77/B 102). Diese Handlung wird dann als Synthesis bezeichnet. Hier ist also nur von der Synthesis des Mannigfaltigen der Sinne die Rede, nicht von der Synthesis von Begriffen. Danach gibt Kant die oben zitierte Definition der Synthesis „in der allgemeinsten Bedeutung" (vgl. A 77/B 103), in der keine Einschränkung in der Richtung gemacht wird, dass die Synthesis nur das Mannigfaltige der Anschauung verbinden könnte. Aus diesem Grund spricht Kant hier von Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung. Unmittelbar nach dieser allgemein gehaltenen Definition kehrt Kant dann wieder zur Synthesis des Mannigfaltigen der Sinne zurück. Dies zeigt sich daran, dass er von dem a priori gegebenen Mannigfaltigen, wie dem im Raum und in der Zeit enthaltenen, spricht. Auch die kurz darauf folgende Behauptung „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft" (A 78/B 103) bezieht sich nur auf die Verbindung des Mannigfaltigen der Sinne. Insgesamt kann man also sagen, dass im gesamten § 10, mit Ausnahme der allgemein gehaltenen Definition der Synthesis, nur von der Synthesis des Mannigfaltigen der Sinne die Rede ist, und nur von dieser wird gesagt, dass sie von der Einbildungskraft vollzogen wird. Dieses Textstück zwingt also entgegen dem ersten Anschein nicht zu der Interpretation, dass es nur eine Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, aber nicht von Begriffen gibt. Wie gesagt definiert Kant die Synthesis als „Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen" (A 77/B 103). Diese Definition der Synthesis formuliert Kant in seinem Handexemplar der K.d.r.V. nochmals anders: „Ich verstehe aber unter S y n t h e s i s die Handlung, 18

In seinem Handexemplar der K.d.r.V. präzisiert Kant diese Stelle: „Die Synthesis überhaupt ist [ . . . ] die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer Function des Verstandes [ . . . ]." (AA 23, 45)

106

Die Verbindung überhaupt

wodurch synthetische Urteile werden, in der allgemeinen Bedeutung" (AA 23,45). Hierzu möchte ich dreierlei anmerken: Erstens bezieht sich der Zusatz „in der allgemeinen Bedeutung" auf „synthetisch". In einer allgemeinen Bedeutung sind alle Urteile synthetisch, auch die analytischen. Sie sind nämlich alle durch Synthesis entstanden. Zweitens soll hier nicht gesagt werden, dass jede Synthesis, also auch die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung, ein Urteil hervorbringt. Diese Stelle ist meiner Ansicht nach so zu verstehen, dass die Synthesis als diejenige Handlung definiert wird, die Urteile hervorbringt, sofern sie an Begriffen ausgeübt wird. Es bleibt dabei die Möglichkeit bestehen, die Synthesis auch an Vorstellungen anderer Art, nämlich dem Mannigfaltigen der Anschauung, auszuüben. In diesem Fall würde durch die Synthesis kein Urteil, sondern eine Anschauung hervorgebracht. Drittens ist anzumerken, dass diese Definition der Synthesis zu einem engeren Begriff führt als die in der K.d.r.V. gegebene Definition. Denn damit die Synthesis von Begriffen ein Urteil ergibt, bzw. die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung eine Anschauung, muss die Synthesis zu einer objektiv gültigen Einheit führen. Dies setzt, wie wir in Kapitel 6.1 sehen werden, voraus, dass die Synthesis nach einer Regel vollzogen wird, die in gewissem Sinne notwendig ist. Die Definition der Synthesis in der K.d.r.V. stellt dagegen keine derartige Forderung. Nach dieser Definition liegt auch dann eine Synthesis vor, wenn ich Vorstellungen zu einer bloß subjektiven Einheit verbinde. In der Kategorien-Deduktion nach der zweiten Auflage unterteilt Kant die Synthesis des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt noch weiter, und zwar anhand der Unterscheidung zwischen dem Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt und dem Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung: „Diese S y n t h e s i s des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die a priori möglich und notwendig ist, kann f i g ü r l i c h (synthesis speciosa) genannt werden, zum Unterschiede von derjenigen, welche in Ansehung des Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt in der bloßen Kategorie gedacht würde, und Verstandesverbindung (synthesis intellectualis) heißt [...]." (B 151)

Man sieht hier, dass es sich in beiden genannten Fällen um die Synthesis des Mannigfaltigen einer Anschauung handelt, also nicht um

Die Handlung der Synthesis

107

die Synthesis von Begriffen. Die figürliche Synthesis bezieht sich auf ein sinnliches Mannigfaltiges, die intellektuelle auf ein Mannigfaltiges überhaupt. 19 Da das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung ein Spezialfall des Mannigfaltigen der Anschauung überhaupt ist, kann man sagen, dass die figürliche Synthesis ein Spezialfall der intellektuellen Synthesis ist. Der Begriff »intellektuelle Synthesis« entsteht durch Abstraktion aus dem Begriff »figürliche Synthesis«, indem man davon absieht, dass das Mannigfaltige, das verbunden werden soll, gewisse Formen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) aufweist. Wegen dieser Abstraktion kann man sagen, dass die intellektuelle Synthesis nur die Verstandesseite der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung betrachtet. Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft „ist, als figürlich, von der intellektuellen Synthesis ohne alle Einbildungskraft bloß durch den Verstand unterschieden." (B 152) Da, wie Kant in § 21 der K.d.r.V. betont, der erste Teil der transzendentalen Deduktion vom Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt ausgeht, kann man sagen, dass er dort nicht die figürliche Synthesis, sondern die intellektuelle Synthesis des Mannigfaltigen betrachtet. Zum Abschluss dieses Kapitels will ich noch einen Überblick der Unterscheidungen geben, die hier bezüglich der Einheit, der Synthesis und des Mannigfaltigen der Vorstellungen getroffen wurden: Mit der »Einheit« ist eine Einheit verschiedener Vorstellungen in einem Bewusstsein gemeint, was bedeutet, dass verschiedene Vorstellungen in einem Bewusstsein vereinigt sind. Kant unterscheidet zwischen bloß subjektiven und objektiven Einheiten von Vorstellungen. Vereinige ich Vorstellungen objektiv, so stelle ich mir die Vorstellungen als im Objekt verbunden vor. Bei bloß subjektiven Einheiten von Vorstellungen handelt es sich bloß um den Zustand eines denkenden Subjekts, der keine objektive Bedeutung hat. Diese Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Einheit von Vorstellungen kann man sowohl für Begriffe als auch für das Mannigfaltige der Anschauung treffen, also für beide Vorstellungsarten, deren Verbindungen Kant in § 15 betrachtet. 20 Eine Einheit von Vorstellungen kann uns niemals durch die 19

20

Die in der ersten Auflage der K.d.r.V. genannten Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition (vgl. A 98-110) kann man als Aspekte der figürlichen Synthesis ansehen. § 18 der K.d.r.V. unterscheidet die subjektive und objektive Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung, § 19 subjektive und objektive Einheit von Begriffen.

108

Die Verbindung überhaupt

Sinne gegeben sein, sondern muss durch den Verstand bzw. die Einbildungskraft hergestellt werden. Dies geschieht durch eine Handlung, die Kant Synthesis nennt. Wie wir in Kapitel 6.1 sehen werden, kann eine Synthesis nur dann zu einer objektiven Einheit führen, wenn die Regel, nach der sie verläuft, in einem gewissen Sinne notwendig ist.

5

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

Im vorigen Kapitel habe ich mich allgemein mit Verbindungen von Vorstellungen beschäftigt und dabei grundsätzlich zwei Arten von Verbindungen unterschieden, nämlich Verbindungen von Begriffen und Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung überhaupt. In diesem Kapitel werde ich nun die letztgenannte Art von Verbindungen genauer untersuchen, weil dieser Fall für die Theorie der Begriffe zentral ist. In diesem Zusammenhang halte ich die Verbindung von Begriffen zu Urteilen für weniger aufschlussreich, weil hier ja schon vorausgesetzt ist, dass Begriffe gegeben sind. Im vorigen Kapitel ist außerdem ungeklärt geblieben, wie man nach Kant Vorstellungen miteinander verbindet. Dies wird das Thema des zweiten Abschnitts dieses Kapitels sein, wo ich Kants Theorie der Verbindung von Vorstellungen in einem Bewusstsein interpretieren werde, die er in § 16 der K.d.r.V. entwickelt. In diesem Kontext wird es dann auch möglich sein zu erläutern, inwiefern Begriffen als solchen die analytische Einheit des Bewusstseins anhängt und warum man die Begriffslehre als Teil der formalen Logik an die synthetische Einheit der Apperzeption zu heften hat (siehe die Fußnote zu § 16). Zur Illustration der Rolle, die Begriffe bei der Verbindung von Vorstellungen spielen, möchte ich im ersten Abschnitt dieses Kapitels Kants Darstellung der Synthesis der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition interpretieren, die dieser der Kategorien-Deduktion in der ersten Auflage der K.d.r.V. voranstellt (siehe A 98-114). Dies ist nämlich innerhalb des kantischen Werks die ausführlichste Beschreibung der Synthesis des Mannigfaltigen und der Rolle, die Begriffe dabei spielen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Kant hier nur über die Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung spricht, also nicht allgemein von der Synthesis des Mannigfaltigen überhaupt. Daher beschäftigt er sich auch mit Fragen, die die Form der sinnlichen Anschauung, Raum und Zeit, betreffen. Von diesen Fragen

110

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

abstrahiere ich in dieser Arbeit allerdings, da ich hier nur die Logik der Begriffe betrachte, d.h. nur die Eigenschaften von Begriffen, die auf dem Verstand beruhen. Die Beschaffenheit des Mannigfaltigen, das verbunden wird, dass es z.B. bestimmte Formen aufweist, soll in dieser Arbeit nicht betrachtet werden. Ich betrachte in dieser Arbeit also die intellektuelle Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung überhaupt. Anders gesagt betrachte ich nur die Verstandesseite der Synthesis des Mannigfaltigen. Dies geschieht aus dem Grund, dass ich die Synthesis des Mannigfaltigen und die Rolle von Begriffen dabei in größtmöglicher Allgemeinheit betrachten möchte. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird es wegen des Textes, den ich heranziehe, jedoch nicht zu vermeiden sein, auch über die Form des Mannigfaltigen der Sinne zu sprechen. Ich werde also auch auf Fragen eingehen müssen, die eigentlich nicht im Zentrum des Interesses dieser Arbeit stehen. Vom zweiten Abschnitt dieses Kapitels an werde ich jedoch nur noch von der Verstandesseite des Verbindens des Mannigfaltigen reden.

5.1

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

Bevor ich nun mit der Interpretation von Kants Erörterungen zur Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition beginne, möchte ich noch einen kurzen Überblick über die Einteilung des zu untersuchenden Textes geben. Ich hatte im vorigen Kapitel ja gesagt, dass die Synthesis diejenige Handlung ist, durch die wir Vorstellungen zur Einheit des Bewusstseins bringen. Ein Fall davon ist das Verbinden des Mannigfaltigen der Sinne zur Anschauung eines Gegenstandes. Bei der Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition handelt es sich nun um drei Aspekte dieser Synthesis. Dies zeigt sich daran, dass nur alle drei Synthesen zusammengenommen dazu in der Lage sind, das Bild eines Gegenstandes hervorzubringen. Es ist also die Synthesis der Apprehension ohne die der Reproduktion vergeblich, genauso wie die Synthesis der Reproduktion ohne die der Rekognition vergeblich ist. Umgekehrt setzt die Synthesis der Rekognition die der Reproduktion voraus, und die Synthesis der Reproduktion die der Apprehension. Ich möchte noch eine kurze Anmerkung zum Aufbau von Kants Diskussion der drei Synthesen einfügen. In einem Resümee dieser Ab-

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

111

schnitte schreibt Kant, dass die Möglichkeit der Erfahrung auf Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption beruht. Jede dieser Quellen muss empirisch, d.h. in Anwendung auf gegebene Erscheinungen, gebraucht werden. Dabei liegt dem empirischen Gebrauch aber jeweils ein reiner Gebrauch zum Grunde, d.h. er macht ihn möglich. Diesen drei Vermögen entspricht je eine der zu behandelnden Synthesen (vgl. A 115f). Die Abschnitte über die drei Synthesen sind dem entsprechend jeweils zweigeteilt. Jeder Abschnitt beschäftigt sich zunächst mit dem empirischen Gebrauch und dann mit dem reinen Gebrauch der Vermögen. Die Unterscheidung zwischen empirischem und reinem Gebrauch der drei Vermögen ist meiner Ansicht nach folgendermaßen zu verstehen: Der empirische Gebrauch des Sinns besteht darin, dass er dem Verstand ein Mannigfaltiges an empirischen Vorstellungen gibt. Der reine Gebrauch besteht darin, dass er dem Verstand ein Mannigfaltiges a priori gibt, das in den reinen Vorstellungen von Raum und Zeit enthalten ist. Der empirische Gebrauch der Einbildungskraft besteht darin, das apprehendierte Mannigfaltige nach empirischen Regeln, die man aus der Erfahrung gewonnen hat, zu reproduzieren. Diesem Gebrauch liegt ein reiner Gebrauch der Einbildungskraft zugrunde, durch den man das Mannigfaltige a priori nach Gesetzen a priori reproduziert. Der empirische Gebrauch der Apperzeption schließlich besteht darin, sich gegebener Vorstellungen bewusst zu werden. Diesem Bewusstsein liegt das Bewusstsein seiner selbst zugrunde, was den reinen Gebrauch der Apperzeption ausmacht. Das eigentliche Ziel, das Kant in diesen Abschnitten verfolgt, ist die Vorbereitung des Lesers auf die Deduktion der Kategorien (vgl. A 98). Diese Vorbereitung geschieht in zweifacher Hinsicht: Einerseits wird der empirische Erkenntnisprozess beschrieben, d.h. es wird gezeigt, dass sowohl Apprehension, Reproduktion als auch Rekognition nötig sind, um eine Einheit von Wahrnehmungen hervorzubringen. Zweitens wird aber auch auf die grundlegende Rolle der reinen Synthesis bzw. des reinen Gebrauchs der Erkenntnisvermögen hingewiesen. Dieser reine Gebrauch wird für die Deduktion der Kategorien relevant sein. Bevor Kant zur Beschreibung der Synthesis der Apprehension kommt, macht er eine „Anmerkung, die man bei dem folgenden [der Erörterung der drei Synthesen] durchaus zum Grunde legen muß" (A 99): Alle unsere Vorstellungen gehören -

112

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

„als Modifikationen des Gemüts zum innern Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse zuletzt doch der formalen Bedingung des innern Sinnes, nämlich der Zeit unterworfen, als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen" (A99).

Kant hatte behauptet, dass alle Erfahrung auf drei Vermögen beruht, und das erste davon war der Sinn. Alle Vorstellungen, die einen Beitrag zur Erkenntnis leisten sollen, stehen nun unter der formalen Bedingung dieses Vermögens, nämlich der Zeit. Aus diesem Grund müssen wir uns des Mannigfaltigen der Sinne im zeitlichen Nacheinander bewusst werden, d.h. unsere Wahrnehmungen stehen in einer zeitlichen Reihenfolge. Dabei ist hier die Apprehensionszeit gemeint, die von der objektiven Zeit unterschieden werden muss. Kant illustriert diesen Unterschied in der zweiten Analogie der Erfahrung am Beispiel eines Hauses: Man kann sich der mannigfaltigen Wahrnehmungen, die einem Haus korrespondieren, in beliebiger zeitlicher Reihenfolge bewusst werden. Man kann das Mannigfaltige des Hauses nämlich von unten nach oben oder in umgekehrter Reihenfolge apprehendieren (vgl. A 190/B 235). Objektiv betrachtet existieren die wahrgenommenen Eigenschaften allerdings alle gleichzeitig an dem Haus. Dem Zeitunterschied bei der Apprehension verschiedener Vorstellungen entspricht in diesem Fall also kein objektiver Zeitunterschied. Ausgehend von der Behauptung, dass der Sinn eines der Vermögen ist, die an der Erfahrung beteiligt sind, erklärt Kant, warum ,,[j]ede Anschauung [...] ein Mannigfaltiges in sich" enthält (A99). Weil es sich beim Gegebenen letztlich um Modifikationen des Gemüts handelt, unterscheidet „das Gemüt [... ] die Zeit, in der Folge der Eindrücke auf einander" (A99). Aufgrund der formalen Bedingung des inneren Sinnes »vereinzelt« also das Gemüt das Gegebene in eine zeitliche Folge von Vorstellungen, um sie sich nacheinander bewusst zu machen. Aus diesem Grunde erscheint uns das Gegebene als ein Mannigfaltiges. Aus diesem Grunde handelt es sich bei Anschauungen um komplexe Vorstellungen, die Vieles in sich enthalten. Erkenntnis ist deshalb „ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen" (A97). 5.1.1

Die Synthesis der Apprehension

Beim Verbinden eines Mannigfaltigen der Sinne spielt die Synthesis der Apprehension folgende Rolle: Durch den inneren Sinn ist uns ein

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

113

Mannigfaltiges an Empfindungen und Wahrnehmungen gegeben.1 Um dieses Mannigfaltige in einem Bewusstsein zu vereinigen, muss es zunächst in die Tätigkeit der Einbildungskraft aufgenommen werden. Dies geschieht durch die Synthesis der Apprehension, die das Mannigfaltige durchläuft und zusammennimmt (vgl. A 99). Diese Synthesis ist eine Handlung der Einbildungskraft, „deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne[2]. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein B i l d bringen; vorher muss sie also die Eindrücke in ihre Tätigkeit aufnehmen, d.i. apprehendieren" (A 120). Kant betont, dass jedes der drei Vermögen, auf denen Erfahrung beruht, in seinem empirischen und in seinem reinen Gebrauch betrachtet werden muss (vgl. A 115f). Im eben besprochenen zweiten Absatz des Abschnitts über die Synthesis der Apprehension spielte der empirische Gebrauch des Sinns eine Rolle. Im nächsten Absatz der K.d.r.V. wird nun der reine Gebrauch des Sinns betrachtet. Durch den empirischen Gebrauch des Sinns ist ein Mannigfaltiges von Wahrnehmungen gegeben. Allerdings gibt es auch ein Mannigfaltiges, „welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet" (A 100). Kant denkt hier wohl an den Unterschied zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung, den er in der B-Deduktion trifft: „Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt [... ] enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Z u s a m m e n f a s s u n g des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung, so daß die F o r m d e r A n s c h a u u n g bloß Mannigfaltiges, die f o r m a l e A n s c h a u u n g aber Einheit der Vorstellung gibt." (Β 160n)

Durch den reinen Gebrauch des Sinns ist uns lediglich ein Mannigfaltiges a priori gegeben, das keine Einheit aufweist. Diese Einheit muss durch die Synthesis der Einbildungskraft hinzukommen. Auch das Mannigfaltige a priori muss dazu zuerst in die Tätigkeit der Einbildungskraft aufgenommen werden, d.h. ,,[d]iese Synthesis der Apprehension muß nun auch a priori, d.i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch sein, ausgeübet werden" (A 99). 1

2

Wahrnehmung ist empirisches Bewusstsein einer Vorstellung - vgl. Β 160, A 166/B 207, A 120. An dieser Stelle befindet sich eine Fußnote im Text der K.d.r.V.

114

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

Wie schon gesagt ist Kant der Ansicht, dass bei allen drei Vermögen der reine Gebrauch dem empirischen zugrunde liegt. Im Falle des Sinns ist dies so zu verstehen, dass ein empirisches Mannigfaltiges immer so gegeben ist, dass es an irgendwelchen Zeitstellen steht. Das empirische Mannigfaltige kann also nicht unabhängig vom Mannigfaltigen a priori, das seine formale Bedingung ausmacht, gegeben sein. Um das empirische Mannigfaltige apprehendieren zu können, muss man daher auch das Mannigfaltige a priori apprehendieren. Man muss also die Zeiten apprehendieren, in denen die Wahrnehmungen gegeben sind. Aus dem Umstand, dass uns durch die Sinne nur ein Mannigfaltiges gegeben ist, das keine Einheit aufweist, ergibt sich die These von der Synthetizität der Erkenntnis. Diese besagt, dass man etwas erkennt, indem man eine Vorstellung davon Schritt für Schritt zusammensetzt. Es ist also nicht gemeint, dass der Gegenstand zusammengesetzt wird, sondern die Erkenntnis von ihm. Kant versucht diese These an der Vorstellung von mathematischen Gegenständen plausibel zu machen: „Um aber irgend etwas im Räume zu erkennen, z.B. eine Linie, muß ich sie z i e h e n [...]." (B 137) „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu z i e h e n , keinen Zirkel denken, ohne ihn zu b e s c h r e i b e n [...]." (B 154) Diese Synthesis der Vorstellungen mathematischer Objekte hat auch für die Erkenntnis empirischer Gegenstände Bedeutung, denn beim Erkennen empirischer Gegenstände muss man z.B. deren Begrenzungslinien nachziehen.

5.1.2

Die Synthesis der Reproduktion

Die Synthesis der Reproduktion in der Einbildung ist eine weitere Handlung der Einbildungskraft. Sie besteht darin, dass „eine dieser Vorstellungen einen Ubergang des Gemüts zu der andern, nach einer beständigen Regel, hervorbringt" (A100). Die Funktion der Synthesis der Reproduktion kann aber nicht lediglich darin bestehen, einen Ubergang nach einer Regel zu vollziehen. Die Synthesis der Reproduktion soll nämlich dazu beitragen, das Mannigfaltige zu einem Ganzen zusammenzufassen. Dies ergibt sich aus folgender Äußerung Kants: „Würde ich aber die vorhergehende [Vorstellungen] immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung [... ] entspringen können." (A 102) Die Synthesis der Reproduktion ist also

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

115

richtiger beschrieben, wenn man sagt, dass sie darin besteht, nach einer Regel von einer Vorstellung zu einer anderen überzugehen und dabei die erste Vorstellung »in Gedanken zu behalten«. Die Synthesis der Reproduktion hat demnach die Funktion, das Mannigfaltige zusammenzunehmen, bzw. zusammen in Gedanken zu halten. Entsprechend betont Kant auf A 121 nochmals, dass die Synthesis der Apprehension allein kein Bild eines Gegenstandes hervorbringen kann. Dazu ist es nämlich notwendig, „eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüt zu einer andern übergegangen, zu den nachfolgenden herüber zu rufen" (A121), was durch die Synthesis der Reproduktion geschieht. Thöle merkt an, dass der Name »Reproduktion« es nahe legt, dass es bei dieser Handlung darum geht, „daß ich eine zu der früheren Vorstellung qualitativ ähnliche Vorstellung hervorbringe, wenn ich bei der folgenden angelangt bin".3 Nach einem solchen Verständnis, so sagt Thöle zu Recht, könnte die Reproduktion allerdings nicht dazu beitragen, dass Vorstellungen im Gedächtnis behalten werden. Denn so verstanden führt die Reproduktion „nur zu einer längeren Folge von Vorstellungen, z.B. a, b, a', c, a", b', c' . . . In bezug auf diese Folge stellt sich aber genau dasselbe Problem: Auch hier kann es sein, daß ich, wenn ich z.B. bei a' angelangt bin, b ganz aus den Gedanken verloren habe".4 Man darf also die Reproduktion nicht so verstehen, dass sie dazu führt, dass Vorstellungen, die ich früher einmal apprehendiert habe, erneut apprehendiert werden. Reproduktion ist eher, so sagt Thöle zu Recht, im Sinne der Retention Lockes zu verstehen. Locke unterscheidet zwei Arten von Retention: „First, by keeping the idea which is brought into it [the mind], for some time actually in view, which is called contemplation. [... ] The other way of retention is, the power to revive again in our minds those ideas which, after imprinting, have disappeared, or have been as it were laid aside out of sight. [... ] This is memory [... ]."B

Diese beiden Fälle sind auch in der empirischen Synthesis der Reproduktion enthalten. 3 4 5

Thöle, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit der Natur, S. 218. A.a.O., S. 219. An Essay Concerning Human Understanding, Bk II, Ch X, § 1, 2.

116

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

Die Synthesis der Reproduktion besteht also darin, beim Übergang zu neuen Vorstellungen frühere Vorstellung in Gedanken zu behalten. Wie anfangs erwähnt, ist in der Reproduktion aber auch beinhaltet, dass man nach einer vorgegebenen Regel von einer Vorstellung zu einer anderen übergeht. Die Synthesis der Reproduktion verfährt also nach einer Regel, „nach welcher eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt. Diesen subjektiven und e m p i r i s c h e n Grund der Reproduktion nach Regeln nennt man die A s s o z i a t i o n der Vorstellungen" (A 121). Dies ist so zu verstehen, dass Kant die Reproduktion der Vorstellungen nach empirisch gewonnenen Regeln Assoziation nennt. In der B-Deduktion sagt Kant von der reproduktiven Einbildungskraft, dass „deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation, unterworfen ist" (B 152). Die Synthesis der Reproduktion soll nicht bloß die apprehendierten Vorstellungen alle in Gedanken behalten, sondern sie hat auch die Aufgabe, reine und empirisch erworbene Muster im Mannigfaltigen wieder zuentdecken und zu vervollständigen. Wenn es so etwas nicht gäbe und „Vorstellungen, so wie sie zusammen geraten, einander ohne Unterschied reproduzierten" (A 121), würde keine Erkenntnis zustande kommen. Die Reproduktion der Vorstellungen ist auch nicht darauf beschränkt, solche Vorstellungen zu reproduzieren, die gerade apprehendiert wurden. Sie kann lang zurückliegende Vorstellungen aus dem Gedächtnis aktualisieren und mit gerade sinnlich gegebenen kombinieren. Wenn man z.B. von einem Gegenstand nur visuelle, aber keine taktilen Wahrnehmungen hat und die Anschauung eines Körpers bilden möchte, so können die visuell wahrgenommenen Umrisse die reproduktive Einbildungskraft dazu bringen, die Vorstellung der Undurchdringlichkeit, die ja im Begriff des Körpers enthalten ist, die aber gerade nicht wahrgenommen wird, zu assoziieren und so die Anschauung des Körpers zu bilden.6 6

Neben dieser Rolle bei der Bildung von Anschauungen spielt die Assoziation auch eine Rolle bei der Bildung von Urteilen, die hier aber nicht relevant ist. Und zwar kann man zu einem gegebenen Subjekt-Begriff ein Prädikat assoziieren und beide Begriffe daraufhin in einem Urteil verbinden. Sieht man z.B. einen Baum und assoziiert daraufhin den Begriff »Apfel«, so kann dies den Anlass bieten, das Urteil »Alle Bäume tragen Äpfel« zu fällen. Zweitens kann die Beobachtung eines Ereignisses zur Assoziation der Vorstellung eines anderen Ereignisses führen, woraufhin man unter Umständen ein Kausalverhältnis

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

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Neben diesen empirischen Regeln der Reproduktion gibt es auch noch reine Regeln. Bevor ich aber auf den reinen Gebrauch der Einbildungskraft und entsprechend die reinen Regeln der Reproduktion komme, möchte ich noch eine Bemerkung zum Erwerb empirischer Assoziationsregeln machen. Für die Interpretation von Kants Bemerkungen zur Synthesis der Reproduktion ist es wichtig zu beachten, dass das Wort »assoziieren« zweideutig ist. Es kann damit einerseits das Bilden einer Disposition oder Gewohnheit gemeint sein, andererseits das Handeln nach einer Disposition. Man kann sagen, dass man aufgrund einer gegebenen Vorstellung eine andere assoziiert, wenn man von der ersten zur zweiten nach einer Gewohnheit übergeht. Man kann aber auch sagen, dass man zwei Vorstellungen miteinander assoziiert, wenn man die Gewohnheit bildet, von der einen zur anderen überzugehen. »Assoziation« kann also einerseits das Bilden einer Gewohnheit bedeuten, andererseits das Handeln nach einer Gewohnheit. Ich habe oben von Assoziation im zweiten Sinne gesprochen, denn ich bin davon ausgegangen, dass wir aus der Erfahrung bereits gewisse Regeln gewonnen haben, nach denen wir von einer Vorstellung eher zu der einen als zu der anderen übergehen. Ich habe dann thematisiert, welche Funktion für die Erkenntnis dieses Reproduzieren nach empirischen Gesetzen spielt. Im ersten Absatz des Abschnittes über die „Synthesis der Reproduktion" spricht Kant dagegen von der Assoziation im Sinne des Bildens einer Gewohnheit. Kant nennt dort ein zur empirischen Psychologie gehörendes Gesetz, „nach welchem Vorstellungen, die sich oft gefolgt oder begleitet haben, mit einander endlich vergesellschaften, und dadurch in eine Verknüpfung setzen, nach welcher [... ] eine dieser Vorstellungen einen Übergang des Gemüts zu der andern, nach einer beständigen Regel, hervorbringt"

(A100). Hier geht es Kant also um den Prozess, durch den in uns eine Verknüpfung zwischen Vorstellungen bewirkt wird.7 Das Bilden von Gewohnheiten setzt allerdings voraus, „daß die Erscheinungen selbst wirklich

7

zwischen beiden Ereignissen behauptet. Die Assoziation hat also einen Einfluss darauf, welche Begriffe wir in Urteilen verknüpfen. Dieses Gesetz der Bildung von Gewohnheiten nennt Kant auch in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 31 Β ( A A 7 , 176).

118

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

einer solchen Regel unterworfen sein, und daß in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine, gewissen Regeln gemäße, Begleitung, oder Folge statt finde" (A 100). Ansonsten ergibt es sich nicht, dass Vorstellungen sich oft folgen oder begleiten, was für das Bilden von Gewohnheiten für die Reproduktion notwendig ist. Es ist für die Assoziation im Sinne des Bildens einer Gewohnheit also notwendig, dass eine gewisse materiale Regelmäßigkeit in den Erscheinungen besteht. Man muss nach Kant zwischen einer materialen und einer transzendentalen Regelmäßigkeit der Natur unterscheiden. Die letztere besteht darin, dass die Axiome der Anschauung, die Antizipationen der Wahrnehmung sowie die drei Analogien der Erfahrung gelten. Kant beansprucht, beweisen zu können, dass die Natur diesen Regeln notwendig genügt. Die materiale oder empirische Regelmäßigkeit geht nun noch über diese transzendentale Regelmäßigkeit hinaus. Empirische Gesetze bestimmen die transzendentalen fort, d.h. sie sind Spezifizierungen der transzendentalen Gesetze. Während die zweite Analogie der Erfahrung nur besagt, dass alle Veränderungen „ n a c h d e m G e s e t z e d e r V e r k n ü p f u n g d e r U r s a c h e u n d W i r k u n g " geschehen (B 232), besagen empirische Gesetze, welche Ursachen welche Wirkungen haben. Es ist nach Kant allerdings denkbar, „daß ungeachtet aller der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form eines Erfahrungserkenntnisses gar nicht Statt finden würde, die specifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur sammt ihren Wirkungen dennoch so groß sein könnte, daß es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine faßliche Ordnung zu entdecken" (K.d.U. Einl. V, AA 5, 185).®

Kant beansprucht also nicht, beweisen zu können, dass es eine materiale Regelmäßigkeit in den Erscheinungen gibt. Allison unterscheidet daher zu Recht zwischen empirischem und transzendentalem Chaos (d.h. Regellosigkeit).9 Die K.d.r.V. kann nur zeigen, dass es kein transzendentales Chaos gibt, sie lässt allerdings noch die Möglichkeit des empirischen Chaos offen. Kant spricht das transzendentale Chaos an, wenn er schreibt: „Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit 8

9

Siehe auch A 654/B 682, wo Kant sagt, dass in diesem Fall „keine empirische Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre". Kant's Theory of Taste, S. 37f.

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

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gar nicht gemäß fände [... ]." (A 90/B 123) Selbst wenn schon bewiesen ist, dass wir immer durch die Kategorien denken müssen, also z.B. alle Gegenstände so denken müssen, dass sie sich aus Substanz und Akzidenz zusammensetzen und in kausalen Zusammenhängen stehen, könnte es dennoch sein, dass sich in den Erscheinungen nichts findet, was diesen Begriffen entspricht. Diese Möglichkeit beansprucht Kant durch die transzendentale Deduktion ausschließen zu können. Er behauptet aber nicht, das Vorliegen darüber hinausgehender Regelmäßigkeiten der Erscheinungen beweisen zu können. Ich komme nun zum zweiten Absatz des Abschnittes über die Synthesis der Reproduktion, der sich nicht mehr mit dem empirischen sondern mit dem reinen Gebrauch der Einbildungskraft beschäftigt. Kant zeigt hier zuerst, dass es eine Reproduktion des Mannigfaltigen a priori geben muss, um die Vorstellung eines Zeitraums hervorzubringen. In einem zweiten Schritt wird dann gezeigt, dass diese Reproduktion auch die empirische Reproduktion ermöglicht. Die Fragestellung ist also, inwiefern der reine Gebrauch der Einbildungskraft den empirischen möglich macht. Kant schreibt: „Es muß also etwas sein, was selbst diese Reproduktion der Erscheinungen möglich macht, dadurch, daß es der Grund a priori einer notwendigen synthetischen Einheit derselben ist." (A 101) In diesem Zitat muss »Reproduktion« im Sinne des Ausübens der Gewohnheit, von einer Vorstellung zur anderen überzugehen, gemeint sein. Denn die Möglichkeit, eine Gewohnheit zu bilden lässt sich nicht a priori begründen. Dies setzt nämlich voraus, dass es in den Erscheinungen eine materiale Regelmäßigkeit gibt. Und dass eine solche vorliegt, kann, wie eben erläutert, nach Kant nicht bewiesen werden. Kant sucht also nach etwas, das den Übergang von einer Vorstellung zu einer anderen nach einer Regel ermöglicht, und zwar dadurch, dass es „Grund a priori einer notwendigen synthetischen Einheit" (A 101) der Erscheinungen ist. Kant sagt, dass man bald darauf kommt, worin dieser Grund besteht, wenn man bedenkt, dass „Erscheinungen [... ] das bloße Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen" (A 101). Wie der Fortgang des Textes zeigt, denkt Kant hier an die Form des inneren Sinns, die Zeit. Die Vorstellung der Zeit weist eine gewisse synthetische Einheit auf. In einer Fußnote zu § 26 der K.d.r.V. schreibt Kant über die reine Anschauung: „Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt [... ] enthält

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Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Z u s a m m e n f a s s u n g des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung" (Β 160n). Dies gilt ebenso auch für die Zeit. Von solch einer Einheit aufweisenden Vorstellung vom Raum bzw. von der Zeit geht Kant nun aus. (Als Beispiele verwendet er das Ziehen einer Linie in Gedanken oder das Denken der „Zeit von einem Mittag zum andern" (A 102).) Um sich einen Zeitraum oder eine Linie im Raum vorzustellen, muss „ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen" (A 102), d.h. ich muss die Teile der Linie bzw. des Zeitraums apprehendieren. Außerdem muss ich diese Vorstellungen reproduzieren, d.h. in Gedanken behalten, sonst „würde niemals eine ganze Vorstellung [...], ja gar nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können" (A 102). Es wurde also dargetan, „daß selbst unsere reineste Anschauungen a priori keine Erkenntnis verschaffen, außer, so fern sie eine solche Verbindung des Mannigfaltigen enthalten, die eine durchgängige Synthesis der Reproduktion möglich macht" (A 101). Kant ist von den Vorstellungen von Raum und Zeit ausgegangen, die wir a priori besitzen, und hat gezeigt, dass diese eine Verbindung eines Mannigfaltigen a priori aufweisen. Auch um die Vorstellungen von Raum und Zeit hervorzubringen, ist also eine Synthesis der Reproduktion notwendig. Die Regeln, nach denen das Zeitmannigfaltige reproduziert wird, sodass es zum Ganzen einer Zeitvorstellung zusammengesetzt wird, sind nun Regeln a priori, denn die Vorstellung der Zeit ist eine reine Vorstellung. Die entscheidende Frage ist nun aber, inwiefern diese Reproduktion a priori „eine durchgängige Synthesis der Reproduktion möglich macht" (A 101). Warum macht dieser reine Gebrauch der Einbildungskraft den empirischen Gebrauch möglich? Hier muss man beachten, dass die Zeit die Form des inneren Sinnes ist und alle unsere Vorstellungen „am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen" (A 101). Man muss die empirischen Vorstellungen immer an eine bestimmte Stelle in der Apprehensionszeit setzen. Dies meint Kant mit der Behauptung, die Erscheinungen seien ,glicht Dinge an sich selbst, sondern das bloße Spiel unserer Vorstellungen [...], die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen" (A 101). Die Form des inneren Sinnes ist aber die Zeit, d.h. die Erscheinungen werden immer

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

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in einem zeitlichen Nacheinander apprehendiert und reproduziert. Man kann die einzelnen Zeitstücke, die reproduziert werden, als Platzhalter für Wahrnehmungen ansehen, denn man muss die Wahrnehmungen immer als an einer Stelle in der Apprehensionszeit apprehendieren. Um dieses empirische Mannigfaltige reproduzieren zu können, muss man daher erst die Zeitstellen reproduzieren, an denen es sich befindet. Insofern macht die Reproduktion des Mannigfaltigen a priori die des empirischen Mannigfaltigen möglich. Wie gesagt muss es reine Prinzipien der Reproduktion des Zeitmannigfaltigen geben. Diese Regeln können nun empirisch fortbestimmt werden. Es handelt sich dann nicht mehr um Regeln, nach denen lediglich das Zeitmannigfaltige zur Vorstellung eines Zeitraums zusammengesetzt wird, sondern um Regeln, nach denen ein Zeitmannigfaltiges, das bestimmte Inhalte aufweist, zur Vorstellung eines solchen Zeitraums zusammengesetzt wird, der auf bestimmte Weise erfüllt ist. In diesem Sinne kann man sagen, dass „der Assoziation die reine Synthesis der Einbildungskraft [...] a priori zum Grunde" liegt (A 115f).

5.1.3

Die Synthesis der Rekognition

Um eine Anschauung (ein Bild eines Gegenstandes) hervorzubringen, muss man nach Kant das Mannigfaltige der Sinne also apprehendieren und reproduzieren, d.h. man muss es erstens in die Tätigkeit der Einbildungskraft aufnehmen und zweitens beim Übergang zu neuen Vorstellungen die alten mit herüberrufen. Diese zwei Handlungen der Einbildungskraft allein sind aber noch nicht dazu in der Lage, eine Anschauung hervorzubringen. Vielmehr gilt nach Kant: „Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein." (A 103) Kant nennt hier also eine weitere notwendige Bedingung für das Hervorbringen einer Anschauung, und zwar besteht diese im Vorliegen eines bestimmten Bewusstseins. Er meint hier das Bewusstsein, dass all die reproduzierten Vorstellungen Teile einer komplexen Vorstellung sind, also das Bewusstsein, dass die reproduzierten Vorstellungen ein Mannigfaltiges bilden, das in einer einheitlichen Vorstellung enthalten ist. Noch etwas anders gesagt, ist es das Bewusstsein, dass die reproduzierten Vorstellungen zusammen ein Ganzes ausmachen. Aus diesen Gründen spreche ich

122

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

auch vom Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von Vorstellungen zu einem Ganzen. Die Synthesis der Reproduktion ist ohne dieses Bewusstsein in dem Sinne vergeblich, dass sie zu keiner einheitlichen Vorstellung führt. Kommen wir nun zu Kants Begründung der Behauptung, dass die Reproduktion des Mannigfaltigen ohne Bewusstsein der Zusammengehörigkeit kein bestimmtes Ganzes hervorbringt, also vergeblich ist. Dazu stellt Kant sich die Situation vor, dass ein Subjekt ein Mannigfaltiges apprehendiert und es dabei auch reproduziert, d.h. in Gedanken behalten hat. Weiterhin geht Kant davon aus, dass diese Handlungen nicht durch ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit begleitet werden. In dieser Situation ergibt sich keine einheitliche Vorstellung, die ein Mannigfaltiges enthält: „Denn es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörete, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann." (A 103)

Kant schreibt, dass in einer solchen Situation die Reproduktion einer Vorstellung vergeblich wäre, denn diese Reproduktion würde „zu dem Actus, wodurch sie [die komplexe Vorstellung, d.h. Anschauung] nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht" gehören. Ohne das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit würden die einzelnen Reproduktionen keine komplexe Synthesishandlung ausmachen, sondern es wären einzelne, voneinander getrennte Handlungen. Aus diesem Grunde ergäbe jede Reproduktion nur „eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande [... ] und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen, weil es der Einheit ermangelte, die ihm nur das Bewußtsein verschaffen kann" (A 103). Kant illustriert dies an der Vorstellung einer Zahl. Das Vorstellen einer Zahl besteht darin, einzelne Elemente zueinander hinzuzusetzen und sich dieser Handlung bewusst zu sein. Vergisst man hingegen beim Zählen, „daß die Einheiten [... ] nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind" (A 103), so erkennt man die Zahl nicht. Ist man sich dessen nicht bewusst, dass man Elemente zueinander hinzusetzt, würde man gewissermaßen mit jedem Element wieder bei Eins anfangen zu zählen. Ebenso würde man ohne das Bewusstsein einer

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

123

Einheit die reproduzierten Vorstellungen nicht in einer Vorstellung verbinden, sondern würde gewissermaßen mit jeder neuen reproduzierten Vorstellung wieder von vorne anfangen. Es gibt noch eine andere Interpretation dessen, was Kant mit dem „Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten" (A 103) meint. Und zwar denkt z.B. R.P. Wolff, dass hiermit auch das Bewusstsein gemeint ist, dass man dieselben Vorstellungen reproduziert, die man einen Augenblick zuvor apprehendiert hat, und nicht etwa ganz andere. Wolff schreibt: „I must become conscious of two things: first, that the present representations exactly resemble those which they reproduce, and second, that the representations before my mind belong to one set or group, and hence are unified."10 Das zweite von Wolff genannte Bewusstsein ist nach meinem Verständnis dasjenige, was Kant an dieser Textstelle im Sinn hat. Dagegen dürfte das erste von Wolff genannte nicht gemeint sein. Der Wortlaut des Textes der K.d.r.V. erlaubt zwar die Interpretation, dass wir uns dessen bewusst sein müssen, dass es tatsächlich dieselbe Vorstellung ist, die wir reproduzieren, nachdem wir von ihr zur nächsten übergegangen sind. Ich denke auch, dass es in gewisser Weise richtig ist, dass wir genau die Vorstellungen reproduzieren müssen, die wir zuvor apprehendiert haben. Ich glaube aber nicht, dass Kant hier von einem Bewusstsein dieser Gleichheit spricht. Denn ein solches Bewusstsein wäre ja für das Problem, das Kant hier anspricht, nicht von Nutzen: Die Frage ist, wie man eine Einheit des Mannigfaltigen erzeugen kann. Dazu genügt es nach Kant nicht, die Vorstellungen durch die Reproduktion in Gedanken zu halten, sondern es muss eine noch engere Einheit erzeugt werden. Und ich sehe nicht, wie das Bewusstsein, dass man dieselbe Vorstellung reproduziert und nicht eine andere, hierzu etwas beitragen könnte. 11 Ich möchte nun zu der Frage kommen, welche Rolle Begriffe in diesem Prozess des Hervorbringens einer ganzen Vorstellung (einer Anschauung) spielen. Diesen Prozess kann man zusammenfassend so beschreiben: Wenn wir eine ganze Vorstellung hervorbringen wollen, die ein Mannigfaltiges enthält, müssen wir das Mannigfaltige erstens durch10 11

Kant's Theory of Mental Activity, S. 129. Siehe hierzu auch Thöle, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit S. 223n.

der Natur,

124

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

laufen und überhaupt erst ins Gemüt aufnehmen (Synthesis der Apprehension). Dabei dürfen wir aber zweitens diese Vorstellungen nicht aus den Gedanken verlieren, wenn wir zu weiteren übergehen (Synthesis der Reproduktion). Aber auch dies genügt noch nicht. Wir müssen uns drittens auch dessen bewusst sein, dass all das Mannigfaltige, das wir durchlaufen und in Gedanken halten, Teil einer komplexen Vorstellung ist (Synthesis der Reproduktion). Bei diesem letzten Aspekt kommen nun Begriffe ins Spiel, denn das eben genannte Bewusstsein der Einheit, also der Zusammengehörigkeit, ist das, was man einen Begriff nennt. Genauer gesagt ist ein Begriff das Bewusstsein der Regel, nach der die Synthesis der Reproduktion ausgeführt wird. „So dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntnis äußerer Erscheinungen zur Regel. Eine Regel der Anschauungen kann er aber nur dadurch sein: daß er bei gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben [... ] vorstellt." (A 106)

Der Begriff des Körpers stellt also eine gewisse Einheit des Mannigfaltigen vor, die durch die Synthesis der Apprehension und Reproduktion hervorgebracht wird. Der Begriff dient dadurch als Regel der Erscheinungen, dass er die Reproduktion des Mannigfaltigen vorstellt. In seiner Diskussion der Synthesis der Rekognition versucht R. P. Wolff folgendermaßen zu erklären, dass eine Regel verschiedenen einzelnen Handlungen eine gewisse Kohärenz verleihen kann: Wenn die einzelnen Handlungen von einer Regel gefordert werden, so kann man sagen, dass sie Teile einer geregelten komplexen Handlung sind. 12 So verleihen z.B. die Regeln, denen ein Töpferer bei seiner Arbeit folgt, seinen einzelnen Handlungen eine Einheit und erlauben es auch, Handlungen, die nicht zum Töpfern gehören, von solchen zu unterscheiden, die dazugehören. Auf dieselbe Weise verleiht die Vorstellung der Regel der Reproduktion des Mannigfaltigen dieser Synthesis-Handlung Einheit, sodass die reproduzierten Vorstellungen eine Einheit aufweiKant gibt ein weiteres Beispiel für die Rolle der Begriffe bei der Synthesis des Mannigfaltigen: „So denken wir uns einen Triangel als Gegenstand, indem wir uns der Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel bewußt sind" (A 105). Hier spricht Kant von 12

Vgl. Kant's

Theory of Mental Activity,

S. 123.

Apprehension, Reproduktion und Rekognition

125

einer Regel für die Synthesis der Reproduktion, nach der wir drei Linien zum Bild eines bestimmten Dreiecks zusammensetzen. Dies ergibt sich daraus, dass dies eine Regel ist, „nach welcher [irgendeine solche Anschauung [eines Dreiecks] jederzeit dargestellt werden kann" (A 105). Die Darstellung eines Begriffs besteht ja darin, „dem Begriffe eine correspondirende Anschauung zur Seite zu stellen".13 Zweitens sagt Kant an dieser Stelle, dass wir uns auch dieser Regel bewusst sind, wenn „wir uns einen Triangel als Gegenstand" denken. Dies Bewusstsein der Regel ist der Begriff, in dem das Mannigfaltige vereinigt wird. Dieser Gedanke steht auch hinter Kants Formulierung, dass der Verstand die Synthesis der Einbildungskraft auf Begriffe bringt. Kant geht dabei davon aus, dass es eine Synthesis der Einbildungskraft gibt, die die mannigfaltigen Vorstellungen der Sinne zueinander hinzutut. „Allein, diese Synthesis a u f B e g r i f f e zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstände zukommt [...]." (A 78/B 103) Mit diesem »auf Begriffe Bringen« der Synthesis meint Kant das Bilden des Bewusstseins der Funktion, nach der die Synthesis der Einbildungskraft abläuft. Man bringt die Synthesis also auf einen Begriff, indem man ein Bewusstsein ihrer Regel bildet. Dieses Bewusstsein der Funktion der Synthesis enthält auch das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der einzelnen Akte der Reproduktion. Das Bilden dieses Bewusstseins ist also die Synthesis der Rekognition im Begriff, die zum Hervorbringen einer ganzen Vorstellung notwendig ist. Da ein Bewusstsein auch eine Vorstellung ist, 14 kann man auch einfach sagen, im Begriff werde die Synthesis vorgestellt. So schreibt Kant: „Die r e i n e S y n t h e s i s , a l l g e m e i n v o r g e s t e l l t , gibt nun den reinen Verstandesbegriff." (A 78/B 104) Es sind „Begriffe, welche dieser reinen Synthesis E i n h e i t geben, und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen" (A 79/B 104). Dies gilt nicht nur für die reine Synthesis und reine Begriffe, sondern entsprechend auch für die empirische Synthesis und empirische Begriffe. Empirische Regeln, nach denen die Synthesis des Mannigfaltigen vorgeht, sind Fortbestimmungen der Regeln, nach denen die reine Synthesis verläuft. Ein empirischer Begriff ist also die 13 14

K.d.U. Einl. VIII, AA 5, 192. Jäsche schreibt: „Eigentlich ist das Bewußtsein eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist." (AA 9, 33)

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Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

allgemeine Vorstellung einer Synthesis des Mannigfaltigen, bei der die Reproduktion nach empirisch erworbenen Regeln verläuft. Der empirische Begriff gibt daher der empirischen Synthesis Einheit. Dabei ist außerdem zu betonen, dass es eine Korrespondenz zwischen der Funktion der Synthesis und dem Bewusstsein der Synthesis (dem Begriff) geben muss. Man muss sich der Regel der Synthesis bewusst sein, nach der die Synthesis tatsächlich vorgeht. Um eine Linie zu erkennen, muss ich z.B. „eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist" (B 138). Schließlich merkt Kant an, dass schon das Wort »Begriff« zu den Betrachtungen über die Synthesis der Rekognition hätte Anlass geben können. „Denn dieses e i n e Bewußtsein ist es, was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute, und denn auch Reproduzierte, in eine Vorstellung vereinigt." (A 103) Kant geht anscheinend davon aus, dass das Wort »Begriff« daher kommt, dass durch solch eine Vorstellung ein Mannigfaltiges in einer einheitlichen Vorstellung begriffen wird. Die Tatsache, dass dieses Bewusstsein das Mannigfaltige in einer Anschauung vereinigt, rechtfertigt es nach Kant, es als Begriff zu bezeichnen.

5.2

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

Ich habe nun die drei Synthesen des Mannigfaltigen der Sinne, die Kant in der ersten Auflage der K.d.r.V. nennt, beschrieben. Dies diente dem Zweck, die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung und die Rolle, die Begriffe dabei spielen, zu erläutern. Dabei habe ich auf die Darstellung des reinen Gebrauchs der Apperzeption verzichtet, weil dieser nun im Folgenden anhand der transzendentalen Deduktion nach der zweiten Auflage abgehandelt wird. Außerden wurde bei der bisherigen Behandlung ein bestimmter Fall des Mannigfaltigen der Anschauung vorausgesetzt, nämlich der des Mannigfaltigen der Sinne. Die allgemeine Theorie der Synthesis kann diese Einschränkung allerdings nicht machen, sondern muss sich auf das Mannigfaltige einer Anschauung überhaupt beziehen (und auf Begriffe). Weiterhin war Kant bei der Beschreibung der drei Synthesen davon ausgegangen, dass eine objektive

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

127

Verbindung des Mannigfaltigen der Sinne vorliegt, und hat analytisch darauf zurückgeschlossen, dass gewisse Synthesen ausgeführt werden müssen, um so eine Verbindung hervorbringen zu können. Dass Kant hier eine analytische Argumentationsweise wählt, liegt daran, dass es sich hier lediglich um eine Vorbereitung des Lesers handelt. Dies ist im nun zu besprechenden ersten Teil der B-Deduktion (§§ 15-19) anders. Hier bildet die transzendentale Einheit der Apperzeption den höchsten Punkt. Kant analysiert hier also nicht den Begriff der Verbindung eines Mannigfaltigen, sondern geht vom Vorliegen eines Selbstbewusstseins aus und zeigt, dass dies es erfordert, das Mannigfaltige der Anschauung überhaupt auf gewisse Weise zu verbinden. 5.2.1 Der Begriff des denkenden Ichs Ich möchte hier mit einer Erörterung des Begriffs vom Subjekt des Denkens, also des Begriffs des denkenden Ichs beginnen. In den Paralogismen nennt Kant vier Merkmale, die in diesem Begriff enthalten sind: 1. „Daß aber Ich, der ich denke, im Denken immer als S u b j e k t [... ] gelten müsse, ist ein apodiktischer und selbst i d e n t i s c h e r S a t z [...]." (B 407) 2. „Daß das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein S i n g u l a r sei, der nicht in eine Vielheit der Subjekte aufgelöset werden kann [...], liegt schon im Begriffe des Denkens [... ]." (B 407) 3. „Der Satz der Identität meiner selbst bei allem Mannigfaltigen, dessen ich mir bewußt bin, ist ein eben so wohl in den Begriffen selbst liegender, mithin analytischer Satz [...]." (B 408) 4. „Ich unterscheide meine eigene Existenz, als eines denkenden Wesens, von anderen Dingen außer mir [...], ist eben so wohl ein analytischer Satz [... ]." (B 409) Im Bewusstsein meiner Selbst denke ich mich als Besitzer der Vorstellungen und als Akteur der Handlungen des Verstandes. Das Bewusstsein »Ich denke« ist zweitens eine einfache Vorstellung, die nicht weiter analysiert werden kann. Drittens denke ich mich in Bezug auf alle meine Handlungen und Vorstellungen als numerisch identisch. Viertens bin ich mir als von allen meinen Vorstellungen und den durch sie vorgestellten Gegenständen verschieden bewusst.

128

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

Wie Kant in den Paralogismen betont, kann man nun nicht darauf schließen, dass das Ich (das Subjekt, die Seele) einfach und in allen Handlungen ein und dasselbe Subjekt ist. Man kann nur sagen, dass das Subjekt sich selbst als identisch und einfach bewusst ist. Kant stellt hier also nur Behauptungen darüber auf, wie wir uns selbst vorstellen, nicht wie wir sind. Um letzteres zu tun, brauchte man Erkenntnis, für die wiederum ein Beitrag des inneren Sinnes erforderlich ist. Hier geht es aber nur um das Denken des Verstandes, genauer darum, als was der Verstand sich selbst denkt. Weiterhin ist der Begriff »meine Vorstellung« für die Argumentation des § 16 zentral. Ein denkendes Subjekt ist in der Lage, alle seine Vorstellungen mit Bewusstsein zu begleiten. Kant behauptet hier nicht, dass einem denkenden Subjekt seine Vorstellungen immer bewusst sein müssen, sondern nur, dass es möglich sein muss, sich ihrer bewusst zu werden. Vorstellungen, derer ich mir nicht bewusst werden kann, sind wenigstens für mich nichts. Eine Vorstellung, derer ich mir nicht bewusst werden könnte, würde also auch für die Erkenntnis der Gegenstände keine Rolle spielen. Kant benutzt des Öfteren den Ausdruck »meine Vorstellung«, wobei er auch oft das Wort »mein« hervorhebt. 15 Dabei ist der Besitzer der Vorstellungen, der durch das Possessivpronomen »mein« impliziert wird, ein denkendes Ich, das sich aller seiner Vorstellungen bewusst werden kann. Es folgt daher nach dem Satz des Widerspruchs, dass ich alle meine Vorstellungen mit dem Bewusstsein »Ich denke« begleiten kann. Es ist aufgrund des Begriffs »meine Vorstellung« ein analytischer Satz, dass ich alle meine Vorstellungen mit dem Bewusstsein »Ich denke« begleiten kann. Man muss nun zwei Arten von Bewusstsein in Kants Theorie des Verstandes unterscheiden, nämlich einerseits das reine Bewusstsein seiner selbst, das eben beschrieben wurde, und andererseits das empirische Bewusstsein von Vorstellungen. Kant nennt beide Arten des Bewusstseins an folgender Stelle aus der Deduktion nach der ersten Auflage der K.d.r.V.: 15

Z.B.: „Das: I c h d e n k e , muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e η" (B 131), „diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören m i r insgesamt zu" (B 134), „weil ich sie insgesamt m e i n e Vorstellungen nenne" (B 135), „daß alle m e i n e Vorstellungen in irgend einer gegebenen Anschauung unter der Bedingung stehen müssen" (B 138).

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

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„AHe Vorstellungen haben eine notwendige Beziehung auf ein m ö g l i c h e s empirisches Bewußtsein: denn hätten sie dieses nicht, und wäre es gänzlich unmöglich, sich ihrer bewußt zu werden; so würde das so viel sagen, sie existierten gar nicht. Alles empirische Bewußtsein hat aber eine notwendige Beziehung auf ein transzendentales [... ] Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner Selbst [... ]." (Α 117n)

Es gibt einerseits das schon erwähnte notwendig mögliche Bewusstsein gegebener Vorstellungen, das Kant das empirische Bewusstsein nennt oder auch den inneren Sinn: „Das Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der innern Wahrnehmung ist bloß empirisch, jederzeit wandelbar, es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in diesem Flusse innrer Erscheinungen geben, und wird gewöhnlich der i n n r e S i n n genannt, oder die e m p i r i s c h e A p p e r z e p t i o η." (A 107)

Da dieses Bewusstsein mit dem inneren Sinn identifiziert werden kann, kann man auch sagen, dass man gegebene Vorstellungen mit empirischem Bewusstsein begleitet, indem man sie durch den inneren Sinn wahrnimmt. Es ist in dem Sinne „empirisch, jederzeit wandelbar", dass es ganz zufallig ist, welche Vorstellungen sich gerade in mir befinden. Obwohl im obigen Zitat vom »Bewußtsein meiner selbst« die Rede ist, ist hier nicht das Selbstbewusstsein gemeint, sondern ,,[d]as Bewußtsein seiner selbst, nach den Bestimmungen unseres Zustandes, bei der innern Wahrnehmung". Der Gegenstand des Bewusstseins bin also nicht ich selbst im strengen Sinne, sondern meine Vorstellungen, die von dem Ich, dem sie zugehören, verschieden sind. Auf der anderen Seite gibt es „ein transzendentales [... ] Bewußtsein, nämlich das Bewußtsein meiner Selbst" (A117n), das eben beschrieben wurde. Dies ist das eigentliche Selbstbewusstsein; es ist ein Bewusstsein, dessen Gegenstand der Besitzer der Vorstellungen und der Akteur der mentalen Handlungen ist. Es ist bereits im Begriff des denkenden Subjekts enthalten, dass es der Besitzer aller seiner Vorstellungen ist und insofern als Subjekt gedacht werden muss. Das Objekt des Selbstbewusstseins ist dieses Subjekt der Vorstellungen und mentalen Handlungen. Dieses Bewusstsein seiner selbst kann nach Kant nicht aufgrund innerer Wahrnehmung von eigenen Vorstellungen oder mentalen Handlungen gebildet sein. Kant schreibt:

130

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

„Diese Vorstellung [das: I c h taneität,

d e n k e ] aber ist ein Actus der

Spon-

d.i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen

werden. Ich nenne sie die r e i n e empirischen

Apperzeption,

um sie von der

zu unterscheiden [ . . . ]." ( B 132)

Diese Behauptung begründet Kant damit, dass man sich einer notwendigen Identität seiner selbst bewusst ist. Der innere Sinne könnte höchstens das Bewusstsein einer tatsächlichen Identität hervorbringen, aber nicht das Bewusstsein von der Notwendigkeit dieses Zustandes. „Das was n o t w e n d i g als numerisch identisch vorgestellt werden soll, kann nicht als ein solches durch empirische Data gedacht werden." (A 107) Nach dieser Unterscheidung zwischen empirischem Bewusstsein meiner Vorstellungen und reinem Bewusstsein meiner Selbst liegt auch dann ein empirisches Bewusstsein von Vorstellungen vor, wenn man sich des reinen Mannigfaltigen, also des Raum- oder Zeitmannigfaltigen bewusst wird. Diese Vorstellungen sind zwar rein, für den Verstand und damit für die Apperzeption sind sie jedoch von außen gegeben und insofern empirisch oder zufällig. Empirisches Bewusstsein liegt immer dann vor, wenn man sich nicht des denkenden Subjekts bewusst wird, sondern irgendwelcher Vorstellungen, die dem Subjekt gehören, aber von ihm verschieden sind. Es liegt nun die Ansicht nahe, dass es sich hier um zwei parallel laufende Arten von Bewusstsein handelt, die sich nur durch ihren Gegenstand unterscheiden. Es scheint, als richte man in dem einen Fall das Bewusstsein auf gewisse Vorstellungen, die sich in einem Subjekt befinden, in dem anderen Fall aber auf das Subjekt selbst. Diese Darstellung ist nicht falsch, verschweigt aber, dass es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden Arten des Bewusstseins gibt: Man kann gegebene Vorstellungen nicht denken, also mit dem »Ich denke« begleiten, ohne sich seiner selbst bewusst zu sein. Nach Kant liegt nämlich das reine Bewusstsein seiner selbst dem empirischen Bewusstsein von Vorstellungen zugrunde, so wie die reine Anschauung der empirischen zugrunde liegt. „Diese [die Kategorie] zeigt also an: daß das empirische Bewußtsein eines gegebenen Mannigfaltigen Einer Anschauung eben sowohl unter einem reinen Selbstbewußtsein a priori, wie empirische Anschauung unter einer reinen sinnlichen, die gleichfalls a priori Statt hat, stehe." ( B 144)

Synthetische u n d analytische Einheit der A p p e r z e p t i o n

131

Man würde nicht eine Vorstellung mit dem »Ich denke« begleiten, wenn man sich nicht seiner selbst bewusst wäre, weil dies analytisch zum Denken gehört. Dieses Ergebnis, dass dem empirischen Bewusstsein ein reines zugrunde liegt, gilt meiner Ansicht nach aber nicht für jedes Vorstellungsvermögen. Es sind Vorstellungsvermögen möglich, die zwar die Fähigkeit haben, sich ihrer Vorstellungen bewusst zu werden, die aber nicht in der Lage sind, sich ihrer selbst bewusst zu werden. Ein solches Vorstellungsvermögen besäße also einen inneren Sinn, durch den es seine Vorstellungen wahrnehmen kann. Man kann von diesem Vorstellungsvermögen aber nicht sagen, dass es seine Vorstellungen mit dem »Ich denke« begleitet. Es scheint Kant's Meinung zu sein, dass die geschilderte Situation bei Tieren vorliegt. Sie können sich ihrer Vorstellungen bewusst werden, sie können sie aber nicht denken bzw. mit dem Bewusstsein »Ich denke« begleiten.16 Es ist also nicht im Allgemeinen so, dass dem empirischen Bewusstsein ein reines zugrunde liegt, sondern nur dann, wenn das betrachtete Vorstellungsvermögen ein diskursiver Verstand ist. Kant nennt die reine (im Unterschied zur empirischen) Apperzeption auch die ursprüngliche Apperzeption, weil sie die Vorstellung »Ich denke« hervorbringt, die alle anderen Vorstellungen begleiten kann, selbst aber von keiner Vorstellung begleitet werden kann (vgl. Β 132).17 Ich kann das empirische Bewusstsein verschiedener Vorstellungen bilden und mir dessen bewusst sein, dass es immer dasselbe Bewusstsein ist, das Vorstellungen begleitet. In diesem Fall begleitet das Selbstbewusstsein also das empirische Bewusstsein von Vorstellungen. Für das Selbstbewusstsein, so behauptet Kant hier, gibt es kein weiteres Bewusstsein, das es begleiten könnte. In diesem Sinne ist das Selbstbewusstsein ursprünglich. Ich möchte hier noch kurz auf Allisons Interpretation dieses ersten Absatzes des § 16 eingehen.18 Während ich in meiner Interpretation die Ansicht vertrete, dass Kant als nicht weiter begründete Prämisse voraussetzt, dass es ein denkendes Ich gibt, ist es nach Allison so, dass 16

17

18

Vgl. Kants Brief an Beloselsky vom Sommer 1792 (AA11, 345) und JäscheLogik, Einl. VIII (AA 9, 64f). In der ersten Auflage nennt Kant die ursprüngliche Apperzeption auch transzendental (vgl. A 107). Siehe Kant's Transcendental Idealism, 137-140.

132

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

Kant in § 16 davon ausgeht, dass eine Erkenntnis immer eine komplexe Vorstellung ist, und er durch Analyse des Begriffs »komplexer Gedanke« zu dem Ergebnis gelangt, dass es ein einheitliches Subjekt geben muss. Allison zufolge denkt Kant wie folgt: „Thus, while each of the representations that collectively constitute the single complex thought could conceivably be distributed amongst a multiplicity of thinking subjects, the single complex thought itself could not be so dispersed." (138)

Der Begriff des komplexen Gedankens enthält nach Allison also das Merkmal, dass die in ihm vereinigten Vorstellungen alle Vorstellungen eines und desselben Subjekts sind. Vom Begriff des (komplexen) Gedankens ist im ersten Absatz des § 16 jedoch gar nicht die Rede, sondern nur vom Bewusstsein und davon, dass das denkende Subjekt jede seiner Vorstellungen mit Bewusstsein begleiten können muss. Allison versucht seine Interpretation daher auf eine Stelle aus den Paralogismen zu stützen, die in der KempSmith Übersetzung lautet: „That the Ί ' of apperception, and therefore the Τ in every act of thought, is one [... ] is something already contained in the very concept of thought" (B 407). Aus dieser Stelle (in dieser Übersetzung) entnimmt Allison nun: Der Begriff des (komplexen) Gedankens enthält, dass es ein numerisch identisches Ich gibt. Diese Übersetzung ist aber zumindest irreführend, denn Kemp-Smith übersetzt das Wort »Denken« mit »thought«. Im Original lautet diese Stelle: „Daß das Ich der Apperzeption, folglich in jedem Denken, ein S i n g u l a r sei [... ], liegt schon im Begriffe des Denkens" (B 407). Kant spricht hier also gar nicht über den Begriff des Gedankens, sondern über den des Denkens.19 Meiner Ansicht nach kann man in dieser Frage eher der Interpretation Henrichs zustimmen, gegen die Allison sich in seinem Buch wendet. Henrich meint, dass Kant mit einer cartesianischen Gewissheit vom Vorliegen des Selbstbewusstseins ausgeht, 20 während dies nach Allison analytisch aus dem Begriff des komplexen Gedankens folgt. Im Gegensatz zu Henrich bin ich allerdings nicht der Ansicht, dass Kant 19

20

Richtiger ist es, »Denken« mit »thinking« zu übersetzen, wie Guyer es im zweiten hier zitierten Vorkommnis, aber nicht im ersten, tut: „That the I of apperception, consequently in every thought, is a single thing [... ] lies already in the concept of thinking [...]." (B 407) Vgl. Identität und Objektivität, S. 59.

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

133

so etwas wie eine cartesianische Unbezweifelbarkeit für das Vorliegen des Selbstbewusstseins in Anspruch nimmt. Stattdessen handelt es sich hierbei meiner Ansicht nach einfach um eine nicht weiter begründete Prämisse. 5.2.2

Die Anwendung auf das Mannigfaltige

Im zweiten Absatz des § 16 der K.d.r.V. will Kant nun Folgendes nachweisen: ,,[D]iese durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, enthält eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich." (B 133) Hier geht Kant davon aus, dass ein denkendes Subjekt ein Mannigfaltiges anschaulicher Vorstellungen mit Bewusstsein begleitet. Man muss zwar das Mannigfaltige der Anschauung nicht mit dem »Ich denke« begleiten, d.h. es ist nicht schlechthin notwendig, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden. Dies ist aber notwendig, wenn man aufgrund dieser Vorstellungen etwas erkennen möchte, d.h. es ist relativ notwendig in Bezug auf die Möglichkeit der Erkenntnis. Wenn man nun die mannigfaltigen Vorstellungen einer Anschauung mit einem durchgängig identischen Bewusstsein begleitet, so behauptet Kant an der eben zitierten Stelle, so muss man erstens eine Synthesis dieses Mannigfaltigen durchführen und zweitens sich dieser Synthesis bewusst sein. Ich wende mich zunächst der ersten Folgerung zu, nämlich dass aus der durchgängigen Identität der Apperzeption folgt, dass es eine Synthesis des Mannigfaltigen gibt. Dies kann man durch eine Betrachtung dessen erklären, worin eine Synthesis von Vorstellungen besteht. Einen Hinweis auf die Beantwortung diese Frage ist in R 5655 enthalten: „Alles Verhältnis der Vorstellungen durch Begriffe hat eine dreyfache Dimension: [... ] 3. beyder Verknüpfung zusammen in einem Bewustseyn. Dadurch wird allererst die Verknüpfung der Vorstellungen unter einander möglich (connexa vni tertio sunt connexa inter se)."

Diese Reflexion enthält den Hinweis, dass Vorstellungen in einer Verbindung über ein gemeinsames Drittes verbunden sind, und dass das Bewusstsein die Rolle dieses Dritten spielt. Man stiftet eine Einheit unter Vorstellungen, indem man diese Vorstellungen mit dem Bewusstsein »Ich denke« begleitet. Da dieses Bewusstsein als in allen Akten

134

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

des Begleitens numerisch identisch vorgestellt wird, werden auch die verschiedenen Vorstellungen als über das »Ich denke« miteinander verbunden vorgestellt. Die verschiedenen Vorstellungen werden von einem Bewusstsein begleitet, das sich selbst als numerisch identisch vorstellt. Dadurch denke ich die Vorstellungen als vermittelt durch mich verbunden. 21 Aufgrund dieser Annahme über die Handlung der Synthesis wird klar, warum die durchgängige Identität der Apperzeption eine Synthesis »enthält«. Wenn man aufgrund eines gegebenen Mannigfaltigen erkennen will, muss man sich all dieser Vorstellungen bewusst sein. Dies ist aber nicht möglich, ohne diese Vorstellungen zueinander hinzuzutun (eine Synthesis auszuführen). Zweitens zieht Kant an der oben zitierten Stelle die Folgerung, dass die Identität der Apperzeption ein Bewusstsein der Synthesis des Mannigfaltigen voraussetzt. ,,[D]iese durchgängige Identität der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, [... ] ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis möglich." (B 133) Zur Begründung dieser Folgerung schreibt Kant: „Denn das empirische Bewußtsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts." (B 133) Das empirische Bewusstsein wird gebildet, indem man Vorstellungen durch den inneren Sinn wahrnimmt. Hier kann man nicht vom Vorliegen einer Synthesis, geschweige denn vom Bewusstsein dieser Synthesis sprechen. Das Begleiten verschiedener Vorstellungen durch das empirische Bewusstsein setzt diese auch nicht in Beziehung zur Identität des Subjekts, 22 sondern besteht lediglich darin, einzelne Episoden von Bewusstsein zu bilden, die getrennt voneinander bestehen. Wenn wir also einfach nur verschiedene Bewusstseinsepisoden von Vorstellungen bildeten, gäbe es keine Möglichkeit, ein Bewusstsein von der eigenen Identität zu bilden. Wenn es nur empirisches Bewusstsein gäbe, wäre dadurch noch keine durchgängige Identität der Apperzeption gegeben. Was muss aber 21

22

Diese umständliche Ausdrucksweise ist notwendig, weil m a n nach Kant nur sagen kann, dass wir uns als numerisch identisch bewusst sind, aber nicht, dass numerisch ein Subjekt alle Handlungen des Begleitens ausführt. Vom Ersteren auf das Letztere zu schließen bedeutete nach Kant einen Paralogismus zu begehen. Siehe den dritten Paralogismus, A 361ff und Β 408f. D . h . genauer: Es setzt sie nicht zum Bewusstsein der Identität in Beziehung, denn von der Identität des Subjekts zu sprechen bedeutete, den o.g. Paralogismus zu begehen.

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

135

noch hinzukommen, damit es sie gibt? Kant sagt, dass die Beziehung auf (das Bewusstsein der) Identität des Subjekts dadurch geschieht, „daß ich eine [Vorstellung] zu der andern h i n z u s e t z e und mir der Synthesis derselben bewußt bin" (B 133). Erst dann kann man sagen, dass die Begleitungen von Vorstellungen Begleitungen durch ein Bewusstsein sind, das sich selbst als numerisch identisch vorstellt. Ich muss mir dessen bewusst sein, dass ich verschiedene Vorstellungen mit empirischem Bewusstsein begleite, d.h. ich muss mir des Übergangs von einer Vorstellung zur anderen bewusst sein. Erst dadurch erhalten die einzelnen Episoden empirischen Bewusstseins eine Beziehung auf das Bewusstsein der Identität. Das empirische Bewusstsein „ist an sich zerstreut" (B 133) und ohne ein Bewusstsein des Übergangs von einer Vorstellung zur anderen „würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin." (B 134) Den eben erläuterten Gedankengang formuliert Kant noch einmal etwas kürzer. Er geht dabei von folgendem Gedanken aus: ,,[D]iese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören m i r insgesamt zu [... ]." (B 134) Dies ist derselbe Gedanke wie der eben schon erläuterte: Kant geht davon aus, dass ich die in der Anschauung gegebenen Vorstellungen mit dem Bewusstsein »Ich denke« begleite, oder doch wenigstens begleiten kann. Dieser Gedanke bedeutet nach Kant nun „so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen" (B 134). Wenn ich all diese Vorstellungen tatsächlich mit Bewusstsein begleite, so vereinige ich sie in einem Bewusstsein. Ich muss mir natürlich nicht all dieser Vorstellungen bewusst werden, und entsprechend muss ich sie auch nicht in einem Bewusstsein vereinigen. In diesem Fall würde ich einfach davon absehen, aufgrund dieses Mannigfaltigen zu erkennen. Wenn ich aber erkennen will, muss ich mir des Mannigfaltigen bewusst werden, und dann muss ich es auch in einem Bewusstsein vereinigen oder begreifen, wie Kant sich auch ausdrückt (vgl. Β 134). Kant stellt diesen Zusammenhang auch mit Hilfe der Begrifflichkeit von analytischer und synthetischer Einheit der Apperzeption dar. Diese Begriffe sollen nun erläutert werden, nicht zuletzt in Hinblick darauf, dass sie in der Fußnote zu § 16 verwendet werden, um Begriffe als solche zu charakterisieren, was für diese Untersuchung natürlich von

136

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

besonderem Interesse ist. Die analytische Einheit der Apperzeption ist das Bewusstsein der numerischen Identität des denkenden Subjekts. Dies ergibt sich aus folgendem Zitat: „Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen i n e i n e m B e w u ß t s e i n verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die I d e n t i t ä t d e s B e w u ß t s e i n s i n d i e s e n V o r s t e l l u n g e n selbst vorstelle, d.i. die a n a l y t i s c h e Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer s y n t h e t i s c h e n möglich[23]." ( B 133)

Dieses Zitat besteht aus zwei Sätzen, die je besagen, dass ein Sachverhalt Bedingung der Möglichkeit eines anderen ist. Da die beiden Sätze durch „d.i." - das ist - verbunden sind, kann man davon ausgehen, dass sie dasselbe besagen. Der eine Satz besagt, dass irgendeine synthetische [Einheit der Apperzeption] notwendige Bedingung der analytischen Einheit der Apperzeption ist. Der andere Satz besagt, dass die Fähigkeit, das Mannigfaltige in einem Bewusstsein zu vereinigen, notwendige Bedingung für das Vorstellen der numerischen Identität des Bewusstseins ist. Es wird hier also die analytische Einheit der Apperzeption mit dem Vorstellen der numerischen Identität des Bewusstseins in diesen Vorstellungen gleichgesetzt. Mit der analytischen Einheit der Apperzeption ist also eine Eigenschaft des denkenden Ichs gemeint, nämlich diejenige, dass das denkende Subjekt sich seiner numerischen Identität bei allen Handlungen bewusst ist. In dem obigen Zitat sagt Kant, dass die analytische Einheit der Apperzeption irgendeine synthetische voraussetzt. Es ist hier meiner Ansicht nach irgendeine synthetische Einheit der Apperzeption gemeint. Dies wäre aufgrund des Satzes jedenfalls der am nächsten liegende Bezug. Aufgrund der Gleichsetzung der beiden Bedingungsverhältnisse ergibt sich dann, dass die synthetische Einheit der Apperzeption darin besteht, dass man das Mannigfaltige durch eine Synthesis verbinden kann. Dass Kant der Apperzeption, also dem Selbstbewusstsein, eine synthetische Einheit zuspricht, ist demnach so zu verstehen, dass sie die synthetische Einheit des Mannigfaltigen ermöglicht. Ich möchte dies noch etwas näher erläutern: Mit dem Begriff »synthetische Einheit des Mannigfaltigen« ist eine durch Synthesis zustande gekommene Einheit mannigfaltiger Vorstellungen gemeint. Der synthetischen Einheit 23

An dieser Stelle befindet sich die erwähnte Fußnote im Text der K.d.r.V.

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

137

des Mannigfaltigen liegt aber das Bewusstsein seiner selbst und insbesondere das Bewusstsein der eigenen Identität zugrunde. Aus diesem Grunde kann man sagen, dass die Apperzeption die synthetisierende Einheit ist. Diesen Umstand fasst Kant in Worte, indem er von der synthetischen Einheit der Apperzeption spricht: Von der Apperzeption kann man sagen, dass sie eine synthetische Einheit aufweist, weil sie das Synthetisierende ist, also dasjenige, was letztlich verschiedene Vorstellungen verbindet. Diese Interpretation erklärt auch, warum Kant der synthetischen Einheit der Apperzeption eine Ursprünglichkeit zuspricht und von der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption" (B 136) spricht: Die synthetische Einheit der Apperzeption ist ursprünglich, insofern sie der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen zugrunde liegt. Wenn Kant also sagt, dass „alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption" steht (B 136), so ist damit gemeint, dass ich alles Mannigfaltige der Anschauung in einem Bewusstsein verbinden können muss. Vorstellungen, die dieser Bedingung nicht gemäß sind, sind nicht meine Vorstellungen. ,,[A]ls meine Vorstellungen (ob ich mich ihrer gleich nicht als solcher bewußt bin) müssen sie doch der Bedingung notwendig gemäß sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Selbstbewußtsein zusammenstehen k ö n n e n , weil sie sonst nicht durchgängig mir angehören würden." (B 132f)

Kant sagt, dass unter der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption „alle mir gegebene Vorstellungen stehen," sie aber unter diese „auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen" (B 135f). Die gegebenen Vorstellungen stehen insofern immer schon unter dieser Einheit, als sie ihr gemäß sein müssen, um meine Vorstellungen sein zu können. Vorstellungen, die nicht zur synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins passen, wären nicht meine Vorstellungen. Andererseits ist die Handlung der Synthesis dieses Mannigfaltigen erforderlich, um das einheitliche Selbstbewusstsein hervorbringen zu können. Insofern müssen die gegebenen Vorstellungen auch unter diese Einheit gebracht werden. Kant sagt im obigen Zitat, dass die analytische Einheit der Apperzeption nur unter der Bedingung irgendeiner synthetischen Einheit

138

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

der Apperzeption möglich ist. Mit der Hinzufügung von »irgendeine« will Kant meiner Ansicht nach sagen, dass es gleichgültig ist, nach welcher Regel das Mannigfaltige vereinigt wird. Verschiedene synthetische Einheiten der Apperzeption unterscheiden sich dadurch, nach welcher Regel die entsprechende Synthesis von Vorstellungen durchgeführt wird. 24 Wie wir in Kapitel 6.1 sehen werden, setzt die Objektivität einer Einheit von Vorstellungen voraus, dass sie durch eine Synthesis nach Regeln hervorgebracht wird, die in einem noch zu erläuternden Sinne notwendig sind, und dass diese Regeln objektiv gültiger Synthesis durch die Kategorien angegeben werden. Wenn hier gesagt wird, dass für die analytische Einheit der Apperzeption nur irgendeine synthetische erforderlich ist, so bedeutet dies auch, dass die Regel der Synthesis nicht in dem noch zu erläuternden Sinne notwendig sein muss. Anders gesagt bedeutet dies, dass die Synthesis nicht gemäß den Kategorien vollzogen werden muss, sondern auch auf andere Weise vollzogen werden kann. Es ist demnach gleichgültig, ob die synthetische Einheit der Apperzeption eine „empirische Einheit der Apperzeption" ist, die nur „subjektive Gültigkeit" hat (B 140), oder eine „objektive Einheit des Selbstbewußtseins" (B 139), die auch die transzendentale Einheit der Apperzeption genannt wird. Wie genau sich diese Arten von synthetischen Einheiten der Apperzeption unterscheiden, ist Thema des nächsten Abschnitts (5.2.3). Für das Bewusstsein der eigenen numerischen Identität, also die analytische Einheit der Apperzeption, ist jedenfalls keine objektive Einheit der Apperzeption, gemäß den Kategorien, erfordert, sondern nur irgendeine. Ich möchte nun auf die Fußnote in § 16 der K.d.r.V. eingehen, in der Kant erläutert, warum ,,[d]ie analytische Einheit des Bewußtseins [... ] allen gemeinsamen Begriffen, als solchen," anhängt (Β 133n). Zum Teil hatte ich diesen Text schon bei der Behandlung der Begriffslehre nach Jäsche in Kapitel 3 interpretiert. Dort hatte ich die These vertreten, dass ein Begriff eine Vorstellung ist, die als Erkenntnisgrund verwendet wird. Dies bedeutet, dass wir uns vermittelst der Vorstel24

Alternativ könnte man hier »die synthetische Einheit irgendeines Mannigfaltigen« lesen. Dies würde jedenfalls sachlich einen gewissen Sinn ergeben. Es ist ja auch richtig, dass die analytische Einheit der Apperzeption die Synthesis irgendwelcher mannigfaltiger Vorstellungen erfordert, und dass es dabei nicht darauf ankommt, welche Vorstellungen dies sind.

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

139

lung einer Bestimmung auf all diejenigen Gegenstände beziehen, die diese Bestimmung aufweisen. Ich hatte schon dort darauf hingewiesen, dass in der nun zu behandelnden Fußnote Begriffe auch in diesem Sinne charakterisiert werden. Denn Kant sagt hier ja, dass sich die unter einen bestimmten Begriff fallenden Gegenstände alle dadurch auszeichnen, dass sie eine bestimmte Eigenschaft aufweisen, die mit beliebigen weiteren verbunden sein kann. Ich stelle mir durch einen Begriff also „eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann" (Β 133n). Weiterhin hatte ich betont, dass nach Kant das Verwenden einer Vorstellung als Erkenntnisgrund darin besteht, sie mit einem bestimmten Bewusstsein zu begleiten, nämlich dem Bewusstsein, dass die als Erkenntnisgrund verwendete Vorstellung mit beliebigen anderen Vorstellungen verbunden sein kann. Dieses Bewusstsein macht die Allgemeinheit, also die Form des Begriffs, aus. Ich habe allerdings im Kapitel über die Jäsche-Logik nicht erklären können, warum die analytische Einheit des Bewusstseins ein Bewusstsein ist, durch das man Vorstellungen als Erkenntnisgrund verwendet. Dies soll nun geschehen. Den Haupttext, zu dem die zu besprechende Fußnote gehört, habe ich eben interpretiert. Es hat sich gezeigt, dass die durchgängige Identität der Apperzeption eine Synthesis des Mannigfaltigen und ein Bewusstsein dieser Synthesis enthält. Um mir meiner eigenen Identität angesichts eines Mannigfaltigen bewusst werden zu können, muss ich dieses Mannigfaltige verbinden. Im Haupttext hat Kant also allgemein begründet, dass die analytische Einheit der Apperzeption nur unter der Voraussetzung einer synthetischen Einheit des Mannigfaltigen möglich ist, die wiederum nur aufgrund der synthetischen Einheit der Apperzeption möglich ist. In der Fußnote betrachtet Kant einen Anwendungsfall dieses allgemeinen Zusammenhangs. Er betrachtet nicht die Möglichkeit der analytischen Einheit der Apperzeption im Allgemeinen, sondern die Möglichkeit, dass die analytische Einheit des Bewusstseins eine ganz bestimmte Vorstellung Α begleitet. Wenn ich eine Vorstellung mit Bewusstsein begleite, muss ich sie als in möglicher synthetischer Einheit mit anderen Vorstellungen stehend ansehen. Es wird nun also nicht mehr irgendeine synthetische Einheit des Mannigfaltigen notwendig gemacht, sondern eine bestimmte Einheit, die dadurch bestimmt ist,

140

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

dass sie die Vorstellung Α enthält. Ich bin mir also, wenn ich eine Vorstellung Α mit der analytischen Einheit des Bewusstseins begleite, dessen bewusst, dass die Vorstellung Α mit beliebigen anderen Vorstellungen verbunden sein kann. ,,[N]ur vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen." Eine Vorstellung „muß [... ] in synthetischer Einheit mit anderen (wenn gleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann [... ]." (Β 134n) Auf diese Weise befasse ich in einem Bewusstsein alle Objekte (bzw. deren ganze Vorstellungen), die die Bestimmung Α aufweisen. Dies will Kant meiner Ansicht nach ausdrücken, wenn er sagt, dass das Denken der analytischen Einheit des Bewusstseins an einer Vorstellung diese Vorstellung zum conceptus communis macht, also zu einer analytisch allgemeinen Vorstellung. In der Fußnote spricht Kant anders als im Haupttext des § 16 nicht von der analytischen Einheit der Apperzeption, also vom Bewusstsein der eigenen numerischen Identität, sondern von der analytischen Einheit des Bewusstseins einer Vorstellung. Es geht also nicht mehr um das Bewusstsein meiner selbst, also um die Apperzeption, die die analytische Einheit der Apperzeption beinhaltet, sondern um das Bewusstsein einer gegebenen Vorstellung. Dieses Begleiten einer Vorstellung mit dem »Ich denke« setzt allerdings ein Selbstbewusstsein voraus, welches auch das Bewusstsein der eigenen numerischen Identität beinhaltet. Diese analytische Einheit der Apperzeption setzt nach dem Haupttext wiederum die synthetische Einheit der Apperzeption voraus. Weil es also die synthetische Einheit der Apperzeption gibt, sehe ich Vorstellungen, die ich mit dem »Ich denke« begleite, als in möglicher synthetischer Einheit mit anderen Vorstellungen stehend an. Diese Überlegung macht klar, wieso die synthetische Einheit der Apperzeption nach Kant „der höchste Punkt [ist], an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik [...] heften muß" (Β 134n). Denn die synthetische Einheit der Apperzeption ist die Bedingung der Möglichkeit der analytischen Einheit der Apperzeption, die wiederum Bedingung der Möglichkeit dafür ist, eine Vorstellung Α mit dem »Ich denke« zu begleiten. Aus der Voraussetzung der synthetischen Einheit der Apperzeption erklärt sich, dass Vorstellungen, denen das »Ich denke« anhängt, Begriffe sind.

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

141

Wie schon in Kapitel 2.4.2 ausgeführt, ist Kants Behauptung, dass die Logik an die synthetische Einheit der Apperzeption zu heften ist, meiner Ansicht nach so zu verstehen, dass die Regeln der formalen Logik sich alle aus dem Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption ergeben. Er will sagen, dass die in der formalen Logik genannten Regeln für das Denken deshalb gelten, weil der diskursive Verstand sich dadurch auszeichnet, ein Selbstbewusstsein (eine Apperzeption) zu besitzen, das eine synthetische Einheit aufweist. Diese Behauptung konnte im Rahmen dieser Arbeit nur für einen Teil der formalen Logik, nämlich die BegrifFslehre, erläutert werden. 25 Es konnte gezeigt werden, dass Vorstellungen, die der Verstand mit Bewusstsein begleitet, letztlich aufgrund der synthetischen Einheit der Apperzeption als in möglicher Einheit mit anderen Vorstellungen stehend angesehen werden. Die synthetische Einheit der Apperzeption kann daher als Fundament der Begriffslehre der Jäsche-Logik dienen. Dort wurde ja als zentrale Bestimmung von Begriffen verwendet, dass sie als Erkenntnisgrund verwendete Vorstellungen sind. Das Verwenden einer Vorstellung als Erkenntnisgrund bestand dabei darin, sich durch sie auf alle Gegenstände zu beziehen, die eine bestimmte Beschaffenheit aufweisen. Es blieb in der Jäsche-Logik allerdings offen, warum der Verstand Vorstellungen auf diese Weise verwendet. Es blieb also offen, warum die Vorstellungen des Verstandes die Form der Allgemeinheit aufweisen. Bei der Besprechung des Haupttextes von § 16 hatte ich betont, dass für die analytische Einheit der Apperzeption nur irgendeine synthetische erfordert ist, gleich ob diese den Kategorien gemäß vollzogen wird (und daher - vorgreifend gesagt - objektiv gültig ist) oder nicht. Entsprechendes gilt hier: Die synthetische Einheit mit anderen möglichen Vorstellungen, von der in der Fußnote die Rede ist, kann entweder den Kategorien bzw. den logischen Funktionen zu urteilen entsprechen oder nicht. Es ist für das Denken der analytischen Einheit an einer Vorstellung nur irgendeine vorausgedachte synthetische Einheit mit anderen möglichen Vorstellungen nötig, gleich nach welcher Regel diese Synthesis stattfinden soll.

26

Wie schon gesagt, verstehe ich Reichs Buch Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel so, dass er diese Behauptung für die Urteilslehre ausarbeitet.

142

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

5.2.3

Die transzendentale Einheit der Apperzeption

Ich habe eben erläutert, was unter der synthetischen Einheit der Apperzeption zu verstehen ist: Sie ist gewissermaßen der Ursprung jeder Einheit von in der Anschauung gegebenen Vorstellungen. Dass die Apperzeption eine synthetische Einheit aufweist, heißt, dass es möglich ist, alle meine Vorstellungen in einem Bewusstsein zu vereinigen. Außerdem wird diese synthetische Einheit der Apperzeption von der analytischen impliziert: Um mir der durchgängigen Identität meiner selbst bewusst werden zu können, muss ich das Mannigfaltige in einem Bewusstsein vereinigen können. Ich möchte nun dafür argumentieren, dass es ein schwächeres und ein stärkeres Verständnis dieses Faktums der synthetischen Einheit der Apperzeption gibt. Nach dem bisher verwendeten schwächeren Verständnis bedeutet die synthetische Einheit der Apperzeption, dass ich alle meine Vorstellungen auf irgendeine Art und Weise, d. h. nach irgendeiner Regel, vereinigen kann. 26 Mit der »Art und Weise, in der Vorstellungen vereinigt sind« meine ich dabei Folgendes: Wenn man ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein vereinigt, kann man sich dieses Mannigfaltigen ja als in verschiedenen Verhältnissen stehend bewusst sein. Dies entspricht dem Umstand, dass man das Mannigfaltige nach verschiedenen Regeln synthetisieren kann und sich entsprechend dabei verschiedener Regeln der Synthesis bewusst sein kann. Mit der »Art der Einheit« ist hier also diese Regel, bzw. ihr Bewusstsein gemeint. 27 Das stärkere Verständnis der synthetischen Einheit der Apperzeption, auf das ich hier hinaus möchte, besagt, dass ich alle meine Vorstellungen nach ganz bestimmten Regeln in einem Bewusstsein vereinigen kann, nämlich gemäß den Kategorien bzw. den Urteilsformen. 28 Man müsste dann entsprechend folgenden Zusammenhang zum Selbstbewusstsein zeigen: Um mir meiner selbst bewusst werden zu können, muss ich das Mannigfaltige der Anschauung den Kategorien gemäß, also auf ganz bestimmte Art und Weise, in einem Bewusstsein vereinigen können. Das schwache und das starke Verständnis der synthetischen 26 27

28

Darauf wurde ja oben - S. 137 - ausdrücklich hingewiesen. Damit soll nicht behauptet werden, dass sich jedes Mannigfaltige nach jeder Regel vereinigen lässt. Die Entsprechung von Kategorien und Urteilsformen wird später noch diskutiert werden (siehe Abschnitt 6.2.1).

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

143

Einheit der Apperzeption unterscheiden sich also darin, dass es im einen Fall um die notwendige Möglichkeit geht, das Mannigfaltige nach irgendwelchen Regeln zu verbinden, im anderen Fall aber um die notwendige Möglichkeit, es nach ganz bestimmten Regeln zu verbinden. Es soll nun begründet werden, dass es für das Verständnis Kants notwendig ist, diese zwei Arten des Verständnisses der synthetischen Einheit der Apperzeption zu unterscheiden, obwohl diese Unterscheidung in Kants Texten nicht explizit gemacht wird. Dazu werde ich zunächst auf die eben besprochene Anheftung der Begriffslehre der formalen Logik an die synthetische Einheit der Apperzeption zurückkommen und zeigen, dass man in diesem Zusammenhang den Ausdruck »synthetische Einheit der Apperzeption« im schwachen Sinne verstehen muss. Danach werde ich einige Textstellen anführen, die das starke Verständnis dieses Ausdrucks erfordern. Zur Begründung der schwachen Lesart: Wir hatten gesehen, dass nach Kant das Bewusstsein der eigenen durchgängigen Identität nur möglich ist, wenn man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Bewusstsein vereinigt und sich dabei der Regel dieser Synthesis bewusst ist. Ich habe dabei betont, dass diese Synthesis nach einer beliebigen Regel vollzogen werden kann. ,,[D]ie a n a l y t i s c h e Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer s y n t h e t i s c h e n möglich[29]." (B 133, kursiv von mir) Es ist also insbesondere nicht erforderlich, die Synthesis gemäß den von Kant aufgezählten Urteilsfunktionen, bzw. gemäß den Kategorien zu vollziehen. Es wäre auch aus sachlichen Gründen nicht ersichtlich, warum man das Mannigfaltige nach bestimmten Regeln verbinden muss, um sich seiner durchgängigen Identität bewusst werden zu können. Wie oben erläutert, ist bei der Synthesis das Bewusstsein des Übergangs von einer Vorstellung zur anderen erforderlich, damit man nicht lediglich beziehungslos neben einander stehende Bewusstseinsepisoden bildet. 30 Um dies zu vermeiden, ist aber nur das Bewusstsein einer Synthesis nach irgendeiner Regel erforderlich, aber nicht das Bewusstsein einer Synthesis nach bestimmten Regeln, gemäß den Urteilsfunktionen. 31 29

30 31

An dieser Stelle hat Kant die Fußnote zu § 16 eingefügt, die die Allgemeinheit der Begriffe erklärt. Siehe oben, S. 134. Siehe hierzu auch Heinz, Kants Fundierung von Begriff und Urteil in der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption, S. 147.

144

Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

Es ist weiterhin aus dem Grunde notwendig, im § 16 der K.d.r.V. die schwache Lesart für den Ausdruck »synthetische Einheit der Apperzeption« anzunehmen, dass Kant in der dazugehörigen Fußnote beansprucht, ganz allgemein über Begriffe zu sprechen. Und zwar ist es nach Kant ja die vorausgedachte synthetische Einheit mit anderen möglichen Vorstellungen, durch die es erst möglich wird, die analytische Einheit des Bewusstseins an einer Vorstellung zu denken. Wenn an dieser Stelle gemeint wäre, dass die synthetische Einheit immer den Urteilsfunktionen, bzw. den Kategorien gemäß zustande gebracht werden muss, so wäre damit schon eine inhaltliche Einschränkung für die Begriffe gemacht. Dies würde nämlich bedeuten, dass nach Kant alle Begriffe Fortbestimmungen der Kategorien sind. Dies ist jedoch nicht Kants Meinung, wie z.B. die folgende Stelle belegt: Ich kann „Gegenstände erdenken, die vielleicht unmöglich, vielleicht zwar an sich möglich, aber in keiner Erfahrung gegeben werden können, indem in der Verknüpfung jener Begriffe etwas weggelassen sein kann, was doch zur Bedingung einer möglichen Erfahrung notwendig gehöret, (Begriff eines Geistes) oder etwa reine Verstandesbegriffe weiter ausgedehnet werden, als Erfahrung fassen kann (Begriff von Gott)." (A 96)

In den reinen Verstandesbegriffen wird eine bestimmte Verknüpfung des Mannigfaltigen vorgestellt, und ich kann nun den Begriff des Geistes bilden, indem ich von gewissen Aspekten dieser Verknüpfung absehe. So denke ich einen möglichen Gegenstand, der aber nicht Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Ein Gegenstand, der nicht den Kategorien entspricht, ist „vielleicht zwar an sich möglich, [kann] aber in keiner Erfahrung gegeben werden" (A 96). Dass das Denken an sich nicht unbedingt den Kategorien folgen muss, wird auch durch folgende Stelle belegt, an der Kant das Urteil »Alle Körper sind teilbar« betrachtet: „Allein in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs des Verstandes blieb es unbestimmt, welchem von beiden Begriffen [teilbar und Körper] die Punktion des Subjekts, und welchem die des Prädikats man geben wolle. Denn man kann [statt »Alle Körper sind teilbar«] auch sagen: Einiges Teilbare ist ein Körper." (B 128)

Formallogisch gesehen gibt es keine Auszeichnung der Bestimmung »Körper« gegenüber der Bestimmung »teilbar«. Deshalb kann ich in

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

145

einem Urteil genauso gut den einen Begriff als Subjekt verwenden wie den anderen. Formallogisch kann ich also das eine oder das andere als Subjekt bzw. als Prädikat ansehen. Dies ist anders, wenn ich z.B. den Begriff des Körpers als Substanz ansehe. „Durch die Kategorie der Substanz aber, wenn ich den Begriff eines Körpers darunter bringe, wird es bestimmt: daß seine empirische Anschauung in der Erfahrung immer nur als Subjekt, niemals als bloßes Prädikat betrachtet werden müsse [...]." (B 128) Die bisherigen Überlegungen und Textstellen lassen also den Schluss zu, dass die synthetische Einheit der Apperzeption keine inhaltliche Bestimmung enthält, dass also die Synthesis, die durch sie ermöglicht wird, nach beliebigen Regeln vollzogen werden kann. Auf der anderen Seite gibt es aber auch zahlreiche Hinweise dafür, dass mit der »synthetischen Einheit der Apperzeption« doch eine inhaltlich bestimmte Einheit gemeint ist, die den Kategorien bzw. den Urteilsformen entspricht. Am deutlichsten wird dies in der Preisschrift, wo Kant einen direkten Zusammenhang zwischen der synthetischen Einheit der Apperzeption und den Kategorien hergestellt: „Es werden also so viel Begriffe a priori im Verstände liegen [ . . . ] , als es Arten der Zusammensetzung (Synthesis) mit Bewußtseyn, d.i. als es Arten der synthetischen Einheit der Apperception des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen giebt." (AA 20, 271)

Hier unterscheidet Kant zwischen verschiedenen Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption. Diese Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption liegen entsprechenden Arten von synthetischen Einheiten des Mannigfaltigen zugrunde. 32 Diese verschiedenen Arten der Einheit des Mannigfaltigen unterscheiden sich durch die Regel, nach der das Mannigfaltige zusammengesetzt wird. Entsprechend den a priori durch den Verstand vorgegebenen Arten der Zusammensetzung ergibt sich dieser Stelle zufolge eine ganz bestimmte Anzahl von Verstandesbegriffen a priori. Die Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption werden hier also zum Ursprung der Verstandesbegriffe erklärt. Dieser Stelle zufolge muss man die synthetische Einheit der Apperzeption also so verstehen, dass damit die notwendige Möglich32

Diese zwei Sachverhalte benennt Kant hier zusammenziehend durch den Ausdruck „Arten der synthetischen Einheit der Apperzeption des in Anschauung gegebenen Mannigfaltigen".

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Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

keit gemeint ist, das Mannigfaltige ganz bestimmten Regeln gemäß zu vereinigen. Als weiteren Beleg für die Behauptung, dass mit der synthetischen Einheit der Apperzeption die Möglichkeit gemeint ist, Vorstellungen auf eine ganz bestimmte Art zu verbinden, kann man Kants Erläuterung seiner Urteilsdefinition in § 19 der K.d.r.V. heranziehen. Hierbei ist zu bedenken, dass in Urteilen Begriffe immer auf ganz bestimmte Arten und Weisen zusammengesetzt werden, die in der Urteilstafel angegeben werden. Kant schreibt nun in § 19, dass Begriffe im Urteil vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption zusammengehören, und zwar nach Prinzipien, die aus dem Grundsatz der transzendentalen Einheit der Apperzeption abgeleitet sind. Da die Begriffe im Urteil nach Prinzipien zusammengehören, die sich aus dem Grundsatz der transzendentalen Einheit der Apperzeption ergeben, kann man schließen, dass durch diesen Grundsatz die Urteilsformen festgelegt sind. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist demnach eine Einheit gemäß bestimmten Regeln, die in der Urteilstafel ihren Ausdruck finden. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist an dieser Stelle m.E. mit der synthetischen Einheit der Apperzeption gleichzusetzen. Denn wenn die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne - wie hier behauptet - mit der Synthesis des Mannigfaltigen nach Regeln a priori im Zusammenhang steht, dann ist sie auch der Grund der Möglichkeit von Erkenntnissen a priori. Aus diesem Grund wäre es dann auch gerechtfertigt, sie als transzendental zu bezeichnen. 33 Aufgrund dieser Überlegungen und Textstellen ist es m.E. notwendig, eine starke und eine schwache Lesart des Begriffs »synthetische Einheit der Apperzeption« zu unterscheiden. Denn auf der einen Seite spielt die synthetische Einheit der Apperzeption in der allgemeinen Theorie der Begriffe eine Rolle, woraus sich ergibt, dass mit ihr keine inhaltliche Bestimmung oder Einschränkung verbunden sein darf. 33

Als weitere Belege für den Zusammenhang zwischen synthetischer Einheit der Apperzeption und den Kategorien könnte man folgende Stellen anführen: „Ein Mannigfaltiges, das in einer Anschauung, die ich die meinige nenne, enthalten ist, wird durch die Synthesis des Verstandes als zur n o t w e n d i g e n Einheit des Selbstbewußtseins gehörig vorgestellt, und dieses geschieht durch die Kategorie." (B 144) Kurz darauf sagt Kant noch, dass der Verstand „nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande" bringt (B 145f).

Synthetische u n d analytische Einheit der Apperzeption

147

Auf der anderen Seite soll die synthetische Einheit der Apperzeption aber auch das Prinzip für die Kategorien und die Urteilsformen sein, weshalb inhaltliche Bestimmungen in ihr enthalten sein müssen. Ich schlage aus diesen Gründen vor, zwischen einer synthetischen Einheit der Apperzeption in einem schwachen und einem starken Sinne zu unterscheiden. Im schwachen Sinne ist nur das gemeint, was es uns überhaupt möglich macht, Vorstellungen zu verbinden, im starken Sinne ist zusätzlich gemeint, dass dieses es dann auch notwendig macht, eine bestimmte Art von Einheit (den Urteilsfunktionen bzw. Kategorien gemäß) zu stiften. Die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne kann man auch als transzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnen, weil die Möglichkeit der Erkenntnis a priori letztlich auf die inhaltliche Bestimmtheit dieser Einheit zurückgeht. Entsprechend verdient die synthetische Einheit der Apperzeption im schwachen Sinne die Bezeichnung transzendental nicht. Im vorigen Abschnitt habe ich nur über den Zusammenhang der synthetischen Einheit der Apperzeption im schwachen Sinne mit dem Bewusstsein der eigenen Identität (der analytischen Einheit der Apperzeption) gesprochen. Es hatte sich gezeigt, dass die analytische Einheit der Apperzeption irgendeine synthetische erfordert, also die Möglichkeit erfordert, das Mannigfaltige nach irgendeiner Regel in einem Bewusstsein zu vereinigen. Nun möchte ich dafür argumentieren, dass auch die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne (also die transzendentale Einheit der Apperzeption) mit dem Selbstbewusstsein in einem gewissen Verhältnis steht. Dazu ist zunächst zu beachten, dass die analytische Einheit der Apperzeption, also das Bewusstsein der eigenen Identität, von dem im vorigen Abschnitt die Rede war, nur eines von vier Momenten des Selbstbewusstseins ausmacht. Wie ich am Anfang dieses Kapitels unter Rückgriff auf eine Stelle aus den Paralogismen erläutert habe, enthält meine ursprüngliche Vorstellung von mir selbst (mein Selbstbewusstsein) aber vier Momente: Ich bin mir meiner bewusst 1.) als Subjekt meiner Gedanken, 2.) als Einfaches, 3.) als durchgängig identisch und 4.) als ein auf ein Gedachtes Bezogenes.34 Ich bin der Ansicht, dass die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne zum Selbstbewusstsein im vollen Sinne, das 34

Siehe oben, S. 127.

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Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung

die eben genannten vier Momente enthält, in demselben Verhältnis steht, wie die synthetische Einheit der Apperzeption im schwachen Sinne zum Bewusstsein der eigenen Identität, das nur ein Moment des Selbstbewusstseins ausmacht: Um mir meiner Selbst im vollen Sinne bewusst werden zu können, muss ich Begriffe, bzw. das Mannigfaltige der Anschauung gemäß den Urteilsformen, bzw. gemäß den Kategorien verbinden können. Das Bewusstsein meiner selbst im vollen Sinne setzt also die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne voraus. Dieser Vorschlag eines Zusammenhangs zwischen der synthetischen Einheit der Apperzeption im starken Sinne und dem Bewusstsein meiner selbst im vollen Sinne beruht auf der folgenden Überlegung Baums zum Ursprung der Urteilsfunktionen: „Denkt sich also ein jedes denkende Ich als das Subjekt seiner Gedanken, ist dieses Ich etwas Unzusammengesetztes oder Einfaches, denkt es sich als das in allen seinen Gedanken eine und selbe und - schließlich - als das in seinen Gedanken auf ein Gedachtes Bezogene, so werden die Urteile, die es als Begriffsverbindungen denkt, die Unterschiede von »Relation«, »Qualität«, »Quantität« und »Modalität« aufweisen müssen." 35

In diesem Zitat nennt Baum zunächst die eben angeführten vier Momente des Selbstbewusstseins. Er behauptet dann, dass man Begriffe auf ganz bestimmte Art und Weise verbinden muss, wenn man sich seiner selbst in allen vier Momenten bewusst werden soll. Betrachten wir als Beispiel das erste von Baum genannte Moment: Um sich selbst als Subjekt seiner Gedanken denken zu können, muss man Begriffe so verbinden, dass das dadurch entstehende Urteil eine Relation aufweist (im Sinne der Urteilstafel, also etwa Subjekt-Prädikat). Man muss also, um sich selbst als Subjekt seiner Gedanken denken zu können, Begriffe nach einer ganz bestimmten Regel verbinden, nämlich so, dass man den einen Begriff als Subjekt, den anderen als Prädikat ansieht. Die anderen Momente des Selbstbewusstseins machen entsprechend weitere Regeln der Synthesis der Begriffe notwendig, die sich wiederum in den entsprechenden Titeln in der Urteilstafel ausdrücken. Baum hat hier den Fall der synthetischen Einheit von Begriffen in einem Bewusstsein betrachtet. Der hier formulierte Gedanke lässt sich jedoch auch auf den Fall der Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung übertragen. Und zwar muss man dieses Mannigfaltige gemäß 35

B a u m , Logisches und personales

Ich bei Kant, S . 118.

Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption

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den Kategorien, d.h. auf ganz bestimmte Art, verbinden, um sich seiner selbst im vollen Sinne, also nach allen vier Momenten, bewusst sein zu können. Während Kant in § 16 der K.d.r.V. also nur das Bewusstsein der eigenen durchgängigen Identität betrachtet und zeigt, dass dieses die synthetische Einheit der Apperzeption im schwachen Sinne erfordert, kann man - gestützt auf Baums Überlegung - auch sagen, dass das Selbstbewusstsein im vollen Sinne die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne erfordert. Abschließend möchte ich die hier getroffenen Unterscheidungen zusammenfassen. Es gibt die synthetische Einheit der Apperzeption im schwachen und im starken Sinne. Im schwachen Sinne ist damit lediglich die notwendige Möglichkeit gemeint, das Mannigfaltige auf irgendeine Weise zu vereinigen, im starken Sinne ist damit die notwendige Möglichkeit gemeint, das Mannigfaltige nach ganz bestimmten Regeln zu vereinigen, nämlich gemäß den Urteilsformen bzw. den Kategorien. Und zwar kann man ein gegebenes Mannigfaltiges der Anschauung ja auf verschiedene Art und Weise zur Einheit bringen, je nachdem, nach welcher Regel man eine Synthesis dieses Mannigfaltigen durchführt und welches Verhältnisses zwischen den Vorstellungen man sich entsprechend bewusst ist. 36 Die synthetische Einheit der Apperzeption im starken Sinne kann man auch transzendentale Einheit der Apperzeption nennen, weil die Möglichkeit der Erkenntnis a priori auf der inhaltlichen Bestimmtheit dieser Einheit beruht. Ich habe außerdem behauptet, dass diese beiden Verständnisweisen der synthetischen Einheit mit verschiedenen Verständnisweisen des Selbstbewusstseins zusammenhängen. Um sich seiner durchgängigen numerischen Identität bewusst zu werden, reicht es aus, das Mannigfaltige in irgendeiner Art und Weise zu vereinigen. Um sich aber seiner selbst bezüglich aller vier Momente bewusst zu werden, ist es notwendig, das Mannigfaltige gemäß den Kategorien zu vereinigen.

36

Es kann allerdings nicht jedes Mannigfaltige auf jede Art und Weise verbunden werden. Insbesondere kann es Mannigfaltiges geben, dass sich nicht in der Art »Ursache/Wirkung« vereinigen lässt.

6

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

Wir hatten in Kapitel 4 Verbindungen ganz allgemein betrachtet und dabei zwischen subjektiv und objektiv gültigen Einheiten von Vorstellungen unterschieden. Dabei sind die Begriffe »subjektiv gültig« und »objektiv gültig« so zu verstehen, dass zwar jede Verbindung subjektiv gültig, aber nicht jede Verbindung objektiv gültig ist. Verbindungen, die nicht objektiv gültig sind, sollen bloß subjektiv gültig heißen. Diesen Unterschied hatte ich so charakterisiert, dass eine objektive Einheit den Anspruch erhebt, dass ihr etwas in re entspricht, während eine subjektive Einheit dies nicht tut. In Kapitel 5 bin ich dann genauer auf die Präge eingegangen, wie der Verstand das Mannigfaltige einer Anschauung in einem Bewusstsein vereinigt. 1 Es hat sich gezeigt, dass man nach Kant die in der Anschauung gegebenen Vorstellungen in einem Bewusstsein vereinigt, indem man sie mit Bewusstsein begleitet und sich seiner eigenen Identität bewusst wird. Denn um dieses Bewusstsein der eigenen Identität hervorbringen zu können, muss man eine Synthesis des Mannigfaltigen vollziehen und sich dieser Synthesis auch bewusst sein. Anders ausgedrückt ist die analytische Einheit der Apperzeption nur unter Voraussetzung irgendeiner synthetischen Einheit der Apperzeption möglich. Dieser Zusammenhang hatte sich auch als Kern von Kants Theorie der Begriffe erwiesen. Dabei bin ich allerdings noch nicht auf die Frage eingegangen, unter welchen Umständen eine solche Einheit des Mannigfaltigen objektiv gültig ist. Ich hatte nur vorgreifend schon bemerkt, dass eine Synthesis zu einer objektiven Einheit führt, wenn sie nach einer Regel vollzogen wird, die in gewissem Sinne notwendig ist. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels soll dies nun erläutert und begründet werden. Der Abschnitt 6.2 wendet sich dann der hier schon mehrfach behaupteten Entsprechung zwischen den Kategorien und den Urteilsfunktionen zu. In diesem Zusammenhang werde ich meine These verteidigen, dass 1

Der Fall der Verbindung von Begriffen zu einem Urteil ist noch nicht betrachtet worden.

152

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Begriff und die Synthesis von Begriffen zu einem Urteil zwei weitgehend parallel verlaufende, aber von einander unabhängige Fälle von Verbindungen sind.

6.1

Notwendigkeit und objektive Einheit

In diesem Abschnitt werde ich Kants Erklärung dafür darstellen, dass Verbindungen vermittelst der synthetischen Einheit der Apperzeption objektiv gültig sind. Dabei ist »synthetische Einheit der Apperzeption« im starken Sinne zu verstehen, also so, dass verschiedene Vorstellungen gemäß den Kategorien bzw. den Urteilsformen verbunden sind (6.1.1). Im Abschnitt 6.1.2 werde ich auf das Verhältnis von Anschauungen und Begriffen eingehen. Und zwar bringt man eine Anschauung hervor, indem man das Mannigfaltige der Anschauung auf objektiv gültige Weise vereinigt. Dies erfordert wiederum, dass man es in einem reinen Verstandesbegriff vereinigt. Ich werde außerdem meine These verteidigen, dass man kein Urteil fällt, wenn man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt. 6.1.1 Die Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung Kant wendet sich der Frage, unter welchen Umständen eine Einheit (und entsprechend eine Verbindung) von Vorstellungen objektiv gültig ist, in beiden Fassungen der transzendentalen Deduktion zu. Ich werde hier hauptsächlich die Behandlung in der ersten Auflage betrachten, da Kant hier etwas ausführlichere Erklärungen als in der zweiten Auflage gibt. 2 Kant beginnt mit einer methodischen Anmerkung, in der er darauf hinweist, dass wir auf etwas von unseren Vorstellungen Verschiedenes nur aufgrund unserer Vorstellungen Zugriff haben. Er schreibt, dass „wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegen über setzen könnten" (A 104). Diesen scheinbar paradoxen Satz kann man folgendermaßen paraphrasieren: Außer dem Erkannten (d.h. dem Gegenstand, so wie wir ihn erkennen) haben wir nichts, was wir unserer Erkenntnis (also der Vorstellung) gegenübersetzen könnten. Wir können demnach 2

Die Interpretation der Objektivität von Verbindungen, die ich nun vorschlagen werde, ist durch Baum angeregt. Siehe Deduktion und Beweis in Kants Dranszendentalphilosophie, S. 107f.

Notwendigkeit und objektive Einheit

153

die Beziehung zwischen einer Erkenntnis und ihrem Gegenstand nicht auf dem Wege beschreiben, dass wir beide Relata unabhängig voneinander betrachten und dann ihre Relation beschreiben. Stattdessen müssen wir ein Relat, nämlich unsere Erkenntnis als mentale Entität, betrachten und an ihr Eigenschaften finden, die auf eine Beziehung auf Gegenstände hindeuten. 3 Das von solchen Vorstellungen Vorgestellte ist dann als Gegenstand anzusehen. Kant erörtert nun das Verhältnis von Erkenntnis zum Gegenstand, wobei er mit »Erkenntnis« hier ein in einem Bewusstsein vereinigtes Mannigfaltiges der Anschauung meint. Er geht hypothetisch davon aus, dass eine solche Verbindung Erkenntnis von einem Objekt ist, und schließt darauf zurück, welche Eigenschaften die Verbindung in diesem Fall haben müsste. „Wir finden aber, daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird,

WEIS

dawider ist, daß unsere Erkennt-

nisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sein, weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d.i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht." (A 104f)

Zunächst will Kant hier sagen, dass Erkenntnis sich nach dem Objekt, auf das sie sich bezieht, richten muss, da ja der Gegenstand dasjenige ist, „was dawider ist". Es liegt schon im Begriff der Erkenntnis von einem Objekt, dass die Vorstellung sich nach dem Objekt richten muss. Die Beziehung der Erkenntnis auf das Objekt hat also zur Folge, dass die Vorstellungen in der Erkenntnis nicht beliebig bestimmt sind. Für den hier betrachteten Fall bedeutet dies Folgendes: Eine Erkenntnis im hier verwendeten Sinne ist ein in einem Bewusstsein vereinigtes Mannigfaltiges der Anschauung. Eine solche Verbindung von Vorstellungen ist einerseits dadurch bestimmt, welche Vorstellungen in ihr verbunden sind, andererseits dadurch, wie sie verbunden sind. In beiden Hinsichten muss sich eine Verbindung, die Erkenntnis sein soll, nach dem Gegenstand richten. 4 Dass die Erkenntnis bezüglich 3

4

Diese Eigenschaft unserer Vorstellungen, an der wir ihre Objektivität erkennen können, ist, wie sich zeigen wird, ihre notwendige InterSubjektivität. Entsprechend ist Kants Bemerkung in der zweiten Auflage zu verstehen: Er-

154

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

der Frage, welche Vorstellungen in ihr verbunden sind, durch das Objekt festgelegt ist, wird hier nicht weiter betrachtet. Stattdessen ist für die Objektivität der Einheit des Mannigfaltigen wichtig, dass die Erkenntnis auch bezüglich der Art und Weise, wie die Vorstellungen miteinander verbunden sind, durch das Objekt festgelegt ist. Die „Erkenntnisse", d.h. die mannigfaltigen Vorstellungen in einer Erkenntnis, müssen „in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d. i. diejenige Einheit haben [...], welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht" (A 104f, kursiv von mir). Damit eine Einheit von Vorstellungen in meinem Bewusstsein objektiv ist, müssen die Vorstellungen eine solche Einheit aufweisen, wie sie auch die Bestimmungen im Gegenstand aufweisen, die den Vorstellungen entsprechen. Unmittelbar im Anschluss an die jetzt diskutierte Stelle gibt Kant dann die Einheit an, „welche [einerseits] der Gegenstand notwendig macht" und „welche [andererseits] den Begriff von einem Gegenstande ausmacht" (A 105). D.h. er gibt diejenige Einheit an, die die verschiedenen Bestimmungen in einem Gegenstand eingehen: „Es ist aber klar, daß, da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben, und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, vor uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anders sein könne, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen." (A 105)

Kant nennt in diesem Zitat zunächst noch einmal die bereits erläuterte methodische Betrachtung, nach der wir den Gegenstand nur als Vorgestelltes gewisser Vorstellungen definieren können. Aus diesem Grund, so Kant hier, kann „die [Art der] Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht",5 nur die formale Einheit des Bewusstseins in der Synthesis sein. Der Ausdruck »formale Einheit des Bewusstseins« wird nirgends erklärt und kommt meines Wissens nach auch sonst in der K.d.r.V. nicht vor. Man kann aber davon ausgehen, dass damit die

6

kenntnisse „bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt" (B 137, kursiv von mir). Dass der Gegenstand eine bestimmte Einheit notwendig macht, ist so zu verstehen, dass er - wie bereits erläutert - eine gewisse Einheit festlegt, die das Mannigfaltige in einer Erkenntnis aufweisen muss.

Notwendigkeit und objektive Einheit

155

synthetische bzw. die transzendentale Einheit der Apperzeption gemeint ist, denn auch von dieser Einheit sagt Kant, dass sie objektiv ist: „Die t r a n s z e n d e n t a l e E i n h e i t der Apperzeption ist diejenige, durch welche alles in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einen Begriff vom Objekt vereinigt wird." (B 139, kursiv von mir) Im vorigen Kapitel hatte ich die These vertreten, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption eine inhaltlich bestimmte Einheit ist, und dass es für das Selbstbewusstsein im vollen Sinne notwendig ist, das Mannigfaltige entsprechend dieser Einheit zu verbinden. Nach dem obigen Zitat können wir diese Art der Einheit nun als durch das Objekt, auf das sich die Vorstellungsverbindung beziehen soll, bestimmt bzw. notwendig gemacht ansehen. Denn wir müssen, um das Bewusstsein »Ich denke« in allen vier Momenten hervorbringen zu können, das Mannigfaltige der Anschauung auf gewisse Art und Weise (gemäß den Urteilsformen) verbinden. Dies ist unserem Belieben entzogen, denn es ist uns durch die Natur des Verstandes vorgegeben. ,,[D]a wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben" (A 105), können wir diesen Zwang als durch das Objekt ausgeübt ansehen. Man kann also diese Art der Einheit insofern als durch das Objekt festgelegt ansehen, als sie dem Belieben des einzelnen Subjekts entzogen ist. Auf diese Weise schließt Kant hier von der Notwendigkeit einer Einheit auf ihre Objektivität. Weil es für das Selbstbewusstsein im vollen Sinne notwendig ist, das Mannigfaltige auf gewisse Art (gemäß den Kategorien) zu verbinden, kann man sagen, dass es durch das Objekt vorgegeben ist, dass die Vorstellungen nach diesen Regeln verbunden werden.6 Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, sich klarzumachen, warum die Notwendigkeit, das Mannigfaltige auf eine gewisse Art und Weise zu vereinigen, auf die Objektivität dieser Einheit schließen lässt. Es sei also vorausgesetzt, dass es für jeden möglichen diskursiven Verstand notwendig ist, das Mannigfaltige auf gewisse Weise, d.h. durch eine bestimmte Funktion der Synthesis, zu vereinigen. Es besteht dann bezüglich dieser Funktion der Synthesis und des Bewusstseins dieser 6

Das objektive Vereinigen von Vorstellungen in einem Bewusstsein ist nach Kant also nicht so aufzufassen, dass verschiedene Vorstellungen einfach in einen Korb getan werden, sondern so, dass die verschiedenen Vorstellungen in ein von der Natur der transzendentalen Apperzeption vorgegebenes Raster eingeordnet werden müssen.

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Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

Synthesis notwendige Intersubjektivität. Mit der notwendigen Intersubjektivität ist gemeint, dass jeder mögliche diskursive Verstand das Mannigfaltige auf diese Weise vereinigen muss. Die notwendige InterSubjektivität einer Vorstellung kann nun mit der Objektivität dieser Vorstellung gleichgesetzt werden, da wir nur vermittelt durch unsere Vorstellungen Zugang zu den Gegenständen haben. Wenn jeder mögliche Verstand in Bezug auf die Art der Verbindung des Mannigfaltigen mit jedem anderen übereinstimmen muss und wenn wir zu den Gegenständen nur über unsere Vorstellungen Zugang haben, dann kann man schließen, dass dieser Art zu verbinden etwas im Objekt entspricht. 7 Vor diesem Hintergrund wird auch Kants Definition des Begriffs »Objekt« als intentionaler Gegenstand eines Begriffs verständlich. Kant definiert das Objekt als „das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung v e r e i n i g t ist" (B 137). Dieselbe Definition wird in der ersten Auflage der K.d.r.V. gegeben: Der Gegenstand „ist nichts mehr, als das Etwas, davon der Begriff eine solche Notwendigkeit der Synthesis ausdruckt" (A 106). In beiden Zitaten ist von einem Begriff die Rede. Dies ist so zu verstehen, dass ein Begriff das Bewusstsein oder die Vorstellung der Regel ist, nach der die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung vollzogen wird. 8 Im zweiten Zitat wird außerdem betont, dass dabei ein Begriff gemeint ist, der das Bewusstsein einer notwendigen Synthesis ist. Dies wird im ersten Zitat nicht gesagt, dürfte jedoch auch gemeint sein. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann man das Objekt als intentionalen Gegenstand eines Begriffs definieren. Ansonsten wäre es nicht verständlich, wie Kant den Gegenstand einerseits als das Vorgestellte einer Vorstellung definieren kann, andererseits aber vom Gegenstand sagen kann, dass er dawider ist, oder das, nach dem wir uns richten müssen, wenn wir etwas erkennen wollen. Ich möchte hier noch eine Anmerkung zu der oben dargelegten Analyse des Begriffs der Erkenntnis einfügen. Kant geht ja von der selbstverständlichen Feststellung aus, dass Erkenntnis sich nach dem Gegenstand richtet. Nun scheint Kant aber dieser Selbstverständlichkeit an anderer Stelle zu widersprechen: 7

8

Auf entsprechende Weise argumentiert Kant in § 18 der Prolegomena für die Objektivität von Erfahrungsurteilen. Dies wurde ja bereits im Abschnitt über die Synthesis der Rekognition behandelt.

Notwendigkeit und objektive Einheit

157

„Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt [...]." (Β XVI)

Auch wenn Kant an dieser Stelle nicht behauptet, dass sich der Gegenstand nach unserer Erkenntnis richtet, ist doch klar, dass sich dies seiner Ansicht nach so verhält. Wie kann Kant also gleichzeitig behaupten, dass der Gegenstand sich (in seiner Gegenständlichkeit) nach unserer Erkenntnis richtet, und dass Erkenntnis sich nach dem Gegenstand richten muss? Der eben vorgestellten Analyse nach gibt es etwas, das zugleich in gewisser Weise subjektiv, in gewisser Weise aber auch nicht subjektiv ist. Und zwar ist dies die Art und Weise, wie wir das Mannigfaltige verbinden müssen, um das Selbstbewusstsein hervorbringen zu können. Diese Art ist letztlich durch die Natur des diskursiven Verstandes festgelegt. Insofern ist die Art der Einheit subjektiv. In gewisser Weise ist die Art der Einheit aber auch nicht subjektiv, nämlich insofern sie nicht dem Belieben des Einzelnen unterliegt. Wenn man nun - wie Kant es tut - das Objekt als dasjenige ansieht, was durch eine derartige Einheit des Mannigfaltigen vorgestellt wird, kann man auf der einen Seite sagen, das Objekt richte sich nach unserer Erkenntnis. Auf der anderen Seite kann man aber auch sagen, dass etwas außer uns, d.h. außerhalb des Belieben des Einzelnen liegendes eine bestimmte Art der Verbindung notwendig macht. Unsere Erkenntnisse sind also ,glicht aufs Geratewohl, oder beliebig" (A 104) bestimmt. Man kann daher sagen, dass die synthetische Einheit der Apperzeption für Kants Theorie eine Doppelrolle spielt. Einerseits muss ich vermittelst ihrer das Mannigfaltige der Anschauung vereinigen, um ein einiges Bewusstsein »Ich denke« bilden zu können. Dies ist ihre subjektive Rolle. Andererseits ist eine Verbindung vermittelst der synthetischen Einheit der Apperzeption aber auch objektiv. Die Einheit der Apperzeption spielt also auch eine objektive Rolle. „Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen m u ß , u m f ü r m i c h O b j e k t z u w e r d e n , weil auf andere Art, und ohne

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Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde." (B 138)

Im zweiten Teil dieses Zitats nennt Kant die »subjektive« Rolle, nach der jede Anschauung unter der synthetischen Einheit der Apperzeption steht, weil ich das Mannigfaltige anders nicht in einem Bewusstsein vereinigen kann. Damit eine Anschauung für mich Vorstellung eines Objekts sein kann, muss sie der synthetischen Einheit der Apperzeption gemäß sein. Zweitens spielt die synthetische Einheit aber auch eine objektive Rolle, auf die Kant im ersten Teil dieses Zitats verweist. Denn dadurch, dass ich das Mannigfaltige zur synthetischen Einheit des Bewusstseins bringe, verbinde ich es auf eine notwendig intersubjektive Weise, und dies ist eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass das Mannigfaltige im Objekt verbunden ist. Da die Einheit des Mannigfaltigen, die in den Kategorien vorgestellt wird, objektiv gültig ist, kann man sagen, dass diese besonderen Begriffe eine Objektivität aufweisen, die man als transzendental-logisch bezeichnen könnte. Ich möchte diese spezielle Objektivität der Kategorien nun mit der Objektivität vergleichen, die allen Begriffen als solchen zukommt (vgl. A 320/B 376f), und die man als formal-logisch bezeichnen könnte. Objektivität in diesem Sinne ist in Kapitel 2 so erläutert worden, dass Begriffe (wie auch Anschauungen) sich auf durchgängig bestimmte Gegenstände beziehen, während andere Vorstellungen lediglich Beschaffenheiten vorstellen, die an Gegenständen vorkommen können. Dass Begriffe als solche in diesem Sinne objektiv sind, kann man m.E. folgendermaßen erklären: Wenn man die eben gegebene Erklärung der objektiven Gültigkeit von Verbindungen verallgemeinert, kann man sagen, dass eine Vorstellungseinheit insoweit objektiv gültig ist, als sie notwendig inter subjektiv ist, also insoweit jeder mögliche Verstand eine derartige Einheit denken muss. So hatte ich ja eben ausgeführt, dass nach Kant die Kategorien objektiv gültig sind, weil jeder mögliche Verstand das Mannigfaltige der Anschauung ihnen gemäß vereinigen muss, um sich seiner selbst bewusst werden zu können. Entsprechend kann man aber auch sagen, dass die Tatsache, dass man überhaupt das Mannigfaltige auf irgendeine Weise verbindet, notwendig intersubjektiv gültig ist. Wenn ich eine Vorstellung mit Bewusstsein begleite und mir meiner durchgängigen Identität bewusst werde,

Notwendigkeit und objektive Einheit

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so muss ich diese Vorstellung ja als in synthetischer Einheit mit möglichen anderen Vorstellungen stehend ansehen.9 Diese Regel für das Denken ist notwendig und daher notwendig intersubjektiv gültig. Man kann daher aufgrund der methodischen Überlegungen Kants, die oben genannt worden sind, sagen, dass dieser Aspekt unserer Begriffe objektiv gültig ist. Dass man eine Vorstellung als in synthetischer Einheit mit möglichen anderen Vorstellungen stehend ansehen muss, ist notwendig und hat daher objektive Bedeutung. Aus diesem Grund kann man sagen, dass man sich in jedem Begriff eine mögliche Einheit von Bestimmungen in einem gedachten Objekt vorstellt. Man stellt sich in einem Begriff also vor, dass eine Beschaffenheit auf irgendeine Weise mit beliebigen weiteren Beschaffenheiten im Objekt verbunden ist. Letzteres bedeutet, dass alle diese Beschaffenheiten zu einem und demselben Objekt gehören. Durch Begriffe als solche werden also Bündel von Beschaffenheiten vorgestellt. Anders gesagt beinhaltet der formal-logische Objektbegriff es, dass Objekte Bündel von Beschaffenheiten sind. Durch diese Bündelstruktur sind Objekte mögliche »Wahrmacher« von Urteilen. Denn das Urteil »Dieses Α ist B« ist ja dann wahr, wenn in dem gemeinten Objekt die Beschaffenheiten Α und Β verbunden sind. Den Kategorien kommt als Begriffen natürlich auch die formal-logische Objektivität zu. Darüber hinaus weisen sie aber noch eine weitergehende Objektivität auf, die man als transzendental-logisch bezeichnen könnte. Wie wir gesehen haben, ist die Art der Verbindung des Mannigfaltigen, die durch die Kategorien vorgestellt wird, objektiv gültig. Wie wir außerdem in Kapitel 5.1.3 über die Synthesis der Rekognition gesehen haben, kann man Begriffe als Vorstellungen der Regel der Synthesis des Mannigfaltigen auffassen. 10 Da die Kategorien eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen vorstellen, die auch bezüglich dieser besonderen Art zu vereinigen objektiv gültig ist, kann man sagen, dass die Kategorien in einem weitergehenden Sinn objektiv sind, als es Begriffe als solche sind. Dieses Verhältnis der formalen Objektivität und der transzendentalen Objektivität von Begriffen entspricht dem Verhältnis zwischen der synthetischen Einheit der Apperzeption im schwachen Sinne und 9

10

Dies bedeutet, dass ich die Vorstellung als Erkenntnisgrund gebrauche - siehe Kapitel 5.2.2. Siehe A 78/B 104 und A 79/B 104.

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Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

der synthetischen Einheit der Apperzeption im starken Sinne, die man auch als transzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnen kann. Im ersten Fall ist ja nur die notwendige Möglichkeit gemeint, Vorstellungen nach irgendeiner Regel zu verbinden, im zweiten Fall ist die notwendige Möglichkeit gemeint, Vorstellungen gemäß den Urteilsformen bzw. den Kategorien zu verbinden. Entsprechend weitgehend ist dann jeweils die objektive Gültigkeit der Verbindungen, die auf dieser synthetischen Einheit der Apperzeption beruhen. Im ersten Fall ist nur der Aspekt der Verbindung, dass Vorstellungen überhaupt verbunden sind, objektiv gültig, was den formalen Objektbegriff ergibt. Im zweiten Fall ist darüber hinaus der Aspekt objektiv gültig, dass die Vorstellungen gemäß gewissen Regeln verbunden sind, was den transzendentalen Objektbegriff ergibt. Sowohl die formal-logische als auch die transzendental-logische Objektivität von Begriffen unterscheiden sich von der objektiven Realität von Begriffen. Für die formale Objektivität ist dies schon deshalb klar, weil sie allen Begriffen zukommt, aber nicht alle Begriffe objektiv real sind. Aber auch die transzendentale Objektivität ist nicht mit objektiver Realität gleichzusetzen. Die objektive Realität eines Begriffs besteht darin, dass ihm sinnliche Anschauungen entsprechen. Für ihren Nachweis muss man daher die Sinnlichkeit in Betracht ziehen. Die transzendental-logische Objektivität der Kategorien wurde dagegen ausschließlich durch eine Betrachtung des Verstandes und seiner Regeln erwiesen.11 Kant ist zwar der Ansicht, dass die Kategorien objektiv real sind, dies nachzuweisen bedarf aber weiterer Überlegungen. Meiner Ansicht nach wird die transzendental-logische Objektivität der Kategorien im ersten Teil der B-Deduktion (§§ 15-21) nachgewiesen, die objektive Realität aber erst im zweiten Teil (§§ 22-27).12 In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend noch auf Allisons Unterscheidung zwischen objektiver Gültigkeit und objektiver Realität eingehen. Allison ist der Ansicht, dass der erste Teil der BDeduktion die objektive Gültigkeit und der zweite Teil die objektive 11

12

Deshalb ist es auch berechtigt, von transzendental-logischer Objektivität zu sprechen. Da es hier ausschließlich um die Regeln des Denkens geht, kann man diese Untersuchungen der Logik zuordnen. Ich folge bei der Interpretation des Grundes der Zweiteilung der KategorienDeduktion nach der zweiten Auflage der K.d.r.V. Baum, Der Aufbau der Deduktion der Kategorien.

Notwendigkeit und objektive Einheit

161

Realität von Kategorien beweist. 13 Dabei versteht Allison den Begriff »objektive Realität« in etwa so wie ich: Nach Allison ist ein Begriff objektiv real, wenn ihm sinnliche Anschauungen korrespondieren. Allerdings müssen diese Anschauungen nach Allison wirklich gegeben und nicht nur möglich sein. Der Begriff »Einhorn« ist seiner Ansicht nach also nicht objektiv real, weil es keine Einhörner gibt. 14 Dagegen ist dieser Begriff meiner Ansicht nach objektiv real, weil Einhörner Gegenstände möglicher Erfahrung sind, auch wenn es sie tatsächlich nicht gibt. Auf diesen Unterschied will ich hier aber nicht weiter eingehen. Es ist aber nicht ganz klar, was Allison mit objektiver Gültigkeit meint, die ihm zufolge das Thema des ersten Teils der B-Deduktion bildet. Diese Unklarheit hängt m.E. damit zusammen, dass Allison es versäumt, zwischen der formal-logischen Objektivität, die allen Begriffen zukommt, und der transzendental-logischen Objektivität, die nur den Kategorien zukommt, zu unterscheiden. Auf der einen Seite sagt er, die objektive Gültigkeit der Kategorien werde im ersten Teil der B-Deduktion nachgewiesen, was dafür spricht, dass mit objektiver Gültigkeit die transzendental-logische Objektivität gemeint ist. Auf der anderen Seite schreibt Allison: „Since it is linked to judgment, objective validity goes together with a judgmental or logical conception of an object (an object in sensu

logico).

This is an extremely broad sense of 'object', which encompasses anything that can serve as the subject in a judgment." 1 5

Dieses Zitat legt eher die Interpretation nahe, dass Allison mit objektiver Gültigkeit (objective validity) die formal-logische Objektivität von Begriffen meint. Es ist aber klar, dass diese von der transzendentallogischen Objektivität zu unterscheiden ist, da nicht alle Begriffe in dem Sinne objektiv sind, wie die Kategorien. 6.1.2

Anschauungen und Begriffe

Ich möchte nun noch einmal im Lichte der Erörterungen über die synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung auf das Verhältnis zwischen Begriffen und Anschauungen zurückkommen. Wie wir 13 14 15

Vgl. Kant's Transcendental Idealism, S. 134. Vgl. a.a.O., S. 135. A.a.O., S. 135.

162

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

schon im Abschnitt 5.1.3 über die Synthesis der Rekognition im Begriff gesehen haben, bringt man nach Kant die Anschauung eines Gegenstandes hervor, indem man das Mannigfaltige der Anschauung unter der Leitung eines Begriffs, der die allgemeine Vorstellung einer Regel der Synthesis ist, in einem Bewusstsein vereinigt. Die Verwendung eines Begriffs ist dabei notwendig, um den verschiedenen Vorstellungen Einheit zu verleihen. Um die Anschauung eines bestimmten Objekts hervorzubringen, z.B. einer Linie, muss man also einerseits eine bestimmte Synthesis eines bestimmten Mannigfaltigen ausführen und auch ein dieser Synthesis entsprechendes Bewusstsein bilden. Um z.B. eine Linie zu erkennen, „muß ich sie z i e h e n , und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist" (B 137f). Es muss also einerseits eine ganz bestimmte Synthesis ausgeführt werden, andererseits muss es dazu ein korrespondierendes Bewusstsein dieser Synthesis (den Begriff) geben, das dieselbe inhaltliche Bestimmtheit aufweist. Demnach bezieht sich der Begriff des Hauses auf Häuser, und nicht auf andere Gegenstände, weil er die Regel einer Synthesis vorstellt, nach der sich das Mannigfaltige eines Hauses vereinigen lässt. Ist mir durch die Sinne hingegen das Mannigfaltige eines Baumes gegeben, so wird sich dies nach der Regel der Synthesis, die im Begriff des Hauses vorgestellt wird, nicht vereinigen lassen. Versuche ich dies, so lässt sich die Synthesis nicht zu Ende führen und es kommt keine einheitliche Vorstellung, d.h. keine Anschauung zustande. Thöle führt in diesem Zusammenhang auch das Beispiel einer Häuserkulisse an. 16 Wenn man beginnt, dieses Mannigfaltige im Begriff des Hauses zu synthetisieren und dann die Rückseite der Kulisse sieht, tritt ein Enttäuschungserlebnis ein, und es zeigt sich, dass die Synthesis im Begriff des Hauses nicht durchgeführt werden kann. Wenn man das Mannigfaltige in einem Begriff vereinigt, bringt man meiner Ansicht nach also eine Anschauung hervor, die unter diesen Begriff fällt, d.h. ihm korrespondiert und ein Beispiel dieses Begriffs ist. Das Mannigfaltige muss ja der Regel der Synthesis, die im Begriff gedacht wird, korrespondieren. Es besteht also zwischen der hervorgebrachten Anschauung und dem Begriff ein 16

Vgl. Kant

und das Problem

der Gesetzmäßigkeit

der Natur,

S. 226f.

Notwendigkeit u n d objektive Einheit

163

SubsumtionsVerhältnis, d.h. die Anschauung stellt einen Einzelfall vor, der unter den Begriff fällt. Die Theorie des Vereinigens des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Begriff erklärt auch, in welchem Sinne man sagen kann, dass nur Anschauungen unmittelbar auf Gegenstände gehen, während Begriffe sich auf Anschauungen beziehen müssen, um sich auf Gegenstände zu beziehen: „Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgend eine andre Vorstellung von demselben [... ] bezogen." (A 68/B 93)17 Diese Äußerungen sind vom formal-logischen Gesichtspunkt ja etwas befremdlich, weil alle Begriffe sich auf Gegenstände beziehen, unabhängig davon, ob ihnen Anschauungen korrespondieren oder nicht. Mit dem Bezug auf Gegenstände muss in diesem Zusammenhang also etwas Stärkeres gemeint sein als in der formalen Logik. In diesem Zusammenhang ist nicht nur gemeint, dass Gegenstände durch Begriffe intendiert werden, sondern dass sie auch in der Erfahrung gegeben sein können. In diesem stärkeren Sinne, der auf die objektive Realität der Begriffe hinausläuft, beziehen Begriffe sich aufgrund dessen auf Gegenstände, dass sie das Bewusstsein einer Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung sind. Sie sind also in dem Sinne vermittelt, dass sie sich aufgrund dessen auf Gegenstände beziehen, dass sie das Bewusstsein der Synthesis sind, durch die das Mannigfaltige verbunden wird. Entsprechend kann man von Anschauungen sagen, dass sie unmittelbar auf den Gegenstand gehen, weil sie den Bezug von Begriffen vermitteln. Begriffe sind also in dem Sinne vermittelt, dass sie das Bewusstsein der Synthesis eines Mannigfaltigen der Anschauung sind und sich aufgrund dessen auf Gegenstände beziehen. Kant sagt jedoch auch noch in einem anderen Sinne von ihnen, dass ihr Bezug auf Gegenstände vermittelt ist. Und zwar ist dieser Bezug durch Merkmale vermittelt (vgl. A320/B 377). Dass Begriffe sich vermittelt durch Merkmale auf Gegenstände beziehen, ist meiner Ansicht nach einfach so zu verstehen, dass ein Merkmal als Kriterium dafür dient, ob ein bestimmter Gegenstand unter den Begriff fällt oder nicht. Dies ist also Vermitteltheit in einem ganz anderen Sinne. 17

Siehe auch A 19/B 33: ,Alles Denken aber muß sich [ . . . ] zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann."

164

Objektivität, Urteilsformen u n d Kategorien

Meiner Ansicht nach ist es also so, dass man eine Anschauung hervorbringt, wenn man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt. Es liegt nach meiner Interpretation in diesem Fall das Verhältnis des Darunterfallens zwischen der hervorgebrachten Anschauung und dem Begriff vor, d.h. die Anschauung korrespondiert dem Begriff. Meiner Ansicht nach kann man aber nicht sagen, dass durch eine solche Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung ein Urteilt gefällt wird. Entgegen meiner Interpretation wird in der Literatur die Ansicht vertreten, dass man ein einzelnes Urteil fällt, indem man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt. So schreibt z.B. Lenk: „Objekte aber werden erkannt, i n d e m das Subjekt s p o n t a n ( B / 1 3 2 ) Vorstellungen v o m Mannigfaltigen der A n s c h a u u n g in e i n e m Begriff v o m O b j e k t verbindet - u n d zwar » o h n e Unterschied« in verschiedenen Zus t ä n d e n des S u b j e k t s ( B / 1 4 2 ) . Der Verstand faßt das Mannigfaltige i m D e n k e n zu einer ( O b j e k t - ) E i n h e i t z u s a m m e n , d.h.: er

urteilt."18

Es wird also die Ansicht vertreten, dass man, indem man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt, ipso facto ein Urteil fällt, in dem die Anschauung an der Subjekt-Stelle und der Begriff an der Prädikat-Stelle steht. Wenn ich also das Mannigfaltige der Sinne, das zu einem Haus gehört, im Begriff »Haus« verbinde, dann - so diese Position - fälle ich das Urteil »Dies ist ein Haus«. Die Interpretation, dass man ein Urteil fällt, indem man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt, scheitert meiner Ansicht nach schon daran, dass es dann Urteile geben müsste, an deren Subjekt-Stelle eine Anschauung und kein Begriff steht. Nach Kant ist es aber so, dass in kategorischen Urteilen immer zwei Begriffe verbunden werden, auch in einzelnen Urteilen. In der 1. Anmerkung zur Urteilstafel sagt Kant implizit, dass einzelne Urteile einen Subjekt-Begriff besitzen (vgl. A 71/B 96). Er unterscheidet in dieser Anmerkung 18

Kritik der logischen Konstanten, S. 7. Siehe auch R.P. Wolff, Kant's Theory of Mental Activity, S. 149: „But knowledge is the assertion of judgments, which combine these sensible representations in some definite manner or other." Siehe auch Allison, Kant's Transcendental Idealism, S. 145: „The root claim [ . . . ] is that the act of conceiving, knowing, understanding, or judging about an object = χ (all of these here being regarded as equivalent) consists in the unification of the manifold of the intuition of χ by means of a concept."

Notwendigkeit und objektive Einheit

165

zwar auch zwischen einzelnen und gemeingültigen Begriffen, diese Redeweise ist aber so zu verstehen, dass der Gebrauch des Begriffs einzeln bzw. gemeingültig ist. Ein Begriff ist ja als solcher allgemein. Die Form der einzelnen Urteile lautet demnach »Dieses Α ist B«. Wenn es Urteile gäbe, an deren Subjekt-Stelle eine Anschauung steht, könnten Urteile auch nicht in der Logik behandelt werden, denn diese beschäftigt sich nur mit dem Verstand, während Anschauungen Vorstellungen der Sinnlichkeit sind. Von diesem Problem für diese Interpretation möchte ich nun aber absehen. Ich möchte stattdessen zwei Textstellen diskutieren, die scheinbar für diese Interpretation sprechen. Die erste lautet: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen i n e i n e m U r t e i l e Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen i n e i n e r A n s c h a u u n g Einheit" (A79/B104f). Genauer werde ich diese Textstelle erst später betrachten, 19 im Moment möchte ich nur bemerken, dass an dieser Stelle nicht behauptet wird, dass es ein und dieselbe Handlung ist, durch die man das Mannigfaltige verbindet und dadurch ipso facto urteilt. Kant sagt hier nur, dass es dieselbe Funktion, also dieselbe Handlungseinheit ist, die einerseits Begriffen und andererseits der Synthesis des Mannigfaltigen Einheit verleiht. Es soll gesagt werden, dass die Einheit in beiden Fällen auf derselben Handlungs-Gesetzmäßigkeit beruht, aber nicht, dass beides durch numerisch eine Handlung geschieht. Eine zweite Textstelle, die scheinbar für die eben skizzierte Auffassung spricht, ist die folgende: „Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urteilt." (A 68/B 93) Wenn man annimmt, dass die Verwendung von Begriffen, durch die der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung Einheit gegeben wird, ein Fall von Begriffsgebrauch durch den Verstand ist, muss man nach dieser Stelle schließen, dass durch diese Synthesis des Mannigfaltigen geurteilt wird. Dies ist allerdings nicht der Fall, denn das Vermögen, das unter Verwendung von Begriffen das Mannigfaltige der Anschauung vereinigt, ist nicht der Verstand, sondern die Einbildungskraft. Der Gebrauch des Verstandes von Begriffen besteht darin, Gegenstände im eigentlichen Sinne zu erkennen, und dies geschieht in Urteilen. Auch aus dieser Textstelle folgt also zumindest nicht zwin19

Siehe S. 176-179.

166

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

gend, dass die Synthesis des Mannigfaltigen in einem Begriff ein Urteil ist. Aus demselben Grund ist auch Kants Behauptung „Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen" (A 69/ Β 94) nicht einschlägig. Da die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung keine Handlung des Verstandes ist, wird auch hier nicht behauptet, dass diese Synthesis sich auf Urteile zurückführen lässt. Als Hauptargument gegen die Interpretation, dass man urteilt, indem man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt, möchte nochmals eine Betrachtung des Verbindens des Mannigfaltigen einschieben, die zeigen soll, dass durch diesen Prozess nicht geurteilt wird. Dabei ist die Charakterisierung von Urteilen, die ich in Kapitel 2 gegeben habe, wichtig: Ein Urteil ist eine objektive Einheit von Vorstellungen, die selbst schon objektiv sind, und zwar in dem Sinne, dass sie entweder (im Falle kategorischer Urteile) eine Klasse von Objekten oder (im Falle hypothetischer und disjunktiver Urteile) einen Sachverhalt vorstellen. Bei der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Begriff liegen dagegen ganz andere Verhältnisse vor: Es werden hier zwar Vorstellungen vereinigt,20 aber diese Vorstellungen sind nicht selbst objektiv in dem eben genannten Sinn. Deshalb kann man nicht sagen, dass diese Verbindung von Vorstellungen ein Urteil ist, sondern man muss sagen, dass diese Verbindung eine Anschauung ist. Man kann auch nicht sagen, dass durch die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Begriff eine objektive Einheit zwischen der daraus resultierenden Anschauung und dem Begriff vorgestellt wird. Denn man ist sich bei dieser Synthesis des Mannigfaltigen eines Verhältnisses zwischen den anschaulichen Vorstellungen bewusst, aber keines Verhältnisses zwischen dem Begriff und der entstehenden Anschauung. Ein Urteil, in dem eine Anschauung und ein Begriff verbunden sind, müsste ja die Vorstellung eines solchen Verhältnisses sein. Für die Interpretation, dass man ein Urteil fällt, wenn man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt, scheint die Tatsache zu sprechen, dass es hierbei einen Unterschied von richtig und falsch gibt, wie auch Urteile wahr oder falsch sein können. Denn ein bestimmtes Mannigfaltiges, das einem gegeben ist, lässt sich ja nur in manchen Begriffen vereinigen, in anderen dagegen nicht. Z.B. lässt sich nur das Mannigfaltige eines Hauses im Begriff des Hauses vereinigen, 20

Sofern die Begriffe, derer man sich dabei bedient, reine Verstandesbegriffe sind, ist diese Einheit auch objektiv gültig.

Notwendigkeit und objektive Einheit

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das Mannigfaltige eines Baums dagegen nicht. Wenn man versucht, das Mannigfaltige eines Baums im Begriff des Hauses zu vereinigen, hat man aber kein falsches Urteil gefällt, weil man überhaupt kein Urteil gefällt hat. Solche Fälle sind vielmehr so zu beschreiben, dass in ihnen gar keine Anschauung eines Gegenstandes hervorgebracht wird, weil das Mannigfaltige der Anschauung dem Begriff nicht gemäß ist. Wenn man versucht, das Mannigfaltige in einem Begriff zu vereinigen, in dem es sich nicht vereinigen lässt, kann man kein einheitliches Selbstbewusstsein hervorbringen, sodass keine Erkenntnis zustande kommt. Für das Selbstbewusstsein ist die Synthesis des Mannigfaltigen notwendig, diese schlägt aber fehl, da sie nach einer Regel ausgeführt wird, die sich angesichts des Mannigfaltigen nicht befolgen lässt. In einem Fall wie diesem wäre das aus den Begriffen »Gegenstand« und »Haus« bestehende Urteil »Dieser Gegenstand ist ein Haus« falsch. Dies bedeutet aber nicht, dass ein solches Urteil schon gefällt ist, wenn man versucht, das Mannigfaltige eines Baums im Begriff »Haus« zu vereinigen. Man kann nur sagen, dass man dieses Urteil fällen würde, nicht aber, dass man es wirklich gefällt hat. Ich möchte hier noch Prauss' Interpretation der Struktur der Erkenntnis und der Beziehung zwischen Anschauungen und Begriffen diskutieren. 21 Prauss geht davon aus, dass Erkenntnis nach Kant ein Zusammenspiel von Anschauung bzw. Erscheinung und Begriff ist. 22 Da der Verstand von Begriffen keinen anderen Gebrauch machen kann als durch sie zu urteilen (vgl. A68/B93), muss nach Prauss dieses Zusammenspiel darin bestehen, dass der Begriff in einem Urteil von der Anschauung ausgesagt wird. 23 Also auch Prauss nimmt an, dass man ein Urteil fällt, indem man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigt. Urteile, in denen ein Begriff von einer Anschauung ausgesagt wird, nennt Prauss elementare Einzelurteile. Sie sind in dem Sinne elementar, dass die Wahrheit und Falschheit aller anderen Urteile auf ihre Wahrheit und Falschheit zurückgeführt werden kann. „So komplex empirische Urteile auch sein mögen, das heißt, so oft auch sich ihre Begriffe (»erwärmt«) zunächst auf solches beziehen mögen, was selber schon Begriff ist (»Sonne«, »Stein«), - »zuletzt«, nämlich durch 21 22 23

Siehe Prauss, Erscheinung bei Kant. A.a.O., S. 39. Dass diese Interpretation keinesfalls zwingend ist, haben wir schon gesehen.

168

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

die letztlich zugrunde liegenden elementaren Einzelurteile, beziehen sich doch alle diese Begriffe, gleichviel ob mittelbar oder unmittelbar, »auf Anschauungen« oder auf »Erscheinungen«." 24

An diesen elementaren Einzelurteilen stellt Prauss nun eine interne Vermitteltheit fest, die sich darin ausdrückt, dass z.B. das Urteil »Dies ist ein Stein« nicht von der Anschauung eines Steins handelt, sondern von einem Stein, also einem Gegenstand. 25 Das Urteilen hat daher nach Prauss die Struktur des Deutens: „Denn auch mit »deuten« meint man ein Bestimmen, das sich aber als ein ganz besonderes auszeichnet, weil man mit einer Deutung eben nicht bei d e m , w a s man deutet, stehen bleibt, sondern es gerade überschreitet und erst bei etwas ganz anderem halt macht. Was in deutendem Bestimmen bestimmt wird, ist niemals das G e deutete, sondern ausschließlich das dadurch Ε r deutete: das im Vollzug der Deutung e r zielte Ε r gebnis." 26

Wie schon erläutert, gibt es diese elementaren Einzelurteile, von denen Prauss spricht, meiner Ansicht nach nicht. Durch die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung in einem Begriff wird kein Urteil hervorgebracht, sondern eine unter einen Begriff subsumierte Anschauung. Allerdings scheint mir Prauss' Hinweis auf den Begriff des Deutens richtig. Nur findet das Deuten nicht in einzelnen Urteilen statt, sondern beim Hervorbringen einer Anschauung. Dies lässt sich durch folgende Stellen belegen:27 Man kann „bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben [...], sondern [muss] sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen" (Β XVII). Meiner Ansicht nach will Kant hier sagen, dass man das Mannigfaltige der Anschauung in einem Begriff vereinigen muss. Auf diese Weise sieht man dieses Mannigfaltige als Anschauung eines Gegenstandes an und bezieht es 24 25 26 27

A.a.O., S. 41f. A.a.O., S. 44. A.a.O., S. 48. Auch Prauss bezieht sich auf diese Stellen bei Kant. Diese Zitate belegen lediglich, dass es bei Kant so etwas wie Prauss' Deuten gibt. Sie erlauben aber keine Entscheidung darüber, ob nach Kant dieses Deuten in einem einzelnen Urteil stattfindet, wie Prauss behauptet, oder ob dies geschieht, indem man eine unter einen Begriff subsumierte Anschauung hervorbringt, wie ich behaupte.

Notwendigkeit und objektive Einheit

169

in diesem Sinne auf den Gegenstand. 28 Dies kann man durchaus als Deuten beschreiben, denn es gibt hier ja ein Gedeutetes (das Mannigfaltige der Anschauung), das als stehend für etwas anderes angesehen wird (der Gegenstand, zu dessen Anschauung es verbunden wird). Allerdings wird bei diesem Deuten, wie eben erläutert, nicht geurteilt. Prauss stützt seine Interpretation, dass es bei Kant so etwas wie Deutung gibt, außerdem darauf, dass Kant gelegentlich die Metapher des Buchstabierens benutzt. Kant schreibt, dass wir „Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können" (A 314/B370f). In den Prolegomena formuliert Kant dies so, dass die Kategorien dazu dienen, „Erscheinungen zu buchstabiren, um sie als Erfahrung lesen zu können" (Prol. § 30, AA 4, 312). Ich stimme mit Prauss darin überein, dass das Wort »buchstabieren« hier nicht im üblichen Sinne verstanden werden darf, nämlich als das Nennen der Buchstaben eines Wortes, sondern dass es im Sinne eines »ursprünglichen Buchstabierens« verstanden werden muss. Dieses besteht darin, „gewisse geometrisch beschreibbare Formen, die beispielsweise durch gewisse Verteilung von Farbe entstanden sind, als B u c h s t a b e n " aufzufassen. 29 Kant will mit diesen Stellen meiner Ansicht nach also sagen, dass wir die Erscheinungen als ein Objekt repräsentierend ansehen, wenn wir deren Mannigfaltiges zur synthetischen Einheit bringen, wobei wir die Kategorien anwenden müssen. Gegeben ist uns dazu nur ein Mannigfaltiges an Vorstellungen, die keinerlei Beziehung auf ein Objekt besitzen. Wir bringen die Verbindung dieses Mannigfaltigen im Objekt dann zustande und bringen so eine Anschauung hervor, die sich auf ein Objekt bezieht. Wir sehen in diesem Fall das Mannigfaltige als einem Objekt korrespondierend an. Insofern kann man sagen, dass wir die „Erscheinungen nach synthetischer Einheit [ursprünglich] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können" (A 314/B 370f).

28

29

Entsprechend ist die Äußerung zu verstehen, dass wir „zu unsern Anschauungen irgend einen Gegenstand" (A 106) denken. Prauss, a.a.O., S. 96.

170

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

6.2

Die Entsprechung der Kategorien und Urteilsfunktionen

Ich habe in dieser Arbeit schon mehrfach behauptet, dass es eine Entsprechung zwischen den Kategorien und den Funktionen zu Urteilen, die Kant in seiner Urteilstafel aufzählt, gibt. Inwiefern hier eine Entsprechung besteht, soll nun erläutert werden. Es wird dabei auch die in Kapitel 4 aufgestellte Behauptung untermauert, dass es sich bei Verbindungen des Mannigfaltigen der Anschauung zu einer Anschauung und bei Verbindungen von Begriffen bzw. Urteilen zu Urteilen um zwei parallel verlaufende Fälle von Verbindungen handelt. Dass hier eine Entsprechung besteht, ist für Kants Vorgehen in der K.d.r.V. insofern wichtig, als er ausgehend von der Urteilstafel bestimmt, welche Kategorien es gibt. Kant setzt also voraus, dass es gewisse Urteilsfunktionen gibt, um den Inhalt der reinen Verstandesbegriffe anzugeben. Dies wirft die Frage nach der Vollständigkeit der Urteilstafel auf: Es muss bewiesen werden, dass es eine ganz bestimmte Liste von Funktionen gibt, gemäß denen man Erkenntnisse im Urteil verbinden muss. 30 Allerdings findet sich allem Anschein nach weder in der K.d.r.V. noch in den sonstigen veröffentlichten oder unveröffentlichten Schriften Kants ein solcher Beweis. Es gibt in der Literatur verschiedene Versuche, diese Lücke zu füllen, von denen ich hier nur zwei nennen möchte. 31 M. Wolff ist der Ansicht, dass der Abschnitt unmittelbar vor der Urteilstafel (im Abschnitt „Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt") die Skizze eines solchen Beweises enthält. Nach Wolff unterscheidet Kant hier drei verschiedene Arten, Begriffe zur Erkenntnis zu gebrauchen. Und zwar kann man Begriffe entweder prädikativ oder nicht-prädikativ gebrauchen, und letzteres wiederum entweder unmittelbar oder mittelbar gegenstandsbezogen. Diese Einteilung von Arten des Begriffsgebrauchs ist aus logischen Gründen vollständig. Die Glieder dieser Einteilung können nach Wolff der Quantität, der Qualität und der Relation von Urteilen zugeordnet werden. Die Modalität der Urteile ist schließlich dem Urteil als Ganzen zuzuordnen. Die auf diese 30

31

Der gegenteiligen Ansicht ist Krüger, Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen? Nach Krüger kann man die Einträge in der Urteilstafel genauso wenig begründen, wie man begründen kann, dass Raum und Zeit die Formen unserer Sinnlichkeit sind. Brandt, Die Urteilstafel, S. 9-43, gibt eine umfassendere Übersicht.

Die Entsprechung der Kategorien und Urteilsfunktionen

171

Weise gewonnenen vier Titel können dann durch »logische Dekomposition« weiter in drei sich ausschließende Möglichkeiten unterteilt werden, die zusammengenommen den ganzen Umfang des jeweiligen Titels ausschöpfen.32 Reich ist der Ansicht, dass Kant einen Beweis ausgehend von seiner Definition des Urteils im Sinn hatte, den er allerdings nirgends niedergeschrieben hat, und den man deshalb aufgrund seines handschriftlichen Nachlasses rekonstruieren muss. Dieser Beweis geht von der Definition des Urteils als der Art, Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen, aus und analysiert den so definierten Begriff des Urteils. 33 Es wird gegen Reichs Rekonstruktion eines Vollständigkeitsbeweises oft eingewandt, dass er sich dabei hauptsächlich auf unveröffentlichte Notizen Kants (Reflexionen) stützt. Dieser Vorwurf scheint mir allerdings nicht so gravierend zu sein. Denn in Reichs Buch findet man meiner Ansicht nach einerseits überzeugende Interpretationen von veröffentlichten Texten Kants, andererseits sehr interessante und zumindest konsistente Fortentwicklungen von Kants Theorie, die auf unveröffentlichten Reflexionen beruhen. Es kann in dieser Arbeit nicht entschieden werden, ob eine dieser Rekonstruktionen korrekt ist, oder ob es einen anderen Beweis der Vollständigkeit der Urteilstafel gibt, sodass diese Frage hier offen bleiben muss. Allerdings möchte ich hier einige kurze Anmerkungen zu der Frage machen, wie die Behauptung der Vollständigkeit der Urteilstafel zu verstehen ist. 34 Die Funktionen, die Kant in seiner Urteilstafel aufzählt, sind Handlungseinheiten, die bei der Handlung des Urteilens ausgeübt werden. Es müssen immer mehrere Urteilsfunktionen ausgeübt werden, um Erkenntnisse zu einem Urteil zu vereinigen. So sind z.B. kategorische Urteile in Hinblick auf alle vier Titel der Urteilstafel bestimmt, z.B. als allgemein, bejahend, kategorisch und assertorisch. Es ist aber nicht so, dass für jedes Urteil immer je eine Funktion unter jedem Titel verwendet werden muss. Es macht z.B. keinen Sinn, hypothetische und disjunktive Urteile hinsichtlich ihrer Quantität bestimmen zu wollen. Meiner Ansicht nach betreffen die Relations- und Modalitätsfunktionen alle Urteile, während die 32

33 34

M. Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Siehe auch Thöle, Michael Wolff und die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Siehe hierzu auch Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, S. 9ff.

172

Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

Quantitäts- uns Qualitätsfunktionen nur kategorische Urteile betrefMan kann nach Kant in gewissem Sinne sagen, dass die Urteilsfunktionen zum Inhalt des Urteils beitragen: „Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt, (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte,) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht." (A 74/B 99f)

Durch die Funktionen der Quantität, Qualität und Relation wird also ein gewisser Inhalt der Urteile hervorgebracht. So unterscheidet sich das bejahende Urteil »Alle Α sind B« in gewissem Sinne inhaltlich von dem verneinenden Urteil »Kein Α ist B«. Die Funktionen der Modalität bestimmen dagegen den Wert der Urteilskopula in Beziehung auf das Denken. Dieser (formale) Urteilsinhalt und der Wert der Kopula machen zusammen die Form des Urteils aus. Dabei muss man zwei verschiedene Begriffe der Form des Urteils unterscheiden. Einerseits gibt es die gerade angesprochenen verschiedenen Urteilsformen, durch die sich z.B. kategorische von hypothetischen Urteilen unterscheiden. Andererseits gibt es die eine Form des Urteils, die für alle Urteile gleich ist. Von dieser Jogische[n] Form aller Urteile" sagt Kant in der Überschrift zu § 19 der K.d.r.V., dass sie „in der objektiven Einheit der Apperzeption der darin enthaltenen Begriffe" besteht. Die verschiedenen Urteilsformen sind dabei als Ausprägungen der einen Urteilsform anzusehen. So schreibt auch Paton: „The crucial question for us is why this ultimate form of all thought should be supposed to differentiate itself, independently of the given matter, into twelve forms of judgment, no more and no less."35 Die einzelnen Urteilsformen sind Arten, Erkenntnisse zur synthetischen Einheit der Apperzeption zu bringen. In Abschnitt 6.2.1 soll nun zunächst erläutert werden, warum es eine Entsprechung zwischen den Kategorien und den Urteilsfunktionen gibt. (Wenn dann vorausgesetzt wird, dass es eine bestimmte Liste von Urteilsfunktionen gibt, ergibt sich auch, dass es eine bestimmte Liste von Kategorien gibt.) Im Anschluss daran werde ich Kants Beweis in § 20 der K.d.r.V. interpretieren, wonach alles Mannigfaltige in einer 35

Kant's

Metaphysic

of Experience,

Ch. X, §2.

Die Entsprechung der Kategorien und Urteilsfunktionen

173

Anschauung unter den Kategorien stehen muss, sodass man die Kategorien als Begriffe von einem Anschauungs-Gegenstand überhaupt ansehen kann. Dieser Beweis wird Anlass zu einer weiteren Anmerkung geben. Und zwar schränkt Kant seinen Beweis auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung ein. Ich werde in Kapitel 6.2.2 zeigen, dass diese Einschränkung unnötig ist, da nach Kant der Anwendungsbereich der Kategorien sich nicht auf Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung beschränkt, sondern sich auf Gegenstände einer Anschauung überhaupt erstreckt. 6.2.1 Die Einheit in Urteilen Um die Entsprechung der Kategorien und Urteilsfunktionen zu erläutern, soll nun die Einheit von Begriffen in Urteilen betrachtet werden. Ich hatte in Kapitel 2 schon erläutert, dass in einem Urteil die Begriffe bzw. Urteile eine objektive Einheit eingehen müssen, da man in einem Urteil etwas über die Gegenstände aussagen möchte. Es soll nun die Frage behandelt werden, unter welchen Umständen eine Einheit verschiedener Begriffe in einem Bewusstsein objektive Gültigkeit besitzt. Diese Frage beantwortet Kant durch seine Definition des Urteils. In § 19 der K.d.r.V. definiert Kant das Urteil bekanntlich wie folgt: Ein Urteil ist seiner Form nach „die Art, gegebene Erkenntnisse [d.h. hier Begriffe oder Urteile] zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen." (Β 141)36 Ich möchte zunächst die Frage diskutieren, wodurch der Begriff »Urteil« hier eigentlich definiert wird, also diskutieren, was eigentlich im Definiens gesagt wird. Kant erläutert seine Definition, indem er sagt, dass die Begriffe im Urteil „ v e r m ö g e d e r n o t w e n d i g e n E i n h e i t der Apperzeption" zueinander gehören (B 142). Was heißt es aber, dass Begriffe oder Urteile im Urteil vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption zueinander gehören? Zur Beantwortung dieser Frage kann wiederum R3051 herangezogen werden: „Die Vorstellung der Art, wie verschiedene Begriffe ( 9 als solche) zu einem Bewustseyn ( s überhaupt (nicht blos meinem)) gehören, ist das Urtheil. Sie gehören zu einem Bewustseyn theils nach Gesetzen der Einbildungs36

In R3052 formuliert Kant dies so: ,Judicium est repraesentatio unitatis obiectivae [ . . . ] in conscientia variorum conceptuum."

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Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

kraft, also subiectiv, oder des Verstandes, d.i. obiectiv gültig vor jedes Wesen, das Verstand hat."37 Diese Reflexion belegt erstens, dass ein Urteil die Vorstellung einer Art des Zusammengehörens von Begriffen ist. Ein Urteil ist genauer gesagt das Bewusstsein eines Verhältnisses von Begriffen. Zweitens belegt diese Reflexion, dass nach Kant im Urteil ein Verhältnis oder eine Art des Zusammengehörens vorgestellt wird, die nicht nur für mein Bewusstsein, sondern für jedes (für ein Bewusstsein überhaupt) gilt. Kant macht hier also die notwendige Allgemeingültigkeit der Art des Zusammengehörens in einem Bewusstsein zur definierenden Eigenschaft des Urteils. Die Begriffe gehören auf eine Art zusammen, die für jedes Wesen, das einen diskursiven Verstand hat, zwingend ist. Kant erläutert die Einheit der Begriffe im Urteil also dadurch, dass sie „ v e r m ö g e d e r n o t w e n d i g e n E i n h e i t der Apperzeption" (B 142) zueinander gehören. Kant betont, dass damit nicht gemeint ist, dass die Begriffe in der empirischen Anschauung notwendig zusammengehören. Das Urteil ist also nicht dadurch definiert, dass es notwendig ist, ganz bestimmte Begriffe in einem Bewusstsein zu vereinigen. Dies hätte ja zur Folge, daß es überhaupt keine kontingenten Urteile gäbe. Stattdessen will Kant sagen, dass gegebene Begriffe in einem Urteil auf solche Art und Weise vereinigt werden, wie es für ein einheitliches Selbstbewusstsein notwendig ist. Nicht welche Begriffe verbunden werden, ist notwendig, sondern die Art und Weise, in der sie verbunden werden. Nachdem nun geklärt ist, wie die Notwendigkeit im Definiens von Kants Urteilsdefinition zu verstehen ist, können wir uns der Frage zuwenden, inwiefern diese Definition das wiedergibt, was ein Urteil ausmacht. Im zweiten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass es sich bei Urteilen um objektiv gültige Verbindungen von Begriffen handelt. Dies bedeutet, dass ich in einem Urteil beanspruche, die Begriffe so verbunden zu haben, wie es durch die Gegenstände, über die ich urteile, vorgegeben ist. Mit einem kategorischen Urteil behauptet man z.B., dass alle unter den Subjekt-Begriff fallenden Objekte auch unter den Prädikat-Begriff fallen. Es muss also gezeigt werden, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption, vermittelst derer Begrif37

Siehe auch R3052: „Die obiective Einheit (9 des Bewustseyns) ist allgemeingültig und nothwendig."

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fe im Urteil verbunden sind, tatsächlich eine objektive Einheit ist. 38 Die Beantwortung dieser Frage lässt sich in zwei Schritte unterteilen. Der erste Schritt, den wir schon unternommen haben, bestand in dem Nachweis, daß die transzendentale Einheit der Apperzeption in einem gewissen Sinne eine notwendige Einheit ist, 39 der zweite Schritt besteht in dem Nachweis, dass eine solche notwendige Einheit objektiv gültig ist. Nun ist also zu klären, warum eine solche notwendige Einheit der Apperzeption von Begriffen eine objektive Einheit ist, wie es für Urteile erforderlich ist. Die Objektivität der Einheit von Begriffen in Urteilen besteht darin, daß ich behaupte, daß unter den Gegenständen meiner Vorstellungen gewisse Verhältnisse bestehen. Wenn ich ein Urteil fälle, beanspruche ich also, mich bei meiner Verbindung von Begriffen nach den Gegenständen zu richten, denn ich beanspruche, die Gegenstände zu erkennen. Dies bedeutet erstens, dass ich mich in der Frage, welche Begriffe ich in einem Urteil verbinde, nach den Gegenständen zu richten habe. Zweitens - und darauf kommt es hier an - bedeutet dies aber auch, dass ich mich bezüglich der Art des Verhältnisses, das ich als zwischen den Begriffen bestehend vorstelle, nach den Gegenständen zu richten habe. Die Erklärung dafür, dass eine Verbindung von Begriffen, die ihrer Art nach notwendig ist, als objektiv anzusehen ist, entspricht nun genau der Erklärung der Objektivität im Fall der Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung: Es ist nicht meinem Belieben überlassen, in welcher Art und Weise ich Begriffe verbinde. Diesen Zwang, sich ganz bestimmter Verhältnisse zwischen den Begriffen bewusst zu werden, der eigentlich von der ursprünglichen Apperzeption ausgeht, können wir den Objekten zuschreiben, weil wir von diesen letztlich nichts anderes haben als unsere Vorstellungen.40 Um sich seiner selbst im Angesicht verschiedener Begriffe bewusst zu werden, muss man diese Begriffe auf eine Art und Weise verbinden, die im Verstand selbst liegt, genauer gesagt in der ursprünglichen Apperzeption, und die daher für jedes Wesen gilt, das Verstand hat. Dabei ist hier wieder das 38

39

40

Dies behauptet Kant in seiner Urteilsdefinition in § 19 der K.d.r.V. schon, da er von der objektiven Einheit der Apperzeption spricht. Deswegen kann Kant auch sagen, dass die Vorstellungen im Urteil vermöge der notwendigen Einheit der Apperzeption zueinander gehören (vgl. Β 142). Siehe hierzu S. 152, wo ich diesen Gedanken als methodische Anmerkung Kants bezeichnet habe.

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Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

Bewusstsein seiner selbst im vollen Sinne gemeint, also gemäß aller vier Momente, die im vorigen Kapitel benannt wurden. Die Einheit von Begriffen vermöge der transzendentalen Einheit der Apperzeption ist also nicht bloß eine subjektive Einheit verschiedener Begriffe in einem Bewusstsein. Eine solche könnte man ja nicht durch die Worte »Alle Α sind B« ausdrücken, sondern eher durch die Worte »In meinem Bewusstsein sind die Begriffe Α und Β verbunden«. Dies ist z.B. der Fall, wenn in mir durch Gewohnheit z.B. die Begriffe »Stein« und »schwer« assoziativ verbunden sind. Auch in diesem Fall kann man sagen, dass die beiden Begriffe eine Einheit aufweisen, allerdings nur eine subjektiv gültige, weil ich in diesem Fall ja keinen Anspruch auf Objektivität der Einheit erhebe. Ich will nicht behaupten, dass alle Steine schwer sind, was ein Verhältnis der Gegenstände, und nicht der Begriffe wäre. Ich hatte in Abschnitt 6.1 erläutert, dass es ganz bestimmte für die Einheit des Selbstbewusstseins notwendige Arten der Synthesis des Mannigfaltigen gibt, und dass eine diesen Regeln folgende Einheit von Vorstellungen aufgrund ihrer notwendigen Inter Subjektivität als objektiv anzusehen ist. Nun hat sich gezeigt, dass ganz analoge Verhältnisse in Bezug auf die Einheit von Begriffen bestehen. Auch im Falle der Einheit von Begriffen begründet Kant ihre objektive Gültigkeit durch die notwendige Intersubjektivität. Aufgrund der objektiven Gültigkeit der Einheit kann man im ersten Fall sagen, dass das Mannigfaltige zur Anschauung eines Gegenstandes verbunden wird, und im zweiten Fall, dass Begriffe zu einem Urteil verbunden werden. In der Parallelität zweier Fälle, die hier zum Ausdruck kommt, 41 steckt schon der Grundgedanke der metaphysischen Deduktion der Kategorien. Und zwar schreibt Kant: „Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen i n e i n e m U r t e i l e Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen i n e i n e r A n s c h a u u n g Einheit [ . . . ] . " ( A 7 9 / Β 104f) 41

Ich hatte ja schon bei ersten allgemeinen Besprechung von Verbindungen in Kapitel 4 die Behauptung aufgestellt, dass es sich bei der Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung und bei der Verbindung von Begriffen um zwei weitgehend parallel verlaufende Fälle handelt. Diese Behauptung ist nun durch die in beiden Fällen analog verlaufende Begründung der objektiven Gültigkeit aus der transzendentalen Einheit der Apperzeption untermauert worden.

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Hier ist auf der einen Seite von einer Funktion die Rede, die der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung in einer Anschauung Einheit gibt. Die von Kant hervorgehobenen Worte „in e i n e r A n s c h a u u n g " zeigen an, dass hier an eine objektive Einheit des Mannigfaltigen gedacht ist. Es soll nämlich das Mannigfaltige zur Anschauung eines Gegenstandes vereinigt werden. Auf der anderen Seite spricht Kant hier von der Synthesis verschiedener Vorstellungen (d.h. von Begriffen oder Urteilen) in einem Urteil. Wie wir gesehen haben, ist es in beiden Fällen die transzendentale Einheit der Apperzeption, die den verschiedenen Vorstellungen eine objektive Einheit verleiht. Es hat sich im vorigen Abschnitt gezeigt, dass eine Synthesis des Mannigfaltigen aufgrund dessen eine objektive Einheit aufweist, dass sie eine Synthesis durch ein Bewusstsein ist, das sich seiner selbst bezüglich aller vier Momente bewusst ist. Der Grund, auf dem die objektive Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen beruht, besteht also darin, dass diese Synthesis durch ein Subjekt ausgeführt wird, das sich seiner selbst bewusst ist. Damit ist auch gezeigt, dass es dieselbe Funktion ist, die einerseits den Vorstellungen in einem Urteil, andererseits aber auch der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung Einheit gibt. Es ist in beiden Fällen dieselbe ursprüngliche Einheit, nämlich die transzendentale Einheit der Apperzeption, die einerseits den schon an sich bewussten Erkenntnissen Einheit im Urteil gibt, andererseits aber auch der Synthesis des Mannigfaltigen Einheit in einer Anschauung gibt. 42 Wie schon angedeutet ist dabei allerdings folgender Unterschied zwischen beiden Fällen zu beachten: Kant schreibt an der eingangs zitierten Stelle, dass dieselbe Funktion einerseits verschiedenen Begriffen im Urteil Einheit gibt, andererseits aber der Synthesis des Mannigfaltigen. Im zweiten Fall gibt diese Funktion also nicht den Vorstellungen selbst, sondern einer Handlung an diesen Vorstellungen Einheit. Dies ist so zu verstehen, dass die transzendentale Einheit der Apperzeption eigentlich den verschiedenen Handlungen, sich einzelner anschaulicher Vorstellungen bewusst zu werden, Einheit gibt. Deshalb sagt Kant hier 42

Da es in der ersten Auflage der K.d.r.V. keine explizite Definition des Urteils gibt, bleibt hier offen, worauf die Einheit der Begriffe im Urteil beruht. Entsprechend bleibt dort die eingangs zitierte Behauptung, dass es dieselbe Punktion ist, die sowohl Vorstellungen im Urteil als auch der Synthesis des Mannigfaltigen Einheit gibt, letztlich unbegründet.

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nicht, diese Funktion gebe den Vorstellungen, sondern der Synthesis der Vorstellungen Einheit. Kants Behauptung, dass dieselbe Funktion einerseits den Begriffen in einem Urteil, andererseits der Synthesis des Mannigfaltigen Einheit gibt, ist meiner Ansicht nach also nicht so zu verstehen, dass man durch das Verbinden des Mannigfaltigen ipso facto ein Urteil fällt. Stattdessen will Kant hier sagen, dass es eine Handlung derselben Art ist, die einerseits Begriffen, andererseits der Synthesis des Mannigfaltigen Einheit gibt. Diese Interpretation wird auch dadurch nahegelegt, dass Kant hier sagt, es verleihe in beiden Fällen dieselbe Funktion eine Einheit. Eine Funktion ist ja eine Handlungseinheit, d.h. eine bestimmte Handlungsweise, die unter verschiedenen Umständen ausgeführt werden kann. Die Interpretation, dass es nicht eine identische Handlung ist, durch die das Mannigfaltige der Anschauung vereinigt und ein Urteil gefällt wird, sondern nur eine identische Handlungsweise, wird auch durch folgende Stelle belegt: „Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile." (B 143) Auch dies zeigt, dass Kant an zwei verschiedene Handlungen denkt, die aber desselben Typs sind. Es ist die logische Funktion der Urteile, die einerseits Begriffe zu Urteilen verbindet, und andererseits die Anschauungen zu einer Anschauung. Auf diese Weise ist auch Kants Äußerung zu verstehen, dass im Urteil die Vorstellungen „ v e r m ö g e d e r n o t w e n d i g e n E i n h e i t der Apperzeption in der Synthesis der Anschauungen" zueinander gehören (B 142). Hiermit ist gemeint, dass die Begriffe im Urteil vermöge der Einheit der Apperzeption zueinander gehören, die auch der Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung zugrunde liegt. Ich gehe nun davon aus, dass die Synthesis des Mannigfaltigen der Anschauung ganz bestimmten Funktionen gemäß geschehen muss, die in der Urteilstafel aufgezählt werden. Es stellt sich nun die Frage, wieso dies bedeutet, dass wir bei der Synthesis des Mannigfaltigen ganz bestimmte (reine) Begriffe benutzen müssen. Dies ist deshalb der Fall, weil wir die Synthesis auch auf Begriffe bringen müssen, um eine Ver-

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bindung des Mannigfaltigen hervorbringen zu können. Der Ausdruck, die Synthesis auf Begriffe zu bringen, ist so zu verstehen, dass wir die Synthesis allgemein vorstellen, indem wir ein Bewusstsein der Regel der Synthesis bilden. Ein solches Bewusstsein der Funktion der Synthesis ist notwendig, um das Mannigfaltige in einem Bewusstsein vereinigen zu können. Ohne ein Bewusstsein der Synthesis wäre ja kein Selbstbewusstsein möglich. „Die r e i n e S y n t h e s i s , a l l g e m e i n v o r g e s t e l l t , gibt nun den reinen Verstandesbegriff." (A 78/B 104) Man bildet die reinen Verstandesbegriffe also, indem man sich der notwendigen Funktion, nach der die reine Synthesis des Mannigfaltigen vollzogen wird, bewusst wird. Die Kategorien sind daher „Begriffe, welche dieser reinen Synthesis E i n h e i t geben, und lediglich in der Vorstellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen" (A 79/B 104). Dies erklärt nun, warum der Verstand, wie Kant sagt, in seine Vorstellungen (die Begriffe) einen gewissen transzendentalen Inhalt bringt: „Derselbe Verstand also, und zwar durch eben dieselben Handlungen [d.h. durch Handlungen desselben Typs], wodurch er in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zu Stande brachte, bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt [... ]." (A 79/B 105)

Der Verstand bringt einerseits vermittelst der analytischen Einheit des Bewusstseins, die Begriffen als solchen anhängt, 43 die logische Form des Urteils zustande. Andererseits muss die synthetische Einheit des Mannigfaltigen nach gewissen Funktionen der Synthesis zustande gebracht werden, deren der Verstand sich auch bewusst sein muss, um das transzendentale Bewusstsein seiner selbst hervorbringen zu können. Auf diese Weise bringt der Verstand in seine Vorstellungen, die Begriffe, einen Inhalt, der dieser reinen Synthesis entspricht. Der Verstand bringt also „vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen" (A 79/B 105). Die Kategorien definiert Kant daraufhin als Begriffe, die als allgemeine Vorstellungen der reinen Synthesis entstehen. „Sie sind Begriffe von einem Gegenstande 43

Vgl. Fußnote zu § 16 der K.d.r.V.

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Objektivität, Urteilsformen und Kategorien

überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der 1 ο g i s c h e n F u n k t i o n e n zu Urteilen als b e s t i m m t angesehen wird." (B 128) Nach dieser Vorbereitung ist es nun möglich, Kants Argumentation in § 20 der K.d.r.V. nachzuvollziehen, durch die er zeigen will, dass alle sinnlichen Anschauungen unter den Kategorien stehen (vgl. Überschrift des § 20). Ich möchte hier zunächst Kants Beweis für diese Behauptung erläutern und dann darauf hinweisen, dass Kant seinen Beweis nicht auf die sinnliche Anschauung hätte einschränken müssen. Er hätte auch zeigen können, dass Anschauungen überhaupt unter den Kategorien stehen. Der von Kant in § 20 gegebene Beweis besteht aus zwei Syllogismen nach dem Modus Barbara, wobei die Konklusion des ersten Syllogismus als eine der Prämissen für den zweiten Syllogismus dient. 44 Die erste Prämisse des ersten Syllogismus lautet: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese die E i n h e i t der Anschauung allein möglich ist. (§ 17.)" (B 143) Dass das Mannigfaltige in einer Anschauung, die ja eine objektive Einheit ist, unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption gehört, wurde in Kapitel 6.1 erläutert. Die zweite Prämisse des Syllogismus habe ich in diesem Abschnitt erläutert: „Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile. (§ 19.)" (B 143) Sowohl Begriffe als auch das Mannigfaltige der Anschauung werden durch dieselbe Funktion zur Einheit der Apperzeption gebracht. Aus diesen beiden Prämissen schließt Kant, dass „alles Mannigfaltige, so fern es in E i n e r empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen b e s t i m m t " ist (B 143). Um das empirisch gegebene Mannigfaltige in einem Objekt vereinigen zu können, muss es auf eine ganz bestimmte Art und Weise synthetisiert werden, die den Urteilsfunktionen entspricht. Es ist insofern in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt. Nur Mannigfaltiges, das sich auf diese Weise verbinden lässt, ist in 44

Vgl. B a u m , Der Aufbau der Deduktion

der Kategorien,

S. 146.

Die Entsprechung der Kategorien u n d Urteilsfunktionen

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„ E i n e r empirischen Anschauung gegeben". Damit ist eine Anschauung gemeint, die ein Mannigfaltiges enthält und sich auf ein Objekt bezieht. Diese Konklusion des ersten Syllogismus dient als erste Prämisse des zweiten Syllogismus. Als zweite Prämisse dient die Definition der Kategorien: „Nun sind aber die K a t e g o r i e n nichts andres, als eben diese Funktionen zu urteilen, so fern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist. (§ 13.[45])" (B 143) Daraus folgt nun, dass „das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien" steht. Es ist durch diesen Beweis also gezeigt, dass wir immer die Kategorien benutzen müssen, wenn wir ein Objekt einer Anschauung überhaupt denken wollen. Denn wollen wir das Mannigfaltige einer Anschauung zur Einheit bringen, so ist dies nur gemäß den Urteilsfunktionen möglich. Man kann daher auch sagen, dass die Kategorien Begriffe von Objekten einer Anschauung überhaupt sind, wie Kant dies wiederholt tut. Jeder Begriff eines Gegenstands einer Anschauung enthält die Kategorien, d.h. alle solche Begriffe sind Fortbestimmungen der Kategorien. Man kann deshalb auch sagen, dass die Kategorien diejenigen Prädikate sind, die einen Gegenstand als Gegenstand der Anschauung auszeichnen. 6.2.2

Der Anwendungsbereich der Kategorien

Der eben dargestellte Beweis des § 20 gibt wie gesagt Anlass zu einem weiteren Nachtrag. Und zwar schränkt Kant die erste Prämisse auf die sinnliche Anschauung ein, statt vom Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt zu sprechen: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption [...]." (B 143, kursiv von mir) Diese Einschränkung ist meiner Ansicht nach nicht nötig, weil die §§ 16-17, in denen diese Prämisse begründet wird, vom Mannigfaltigen einer Anschauung überhaupt ausgehen. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass Kant sich in § 21 in diesem Sinne über den ersten Teil der Kategorien-Deduktion äußert. Kant hätte in § 20 also von folgender Prämisse ausgehen können: »Das mannigfaltige in einer Anschauung 45

Hier dürfte § 14 gemeint sein, dessen Bezeichnung im Original ausgefallen ist. Dort gibt Kant auf Β 128 eine Definition der Kategorien.

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überhaupt Gegebene gehört unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption«. Entsprechend hätte er am Ende auf die Konklusion »Das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung überhaupt steht notwendig unter Kategorien« schließen können. Diese Interpretation wird auch durch Kants eigene Wiedergabe des ersten Teils der transzendentalen Deduktion in § 26 bestätigt. Es wurde, so Kant, „in der t r a n s z e n d e n t a l e n [Deduktion] aber die Möglichkeit [der Kategorien] als Erkenntnisse [d.h. Begriffe] a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt (§§ 20. 21.) dargestellt." (B 159, kursiv von mir) Entsprechend sagt Kant an vielen Stellen, dass die Kategorien nicht auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung eingeschränkt sind, sondern von Gegenständen einer Anschauung überhaupt gelten. Sie gelten also auch von Gegenständen einer übersinnlichen Anschauung. Kant schreibt, dass die Kategorien „keine bestimmte Art der Anschauung (wie etwa die uns Menschen allein mögliche), wie Raum und Zeit, welche sinnlich ist, voraussetzen, sondern nur Denkformen sind für den Begriff von einem Gegenstande der Anschauung überhaupt, welcher Art diese auch sey, wenn es auch eine übersinnliche Anschauung wäre [... ]." (AA 20, 272) Auch in der K.d.r.V. betont Kant, „daß die Kategorien im D e n k e n durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt sind, sondern ein unbegrenztes Feld haben" (Β 166n). Allerdings enthält die K.d.r.V. auch Stellen, die dieser Interpretation zu widersprechen scheinen. Diese Textstellen scheinen zu besagen, dass die Kategorien nicht von jeder möglichen Anschauung gelten, sondern nur von jeder sinnlichen Anschauung. Kant schreibt z.B.: Die Kategorien „erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist" (B 148). 46 Diese Stelle scheint zu besagen, dass die Kategorien nur für Objekte der sinnlichen Anschauung gelten (die auch in nicht spezifizierter Weise von unserer Anschauung unterschieden sein kann), aber nicht von Objekten einer übersinnlichen Anschauung. Wenn Kant dies sagen wollte, würde er allerdings den 46

Siehe auch Β 150: „Die reinen Verstandesbegriffe beziehen sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, unbestimmt ob sie die unsrige oder irgend eine andere, doch sinnliche sei".

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beiden vorhin zitierten Stellen widersprechen, die ja ausdrücklich sagen, dass die Kategorien nicht auf sinnliche Anschauung eingeschränkt sind. Ich schlage daher vor, Kants Behauptung, dass die Kategorien nur von Objekten sinnlicher Anschauung gelten, so zu verstehen, dass hier mit der sinnlichen Anschauung auch eine nicht-sinnliche Anschauung gemeint ist. Diese widersprüchlich klingende Redeweise wäre immerhin insofern verständlich, als die nicht-sinnliche Anschauung ja dadurch ausgezeichnet ist, dass sie für unseren diskursiven Verstand die Rolle der Sinnlichkeit übernehmen kann, indem sie ihm ein Mannigfaltiges gibt. Für diese Interpretation spricht auch, dass Kant an der eben zitierten Stelle die intellektuelle Anschauung der sinnlichen gegenüberstellt. Eine intellektuelle Anschauung besitzt ja nur ein göttlicher Verstand, dem durch sein Selbstbewusstsein zugleich ein Mannigfaltiges gegeben ist (vgl. Β 138f), sodass es ihm nicht durch ein anderes Erkenntnisvermögen gegeben werden muss. Dagegen bringt der diskursive Verstand kein Mannigfaltiges hervor; es muss ihm von einem anderen Erkenntnisvermögen gegeben werden. Dies leistet bei uns Menschen die Sinnlichkeit (in welchem Falle die Anschauung sinnlich ist), dies könnte aber auch auf andere Weise geschehen (in welchem Falle die Anschauung nicht-sinnlich wäre). Der Begriff »intellektuelle Anschauung« steht also dem Begriff »Anschauung überhaupt« 47 gegenüber, der die sinnliche und die nicht-sinnliche Anschauung unter sich enthält. Wenn Kant hier also der intellektuellen Anschauung die sinnliche Anschauung gegenüberstellt, liegt es daher nahe, dass mit der sinnlichen Anschauung, die der unseren ähnlich oder unähnlich sein kann, sowohl unsere sinnliche als auch die nicht-sinnliche Anschauung gemeint ist. Für einen göttlichen Verstand und dessen intellektuelle Anschauung haben die Kategorien dagegen keinerlei Bedeutung, denn ein göttlicher Verstand „würde einen besondern Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen" (B 139). Da es keine Synthesis des göttlichen Verstandes gibt, bringt er auch keine 47

Der Bezeichnung nach scheint der Begriff »Anschauung überhaupt« auch die intellektuelle Anschauung zu umfassen, was aber nicht der Fall ist. Das Mannigfaltige einer Anschauung überhaupt umfasst alles Mannigfaltige, das dem diskursiven Verstand zur Synthesis gegeben sein kann, also die sinnliche und die nicht-sinnliche Anschauung, aber nicht die intellektuelle Anschauung.

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reine Synthesis auf Begriffe und benutzt somit auch keine Kategorien. Er benutzt überhaupt keine diskursiven Begriffe. Die Kategorien beziehen sich auf Objekte einer jeden Anschauung. Allerdings, so Kant, hilft uns eine Erweiterung der Begriffe über die sinnliche Anschauung zu nichts. Damit will Kant sagen, dass uns diese Erweiterung keine Erkenntnis verschafft, da alle unsere Anschauungen sinnlich sind. Wir müssen Objekte einer nicht-sinnlichen Anschauung als unter den Kategorien stehend denken, aber dadurch erkennen wir sie dennoch nicht, weil zur Erkenntnis auch eine korrespondierende Anschauung erforderlich ist. Kant erinnert den Leser daran, „daß die Kategorien im D e n k e n durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt sind, sondern ein unbegrenztes Feld haben, und nur das E r k e n n e n dessen, was wir uns denken, das Bestimmen des Objekts, Anschauung bedürfe [...]." (Β 166n)

Auch wenn wir durch die Kategorien auch Objekte einer nicht-sinnlichen Anschauung denken, erkennen wir sie dadurch noch nicht, weil wir keine Anschauungen solcher Objekte haben können. In Hinblick auf Erkenntnis ist durch den Bezug der Kategorien auf nicht-sinnliche Objekte also nichts gewonnen. Allerdings sagt Kant nicht nur, dass wir solche Objekte nicht erkennen könnten, er sagt auch, „daß auf ein solches Etwas [ein Objekt einer nicht-sinnlichen Anschauung] auch nicht einmal eine einzige Kategorie angewandt werden könnte" (B 149). Auch dies scheint der eben aufgestellten Behauptung von der Gültigkeit der Kategorien zu widersprechen. Denn dass die Kategorien nicht auf nicht-sinnliche Objekte angewandt werden können, scheint doch zu bedeuten, dass diese Objekte nicht unter die Kategorien fallen, was wiederum bedeutet, dass wir durch die Kategorien keine solchen Objekte denken. Meiner Ansicht nach ist hier aber etwas anderes damit gemeint, dass die Kategorien nicht angewandt werden können. Um dies zu erläutern ist ein kurzer Blick auf die Theorie des Schematismus nötig. Das Schema eines Begriffs kann man als die Angabe der Bedingungen ansehen, die eine Anschauung erfüllen muss, damit sie unter einen Begriff fällt, d.h. ihm korrespondiert. Kant schreibt: „In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letztern g l e i c h a r t i g sein, d.i. der

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Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden

Gegenstande vorgestellt wird [...]." (A 137/B 176) Das Schema eines Begriffs ist nach Kant die Vorstellung einer allgemeinen Methode, ein Beispiel zu zeichnen. „Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann" (A 141/B 180). Mit Hilfe dieser Vorstellung kann man zugleich entscheiden, ob eine gegebene Anschauung unter einen bestimmten Begriff fällt oder nicht. Die Angabe des Schemas ist nach Kant im Falle empirischer Begriffe unproblematisch. Hier sind nämlich „die Begriffe, durch die der Gegenstand allgemein gedacht wird, von [den Vorstellungen], die diesen in concreto vorstellen, wie er gegeben wird, nicht so unterschieden und heterogen" (A 138/B 177). Im Falle der Kategorien wirft die Frage, wie unter sie fallende Anschauungen beschaffen sein müssen, allerdings größere Probleme auf, „da doch niemand sagen wird: diese, z.B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschauet werden und sei in der Erscheinung enthalten" (A 137f/B 176f). Man kann Kausalbeziehungen ja nicht wahrnehmen, sondern höchstens, dass ein Ereignis einem anderen folgt. Wie muss also eine sinnliche Anschauung beschaffen sein, damit der Begriff der Kausalität auf sie angewandt werden kann? Kant sagt, dass das Mannigfaltige der Sinne dazu ganz bestimmte Zeitverhältnisse erfüllen muss. „Die Schemate sind daher nichts als Z e i t b e s t i m m u n g e n a priori nach Regeln" (A 145/ Β 184). Das Schema der Kategorie der Kausalität besagt z.B., dass zu jeder Zeit, zu der die Ursache gesetzt wird, die Wirkung folgt. Eine Ursache „ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt." (A 144/B 183) Es muss in meinen Anschauungen also etwas geben, das, immer wenn es beobachtet oder auch absichtlich herbeigeführt wird, etwas anderes nach sich zieht. Wenn dies gegeben ist, kann man den Begriff der Kausalität anwenden. An sich ist die Kausalität als Begriff, der unabhängig von der Sinnlichkeit nur aus dem Verstand entspringt, und auch nicht auf das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung eingeschränkt ist, ohne Rückgriff auf ein Zeitverhältnis definiert. Allgemein gesprochen ist eine Ursache etwas, das hinreichende Bedingung für etwas Anderes ist. Entsprechendes gilt für die Kategorie der Substanz. Dieser Be-

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griff ist definiert als ein „Etwas, das als Subjekt, niemals aber als bloßes Prädikat existieren könne" (B 149). Im Unterschied dazu ist ,,[d]as Schema der Substanz [... ] die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit" (A 144/B 183). Wenn ich also in meinen Anschauungen etwas Reales finde, das in der Zeit beharrt, so kann ich diese Kategorie anwenden. Nach diesem kurzen Blick auf die Theorie des Schematismus komme ich zur Frage zurück, was damit gemeint sein könnte, dass man die Kategorien nicht auf Objekte einer nicht-sinnlichen Anschauung anwenden kann. Kant will damit nicht sagen, dass solche Objekte nicht unter die Kategorien fallen, sondern nur, dass wir nicht entscheiden könnten, ob ein nicht-sinnliches Mannigfaltiges einer bestimmten Kategorie entspricht oder nicht. Wir wissen nicht, wie das Mannigfaltige einer nicht-sinnlichen Anschauung beschaffen sein müsste, damit es einer Kategorie korrespondiert, denn wir besitzen für eine solche Anschauung keine Schemata. Von einem unschematisierten Begriff, z.B. der Substanz als „Etwas, das als Subjekt, niemals aber als bloßes Prädikat existieren könne" wüsste ich nicht, „ob es irgend ein Ding geben könne, das dieser Gedankenbestimmung korrespondierete, wenn nicht empirische Anschauung mir den Fall der Anwendung gäbe" (B 149). Während also nicht nur das Mannigfaltige der Sinne unter den Kategorien steht, sondern auch das einer nicht-sinnlichen Anschauung, können wir für den letzteren Fall keinerlei Bedingungen angeben, die das Mannigfaltige erfüllen muss, damit es den Kategorien korrespondiert. Und aus diesem Grund könnten wir die Kategorien nicht auf Objekte einer solchen Anschauung anwenden. Man kann nach Kant also sagen, dass sowohl Gegenstände der Sinne als auch Objekte einer nicht-sinnlichen Anschauung unter den Kategorien stehen. Um Gegenstände beiderlei Art zu denken, muss man also die Kategorien benutzen. Im Falle der Gegenstände der Sinne können wir zudem noch angeben, wie das Mannigfaltige der Anschauung beschaffen sein muss, damit es einer bestimmten Kategorie korrespondiert. Dies geschieht durch die Schemata der Kategorien, die besagen, in welchen Zeit Verhältnissen die Empfindungen stehen müssen, damit sie der jeweiligen Kategorie entsprechen. Entsprechendes besitzen wir für die nicht-sinnliche Anschauung nicht. Von ihr können wir nur negativ sagen, dass ihr nichts zukommt, was mit den sinnlichen Formen von Raum und Zeit zusammenhängt. Wir können daher auch keine

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Beschaffenheiten dieses Mannigfaltigen angeben, das eine Anwendung von Kategorien erlaubt. Mit dem Nachweis, dass das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter den Kategorien steht, ist nach Kant aber erst „der Anfang einer D e d u k t i o n der reinen Verstandesbegriffe gemacht" (B 144). Dies ist so zu verstehen, dass in einer transzendentalen Deduktion die objektive Realität der Kategorien nachgewiesen werden muss, d.h. in einer solchen Deduktion muss nachgewiesen werden, dass es sinnliche Anschauungen gibt, die diesem Begriff korrespondieren. Diese Frage ist aber im ersten Teil der Deduktion (§§ 15-20) noch überhaupt nicht berührt worden. Es ist nur bewiesen worden, dass es Bedingungen der Erkenntnis gibt, die aufgrund dessen bestehen, dass der Verstand an ihr beteiligt ist: Wenn man das Mannigfaltige einer Anschauung überhaupt zur Einheit der Apperzeption bringen möchte, so muss man es gemäß den Kategorien verbinden. Es ist also nur über eines von zwei Requisiten des Erkennens gesprochen worden, nämlich das Denken. Es ist noch nicht nachgewiesen worden, dass sich das Mannigfaltige der Sinne auch gemäß den Kategorien verbinden lassen muss. Folgende Möglichkeit muss nach Kant in einer transzendentalen Deduktion ausgeschlossen werden: „Denn es könnten wohl allenfalls Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände [...]." (A 90/B 123)48 Kant illustriert dies am Beispiel der Kategorie der Kausalität: Es könnte sein, dass „in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe, und also dem Begriffe der Ursache und Wirkung entspräche, so daß dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre" (A 90/B 123). Das Schema der Kausalität besagt ja, dass es in den Erscheinungen etwas Reales geben muss, dem, immer wenn es gesetzt wird, etwas anderes Reales folgt. Nur dann kann man den Begriff der Kausalität auf diese Erscheinungen anwenden. Es kann also sein, dass unser Verstand zwar u. a. den Begriff der Ursache verwenden muss, um dass Mannigfaltige in einem Bewusstsein vereinigen zu können, und so Objekte einer Anschauung zu denken, dass sich 48

Diesen Fall hat Allison als transzendentales Chaos bezeichnet, im Gegensatz zum empirischen Chaos. Während Kant zeigt, dass es kein transzendentales Chaos geben kann, kann er die Möglichkeit des empirischen Chaos nicht ausschließen. Siehe Kant's Theory of Taste, S. 37f.

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aber im Mannigfaltigen nichts findet, das diesem Begriff korrespondiert. Dass dies nicht sein kann, muss im zweiten Teil der Deduktion noch erst gezeigt werden.49 Der erste Teil der transzendentalen Deduktion hat also noch nicht die objektive Realität der Kategorien nachgewiesen, sondern es ist nur vom Verstand gezeigt worden, dass er das Mannigfaltige gewissen Regeln gemäß verbinden muss. Es ist gezeigt worden, dass es daher bestimmte reine Verstandesbegriffe gibt, und dass der Verstand durch diese Objekte einer Anschauung überhaupt denken muss.

49

Ich folge bei der Interpretation des Grundes der Zweiteilung der KategorienDeduktion nach der zweiten Auflage der K.d.r.V. Baum, Der Aufbau der Deduktion der Kategorien.

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Sachregister Allison, Henry 12, 73, 118, 131, 160, 164, 187 Anschauung 62, 100, 161 intellektuelle 97, 183 nicht-sinnliche 94 übersinnliche 96, 182 Apperzeption analytische Einheit der 135, 140 durchgängige Identität der 133, 134 empirische Einheit der 138 notwendige Einheit der 146, 175 objektive Einheit der 138, 175 reine 129 synthetische Einheit der 135, 142, 149 transzendentale 131 transzendentale Einheit der 146, 147, 154, 176 ursprüngliche 131 Assoziation 116 Baum, Manfred 97, 148, 152, 180, 188 Baumgarten, Alexander G. 35 Beck, Jacob S. 20, 63, 74 Begriff a posteriori gegeben 55 a priori gegeben 54 gemacht 54 höherer/niederer 77, 82, 86 subjektiv niedrigster 19, 87

und Synthesis 124 weiterer/engerer 83, 86 Begriffsinhalt 75 Begriffsmaterie 40, 52, 53 Bewusstsein analytische Einheit des 64, 138 bei Tieren 131 empirisches 130, 134 numerische Identität des 133 transzendentales 129 Bochenski, Joseph M. 45 Boswell, Terry 48 Brandt, Reinhard 170 Carl, Wolfgang 25 Cramer, Konrad 80 de Vleeschauwer, Herman J. 27 Deduktion metaphysische 176 transzendentale 42, 187 Deutung 168 de Jong, Willem 78 durchgängige Bestimmung 14, 58, 63 Einbildungskraft 103, 165 Einheit des Mannigfaltigen 123, 133, 136, 166 objektiv gültige 9, 98, 103, 152, 155, 174 subjektiv gültige 9, 98, 176 von Begriffen 174

198

Sachregister

empirischer/reiner Gebrauch 111 Erkenntnis 13, 17, 153, 156, 184, 187 (un)eigentlicher Sinn 7, 19 diskursive/intuitive 97 Erkenntnisgrund 53, 58, 68, 76, 138 Form der Anschauung 52 der Begriffe 28, 52, 138 des Urteils 9, 173 und Inhalt 53, 66 Friedman, Michael 42 Funktion unterzuordnen 26 ganze Vorstellung 29, 58, 75 Guyer, Paul 132 Haack, Susan 45 Heinz, Marion 143 Heller, Edmund 74 Henrich, Dieter 132 heterogene Begriffe 84 Hinske, Norbert 48 höchste Gattung 88 höchster Punkt 43, 140 innerer Sinn 129, 134 Kategorien 41, 54, 138, 142, 145, 158, 181 Kausalität 118, 185, 187 Substanz 145, 185 und Urteilsfunktionen 170 Kemp Smith, Norman 132 Korrespondenz von Anschauung und Begriff 20, 162, 184 Krüger, Lorenz 170 Lenk, Hans 164 Locke, John 66, 115

Logik 34 allgemeine 37 angewandte 39, 40 besondere 38 formale 39, 43, 141 Regeln der 34, 43 reine 39 transzendentale 40 logische Kompatibilität 81 logische Möglichkeit 16 logische Verstandeshandlungen 28, 68 Longuenesse, Beatrice 11, 31, 73, 93 Mannigfaltiges a priori 94, 113 Mannigfaltiges der Anschauung 93, 133 Meier, George Friedrich 48 meine Vorstellung 128, 137 Merkmal 58, 60, 78 intuitives 62 nächste Art 89 niedrigste Art 88 notwendige InterSubjektivität 155, 174 Objekt 156 objektive Gültigkeit siehe Einheit, objektiv gültige objektive Realität 16, 160, 163, 187 Objektivität siehe Apperzeption und siehe Einheit der Kategorien 159 von Begriffen 14, 158 von Urteilen 11, 173 Paralogismus 127, 134 Paton, Herbert J. 27, 172 Piaton 96

Sachregister Prauss, Gerold 167 Psychologismus 45 reale Möglichkeit 16 Reflexion 72 Regel 34 Reich, Klaus 27, 44, 49, 91, 141, 171 Retention 115 Reziprozitätsgesetz 86 Rohs, Peter 22 Schematismus 184 Schulthess, Peter 76, 83 Schwärmerei 96 Selbstbewusstsein siehe Apperzeption Momente des 127, 147, 148 Sinnlichkeit 18, 24, 52 Stufenleiter der Vorstellungen 14, 19, 51 Stuhlmann-Laeisz, Rainer 15, 50 Synthesis 102, 133 auf Begriffe gebracht 125, 178 Bewusstsein der 134, 135 des Mannigfaltigen siehe Einheit intellektuell/figürlich 106 Regel der 103, 116, 124, 161 System 37 Teilvorstellung 59, 68 Thöle, Bernhard 115, 123, 162, 171 transzendentale Ideen 41, 54 Umfang 76, 83 empirischer 76, 84 Urteil als Verbindung 92, 99, 174 analytisch/synthetisch 81

199

Definition des 8, 146, 173 einzelnes 8, 164 und Punktion 30 und Synthesis des Mannigfaltigen 164 Urteilstafel 170 Verbindung 92 des Mannigfaltigen 100 von Begriffen 92, 99 Verstand 24, 34, 95, 96, 103 göttlicher 96, 183 Widerspruch 79 Wittgenstein, Ludwig 36, 66 Wolff, Christian 35 Wolff, Michael 29, 32, 39, 42, 80, 170, 171 Wolff, Robert P. 123, 124, 164